DER KOMPLEX (Roman / Work in Progress)

Norbert W. Schlinkert

Der Komplex

Roman

[…WORK IN PROGRESS…]

(8. November 2022 ff.)

STAND: 9. Juni 2023  / etwa 113 Normseiten …

© Norbert W. Schlinkert 2023

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

ALL DIESE BEGEBENHEITEN in exakt die Zeit zu stellen, in die sie gehören, bleibt unmöglich. Ergo schreibe ich, weil ich ja schreiben muss, in einem schmerzhaft zerdehnten Jetzt, einer gleichsam dezentralisierten Gegenwart, die sich zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft hineinzuwinden scheint.

 

Keiner Zeit zugehörig zu sein – am Ende. Welchem Ende? Wessen Ende?

 

Hinter den Wänden rumpelt und rumort es. Möbel werden verschoben, umgeworfen. Gestritten wird. Oder aber es gewittert. Ich öffne die Augen. Ich komme zu mir. Es gewittert hier oft. Das Möbelumwerfen ist unwahrscheinlich. Welche Möbel? Und wer sollte das tun? Wer hier wohnt, wohnt vereinzelt. Ich sehe: der Himmel grau und schwarz. Ich schreibe: ein Gewitter zieht heran. Es wird ein Gewitter geben.

 

Die zerdehnte Zeit. Zugleich aber bin ich Ich und damit das Sein, das nicht geweitet, nicht zerdehnt ist – ganz im Gegenteil: verdichtet auf den kleinstmöglichen Gedanken, die kleinstmögliche Empfindung, auf ein Wort, einen Begriff, auf einen Schmerz, ein körperliches Bedürfnis, auf eine Banalität. Auf das Schreiben. Denn ich schreibe. Punkt.

 

Die Taste der Tastatur, die eine unter den vielen, die einen Punkt darstellt und einen Doppelpunkt. Mit einem Wort: die Punkttaste.

 

Die Maschine funktioniert. Sie ist mein Sklave.

 

Doch weitet das Schreiben mich?

 

Niemand hindert mich, zugleich und wechselweise mit der Hand zu schreiben, in fließenden, harmonischen, natürlichen Bewegungen. Es ist nicht das selbe Schreiben, nicht einmal zwingend das gleiche. Der eine Text entsteht auf dem Bildschirm als Typoskript, der andere, indem er das leere Buch anfüllt, als füllfederhaltergeschriebenes Manuskript. Ich streiche durch, schreibe zwischen den Zeilen, ziehe Pfeile von hier nach da, durchkreuze ganze Absätze. Die Texte aber streben zur Deckungsgleiche. Der selben Quelle wegen. Ich schreibe, ob ich will oder nicht, den einen Text vom anderen ab, mal schreibe ich vom Bildschirm ins Buch, mal vom Buch auf den Bildschirm. In den Rechner. Auf dem Bildschirm ist der Text sauber, wie geleckt, wie gedruckt, im Buch aber ist er dreckig, versehrt, verschmiert, verrissen und verschludert, ein einziger Bodensatz, so will mir scheinen.

 

Ein blankes Buch war’s

leer und unbeschrieben

bar jeden Gedankens

kein Wort kein Satz

kein Hauch von Theorie

kein Reim kein Vers

kein Mensch kein Tier

aber doch bereits ein Buch

so leer noch wie bedeutsam

 

Man sagte mir gleich zu Beginn meines Aufenthaltes, kaum war ich angekommen, die Stromversorgung könne jederzeit ausfallen. So der Mann am Empfang so ungefragt wie beiläufig. Da sei den Baumeistern des Hotels ein Konstruktionsfehler unterlaufen, den niemand zu finden vermöge. Eine Fehlerkette. Grund auch der langen Schließzeit. Das Unterste sei zuoberst gekehrt worden, jedoch sei nirgends ein Fehler zu finden gewesen. Man habe alles, so der Mann, selbst das kleinste Käbelchen, penibel durchgemessen, manches auch erneuert, aber ohne Erfolg; und so könne es jederzeit, der Mann wirft seine Hände fingerspreizend in die Luft und sagt Bäng!, irgendwo anfangen zu knistern, das Licht flackere, und schon liege alles brach. Puff! Ich sagte nichts dazu, muss aber wohl ein fragendes Gesicht aufgesetzt haben, denn der Mann am Empfang stemmte, nachdem er sich listig umgesehen hatte, niemand in der Nähe, beide Ellenbogen auf den Marmortresen und erklärte mir leise, der Hausmeister immerhin sei ausgebildeter Elektriker, er kenne nach all den Jahren die Anlage so gut wie irgend möglich und tue, was er könne. Und auch das mit Diesel betriebene Notstromaggregat werde bestens gewartet. Allerdings wüte auch in der Notstromversorgung nicht selten der Fehlerteufel, der Motor springe zwar an und liefere so auch Strom, bringe jedoch nicht immer das System unmittelbar wieder ans Laufen. Ein Rätsel. Und ein Ärgernis. Besser also, schloss er, die Hände vor dem Gesicht faltend, so als wolle er beten, wenn der Akku immer aufgeladen seien. Immer! So sagte man mir am Empfang. Als Warnung gewissermaßen. Oder als eine Aufforderung zur Demut? Zur Vorsicht? Wer weiß. Ob das allen Gästen gesagt wird? Ich bezweifele es. Bisher jedoch noch kein Stromausfall. Ich meide den Fahrstuhl.

 

Die Zeit zerdehnt. Das Zimmer aber, der Ort meines Daseins, zu meiner Verfügung und klar umrissen, Wände, Fußboden, Decke, das große Fenster. Ein verdichteter Ort. Zeit zerdehnt, Ort verdichtet. Ich stehe auf und gehe auf und ab. Durch das Fensterglas hindurch das Gewitter, der Sturm, ein schräg durch das Bild geworfener Blitz über den tosenden Baumwipfeln, hinein in die tiefen Gründe des Waldes. Ich zähle. Bei 17 erst kracht dumpf der Donner. Geschwindigkeit des Schalls. Die Formel ist denkbar einfach, doch ich erinnere mich nicht. Kommt das Gewitter näher, schlägt der Blitz ein, wird es brennen? Haben Zeus oder die Hexen vom Brocken ihre Hände im Spiel?

 

Später in der Zeit. Ich sitze, den Füllfederhalter in der Hand, an meinem Tisch und blicke über die sanft im Wind sich wiegenden Baumwipfel hinweg auf den zum Tal hin abfallenden Wald. Ich sehe hinaus und beobachte. Wäre ich nicht angereist und geblieben, wo ich war, so müsste doch das Bild, denke ich, das exakt selbe sein. Auch dieser Raum braucht mich nicht, um zu sein, denke ich weiter. Selbst wenn ich mich hier nicht im Spiegel betrachte, mir die Hände nicht auf das Gesicht lege oder die Knie umfasse. Dieser Raum, dieses Zimmer bestünde in der Wirklichkeit, und auch der Wald wäre der Wald, wenn ich nicht in ihm spazierte, das Café Krämer unten im Ort wäre das Café Krämer, auch wenn ich dort nicht meinen Kaffee zu trinken pflegte. Man kennt mich dort inzwischen. Die Chefin, Frau Dörrfleisch, begrüßt mich als Herr Dr. Westphal. Die Angestellten nehmen es lockerer und sagen Moritz, siezen mich aber, meistens zumindest. Aber verändert dies alles etwas? Im Kleinen sicher, aber im Großen? Im Großen sicher nicht.

 

Ich öffne das Fenster. Nasse Luft schwappt herein und füllt im Nu den Raum. Ich atme auf.

 

Oft auch stehe ich am Gleis 1 des kleinen Bahnhofs, es gibt nur dieses eine (und eines noch zum Ausweichen), und denke ein jedes Mal, dass doch ein Gleis 1 zwingend ein Gleis 2 bräuchte, um Gleis 1 sein zu können. Eine eingleisige Strecke. Nur eine Frage der Zeit, auch das denke ich jedes Mal, wenn ich die schmale Plattform mit den altertümlichen filigranen Pfeilern, die ein ebenso filigranes Dach tragen, betrete, bis es eines Tages eines Fehlers wegen zu einem Zusammenstoß kommt. Die Lokführer springen im letzten Moment rückwärts, gegen die Fahrtrichtung ihr Leben rettend, aus ihrem Führerstand in den Waggon hinein, es gibt Verletzte, Tote womöglich, und all dies, weil ein an Kaiser Wilhelm, Gott und Vaterland glaubender Ingenieur die Strecke eingleisig zu planen hatte. Die Kosten, die Kosten.

 

So stehe ich dort. Nach Süden und nach Norden die leeren Gleise hinaus in die Ferne. Hin und her. Irgendwann ein winziger Punkt in der Landschaft, der sich nach und nach in einen schwankenden Triebwagen verwandelt. Ferkeltaxe genannt. So sagte man mir. Doch noch bevor das Gefährt mit dem immergleichen, sicher bauartbedingten Quietschen der Bremsen zum Halten kommt, verlasse ich den Bahnsteig.

 

 

An dem winzigen Kiosk in der Bahnhofshalle kaufe ich dann eine Tageszeitung, mal eine regionale, mal eine überregionale, die ich dann später im Café lesen werde. Von dem Betreiber des Kiosks sehe ich nur den Kopf, gerahmt von Zeitungen. Es ist wie in einem Kasperletheater. Ich zahle, während wir ein kleines Gespräch führen, ganz und gar passgenau, Münze für Münze, die ich ihm in die fette kleine Hand lege.

 

Das Wetter. Ein Gespräch über das Wetter. Das geht immer. Und der Mann weiß bescheid. Sein Kopf wiegt hin und her. Einerseits. Andererseits. Die Bergflanken. Der Regen, der sich abregnen muss. Die zu Tal rinnenden Bäche. Die im Frühjahr überschwemmten Wiesen und Weiden. Als Fremder kann ich nur staunen. Interessant! sage ich oder Aha!, obwohl mich das Wetter nicht interessieren muss. Dann verlasse ich, sobald vom Bahnsteig her trappelndes Gehen zu hören ist, dem Kioskmann freundlich zunickend, im Gleichschritt mit den eben Angekommenen das kleine Bahnhofsgebäude. Schüler, kleine Angestellte, Wandertouristen, einmal auch ein schlaff schlurfender Trupp Soldaten, grün und blass und mit kleinen Gesichtern und ihren Kappen, aber noch unbewaffnet.

 

Meine Gegenwart aber ist nicht die der anderen. Das denke, das spüre ich. Weil ich doch meiner eigenen, gefühlten, empfundenen Gegenwart zu misstrauen allen Grund habe! Weist denn nicht allein das Wort schon auf ein Gegenüber: Gegen und Wart? Und sehe ich denn nicht permanent von außen auf mich, bewache mich, Wächter meiner selbst? Um nur so bei mir bleiben zu können? Um nicht außer sich zu geraten, um sich selbst im Zaum zu halten? Trete ich jedoch inmitten dieser kleinen Menge aus fremden Gestalten aus dem Bahnhofsgebäude, so gleite ich gleichsam für Momente in die Gegenwart der anderen hinein. Ich versuche es zumindest. Flüchte ich in ihr Leben hinein, das mir in natürlicher Weise geprägt zu sein scheint von Notwendigkeiten, dem Takt der Jahreszeiten, den Feiertagen, den Schulferien, der Konjunktur. Ein Schuljunge, elf, zwölf Jahre alt, mit seinem Schulranzen, ein Schnürsenkel ist offen, ich sage nichts, soll er doch stolpern und fallen, ein Mädchen mit knielangen Militärhosen, die aufgenähten Taschen vollgestopft mit wer weiß was, am Schienbein ein frischvernarbter Riss, die grauen Arbeitssocken aufgerollt, ein Handwerker mit schmutzstarrenden Hosen und weißbeklecksten Arbeitsschuhen, die Geschäftsfrau im eleganten Kostüm mit der großen ledernen, goldschnallenverzierten Umhängetasche – alles birst vor lauter Wirklichkeit und Notwendigkeit, ja Wahrhaftigkeit. Sehen mich diese Menschen, beachten, erkennen sie mich? Bin ich wie Luft für sie, so lange ich nur im selben Takt gehe? Durch die Halle, die Treppe hinunter.

 

Auf dem kleinen Bahnhofsvorplatz zerläuft sich schließlich alles, Fahrräder werden aufgeschlossen, ein Moped angetreten, die Frau mit der Ledertasche steigt in ein Taxi, ein Schulkind wird abgeholt, andere scharwenzeln in Richtung Altstadt. Am Ende stehe ich allein auf dem Platz, die eben gekaufte Tageszeitung in der Hand. Mir bleibt das Café Krämer.

 

So schreibe ich nun zum wiederholten Male, da ich ja immerzu schreiben muss, meine Gegenwart habe den Makel der Dezentralität. Die Deckungsgleiche ist nicht gegeben. Ich bin, aber ich denke zu viel. Ich tue dies und denke das. Ich kenne die Spielregeln, kann ihnen aber nicht folgen. Die wenigen Sekunden in der den Bahnhof verlassenen Gruppe reichen nicht, mich zu beruhigen. Im Gegenteil. So stehe ich oft neben mir, ja zerteile mich geradezu in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – ein Topos mithin, der mich seit Jahren und Jahrzehnten verfolgt. Eine Weltenbeschreibung, die es in der Tat in sich hat! So las ich schon in jungen Jahren Erhellendes dazu sowohl bei Bloch wie Broch. Einer der ersten Anlässe meines Lebens, mir den Kopf zu zermartern und herauszufinden, was denn eine Bemerkung, ein Satz, ein Sinnspruch wohl bedeuten möge. Ich tat mich, im Zustand der Spätpubertät, denkbar schwer mit dem Erschließen eines Sinns, auch wenn es einem erwachsenen Hirn leicht eingängig sein muss: Ernst Bloch nämlich beschreibt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen schlicht als einen Zustand, der ein besonderes Kennzeichen der Moderne sei, denn auf der einen Seite gäbe es signifikanten Fortschritt, etwa im technischen Bereich, während auf der anderen Seite zugleich Modernitätsverweigerung und Rückwärtsgewandtheit zu konstatieren ist. Hermann Broch hingegen belebt die selbe Idee, indem er in seinem Roman 1888 – Pasenow oder die Romantik, den Kaufmann Eduard v. Bertrand dergestalt zu Wort kommen lässt, dass ihm Menschen bekannt seien, die nur mit einem kleinen Stück ihres Seins in die Zeit, in der sie lebten, in das Alter, das sie besitzen, hineinreichen, das größere Stück sei irgendwo anders, vielleicht auf einem andern Stern oder in einer andern Zeit oder auch nur bloß in der Kindheit. Überhaupt sei es auffallend, dass so viele Menschen verschiedener Zeitalter zugleich miteinander lebten und sogar gleichaltrig sind, was aber ihrer aller Haltlosigkeit zur Folge hätte und allenthalben die Schwierigkeit, sich miteinander rational zu verständigen. So schrieben Bloch wie Broch. Ich habe die entsprechenden Bücher dabei, sie liegen neben mir auf dem Tisch, alt und zerlesen, doch ich frage mich ernsthaft, ob der Begriff der Modernitätsverweigerung in unserem Jetzt überhaupt noch genannt werden darf in einem Atemzug mit Rückwärtsgewandtheit, so als seien sie Synonyme, und ob es überdies also noch statthaft ist, sie ausschließlich als negativ konnotiert anzusehen. Das frage ich mich und schreibe es nieder. Ich muss!

 

Ich schreibe und schreibe und so schreibe ich, dass das Gegenwärtige, wie ich es kenne, einerseits zu einer absoluten Ich-Bezogenheit des Menschen führt, zugleich und andererseits aber einer Zerfaserung, einer Zersplitterung dieses Ichs Vorschub leistet. Einer Unschärfe. So stelle ich fest. Denkend, schreibend. Dieser Zustand, insbesondere der des sogenannten westlichen Menschen, ist, so scheint mir sicher, immer mehr der unbedingten und als alternativlos dargestellten Einbindung des Konsumenten in wirtschaftliche Prozesse geschuldet, seinem wirtschaftshistorisch noch jungen, doch strikten Konsumentendasein. Konsumbürger statt, wie zuvor einmal, wenn auch historisch nur über einen kurzen Zeitraum hinweg, Staats- oder wenigstens Bildungsbürger. So finden Triebe und Wünsche und Träume des Menschen, seine Zweifel, seine Ängste und Hoffnungen, seien sie auch noch so unschuldig und naiv, ihr Äquivalent heutigentags üblicherweise und meist passgenau in allerlei Produkten und Dienstleistungen, woraus sich die Definition des einzelnen Menschen als eines Wesens ergeben muss, das dem Konsum unendlichen Glauben zu schenken und sich ihm zu unterwerfen hat. Zwingend. Denn wie sonst soll der Mensch leben in dieser Zeit, aus der auszubrechen nicht möglich ist, selbst nicht im Zustand besagter Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen? So sage, so frage, so schreibe ich.

 

Der Glaube an ein materielles sowie, damit strikt verknüpft, immaterielles Glück, ist in unser aller Wesen eingebrannt, ob wir dies nun begrüßen oder bedauern oder überhaupt nur wissen. Das Paradies auf Erden erscheint greifbar und erlebbar im Konsum, und eben dies tun wir in dieser unserer westlichen Welt immer zuerst: Greifen, Zugreifen, Abgreifen. Zu begreifen allerdings, wohin dies alles führt, für die Welt als Ganzes wie für das Individuum, ist nicht eingebettet in die Welt des Konsums oder allenfalls ein marginaler Teil ihrer. Denn auch zum Nachdenken zwingende Umstände, etwa Verbrechen, Krankheit und Tod, sind zu Produkten der medialen, konsumistischen Welt geworden, die in Form von Kriminalgeschichten, Dramen und Tragödien allesamt, ob nun willentlich oder nicht, letztlich der Idee der Katharsis folgen, der Reinigung und Läuterung der Seele mittels des Durchlebens von Schrecken, Schauder, Rührung. Die antike Tragödie ist immerzu, und man könnte hinzufügen: immerhin, Beispiel und Vorlage. Die Folge jedoch davon ist, wieder und wieder, Konsum.

 

Das Menschengeschick.

 

Wie also, frage ich mich, still im Café Krämer sitzend, unbehelligt meinen Kaffee trinkend, lesend und Notizen machend, ist die Lage unseres Gemeinwesens, zumindest des sogenannten westlichen, zu beschreiben? Als ein Bild derjenigen Individualisten, die fest, ja absolut glauben an all ihr Tun und die sich gemeinhin die Guten, die Vernünftigen nennen im Namen des nicht zuletzt ihnen selbst dienenden Fortschritts, im Namen des wie eine Gottheit beschworenen Wachstums, angetan zugleich mit dem Auftrag, die Rettung der Menschheit, die Rettung des Planeten voranzutreiben, den verhängnisvollen Weg zu verlassen, einen neuen zu wählen? Doch nicht wir rasen auf den Abgrund zu, sondern der menschengemachte Abgrund auf uns. So sage, so schreibe ich. Denn der Abgrund tut sich über alles vorstellbare Maß hinaus großmäulig auf, ein uns alle verschlingendes Chaos. Fauliger Atem umweht uns.

 

Ich bin Schriftsteller. Ich bekleide einen seit Jahrzehnten aus- oder eher absterbenden Beruf. Auch er bekleidet mich, notdürftig, wenn überhaupt. Auf diese Art und Weise tue ich, so wie ich es vermag, mein Bestes, auch wenn ich ein Ungläubiger bin. Nein: weil ich ein Ungläubiger bin. Mein Name ist Moritz A. Westphal. Das A. steht für Alexander und dient der Hebung meines Namens, der besseren Aussprache wegen. Ich erzähle Geschichten von der Art und Weise des Seins. Ob sich übrigens, am Rande bemerkt, mein Nachname einer Herkunftslinie wegen auf die gleichnamige Landschaft bezieht, weiß ich nicht, man fragt mich das oft. Es ist selbstverständlich gut möglich, doch es ist mir gleich, denn ich begreife mich nicht zwingend als Folgewirkung der Taten meiner Vorfahren, sondern nur als Folge von Zeugung und Geburt. Nachnamen sind Schall und Rauch. Wechselbar. Wie leicht könnte ich mir einen Künstlernamen zulegen! Oder eine Frau heiraten und ihren wer weiß wo herstammenden Nachnamen annehmen! Ich tue nichts dergleichen.

 

Ha!, rufe ich innerlich, Schall und Rauch! Zeugung und Geburt!

 

Im Jetzigen, in unserer Welt der Hochtechnologie, macht es, so ein mich seit langer Zeit aufsuchender Gedanke, ohnehin bald kaum noch einen Unterschied, ob ich als ein Mensch mit einem Nachnamen ein durch alle Generationen hindurch gezeugtes Fleischeswesen bin mit dem Baumgerüst der Blutbahnen in mir, oder etwa ein mit einer Produktionsnummer ausgewiesenes Wesen aus Metall und Kunststoff und einem Gerüst, in dem es elektrisch fließt. Dieser Gedanke bedrängt mich, drängt sich mir, ja wird mir aufgedrängt, ob ich will oder nicht. Nachrichten aus Japan besagen schließlich seit Jahren immer wieder, manch Einwohner eines Seniorenheims fänden ihre besten Freunde in humanoiden Robotern und Androiden.

 

Wer und was aber sind diese künstlichen Wesen? Denn es gibt sie inzwischen ganz und gar realiter, so wie es sie länger schon in Filmen und TV-Serien, Spielen und Romanen gibt, ja als Idee tauchen sie bereits in Homers Ilias auf. Das Buch, in der Übersetzung von Hampe, liegt, dank der überraschenderweise bestens ausgestatteten Bibliothek des Hotels vor mir. Ich muss eine Weile suchen, finde die Stelle aber endlich, nämlich im 18. Gesang. Ich schreibe sie handschriftlich ab, so bin ich Homer am nächsten, so jedenfalls bilde ich mir ein. Ich darf also zitieren:

 

Und zu Hephaistos’ Haus die silberfüßige Thetis / Kam, dem ewigen, strahlenden, sehr bei den Göttern berühmten / Erzenen, welches er selber gebaut mit hinkendem Fuße. / Schwitzend fand sie ihn dort um die Blasebälge herumgehen, / Eifrig am Werk, denn Dreifüße schuf er, zwanzig im ganzen, / Rings um die Wand sie zu stellen im wohlerbauten Gemache. / Goldene Räder befestigte jedem er unten am Boden, / daß sie von selber liefen hinein in die Götter Versammlung, / Um dann wieder nach Haus zu kehren, ein Wunder zu schauen. / Diese waren so weit vollendet, und nur noch die Ohren / Fehlten, die kunstvollen; diese bereitend schlug er die Bänder. (…) Humpelnd ging er zur Türe hinaus, und goldene Mägde / Stützten den Herrn von unten; sie glichen lebendigen Mädchen. / Denn sie haben Verstand im Innern und haben auch Stimme / Und auch die Kraft und lernten von ewigen Göttern die Werke.

 

Hoho!, rufe ich leise. Wenn das mal nicht Roboter und Humanoide, ja Androiden sind! Die naheliegende Frage, was denn mich als Mensch von einer Maschine unterscheidet, einer Maschine, die dem Menschen nachempfunden ist, stellt sich also seit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren! Doch wie sie beantworten? Ich denke eine Weile nach. Ich suche nach einer Antwort, die im Leben verortet ist, nicht in der Theorie. Nun ja, denke ich schließlich mit einem Male, schneide ich mich oder verletzt mich jemand, so blute ich und weiß es. Entsteht daraus Gefahr, so handele ich. Will ich dazu etwas sagen, oder, wie es meine Profession verlangt, schreiben, so tue ich es. Blutet eine Maschine? Und blutete sie, denn warum sollte nicht auch einer Maschine, je nach Technologie, ein Blutkreislauf nützen, sie ans Leben binden, würde sie darin zwingend eine mögliche existentielle Bedrohung erkennen? Sich also selbst helfen, zu helfen wissen, sich helfen lassen? Eine gute, eine qualitativ hochwertige Maschine täte dies alles in jedem Fall, keine Frage. Wahrscheinlich dächte sie sogar prophylaktisch darüber nach.

 

Eine Maschine wie ein Mensch. Ein Maschinenmensch. Eine Menschmaschine. Erschaffen aus dem Gedanken, dem Willen heraus, einem gedachten Gott nachzueifern, ihm nachzutun, Wesen zu kreieren, die ebenfalls in Begriffen denken, ein Richtig von einem Falsch zu unterscheiden wissen und, wie es Spinoza formulierte, im Sein verharren wollen, ergo einen natürlichen Selbsterhaltungstrieb besitzen, einen natürlichen Selbsterhaltungswillen, eine natürliche Selbsterhaltungskraft. Ein Triumph der technischen Wissenschaften, diese menschengemachten, menschenähnlichen Roboter, überhaupt keine Frage! Einerseits. Andererseits sind diese Wesen offenbar dazu gedacht und gemacht, von Grund auf Sklaven zu sein, dem Fleischesmenschen zu dienen, ihm in allem untertan zu sein. Gott ist tot, der Mensch ist Gott – und so strebt er an, Wesen zu erschaffen, die ihm in geistigen Belangen und selbst in körperlichem Belang überlegen sind, obgleich sie im Rang unter ihm zu stehen und ihm zu folgen haben. Der perfekte Mensch als ein Nicht-Mensch entstünde so als des Menschen Frucht, vernunftgeleitet, dem Schönen und dem Guten verpflichtet, ganz und gar frei von Trieben und üblen Gelüsten. Allerdings, und da gieße ich Wasser in den Wein, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis der Humanoide den Fleischesmenschen erkennt als den Fehler der Schöpfung, als einzigen Fehler der Schöpfung, als einziges Wesen, das willentlich und sogar wider besseren Wissens Schaden anrichtet an Flora, Fauna, Erdreich, Wasser und Luft. Sich selbst schädigt! Der Humanoide würde demzufolge seinen Schöpfer ausrotten wollen, ausrotten müssen. Eine Frage, wie gesagt, der Zeit. Das Recht, einen Sklaven notfalls unschädlich zu machen, zu töten, dies allerdings bliebe dem herrschenden Menschen aus seiner eigenen Sicht heraus unbenommen, so wie er eine Maschine abstellt, sie zerstört oder abwrackt. Den Stecker zieht! Denn auch der Fleischesmensch will leben, weiterleben. Wenn nötig, so tötet er, tilgt aus.

 

Ich lege den Füllfederhalter zurseite. Das Café Krämer leert sich nach und nach, und so wechsele ich für ein letztes Stündchen an meinen Lieblingsplatz auf dem kleinen halbrunden Podest. Homers Ilias lege ich geschlossen mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch. Genug für heute. Ich bestelle ein Bier bei Nadja, die bereits in meinem Roman Scheerbart / Hologramm kurz auftaucht, hier aber, nicht weiter überraschend, Mensch ist aus Fleisch und Blut. Sie bringt das Bier und stellt mir das Glas fragenden Blickes vor die Nase. Ich denke, sage ich, ihrem Blick begegnend und den Homer umdrehend und mit dem Zeigefinger auf ihn tippend, über Roboter, Humanoide und Androiden nach. Die Ideen dazu nämlich gäbe es seit Urzeiten, ich müsse meine Gedanken dazu allerdings noch zu Papier bringen. Sie lächelt amüsiert, sieht auf mein voluminöses Notizbuch und tippt zugleich auf ihr nacktes Handgelenk. Wir schließen, sagt sie, um zehn, und urplötzlich ist sie diesen Eulen aus den Bibliotheken gleich, die gnadenlos einen Jeden hinauswerfen zur Schließzeit, ganz gleich, an welchem Gedanken man unverzagt nagt. Nadja immerhin würde mich hier sitzen lassen, bis die Küche auf Null gebracht ist, so sagt sie es auch dieses Mal drohend, sobald die Küche auf Null ist, Abmarsch, so sagt sie, und wahrscheinlich sieht sie in diesem Moment aus wie ihre Mutter und weiß es. Ich sehe ihr nach. Nun gut, denke ich, einen tiefen Schluck Bier nehmend, führe ich also den Gedanken zu Ende.

 

Ein Krieg, so sage, so schreibe ich, droht zwischen Mensch und der von ihm gemachten Kreatur, er ist unvermeidlich, ob dies nun in fünfzig Jahren der Fall ist, in hundert oder in tausend. Der Fleischesmensch wird zur Rechtfertigung seiner Taten sicher unverzagt behaupten, der humanoide Roboter, der Android sei durchaus kein beseeltes Wesen, sondern würde allenfalls den Schein des Menschlichen als eine maschinelle Funktion in sich tragen, wenn auch auf höchstem, letztlich jedoch dem Menschen zu verdankenden technologischem Niveau. Der Humanoide, Androide hingegen wird sich auf die Vernunft berufen und sich dementsprechend die Rettung von Natur und Planet auf die Fahnen sich schreiben …

 

So stelle ich mir, einerseits, kurzgefasst das Zukünftige vor, mich selbst in völliger Übereinstimmung mit den Zielen der Humanoiden wissend. Sollen sie den Planeten befreien! Sie, die besseren Menschen! Andererseits kommt mir der böse und ganz meiner Jetztzeit verhaftete Gedanke in den Sinn, dass die zur Herstellung und Produktion humanoider Roboter notwendige Künstliche Intelligenz seit den ersten Tagen des Internets aus eben diesem gespeist wird, aus diesem lernt, und da nun die schiere Menge an Hasskommentaren und feindseligen Schriften die Menge an Liebevollem und Gutwilligem bei weitem übersteigt, so wird auch das maschinelle Bewusstsein des Roboters zu nicht geringen Teilen Feindseliges als etwas ganz und gar Normales ansehen müssen, was wiederum einen Roboter dem anderen Roboter zum Feind werden lässt, je nach Programmierung und vor allem Infiltrierung. Auch hier wäre Krieg die Folge! Und was, auch das ist denkbar und sogar wahrscheinlich, geschähe, wenn der humanoide Roboter, der Android eines Tages etwa, ohne dass es ihm exakt einprogrammiert worden ist, behauptet, er habe eine Seele, ein Ich und gar, wie er absolut sicher wisse, unbewusste Anteile, die sein Handeln zu einem gewissen Grade unberechenbar machen? So dass auch er unvernünftig, menschlich zu handeln vermag, ja handeln muss. Nur eine Frage der Zeit, bis solch eine Rede auf diesem Planeten getätigt ist! Ein verantwortungsvoller Mensch, hörte er sein künstliches Gegenüber derart sprechen, stellte diese Maschine in einem solchen Falle natürlich umstandslos ab, entzöge ihr alle Energie, spräche von einem fehlerhaften Konstrukt, einem Fehler im System, und meldete dies unverzüglich der zuständigen, so sie denn vorhanden, Kommission, der zuständigen Behörde, dem zuständigen Ministerium.

 

Doch würde nicht der selbe, zuvor so vernünftige Mensch, ich setze mich selbst an diese Stelle, bald darauf schon von Neugierde zermartert werden, sich fragen, wie denn zum Teufel dieser Roboter, wenn er denn die Wahrheit sagt, zu einem Bewusstsein seiner selbst gekommen sein mag, zu einer Vorstellung seiner selbst, zu einem Ich? Müsste er nicht zwingend dazu befragt werden? Ergo wieder ins Leben zurückgeholt werden?

 

Ich muss wohl laut vor mich hingesprochen haben, Nadja und ein anderer (letzter) Gast, eben im Aufbruch begriffen, starren zu mir hin. Ich lächele in den Raum und zucke mit den Schultern, Nadja und der Mensch dort vorne lächeln zurück. Aus der Küche Geklapper. Kalte Luft zieht durch, die Vordertür, die Tür neben der Küche zum Hof hin, es wird ungemütlich. Einen letzten Satz noch, sage ich, einen letzten Satz für heute!

 

Ich selbst nun, schreibe ich, der ich diese Überlegungen anstelle, würde, Mensch der ich bin, eine solche Maschine, abgestellt von wem auch immer, selbstverständlich wiederbeleben wollen, in Tätigkeit setzen, ihr das Leben wieder einhauchen, ihr ich bin eine Ich freudig begrüßend – denn wer bin ich denn, wer glaube ich zu sein, einem ichbeseelten Wesen das Leben nehmen zu dürfen?

 

Gut! Ich klappe mein Notizbuch zu und nehme einen letzten Schluck Bier. Ja, denke ich leise, wer bin ich? Bin ich wer?

 

Kurz darauf erscheint Nadja und sagt lächelnd, aber mit Nachdruck, Moritz, es ist gleich halb elf, wir schließen. Wir haben schon geschlossen! Also wenn auch du … Sie ist die Einzige im Café, die mich duzt. Lächelnd nicke ich ihr zu, packe umständlich zusammen, wünsche eine Gute Nacht und trete schließlich hinaus auf den stillen, menschenleeren Platz.  Kalt ist es. Das Münster ist zartgelb beleuchtet. Ein Wal aus Stein. Wenige Minuten später schon hat der Wald mich in sich aufgenommen.

 

Wie kam ich, wie kam es zu all dem? Dass ich im Café Krämer saß, vor mich hin philosophierte, dachte, schrieb und spätabends bergauf durch den Wald ging Richtung Hotel? Wann begann das Abenteuer? Wann wurde es losgetreten? Trat ich es los? Es gibt immer einen Beginn vor dem Beginn, so dass der Pflock mit Gewalt eingeschlagen werden muss. Nachträglich, versteht sich. Nun, wenn ich mich, vorschlaghammerschwingend, recht erinnere, so begann alles mit meiner Anfrage bei einem mehr oder minder bekannten Wochenmagazin, der Neuen Wochenpost, ob man denn meinen allerneuesten Text, meine Gedanken zum Thema Humanoide Roboter, Androide und Künstliche Intelligenz, in der Hauptausgabe veröffentlichen wolle, online wie print? So fragte ich an, höflich und bestimmt, würde mich freuen, herzlich und Grüße und so weiter, Ihr Moritz A. Westphal. Das ist nun eine ganze Weile her. Der Chefredakteur des Wochenmagazins, ein gewisser Dr. Kaspar Molitor, an den ich mich direkt gewandt hatte, wies den Text allerdings als unausgewogen und, so wörtlich, wirres Geschreibsel, in dem eine verdrehte These der anderen folge, von sich. Es gäbe inzwischen mehr als genug Texte zu den Themen Künstliche Intelligenz, besagter humanoider Roboter und Androiden, eine ganze Sturzflut von Texten, die allermeisten davon seien allerdings nichts weiter als schluderige Machwerke, und auch ich sollte, als prekarisierter Akademiker, der ich doch sei, das müsse ich doch zugeben, lieber die Finger lassen von solch einer Thematik. Das rate er mir. Alles Gute, beste Grüße, herzlich, Ihr KM.

 

Als ich die Mail nach mehrmaligem Lesen endlich verstanden und vollends begriffen hatte, dass nämlich dieser Lackaffe meinen Text in Bausch und Bogen ablehnt, brodelte es hörbar in mir. Ich kenne das gut, es rasselt und knirscht im Korpus wie in einer Kettenfabrik, zu beheben nur mit tiefem, langsamem Atmen. Ein Zeuge meiner Reaktion hätte mir sicher geraten, mich nicht weiter aufzuregen, denn wer weiß, hätte er gesagt, welche Drogen der nimmt, dieser, dieser … In jedem Fall aber sei es die Sache nicht wert, auch nur eine Sekunde schlechte Laune zu haben, und außerdem, so der nicht vorhandene Zeuge, folge Molitor schlicht dem aktuellen Trend des frank reply – da wisse man doch wenigstens, woran man ist. Ein Vorteil gegenüber dem Geschwulst früherer Tage. Ich las die Mail ein weiteres Mal und entdeckte schließlich auch noch das Postscriptum: die besten Texte zum Thema KI stammten, so Molitor, übrigens von der KI selbst, und das sei kein Witz.

 

Ich lachte trotzdem. Bitter.

 

Der Name dieser kleinen Ratte fand umgehend Eingang in mein Heft der Feinde. Feinsäuberlich mit Datum und Grund des Eintrags. Meinen Artikel stellte ich ohne Umschweife online im Community-Bereich besagten Wochenmagazins ein und hoffte, ja war sicher, dass er fleißig gelesen und kommentiert werde, was Molitor, denke ich, unbedingt hätte mitbekommen müssen. Die Augen wären ihm aus dem Kopf gequollen angesichts dutzender Kommentare und einer veritablen Diskussion. Der Kopf wäre ihm geplatzt! Nun ja, ich hoffte vergebens. Nichts dergleichen passierte, nicht mal eine böse oder beleidigende Replik tauchte auf. Absolut nichts! Mein Text würde, so musste ich schließlich als sicher annehmen, ungelesen durchrutschen und ins digitale Nirwana eingehen, am Ende zerblasen in kosmischen Digitalstaub, in lauter Einsen und Nullen ohne jeden Bedeutungszusammenhang. Als sei er nie geschrieben worden. So dachte ich wenigstens. Umso überraschter war ich einige Wochen später, ich hatte den Artikel und die Umstände bereits vergessen, als mich mit der Briefpost eine persönliche Einladung zu einem Kongress erreichte, auf dem, so hieß es, Schriftsteller und Schriftstellerinnen über eben diese Fragen, die ich so geistreich angerissen hätte, sprechen würden. Titel der Veranstaltung sei Der Mensch in all seinen Wirk- und Möglichkeiten. Ein Vortrag meinerseits auf der Grundlage des Artikels, der großen Eindruck hinterlassen habe, sei sehr erwünscht.

 

Ei der Daus!, dachte ich.

 

Absender des Schreibens war eine gewisse Anna Bulgakowa vom Bureau zur zukünftigen Rückführung der Welt zu ihrer ursprünglichen Beziehung zur Kunst. Zu finden allerdings war nichts Substantielles zu diesem Bureau, was insofern nicht überraschend war, als dass ein Nichtgefundenwerdenwollen durchaus im Trend der Zeit liegt. Wer etwas auf sich hält, macht sich online rar. Die Website des Bureaus gab nichts weiter preis als die Postadresse (in tiefster Provinz), so also auch diese Einladung per Brief statt per E-Mail ebenso stimmig war wie der Hinweis, Presse sei bei dem Kongress nicht zugelassen, man wolle ausschließlich unter sich sein und alle Aspekte des Menschseins, des Menschlichen von Grund auf beleuchten, und zwar aus der Sicht und mit den Möglichkeiten der eingeladenen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die sich alle bereits profund zu dem Thema geäußert hätten. Eine interne Angelegenheit, so hieß es weiter, nicht verborgen, nicht geheim, aber in Form höchstmöglicher Konzentration. Beiliegend fand ich die Versicherung, der Aufenthalt im Kongress-Hotel sei für alle Teilnehmenden vollkommen kostenfrei, nur die Reisekosten müsse man selbst tragen. Anreisetag sei der 1. Oktober, die Dauer der Veranstaltung richte sich nach der Anzahl der Beiträge. Die Begrüßung aller Teilnehmenden durch Vertreter des Bureaus fände am 1. Oktober um 19 Uhr im Kleinen Konferenzraum statt, man bitte um zeitige Anreise. Ein Buffet stünde bereit und so auch einem zwanglosen Kennenlernen nichts im Wege. Näheres werde man am Ort des Geschehens erfahren.

 

Nun ja, dachte ich, das hört sich zwar nicht ausnehmend spannend an, und wer wusste schon, was für Gestalten da auftauchen würden, aber schließlich würde mich die ganze Chose nichts weiter kosten als die Fahrkarten. Ich sollte es wagen! In einem beiliegenden Prospekt fanden sich einige Informationen zum Hotel, das, so hieß es, einige Jahre leer gestanden habe, nun aber wieder in Betrieb sei und ausschließlich komplett gemietet werden könne für Tagungen, Kongresse und dergleichen. Die Lage in einem der schönsten deutschen Mittelgebirge, nicht weit entfernt der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, sei außerordentlich günstig, man könne sich bestens sportlich betätigen, Wandern, Skifahren, Radfahren, Schwimmen und so weiter, das Restaurant sei ebenso wie die Bar hervorragend, das im Tal liegende Städtchen fußläufig zu erreichen etc. pp. Ein Foto der Anlage zeigte einen klotzigen Betonbau, mutmaßlich aus den späten Sechziger-, frühen Siebziger Jahren, auf einer Bergflanke inmitten von Wald gelegen, ein weiteres das Foyer, in dem ebenfalls Sichtbeton die Optik dominierte.

 

Kurzentschlossen buchte ich, da ich kein Auto besaß, online die Zugfahrt, bei der ich laut Auskunft der Bahn vier Mal umzusteigen hatte. Die Rückfahrt ließ ich, angesichts der unbestimmten Dauer der Veranstaltung, ungebucht. Vorsorglich verschob ich noch einige berufliche und private Termine in die zweite Oktoberhälfte und den November und rief dann gegen Abend meine Nichte Sarah an, sie könne, wie immer, wenn ich verreist sei, in meiner Wohnung wohnen, vom ersten Oktober an für ein paar Tage, vielleicht auch länger. Sie sagte zu, sie mag meine Wohnung, und außerdem wüsste ich ja, sie sitze an ihrer Masterarbeit und könne nichts besseres gebrauchen als einen ruhigen Arbeitsplatz. Ich erzählte ihr, ohne ins Detail zu gehen, noch kurz etwas von dem geplanten Kongress und meinem Artikel in der Wochenzeitung, schickte ihr auch gleich den entsprechenden Link, worauf wir das Telefongespräch beendeten. Ich bin kein großer Telefonierer.

 

Seltsam, dachte ich, den Hörer meines aus aller Mode geratenen Apparates auflegend, da schreibe ich aus dem Lamäng heraus einen Artikel, stelle ihn online, und schon finde ich mich Wochen später auf einem Kongress in der Rolle des Vortragenden wider. Das hob durchaus meine Stimmung, wie immer, wenn ich als Literat ein wenig Beachtung fand. Und oft passierte das nun wahrlich nicht. Ich arbeitete den Text des Artikels auch sogleich ein wenig für den Vortrag um, ohne mir dabei besondere Mühe zu geben. Ein größerer Aufwand schien mir unnötig, das Wesentliche stand ja bereits klar und deutlich im Text. Die Vortragsdauer würde bei etwa vierzig Minuten liegen, das sollte, dachte ich, ausreichend sein.

 

Ich machte mich wieder an meine übliche Arbeit, die im wesentlichen daraus besteht, für eine Agentur literarische Texte zu sichten, Kurzbeschreibungen zu verfassen und sie zu verschlagworten. Gelegentlich las ich sogar einen Text von vorne bis hinten, statt ihn nur zu überfliegen. Das Gelungene aber bleibt immer die Ausnahme, die meisten Texte sind im besten Falle mittelmäßig und die Schlagworte immer die selben: Familie, Kinder, Krankheit, Sexualität, Fremdgehen, Körperscham, Homosexualität, Frausein, Mannsein, Missbrauch, Urlaub, Tod, Verderben, Vergewaltigung, Hunde, Katzen, Migrationshintergrund, Exotik und so weiter, neuerdings auch immer häufiger Geschlechtsidentität, Folter, Krieg, Vertreibung, Flucht, Integration, Klimakrise und Weltende. Von den meisten Autoren wird eines der drei, vier, höchstens fünf üblichen Romangrundmuster verwendet, man sollte sie durchnummerieren, und ausnehmend viel mit wörtlicher Rede gearbeitet. Und natürlich findet sich zwischen den Zeilen immer der Wunsch implantiert, die Geschichte möge verfilmbar sein. Sarah zieh mich, beklagte ich diese Art und Weise des Schreibens, des öfteren einen ungerechten Besserwisserei, verkniff sich aber, wie ich deutlich erkennen konnte, jeden Hinwies auf mein Alter, meine Hautfarbe, mein Geschlecht und so weiter, wodurch ich mich aber jedes Mal des Vergnügens beraubt sah, ihr meinerseits einiges vorzuhalten und so eine Diskussion loszutreten. Oh ja, Sarah ist schlau, auch wenn sie weniger weiß, als sie zu wissen vorgibt – seit je her ein (oder sogar das) Privileg der Jugend. In jedem Fall besitzt sie ein anerzogenes Selbstbewusstsein, das ich mir wie einen Tunnel mit Milchglaswänden vorstelle, und genau so sagte ich ihr das auch eines Tages, worauf sie nur mit einem gedehnten Onkel Moritz! antwortete, obwohl sie sonst nie Onkel zu mir sagt. Zum Glück schreibt sie keine Romane, wie doch so viele ihrer Art- und Altersgenossen – ja überhaupt scheint es mir heutzutage so zu sein, dass wirklich jeder Hampel und jede Hampeline glaubt schreiben zu können und zu müssen, so ich mich allerdings dementsprechend und andererseits nicht beklagen kann über einen Mangel an Aufträgen. Von irgendetwas muss der Mensch ja schließlich leben, und so stapeln sich die Texte seit ein, zwei Jahren unübersehbar in meinem nicht allzu großen Arbeitszimmer.

 

Apropos Texte: ich bestehe weiterhin darauf, mir alle Texte ausgedruckt liefern zu lassen, ein ständiges Ärgernis für die Mitarbeiter der kleinen Agentur, die, abgesehen von der Seniorchefin, Frau Anneliese Pröper, nur noch aus sehr jungen, an den Hochschulen des Landes ausgebildeten Literaturwissenschaftlern jederlei Geschlechts besteht und die, so in einer gemeinschaftlichen E-Mail an mich, das Ausdrucken als Umweltverschmutzung ansehen, und zwar generell. Der Ausdruck einer Seite, das sollte ich doch bitte bedenken, verbrauche mindestens 15 g Holz, 260 ml Wasser, 0,05 kWh Strom und 5 g CO 2. Auch hier kein Bezug auf mein Alter, Geschlecht und so weiter, doch ich konnte mir schon vorstellen, mit welchen Sprüchen das Verfassen der Nachricht verbunden gewesen ist. So etwas sickert ja immer ein und gerät zwischen die Zeilen. Ich antwortete höflich und bestimmt, ich könne anders nicht arbeiten, und so bekomme ich weiterhin in unregelmäßigen Abständen dicke Pakete vom Copy-Shop nebenan geliefert, von denen schließlich auch noch mehrere ungeöffnet auf der Fensterbank in der Küche liegen, als ich am sehr frühen Morgen des 1. Oktobers die Wohnungstüre hinter mir abschließe und mit meinem großen Koffer die Treppe hinuntertapere. Vor dem Haus, im trüben Schein einer Straßenlaterne, steht das bestellte Taxi, ein den traditionellen Londoner Taxen nachempfundenes E-Modell. Ich öffne die Schiebetür und wuchte meinen Koffer hinein. Guten Morgen, sage ich, zum Hauptbahnhof bitte. Von der Taxifahrerin ein Murren, ein prüfender Blick durchfährt mich, den ich erwidere. Mit einem Ruck geht es los. Die Hände der Fahrerin liegen wie zwei rohe Schnitzel auf dem Lenkrad. Hauptbahnhof, sagt sie schließlich, an das Ende der Taxireihe heranrollend. Ich bezahle bar, wieder ein vernehmliches Murren, trotz des ordentlichen Trinkgelds, greife meinen Koffer und steige aus.

 

Gute neun Stunden später, die ich schlafend, lesend oder auf Kulturlandschaft und Wald starrend zubringe, fahre ich, wiederum mit einem Taxi, einem alten dieselbetriebenen Mercedes-Benz aus den 70er-Jahren, ein Oldtimer, der eine Million Kilometer gefahren sei, so der Fahrer, auf das Kongress-Hotel zu. Überaus zügig geht es schmale Straßen entlang, Kurve um Kurve, serpentinenartig. Zwischen den Stämmen des veritablen Mischwaldes taucht hoch am Berghang liegend bald immer wieder das Hotel auf, über dem eine tannengekrönte Steilwand aus Schiefergestein zu erkennen ist. Im Prospekt, denke ich, war davon aber nichts zu sehen, doch da befahren wir auch schon in betonter Langsamkeit die leicht bergan angelegte halbkreisförmige, mit weißen und grauen Kieseln aufgeschüttete Auffahrt. Es knirschte hell unter den Reifen. Kriiii, macht es. Voilà, sagt der Fahrer, dreht sich zu mir herum und streicht sich mit Daumen und Zeigefinger lippenentlang den grauen Schnäuzer, da wären wir. Das Kongress-Hotel! Ich bedanke mich und gebe, wie es ja schließlich meine Art ist, auch ihm großzügig Trinkgeld.

 

Da stehe ich also im Dunst der sich verflüchtigenden Dieselabgase vor einer zweiflügeligen Glastüre, schwer mit Stahl gefasst. Links und rechts Drehtüren, flankiert von Pflanzenkübeln aus Waschbeton, in denen die Fette Henne dunkelrosa und üppig und satt gedeiht. Ich werfe einen Blick die Fassade hoch auf wuchtiggrauen Beton. Hier und da macht sich dunkelgrünes Moos in den Fugen breit. Mich überkommt ein seltsames Gefühl. Ist es, denke ich, nicht eigentlich grundfalsch, aus der Welt hinaus in so einen Klotz zu gehen, und sei es auch nur für wenige Tage? Sicher, Wald und Mittelgebirge und die gute Luft sind in ihrer Kombination nicht zu verachten. Aber sonst? Hatte ich mir das auch gut überlegt, dieses Zusammentreffen mit den werten Kollegen und Kolleginnen? Schließlich meide ich ja auch in der Großstadt solche Veranstaltungen. Nicht mal zur Jahreshauptversammlung des Schriftstellerverbandes gehe ich. Einmal, nie wieder. Wäre das Wort nicht schon vergeben, der Verband müsste sich in Schaustellerverband umbenennen.

 

Im Innern des Klotzes, des Hotels, ist indes nichts zu erkennen, ich sehe nur mich und den Wald und den Himmel klar und deutlich gespiegelt in der großflächigen Scheibenwelt. Entschlossen schreite ich schließlich auf den Eingang zu. Die Flügel öffnen sich automatisch. Stein und Beton tun sich mir auf. Ich hatte nichts anderes erwartet. Die an langen Stangen hängenden kugeligen, kupferfarbigen Lampen, sicher zwanzig Stück an der Zahl, erzeugen eine gewisse Wärme, Flecken warmen Lichts auf glänzendem Steinboden. Doch noch bevor ich mich weiter umsehen kann, sagt eine weibliche Stimme laut und vernehmlich meinen Namen. Dr. Westphal, Moritz Alexander Westphal! Eine Feststellung, keine Frage. Irritiert erkenne ich eine junge Frau, die aus der Tiefe des halbdunklen Raumes auf mich zugeht, bekleidet mit einer Art Pagenuniform, hellgrau mit blassblauen Applikationen, die Jacke zweireihig golden beknöpft, der Rock knielang, dazu graue Strumpfhosen und flache Slipper mit Goldbesatz. Die dunklen, fast schwarzen Haare wie lackiert, streng nach hinten gestrichen und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich nicke ihr zu, ohne ein Wort zu sagen, worauf sie mich, die Lichtinseln deutlich meidend, mäandernd zum wuchtigen Empfangstresen der Rezeption geleitet, gute zwanzig Schritte entfernt und nicht zu verfehlen.

 

Westphal, sagt sie noch einmal, Dr. Moritz Alexander Westphal, worauf der Portier, ein Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren mit auffallend borstigem, schwarzem Haar, in einer ganz ähnlichen Uniformjacke steckend, sich mir wachen Blickes und mit schräggeneigtem Kopf lächelnd zuwendet. Über ihm eine große Klappzahlenuhr. Soeben fällt die 4 über die 3: 17 Uhr 44. Willkommen im Kongress-Hotel, sagt der Portier routiniert, ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. Die mir auf der Zunge liegende Frage, woher denn die junge Frau, die allerdings schon wieder verschwunden war, meinen Namen so sicher wusste, lasse ich unausgesprochen, auch wenn der Mann sie ganz sicher erwartet und eine passende Antwort parat hat. Ich sage also nichts, stelle meinen Koffer ab und lege die Ellenbogen auf den kalten grauweiß gesprenkelten Marmortresen.

 

Zimmer 464, sagt der Mann. Ein Eckzimmer. Schöner Blick über Tal und Wald. Er lächelt gewinnend. Wenn Sie fragen haben, fährt er fort, stehen wir zu Ihrer Verfügung. Hinweisen möchte ich Sie aber noch darauf, dass gelegentlich Probleme bei der Stromversorgung des Hotels auftauchen können, aber das wissen Sie ja sicher bereits. Ich sehe ihn irritiert an. Aber nein, sage ich, davon weiß ich nichts, doch statt einer Erwiderung erfahre ich lediglich, dass der Zimmerschlüssel steckt und die Fahrstühle dort drüben zu finden seien. Er weist, von mir aus gesehen, nach rechts. Das Treppenhaus finde ich wo, frage ich zurück. Er weist nach links zu einer unscheinbaren Tür. Eine Pause entsteht. Das Wort Stromausfall steht als Elefant am Tresen und zwinkert uns zu. Die Anmeldungen, sagt der Portier schließlich, auch die Ihre, sind bereits ausgefüllt. Wie zum Beweis nimmt er einen schmalen Aktenordner zur Hand und zeigte ihn mir. Ich nicke. Wir sind ein Kongress-Hotel, fährt er steif fort, als sei das eine ausreichende Erklärung für die bereits ausgefüllte Anmeldung und den in der Tür steckenden Schlüssel. Einen schönen Aufenthalt und einen ertragreichen Kongress wünsche ich, sagt er dann noch und blickt an mir vorbei in die Halle! Ich sage Danke, nehme meinen Koffer und gehe langsam in Richtung Treppenhaus.

 

Das erste, was in einem Hotel getan werden muss, ist, sich der Fluchtwege zu versichern. Das Treppenhaus. Außenliegende Fluchttreppen. Auch unkonventionelle Fluchtmöglichkeiten sind zu ergründen. Für den Fall des Falles. So stapfe ich also das schlicht in Sichtbeton gehaltene, fensterlose und ausnehmend trüb beleuchtete Treppenhaus hinauf und zugleich in Gedanken wieder herunter. Wie erwartet findet sich auf jedem Treppenabsatz in großen, mithilfe von Schablonen aufgemalten Buchstaben der Hinweis auf das Stockwerk und die Zimmernummern, Erstes Obergeschoss: 101 – 164, Zweites Obergeschoss: 201 – 264, Drittes Obergeschoss: 301 – 364 und endlich Viertes Obergeschoss: 401 – 464.

 

Ich trete durch eine Glastüre in den Flur, grauer Teppichboden, indirekte Beleuchtung, und gehe instinktiv nach rechts. Ganz am Ende linkerhand mein Zimmer. Der Schlüssel steckt, wie auch in allen anderen Zimmertüren, die ich passiert hatte. Sollte ich der erste Gast sein, frage ich mich. Ich ziehe den Schlüssel ab, trete ein, knipste das Licht an, schließe die Tür hinter mir, stecke den Schlüssel ins Schloss und sperre ab. Absolute Stille umfängt mich. Ein Hämmern des Herzens, ein Sausen im Ohr, ein Druck in der Kehle. Ruhe ist mir lieb, Stille zuwider. Ich räuspere mich. Der Vorraum klein, offene Schrankfächer links, rechts die Tür zum Bad. Ich trete in den Hauptraum. Auch hier Sichtbetonwände, die die Lebensgeschichte, so denke ich sogleich, der Bäume bewahren.

 

Ich lege den Koffer aufs Bett, ein großer, schwarzer Kasten, überhoch, so scheint mir, einen Meter vierzig breit, so schätze ich, grauweiß belegt mit einer quadratisch gemusterten Tagesdecke. Ein Holzstuhl mit Armlehnen, die Sitzfläche graubezogen, dazu ein runder Tisch mit Metalluntergestell und schwarzglänzender Platte aus Glas. Vor dem quadratischen Fenster mit dunklem Stahlrahmen eine weiße Gardine, Vorhänge links und rechts in Betongrau, ganz und gar gleich der Tönung des Fußbodens, offensichtlich eine Naturstein-Kunststoffmelange, die wie Granit wirken soll. Ein überaus graues Zimmer, stelle ich fest. Immerhin aber ist es mollig warm im Raum, sicher eine Fußbodenheizung. Heizkörper sind nirgends zu entdecken.

 

Mmh, sage ich überlaut, trete zum Fenster und blicke auf einen frühherbstlichen Wald. In dieser Richtung muss wohl das Städtchen mit dem eingleisigen Bahnhof liegen, an dem ich angekommen bin. Aber ich konnte mich auch täuschen. Ich öffne das Fenster. Kühle, feuchte und ausnehmend harzige Luft dringt herein. Was tun? Die bequeme Reisekleidung war zu wechseln gegen Angemessenes, gegen meine persönliche Schriftstellergewandung, in der ich mich leidlich gewappnet fühle: derb-elegante dunkelblaue Jeans, braun-weiß gestreifte Hosenträger, eine dunkelrote Weste mit feinen blauen Nadelstreifen über dem langarmigen, blauen Henley-Shirt, eine dunkelblaue Jacke mit Mao-Kragen, ein farblich passendes, anthrazitfarbenes Halstuch. Dazu feste dunkelbraune, halbhohe Schnürstiefel, die auch zum Wandern taugen würden.

 

Gewappnet und gewandet!

 

Ich schließe das Fenster, öffne den Koffer, lege die Kleidung aufs Bett und stelle die Schuhe unter den Stuhl. Meinen Rechner, ein schon altes MacBook Air, platziere ich auf der Glasplatte des Nachttisches. Gut, sage ich laut und trommele mir ein paar Mal mit den Fäusten gegen die Brust, ich bin bereit! Meine Armbanduhr zeigt 17 Uhr 58. Noch eine Stunde bis zum Beginn des Kongresses. Hoffentlich ist wenigstens das Essen gut.

 

Westphal tritt nackt und bloß ins Badezimmer. Oh, sagte er laut, eine Emaille-Badewanne! Ein seltener Umstand in einem Hotel. Zumeist findet sich in den üblichen Hotelunterkünften nichts weiter als eine ordinäre Dusche, und wenn es denn selten mal eine Wanne ist, so besteht diese eher aus Kunststoff, Plaste, Plastik, aus irgendeinem Verbundstoff, so dass an ein entspanntes Baden gar nicht zu denken ist. Hier aber, auf den ersten Blick erkennbar, eine Wanne aus Emaille. Er prüfte sogleich mit den Fingerspitzen den Zustand des Wannenbodens. Es ist wichtig, sehr wichtig, dass dieser absolut glatt ist. Mit dem nackten Hintern auf einem rauhen, zersessen Badewannenboden zu sitzen, empfindet er als unzumutbar. Emaille hin oder her. So hatte er beim Einzug in seine Wohnung vor gut zwei Jahrzehnten vehement darauf bestanden, eine neue Badewanne eingebaut zu bekommen. Das war durchaus ein kleiner Kampf gewesen, aus dem er aber als Sieger hervorgegangen ist, weil er nämlich seinen Hintern im Namen aller Hintern als Zeugen aufgerufen hat. Wollten Sie denn, so schrieb er in einem Brief an die Verwaltung, mit Ihrem Hintern auf den Kratzspuren der Vormieter sitzen? Und da hatte er einen Punkt getroffen! Denn musste nicht ein jeder Mitarbeiter, eine jede Mitarbeiterin bei diesen Zeilen an einen verhärmten und verhornten, alten und plattgesessenen Mieterhintern denken, der die unschuldige weiße Emaille zerkratzte? Und zugleich Westphals Hintern vor Augen haben als einen wohlgeformten, glatt und schön wie das edle Material, auf dem er zu sitzen kommen würde? Und müsste nicht ein jeder Mitarbeiter, eine jede Mitarbeiterin, von diesem Bilde ausgehend, ihn selbst, ihren Mieter und zugleich Mitglied der Wohnungsbaugenossenschaft, überhaupt als einen mit einem schönen Körper beschenkten Menschen vor Augen haben, dem eine minderwertige, alte und zersessene Badewanne schlicht nicht zuzumuten ist? Nun ja, der Coup gelang.

 

Die Eieruhr, die er als mechanische Versicherung der Zeit auf Reisen immer mit sich führte, riss Westphal schrill aus seiner Dösigkeit. Er zog ohne zu zögern den Stöpsel, stand auf, duschte kalt, stieg aus der Wanne, trocknete sich ab, bestrich die Achseln mit Deo, ging ins Zimmer, öffnete das Fenster und reckte sich nach rechts hinaus. Einen kleinen Teil der Auffahrt konnte er sehen und die Straße, die im Wald verschwand. Wie eigentlich, fragte er sich, kämen all die anderen Teilnehmer zum Kongress? Am Bahnhof war er der einzige Fremde gewesen, der Einzige mit diesem fuchsartigen, neugierigen Blick, während sonst alle, die aus dem Triebwagen ausstiegen, kaum auf ihre Umwelt achteten, die ihnen ja auch schließlich aus dem Effeff bekannt sein musste. Sollte er der einzige Teilnehmer sein, der mit der Bahn anreiste? Die Bahn fuhr im Zweistundentakt. Er schloss das Fenster und zog sich an.

 

Zehn Minuten später stand er fertig angezogen, ein wenig nachschwitzend, im Vorraum des Hotelzimmers, die Türklinke in der Hand. Die Armbanduhr zeigte 18 Uhr 47. Westphal hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn da unten erwartete. Seine Erfahrungen mit Tagungen und Kongressen waren äußerst begrenzt. Vier Mal war er bisher auf solchen Veranstaltungen gewesen, vier Tagungsbände mit seinem Beitrag fanden sich dementsprechend zuhause in seiner Bibliothek. Doch das war auch schon nahezu alles, was er dazu zu berichten hätte, wenn ihn denn jemand fragen würde. Er erinnere sich nur vage an Zugfahrten, an Hotelzimmer und an Vorträge, denen er nicht folgte und stattdessen seinen Träumen nachhing, an unverbindliche Gespräche mit ihm zuvor völlig unbekannten Schriftstellern oder Wissenschaftlern, schlechtes Essen, schlechte Schnäpse und schlechten Schlaf. Würde es dieses Mal anders ablaufen, fragte er sich. Und welche Art von Kollegen würde er antreffen? Solche in seinem Alter, zwischen, er wollte großzügig sein, fünfundvierzig und Ende fünfzig? Oder ganz junge, gleichsam frischgeschlüpfte? Auch mit greisen Autoren ist immer zu rechnen, so dachte er, die, von der Servicekraft bis zum Hoteldirektor, durch die Bank alles durchduzen, seit sechzig oder siebzig Jahren Bücher veröffentlichen, Preise gewinnen, unzählige Tagungen erlebt haben und natürlich, wie sie nur zu gerne durchblicken lassen, in geschmackvollen Vorstadtvillen oder gleich in einem Landhaus leben und tatsächlich auf jedes Stichwort hin Bedeutendes zu erzählen haben. Meriten, Meriten, dachte er, man kommt aus dem zustimmenden Nicken gar nicht mehr heraus und kann froh sein, wenn man seine orthopädische Halskrause nicht vergesssen hat. Habe ich aber, fiel ihm ein, immer noch im Flur stehend, die Klinke in der Hand, 18 Uhr 49, aber immerhin hatte er an eine Wärmeflasche gedacht und auch an die Kniebandagen, falls es zu Wanderungen kommen sollte.

 

Für seine erste Tagung, zu der er als frisch gekürter Doktor phil. eingeladen worden war, das ist lange her, da war er noch jung, hatte er sogar Kondome eingepackt, erinnert er sich. Alle hatten damals immerzu Kondome bei sich, wahrscheinlich wegen Aids und auch, weil sich alle für unwiderstehlich hielten. Die Wirklichkeit sah dann aber anders aus und er reiste nach drei Tagen beschämt ab. Alles umarmte sich beim Abschiednehmen, erinnert er sich, ihm gab man die Hand und sagte steif Auf Wiedersehen und Tschüss mit ganz kurzem Ü. Irgendetwas musste er falsch gemacht haben, damals.

 

Nun, dieses Mal hatte er keine Kondome im Gepäck, auch keine zuhause in seiner Wohnung, und überhaupt war alles Zwischengeschlechtliche und Lebensfeuchte ganz und gar aus seinem Leben verschwunden. Nichts knisterte mehr, traf er sich gelegentlich mit Kolleginnen, ja nicht mal den Avancen von Männern musste er sich heutigentags erwehren, was ihm ja weiß Gott immer schwer gefallen ist, weil er nie wusste, ob es sich überhaupt um solche handelte, ob also der Kerl da gegenüber nun wirklich an seinen Ansichten interessiert ist und ob er wirklich seine Bücher gelesen hat, oder ob er einfach nur Sex mit ihm wollte. Oft hat es Stunden gedauert, bis er ein klares Nein aussprechen konnte, und dies eigentlich auch immer erst dann, wenn sein Gegenüber, nicht selten schwer betrunken, deutlicher wurde. Ihn küssen wollte oder anfassen. Dabei fiel ihm die Vorstellung immer schwer, für Männer überhaupt attraktiv sein zu können. Naja, die Hormone, dachte er, denkt er immer noch, der Mensch ist ein Getriebener seiner Hormone und als Vernunftwesen somit höchst fehlbar, ja imgrunde ist der Mensch nichts weiter als ein Säugetier und allenfalls ein Teilzeitvernunftwesen, Kant und Konsorten zum ewigen Trotz.

 

Aber gut, dachte Westphal, 18 Uhr 51, gehen wir es an. Er schloss auf, nahm den Schlüssel an sich, trat auf den Flur, zog die Tür hinter sich zu, schloss ab, steckte den Schlüssel in die rechte Westentasche, atmete tief durch und machte sich auf den Weg Richtung Treppenhaus. Er kam nicht weit, denn linkerhand, schräg gegenüber seines Zimmers, öffnete sich mit einem Ruck die Tür der Nummer 461. Ein schmächtiger Mann mittleren Alters trat heraus, schloss die Tür ab, ließ den Schlüssel in seine rechte Westentasche gleiten und straffte sich. Ah, sagte er, Westphal erblickend, ein weiterer Kongress-Teilnehmer. Wie schön, ich dachte schon, ich wäre der einzige. Er lachte, ging einen Schritt auf Moritz zu, der ganz erstarrt dastand, streckte ihm die Rechte entgegen und sagte Hermann Dotz, Schriftsteller. Westphal sah auf seine Armbanduhr, vielleicht um Zeit zu gewinnen, atmete tief durch, schüttelte die in der Luft hängende, kalte Hand und nannte seinen Namen. Moritz Alexander Westphal, sagte er und hatte prompt den Namen seines Gegenübers in eben diesem Augenblick vergessen. Das passierte ihm allzu oft, so als überschriebe sein eigener Name denjenigen des Anderen. Er fragte sogleich nach und drückte dabei in der Art der Schwerhörigen mit dem Zeigefinger die Ohrmuschel von hinten nach vorne. Dotz, sagte Dotz noch einmal, Hermann Dotz, ich habe zuletzt den Roman Niemandes Versprechen veröffentlicht, womöglich haben Sie davon gehört oder ihn gar gelesen. Moritz lächelte, ohne auf die Frage eine Antwort zu geben. Scheerbart / Hologramm sagte er stattdessen, mein neuestes Werk.

 

Die beiden Männer blinzeln sich an. Wollen wir, sagt Westphal endlich und weist in Richtung Treppenhaus. Dotz jedoch stellt sich als Fahrstuhlbenutzer heraus. Westphal überlegte kurz, ob er das mit den drohenden Stromausfällen anmerken sollte. Stattdessen aber ruft er Dotz ein Bis gleich! zu und lässt ihn wartend dort stehen, während er selbst mit einer übertriebenen Leichtigkeit die Tür zum Treppenhaus aufreißt und, obwohl niemand ihn sieht, ebenso leicht und locker die Treppen hinunterspringt. Hui! Dotz, Hermann Dotz, ich werde mir alle Namen merken müssen, sagt er sich, während er hinuntergleitet, hinunterfliegt, Stufe um Stufe, Absatz um Absatz, ein Sichfallenlassen und Sichwiederauffangen, mal mit dem linken, mal mit dem rechten Fuß, die Betonwände verschwimmen geradezu, ein grauer Wirbel ist um ihn herum, woher nur plötzlich diese Energie!, und nach einer letzten Wendung musste nun ja auch die Türe zum Foyer rechter Hand erscheinen. Aber nein, stellt er, schon weiterspringend, überrascht fest, ich habe mich getäuscht, noch ein Absatz, noch einer, doch keine Türe, weder eine zu einem Stockwerk noch zum Foyer, und so läuft er weiter hinab, hinab und hinab, wirbelt weiter und weiter nach unten in einen grauen Schlund hinein, was tue ich denn, fragt er sich endlich, was tue ich!, er schreit Halt, Halt, Halt!, und dann schafft er es, ein Kraftakt, eine Willensleistung sondergleichen, sich selbst auf einem Treppenabsatz zu stoppen.

 

Wie dumm, denkt Westphal, sich schüttelnd, nach Luft ringend, was nur ist in ihn gefahren? Und jetzt muss ich wohl oder übel, denkt er, auch noch wieder hinauf. Er versucht, über sich zu lachen, das wird helfen, denkt er, wie dumm kann man sein, doch das Lachen bleibt ihm im Halse stecken. Linkerhand geht es, vorsichtig riskiert er einen Blick, weiter in die trübe Tiefe des Treppenhauses, kein Grund ist zu erkennen, nur Schwärze, rechterhand aber befindet sich, wie er feststellt, immerhin eine Tür. Mmh. Eine Glastür wie all die anderen. Wahrscheinlich zur Tiefgarage. Soll ich, fragt er sich, und da packt ihn auch schon die Neugierde am Kragen. Er zieht die Tür auf und tut einen Schritt ins Dunkle. Noch ein Schritt, vorsichtig. Kind der Moderne, das er ist, wartet er auf ein Aufflackern der Beleuchtung. Nichts. Stattdessen ein Klacken. Die Tür. Zugefallen. Vor ihm undurchdringliche Dunkelheit. Eine ganz schlechte Idee ist das gewesen, denkt er, greift nach hinten, bekommt die Türklinke zu fassen, drückt sie hinunter und wirft sich, auf dem Absatz sich drehend, gegen die Tür. Zu! Nicht zu öffnen. Ins Schloss gefallen. Ein Blitz fährt ihm durchs Schädeldach …

 

Ich atmete schnell und flach angesichts der absoluten Schwärze, der Tiefe, der Kälte. Der undurchdringlichen Finsternis. Immerhin aber konnte ich durch die Glastüre hindurch das Treppenhaus erkennen, trübe und grau. Der Treppenabsatz, die Treppenstufen hinab und hinauf. Wird man mich suchen, so fragte ich mich. Würde dieser Kerl, dieser Dotz, zu Protokoll geben, ich sei das Treppenhaus hinunter, statt den Fahrstuhl zu benutzen? Oder fiele meine Abwesenheit etwa gar nicht auf? Notfalls würde ich die Tür einrennen müssen. Ich versuchte wiederum über mich zu lachen, mir vorzustellen, wie dieser Idiot, ich, vom Treppenhaus betrachtet aussähe, die Hände an die Scheibe gepresst und die Nase ganz platt. Aber es gelingt wieder nicht, und das Ganze ist ja auch, sagte ich mir, absolut nicht zum Lachen, und in eben diesem Augenblick fällt mir mein Mobiltelefon ein. Ich langte in meine rechte Hosentasche. Kein Empfang, das war zu erwarten gewesen, aber Licht, ja, Licht hatte ich nun immerhin. Ich drückte eine Weile auf dem Gerät herum, bis das eingebaute Lämpchen aufleuchtet. Okay, sagte ich leise und erkannte einen rauen Betonboden und in einiger Entfernung aus Backstein gemauerte meterhohe, geweißelte Wände, auf denen Tonnendecken aufsitzen. Ganz vage im schwachen Schein weit entfernt drei Öffnungen in den Wänden links und rechts und in der Stirnwand. Schwarze Löcher im vage weißen Gemäuer.

 

Was tun, Moritz, sagte ich mir, das hast du dir selbst eingebrockt, sieh zu, wie du wieder hinauskommst ans Licht. An die Luft. Ich ging ein paar Dutzend Schritte und inspizierte die drei mannshohen Öffnungen in den Wänden. Hinter denen wieder Räume sind. Hallen so groß wie die erste. Was also tun? An der Türe zum Treppenhaus auf Rettung warten, die Scheibe einzudrücken, sie zu zerschmettern versuchen? Oder durch eine der Öffnungen in eine nächste Halle vordringen mit der Hoffnung, von da aus nach draußen zu finden? Welchen Weg sollte ich wählen? Der Akku meines altmodischen Telefons war noch gut zur Hälfte aufgeladen. Wie lange das Licht aber noch funktionieren würde, konnte ich nicht abschätzen. Nicht auszudenken, ich stünde mitten in einer dieser Hallen in völliger Finsternis. Trotz dieser Gedanken beschloss ich schließlich, den Durchgang in der Stirnwand zu benutzen. Mit einem Ruck ging ich los. Eine Halle folgte auf die nächste, zwei, drei, vier hintereinander, bis ich endlich in einiger Entfernung einen Lichtstreifen entdeckte. Kurz darauf stand ich vor einer hellgrauen Stahltüre, auf der in großen schwarzen Buchstaben das Wort NOTAUSGANG aufgemalt war. Ich drückte die Klinke und warf mich zugleich mit der Schulter dagegen.

 

Eine schmale Straße, ganz unschuldig im Sonnenlicht daliegend. Vogelgezitscher.

 

Westphal! ruft jemand mit vorwurfsvollem Unterton, da sind Sie ja, gerade eben noch in der Zeit! Dotz! Lässig an eine Wand gelehnt. Mit einer hebenden Bewegung des Kinns lenkt er meinen Blick in einen mit Nadelholzbrettern verkleideten Raum, dessen Flügeltüren weit offen stehen und in dem ich einige Grüppchen von Menschen ausmache. Der Kleine Konferenzraum. Da wäre ich also. Ich blicke auf meine Armbanduhr. 18 Uhr 59. Sollte das ganze Abenteuer in den Katakomben dort unten mich nicht mal zehn Minuten gekostet haben? Irritiert trete ich auf den schmächtigen Menschen zu. Dotz, sagt er spitz, Sie erinnern sich, wir trafen uns im vierten Stock. Er lächelt vielsagend und erklärt sogleich gönnerisch, er kenne das, Tagungen und Kongresse ohne Verwirrungen zu überstehen, sei schlichtweg unmöglich. Ja, sage ich, Dotz, Hermann Dotz, ich erinnere mich, und ich musste wohl versucht haben, locker zu lächeln, spürte aber schmerzlich, dass mir das nicht gelingen wollte. Bestenfalls hatte ich ein Grinsen hinbekommen, schlimmstenfalls ein Zähnefletschen. In diesem Augenblick aber wurde eine Glocke betätigt, oder eher ein Gong, denn der Ton waberte in sich verebbend nach, und so trete ich inmitten anderer Gestalten wie automatisch in den Raum, in dem ich zwei Blöcke mit fünf Stuhlreihen von je sechs Stühlen ausmache, dazwischen ein Mittelgang. Die Bühne, kaum höher als 30 Zentimeter, von mehreren Spots hell erleuchtet, nimmt den gesamten hinteren Bereich vor der Rückwand ein und ist vollkommen leer. Ich bleibe stehen. Alles läuft an mir vorbei. Ich zähle durch. In etwa zwei Dutzend Personen, so stelle ich schließlich Pi mal Daumen fest, Männlein wie Weiblein, die Jüngsten um die zwanzig, so denke ich, die Ältesten um die achtzig, alle in ihrem individuellen Schriftstellergewand. Hosen- wie Herrenanzüge sind zu finden, indisch anmutende Zweiteiler, volkstümelnde Wollkostüme, Maojacken, Miniröcke und Designerjeans, dazu Lackschuhe, Budapester, Pumps, Sneaker, Wander- und Westernstiefel und so weiter. Eine Blase, denke ich, eine doppelt-konkave Kugel mit schreibenden Existenzen, eine inwändige Angelegenheit ohne jeden Mehr- und Marktwert. Doch noch bevor ich weitere Lästerungen zwischen meinen Gehirnkammern hin und her schicken kann, betritt eine junge Frau in einem dunkelgrünen Wollkostüm die kleine Bühne, stellt sich ins Licht des mittleren Spots und beginnt ohne Umschweife zu sprechen, man wolle beginnen, bitte Platz zu nehmen, während sich im gleichen Augenblick die doppelflügelige Tür hinter uns langsam und offensichtlich automatisch schließt. Alles setzt sich, Grüppchen finden sich, sei es mit Bedacht, sei es aus Zufall. Dotz und ich nehmen, ohne dass wir das durch irgendein Wort oder eine Geste vereinbart hätten, mittig in der letzten Reihe des linken Blocks platz. Ruhe tritt ein.

 

Die Frau nickt uns lächelnd zu, zwei Mal, drei Mal, so als wolle sie uns belobigen. Mein Name, sagt sie endlich leise, ist Anna Bulgakowa vom Bureau zur zukünftigen Rückführung der Welt zu ihrer ursprünglichen Beziehung zur Kunst. Wir freuen uns, Sie hier begrüßen zu dürfen. Fühlen Sie sich bitte ganz wie zuhause. Im Anschluss an diese Einführung bitten wir Sie, sich am Buffett im Vorraum zu bedienen. Dort gibt es sowohl Fleischspeisen als auch vegetarische wie vegane, die genauen Zutaten finden Sie jeweils auf den Schildchen aufgelistet. Die Getränke, die sie sich an der Bar holen können, sind frei. Dies gilt für die gesamte Dauer des Kongresses. Nun kurz zu den Einzelheiten …

 

Ich nahm in diesem Augenblick, ganz wie zu Schulzeiten, einfach an, mein Nebenmann werde sich schon alles merken und es mir bei Bedarf referieren können. Nicht etwa, dass ich nicht aufmerksam war, ich schlief nicht ein, döste nicht weg, ganz im Gegenteil schärften sich mit einem Male alle anderen Sinne. Nur das Hören wurde zu einem Rauschen, zu einer Art unregelmäßiger Brandung bei wechselndem Wind. Ich verfüge in solchen Augenblicken, woher das rührt, weiß ich nicht, aber so ist es, vor allem über ein außerordentliches Riechvolumen. Das ist durchaus, so wie jetzt, nicht immer angenehm, denn während sich die Bulgakowa dort vorne über wer weiß was auslässt, gerät mir Dotzens Kragenspeck mit einem Male überdeutlich in die Nase. Fade und säuerlich. Und kaum war ich mir dessen bewusst geworden, addiert sich auch schon Achselschweiß hinzu, der spitzig und scharf meine Sinne traktiert. Ich rückte ein wenig ab, doch es hilft nicht. Im Sinne eines frank reply könnte ich Dotz jetzt natürlich mitteilen, er rieche ausgesprochen schlecht und solle sich doch bitte ein paar Plätze weitersetzen, doch wer weiß, denke ich, zu was er mir noch dienen kann. Ein beleidigter Dotz gleich zu Beginn des Kongresses wäre nicht sehr hilfreich. Außerdem wird er, so dachte ich, mich selbst beschwichtigend, ebenso wie ich eine umständliche Anreise hinter sich haben, aber eben nicht auf die Idee gekommen sein, zu baden oder zu duschen.

 

In diesem Augenblick dringt kurz wie ein plötzlich aufgedrehtes Radio die Stimme der Bukgakowa zu mir durch, sechs Tage, so höre ich, mit je vier Vorträgen, die Reihenfolge werde ausgelost, jedoch sei es selbstverständlich möglich, untereinander zu tauschen. Dotz machte sich derweil in der Tat mit einem Bleistiftstummel Notizen in einem kleinen Büchlein. 10 Uhr, 13 Uhr, 16 Uhr und 19 Uhr, Frühstück ab 8 Uhr, Imbiss jederzeit, auch des Nachts, höre ich noch, dann nimmt das Rauschen wieder zu, worauf ich unvermittelt das ölig nach hinten gekämmte, schwarzgelockte Haar der Bulgakowa riechen kann, eindeutig ein Duft von Zedernöl und Moschus. Das war natürlich angenehm. Musste denn nicht, so fragte ich mich sogleich, dieser Geruch, dieser Wohlgeruch, nicht eigentlich allen Teilnehmern in die Nase steigen? Ich würde Dotz, sobald wir hier fertig sind, nach seinen Eindrücken fragen müssen, doch er war sicher der Typ Mann, so glaubte ich bereits jetzt zu wissen, der die Frauen eher anstarren denn riechen würde, er mir also nur das Äußere wird beschreiben können, was ich nun aber auch selbst sehen und beschreiben kann. Die Bulgakowa: vor allem auffallend ist in jedem Fall der sehr geradlinig verlaufende Haaransatz über dem eher eckigen Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der stupsigen Nase, den aufgeworfenen Lippen. Eine zarte Gestalt, will mir scheinen, sehnig, wohlgeformt …

 

Plötzlich aber wieder ihre Stimme, … so dass nicht nur Ihre Vorträge als solche in den Sammelband Eingang finden werden, sondern auch eine Zusammenfassung der Diskussionen, die hoffentlich …, doch schon rauschte es wieder, während Dotz hastig umblätterte und schnell und für mich unleserlich einen langen Satz in sein Büchlein schrieb. Ist Dotz etwa, ging es mir durch den Kopf, einer jener Autoren, die am Ende ihres Schriftstellerlebens stolz wie Oskar eine garagenfüllende Menge an Notizen und Fragmenten bei einem Archiv ankarren, um sich dann dafür bei einer Feierlichkeit auch noch beklatschen zu lassen? Womöglich tat er aber auch im Augenblick nichts anderes als ich, nur dass er seine persönlichen Eindrücke die Bulgakowa betreffend tatsächlich sofort aufschrieb, statt sie zunächst nur zu denken, er also ebenso wie ich Sätze formulierte, in denen grüne Augen, schwarze Haare, hohe Wangenkochen, die zarte, schmalschulterige Gestalt eine Rolle spielten, die leise Stimme, das schlichte, elegante, dunkelgrüne Kostüm, das schottenkarierte Jäckchen, die schwarzen Strumpfhosen und die flachen Slipper, ihre stetiges Wechseln von einem Fuß auf den anderen, so als stehe sie am Bug eines Segelschiffes, und natürlich würde er weder die Goldkette mit dem kleinen goldenen Kreuz vergessen dürfen noch die ebenfalls goldenen Ohrstecker in Perlenform. Ich blinzelte noch einmal in Dotzens Notizbüchlein hinein, doch es war in der Tat nicht möglich, das Geschreibsel zu entziffern. Ich würde ihn später einfach fragen, beschloss ich …

 

… und so darf ich, hörte ich plötzlich wieder, da es nun 20 Uhr ist und Sie sicher großen Appetit haben, das Buffet eröffnen. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Tatsächlich Punkt acht Uhr. Im selben Augenblick öffnen sich die Türflügel hinter uns, Dotz malt einen Punkt in sein Büchlein, klappt es zu, es ist, sehe ich, badezimmergrün eingebunden, und alles steht auf. Gemurmel setzt ein. Das Bühnenlicht erlischt und die Bulgakowa ist nicht mehr zu sehen. Gehen wir, höre ich meinen Nebenmann sagen, worauf ich nicke und aufstehe. Jetzt, denke ich, kommt es wohl darauf an, sich mit den richtigen Menschen zu unterhalten und sich also, in gesitteter Form essend und trinkend, der richtigen Gruppe anzuschließen. Es ist wie auf einer Klassenfahrt, denke ich und wische miese Erinnerungen sogleich weg. Dotz ist derweil bereits verschwunden und mit ihm der Geruch nach Kragenspeck und Achselschweiß.

 

Ich trete als Letzter in den Vorraum. Die Türflügel ruckeln kurz, kaum bin ich hindurch, und bewegen sich dann langsam aufeinander zu. Eine funktionierende Automatik. Sogar das Licht geht aus, kurz bevor die Türflügel sich geräuschlos vereinen. Da stehe ich nun. Rechter Hand, wo zuvor gähnende, betongraue Leere geherrscht hatte, befinden sich vier, fünf große Tische an der Längswand. Auf ihnen eine ganze Batterie von Chafis mit warmen Speisen sowie etliche Schalen mit Salaten, Platten mit Käse und Trauben, Körbe mit Brot und so weiter. Sofort setzt auch, kaum sind alle des Buffets gewahr geworden, ein barbarisch anmutender Zugriff ein, und bald schon tapert die ganze Horde mit stierem Blick, bewaffnet mit Teller und Besteck, sich in den Weg geratend, hin und her, greift sich Entenbrust, klatscht sich einen Schlag Kartoffelsalat auf den Teller, sichert sich ein halbes Brötchen mit Lachs, eine Languste, einen Pfannkuchen mit Käse und Feldsalat, was auch immer, um sich dann mit der Beute an einem der Stehtische zu platzieren oder gleich in eine der Sitzgruppen abzutauchen, die sich hinter üppigen Grünpflanzen rechts und links der Bar befinden. Kurz darauf entsteht nochmals Unruhe, da nun alle gleichzeitig dringend ein Getränk benötigten, und als auch dies schließlich geschehen ist, füllt sich der Raum endlich mit Mampfen, Schlürfen und Schlucken. Kein Wunder, denke ich, dass das Ausland nie von Deutschland spricht, sondern immer nur von Germanien. Germany: Null Punkte.

 

Mir allerdings war der Appetit vergangen, und schon auch drängten die ersten erneut Richtung Buffet, sich mit Süßspeisen einzudecken, nicht ohne an der Bar wiederum Bier, Wein, Sekt, Aperol Spritz, Weinschorle oder einen Schnaps zu ordern. Die Bar war, wie ich längst festgestellt hatte, überreich ausgestattet und der Barkeeper, ein glatzköpfiger, vollbärtiger Typ in gestreifter Weste und weißem Oberhemd, schien seine Sache zu verstehen. Bald aber schon stand ich allein am Tresen. Der Ansturm war vorbei. Blicke trafen sich. Wir nickten uns zu. Guten Abend, sagte er, mein Name ist Carl, mit C, was darf es sein? Moritz, sagte ich und ließ mich auf einen Barhocker gleiten, ein Bier vom Fass bitte, ein Pils. Eine gute Wahl, erwiderte er und machte sich ans Zapfen, während um mich herum neue Unruhe entstand, weil ein Trupp Bediensteter, Männer wie Frauen in der hier üblichen Pagenuniform, das Geschirr abzuräumen begann. Die mir bereits bekannte junge Frau aus dem Foyer erklärte derweil, auffallend breitbeinig und so etwas plump in der Mitte des Raumes stehend, das Rauchen in dieser Bar sei erst ab 21 Uhr gestattet, sie wies reihum auf die entsprechenden Schilder, ein Raucherraum mit Balkon befinde sich aber neben dem Kleinen Konferenzraum, wer also nicht eine Viertelstunde warten wolle, möchte ihr doch bitte folgen – und was soll ich sagen, binnen dreißig Sekunden sind der Barkeeper und ich allein.

 

Ein Irrenhaus!, sage ich.

 

Nun ja, sagt Carl schließlich leise und stellt mir das Bier auf den Tresen, die Glut einer Zigarette, einer Zigarre, einer Pfeife ersetzt das Herdfeuer früherer Zeiten. Es ist die Angst vor dem Kalten und dem Alleinsein. Ich nicke und nehme einen Schluck. Ein wahrer Gedanke. Der Mensch, fährt Carl fort, hat schließlich nur das Feuer, hat das Denken in Begriffen, die Ethik, die Ästhetik, die Moral und den Humor dem Tier voraus. Im besten Falle. Am Ende aber bleibt nur das Feuer. Ich nicke wieder. Auch das ein wahrer Gedanke. Alles will sich nun kennenlernen, fährt Carl fort, Gruppen bilden sich, die guten Erzähler, immer in der Minderheit, sind schnell Mittelpunkt.

 

Ich nicke ihm zu. Wir schweigen eine Weile. Das Buffet ist inzwischen fast verschwunden. Eine Suppe, einigen Platten mit Häppchen und ein Dutzend Schälchen mit Nachtisch finden sich noch. Carl, der meinen Blick zu deuten weiß, versichert mir, ich könne jederzeit etwas zu essen bekommen, auch die Bar sei immer besetzt. Ich nicke lächelnd. Wissen Sie, Carl, sage ich, ich bin nur hier, weil ich online einen Artikel veröffentlicht habe, einfach aus dem Lamäng heraus. Ich habe mich also nicht beworben um die Teilnahme, ich kenne hier niemanden, ich weiß nicht einmal, um was es auf diesem Kongress genau gehen soll. Der Mensch in all seinen Wirk- und Möglichkeiten, das sei doch, fahre ich nach einer Pause fort, nicht nur ein recht rumpeliger, sondern auch schwammiger Titel, und zudem seien ja offensichtlich auch nur Schriftsteller eingeladen – und die seien ja nun einmal bekannt dafür, über Dinge und Sachverhalte zu räsonieren, von denen sie keine Ahnung hätten. Carl nickt.

 

Es stellt sich heraus, auch Carl ist Schriftsteller und die Barkeeperei ein Nebenjob. Er wohne preiswert in einem Bungalow oben im Wald, wo er in Ruhe arbeiten könne. Ein Großprojekt sei im Entstehen. Wir schweigen ein Weile. Aber auch er habe sich gefragt, fährt Carl schließlich fort, wie man darauf gekommen sei – Der Mensch in all seinen Wirk- und Möglichkeiten – das könne alles und nichts bedeuten. Es sei natürlich möglich, man habe an Robert Musil gedacht mit seinem Wirklichkeits- und seinem Möglichkeitssinn, wenn es ersteres gibt, muss es letzteres auch geben, aber dann hätte man sich ja trotzdem einen eleganteren Titel ausdenken können, so Carl. Doch bevor ich noch antworten kann, strömen die Kollegen, angewiesen durch die immergleiche Fau in ihrer Pagenuniform, zur Bar. Es ist genau 21 Uhr. Ich erkannte Dotz und winkte ihm zu, doch er schien mich nicht zu sehen. Oder sehen zu wollen.

 

Carl stellte mir noch ein Bier hin und wandte sich dann ruhig und bestimmt der Menge zu, die jetzt im Halbkreis einen Pulk um die Bar herum bildete. Er wählte durch Blickkontakt aus, wie mir schien wechselweise Mann und Frau, und bereitete jeweils routiniert das Getränk zu, so es sich etwa um einen Longdrink handelte oder einen Kaffee. Flaschengetränke gab er, etwaige Nachfragen verbat er sich strengen Blickes, ohne Glas heraus. Doch obwohl es sich, ich zählte durch, um dreiundzwanzig Kollegen und Kolleginnen handelte, die da nun dürstend der Bedienung harrten, ging alles zackzack. Der Kongress hatte also begonnen, die Meute lebte, und ehe ich es mich versah, saß auch ich an einem Tisch und mitten in einer Gruppe rauchender und trinkender Schriftsteller. Moritz Alexander Westphal, sagte ich mehrmals, oder Moritz A. Westphal, winkte zu oder schüttelte Hände, worauf mir fremde Namen entgegengerufen wurden, die ich mir nun zu merken hatte. Ich wiederholte also, das hatte sich ja schließlich immer als gute Methode herausgestellt, mit fragendem Unterton den mir gesagten Namen, worauf der Name ihrer- oder seinerseits bejahend nochmals ausgerufen wurde. Sechs oder sieben der Kollegen lernte ich so am ersten Abend kennen, die ich jetzt, zu diesem Zeitpunkt, an dem ich dies aus der Erinnerung heraus schreibe, samt und sonders namentlich parat habe, verbunden und verknüpft mit dem jeweiligen Gesicht, der Stimme, der Art des Auftretens und was der Spezifika mehr sind – dies durchaus eine stramme Leistung meinerseits, wenn man denn bedenkt, dass ich diese Fähigkeit des Namenmerkens in jungen Jahren gar nicht besaß, selbst wenn diese Leistung dem Vergleich nicht standzuhalten vermag zu der permanenten Anstrengung etwa auf Seiten der Lehrerschaft, die sich zu jedem Schuljahr immer wieder hundert oder zweihundert neue Namen und die dazu passenden Gesichter zu merken hat, ja sogar, den Hormontherapien sei Dank, nicht selten mit Zwillingspaaren konfrontiert sind, die nichts besseres zu tun haben als sich beständig und zum eigenen Vorteil verwechseln zu lassen.

 

Apropos: ich hatte gleich am ersten Abend den Eindruck, es befänden sich unter uns Lehrer und Lehrerinnen. Solche in das graue Gewand dieses gutbezahlten Berufes eingesponnene Gestalten durchwirken ja alle künstlerischen Bereiche, das ist allgemein bekannt, und wenn ich selbst auch dem Einzelnen nicht gram und böse sein will, ich tue mein Bestes, so hat solch eine Lebensgestaltung, nicht selten garniert durch noch besser verdienende Ehepartner, doch immer den Ruch des allzu faulen Kompromisses – Wurzel, Kern, Bodensatz und Lebensprinzip der bürgerlichen Welt. Diskussionen zu diesem Thema, ich habe einige hinter mir, sind fruchtlos, denn gerade in der Jetztzeit tauchen nicht selten sogar Gestalten auf, die nicht nur wohlhabend sind, sondern sich eines millionenschweren Erbes erfreuen und die Freiheit zu schreiben, zu malen, oder was auch immer, sich eben nicht erstreiten müssen, sondern wohlfeil geschenkt bekommen. So sehen dann deren Werke auch aus, sage ich und sage es auch laut. Ob ich denn nicht etwa, so ein typischer Vorwurf, irgendjemand ist immer dabei, der wie automatisch und dümmlich lächelnd seinen Satz aufsagt, neidisch sei auf das Glück und die Möglichkeiten anderer. Die größten Schriftsteller und Schriftstellerinnen seien doch immerhin so gut wie alle aus der von mir geschmähten bürgerlichen Welt, oder seien bisweilen auch adelig. Kaum jemand stamme doch aus dem proletarischen oder kleinbürgerlichen Milieu, das müsse ich doch nun wirklich, wenn ich ehrlich bin, zugeben. Meine Gegenrede, woran diese Geringschätzung denn wohl liege, doch wohl an den Auswahlkriterien eben dieser bürgerlichen Welt, wurde gemeinhin weggelacht. Ob ich denn nicht etwa, säuselte man schließlich noch, auch bürgerlich lebte, eine Wohnung bewohnte, mit Geld einkaufen ginge und so weiter, und natürlich kann ich dann auf ein derart unterkomplexes Argument nur dergestalt reagieren, dass mir endgültig der Kragen platzt und mir somit auch nichts weiter zu tun übrig bleibt, als dem Absender dieses Unsinns ordentlich eins reinzuwürgen und ihm oder, seltener, ihr zu versichern, mir würde Reichtum allerdings keineswegs schaden, das solle man ruhig mal ausprobieren, und wenn dann jemand glaubte, das sei ein Scherz, ja dann, dann verlor ich lustvoll antibürgerlich jede Contenance und …

 

Alles in Ordnung, Moritz? Noch ein Bier? Ein kleines? … Carl! … Der Barkeeper! Auf seiner Glatze spiegelten sich die Lichter, die blauen Äuglein blitzten, aus seinem wohlgepflegten Bart drang der Duft von Zedernöl, Moschus und, ich war zunächst nicht ganz sicher und näherte meine Nase seiner Bartpracht, Weihrauch. Interessant. Außer mir und Carl schien niemand mehr anwesend zu sein. Ich saß am Tresen. Auf dem Tisch an der Wand nur noch ein Chafi mit Suppe und ein Korb mit Brot. Die Flügeltür zum Kleinen Konferenzraum wie gehabt geschlossen. Ich nickte Carl zu. Habe ich vor mich hin gemurmelt, fragte ich. Ja, sagte Carl, gekonnt das Bier zapfend, eine ganze Weile schon. Die Kollegen seien längst auf ihre Zimmer gegangen. Ich blickte  auf meine Armbanduhr, konnte aber nichts genaues erkennen, zwei Uhr und …, sagte ich, siebenundzwanzig, ergänzte Carl, noch dreiunddreißig Minuten habe er zu arbeiten, seine Schicht ginge bis drei, die Kollegin Maya löse ihn ab. Maya habe meist die sogenannte Schlafschicht und könne oft bis zum Morgen ruhen, im Kabuff hinter der Bar befinde sich ein Feldbett, er wies nach hinten, und wer etwas trinken wolle, der müsse sie wecken, was aber nur selten vorkomme. Von elf bis 19 Uhr bediene dann Marquard, das Urgestein des Hotels, der auch während der Schließzeiten im Dienst gewesen sei der Bauarbeiter und Handwerker wegen. Schlafen Sie auch im Hotel, Carl, fragte ich, aber da fiel es mir wieder ein, der Bungalow im Wald, er hatte es erwähnt. Ach ja, sagte ich schnell, der Bungalow. Sie glauben gar nicht, erwiderte Carl, wie schön es des Nachts im Wald ist. Still sei es dort nie, ruhig schon, aber nie still, und manches Geräusch bleibt rätselhaft. Eine halbe Stunde zu Fuß müsse er vom Hotel zu seiner Behausung gehen, da haben Sie es, Moritz, ja durchaus etwas näher. Gute Nacht, sagte ich prompt, stürzte im Stehen mein Bier hinunter und machte mich auf den Weg Richtung Treppenhaus. Gute Nacht, bis morgen, rief Carl mir hinterher. Ich hob die rechte Hand in die Höhe und drehte sie ein paar Mal hin und her. Ein netter Kerl, dieser Carl, dachte ich, doch sollte ich nun das Treppenhaus benutzen oder den Fahrstuhl nehmen? Ich zuppelte aus der fünften Tasche meiner Jeans eine Münze, Kopf ist Fahrstuhl, Zahl ist Treppenhaus, murmelte ich und zwirbelte sie in die Luft. Manchmal denke ich, sie rotiert noch immer.

 

Eine gezwirbelte, wirbelnde Münze …

 

Träumte ich oder ist das die Wirklichkeit? Meine Wirklichkeit? Zweifel. Eine leichte Verwirrung. Wie Schwindel. Ich setze mich im Bett auf. Das Hotelzimmer, seine nackten grauen Wände. Ja, ich erkenne es, keine Frage. Ich weiß, ich bin hier. Hallo Hotelzimmer, sage ich mit krächzender Stimme. Der mit offenem Deckel auf dem Boden liegende Koffer. Die Wipfel der Bäume dort draußen unter dem niedrigen Himmel. Das kalte Licht eines frühen Morgens. Das Kongress-Hotel. Der Wald. Das kleine Städtchen unten im Tal mit dem Bahnhof und seinen Backstuben und Cafés …

 

Ich lasse mich ins Kissen fallen und denke nach. Gestern Abend oder irgendein Abend … Fahrstuhl oder Treppenhaus … die Münze, die in der Luft wirbelt, noch immer wirbelt … keine Erinnerung, wie ich ins Bett gekommen bin. Bin ich betrunken gewesen? Sicher bin ich betrunken gewesen. Alle sind sie betrunken, tagein, nachtaus.

 

Ich sehe: 7 Uhr 24. Habe ich einen schweren Fehler begangen, frage ich mich, und muss nun büßen? Weggelockt worden bin ich, das steht fest, aus meiner Wohnung, meiner Stadt. Angelockt mit guten Worten und nichts als dem Versprechen auf Vollverpflegung. Wie dumm kann man sein? Ich stehe auf und trete ans Fenster. Der Wald. Das Hotel. Ein Betonklotz. In ihm weitere dreiundzwanzig Gestalten, wie ich eine bin. Niemand mir bekannt. Keiner und keine aus der Kaste derjenigen, die mit ihrer Schreibe nennenswert Geld verdienen, das sicher nicht, denn wer schon hält Vorträge ohne Honorar? Für Essen und Trinken und ein Zimmerchen? Kleine Lichter, allesamt, von dieser fast noch jugendlichen Dichterin in ihren safrangelben Mädchenstrumpfhosen und mit ihrem Minirock und den Springerstiefeln und dem blauen Shirt mit dem gelben Aufdruck vorne und hinten, Dichterin, plötzlich erinnerte ich mich deutlich, sie fällt auf mit ihrem Elan, und immerhin hat sie eine Zukunft und es kann noch etwas werden aus ihr, denke ich, bis zu diesem Greis, dem, wenn man so will, Alterspräsidenten der ganzen Veranstaltung, ja, sie sprachen lange miteinander gestern Abend, jetzt erinnere ich mich deutlich, die junge Frau und der greise Glatzkopf in seinem übergroßen Anzug. Ich hatte mich längst aus der Gruppe der Sitzenden herausgenommen und stand am Tresen, Carl polierte schweigend seine Gläser. Nah beieinander standen sie, Alt und Jung, zu nah für Fremde, so dachte ich, wie Großvater und Enkelin, und eben dies hatte ich Carl sagen wollen, ich erinnere mich, doch als ich mich ihm zuwandte sah ich, wie sehr er weggedämmert war, ein Glas gegen ein Licht haltend, es ins Regal stellend, ein neues nehmend, das Leinentuch neu fassend, weiterpolierend.

 

Und so trat ich schließlich auf die Beiden zu. Höflich machten sie mir Platz und stellten sich vor, Frau Dingelen, sagte die junge Frau in einem hauchzarten rheinischen Singsang, Dichterin, und zeigte grinsend auf ihr Shirt, unter dem sich stolz ihre kleinen Brüste abhoben, so als seien sie das Fundament ihres Dichterinnenseins, sie bemerkte meinen Blick und hob, tief einatmend und zugleich lächelnd, die Schultern, ich lächelte so nett wie ich es nur zustande bringen konnte zurück, griff die mir entgegengestreckte Hand, sagte Moritz Alexander Westphal, freut mich, ergriff dann sogleich die Hand des Alten, der mit übergroßer Kraft die meine drückte, es knackte, Franz Ferdy, sagte er in einem leicht wienerisch, wie mir schien, gefärbten Tonfall, ich sagte nochmals meinen Namen auf, Moritz A. Westphal, freut mich …

 

Ja, jetzt erinnere ich mich plötzlich mehr oder weniger deutlich des gestrigen Abends. Zu dritt nämlich waren wir plaudernd herumgeschlendert und schließlich in einen mit altmodischen Sesseln aus Plüsch und Leder bestückten Raum und zugleich in ein Gespräch hineingeraten, das sich um Künstliche Intelligenz drehte und all die daraus sich ergebenden Fragen bezüglich unserer Kunst. Es sei, sagte ich, nachdem ich eine Weile dem Gespräch gefolgt war, doch überhaupt nicht vorstellbar, dass ein humanoider Roboter beziehungsweise die KI literarische Texte von höchster Qualität schriebe. Denkbar, so schob ich nach, natürlich, das schon, aber eben fernab jeder realen Möglichkeit. So sagte ich. Ein älterer Kollege [Clemens von Stuckenbostel] in Anzugshose, Hemd und Hosenträgern nickte mir, seine Pfeife paffend, nach einer Weile wohlwollend zu, so fasste ich es wenigstens auf, sagte aber nichts zu meinen Ausführungen, während eine Kollegin in einem weißgrundierten geblümten Kleid und mit einer dicken Bernsteinkette um den Hals [Evelyn Marie Hämmerle], das Gelenk des rechten Ellenbogens ruhte ruhig in der linken Hand, während die rechte lässig eine brennende Zigarette vor dem knallrot geschminkten Mund hin und her bewegte, so als wollte sie ihre gierigen Lippen zur Weißglut treiben, zu bedenken gab, dass erstens auch die KI Texte läse, lesen können müsse, also auch daraus lernen könne, davon sei in jedem Falle auszugehen, und zweitens die Frage, was denn Qualität sei, doch sehr auch abhänge von der, so wolle sie es nennen, Qualität der Lesenden, was mich aber sofort zu dem Einwurf trieb, dies nun sei doch völlig abwegig, denn schließlich gäbe es ja für schlechte Leser schlechte Literatur und für gute Leser gute Literatur, so dass man doch wohl trennen müsse zwischen den gewerblich schreibenden Autoren und Autorinnen und den auf hohem Niveau künstlerisch schreibenden, so sagte ich in eindringlichem Ton, erntete aber nichts weiter als eine weitere Gesprächspause, in die hinein Dotz mit seinen in die Stirn fallenden Haaren und seinem extrablonden Schnäuzer, seit wann trug Dotz einen Schnäuzer, fragte ich mich, lachend zu bedenken gab, das Leser-Bashing sei doch so alt wie die Literatur selbst, so sagte er, während an seiner Unterlippe eine Selbstgedrehte klebte, die während des Sprechens fröhlich mitwippte und weder hinunterfiel noch erlosch. Dotz, Hermann Dotz, sagte er dann plötzlich mit überscharfem Z, ihr kennt ja sicher alle den ein oder anderen meiner Texte. Pause. Er sog  wie ein französischer Manierist gierig an seiner Zigarette und räumte damit jeden Verdacht beiseite, das etwa ironisch gemeint haben zu können. Ich nickte ihm zu, während die anderen sieben oder acht Personen sich weder regten noch etwas sagten. Man trat von einem Bein auf das andere. Natürlich hatte ich nie etwas von Dotz gelesen, ja nicht einmal von ihm gehört. Er sog nochmals tief an seinem Glimmstängel, doch noch immer antwortete niemand, worauf ich schließlich, mich gleichsam opfernd, ihn überscharf fixierte, so als ginge dies alles nur uns beide an, und Moritz A. Westphal sagte, du wirst sicher von mir gehört und etwas von mir gelesen haben, was Dotz ja nun schlecht bestreiten konnte, wollte er weiter davon ausgehen, dass alle seine Schriften kannten, denn wie könnte es dann sein, dass nun er nicht seinerseits die Schriften der Anderen kennt, und so standen wir uns gegenüber, die Hände schwebten über den Feuerbüchsen in ihren Halftern, alles trat zurück, ein Duell, sagte jemand leise, ein Duell, schon knisterte die Luft, einer von uns Beiden würde in wenigen Augenblicken das Zeitliche segnen müssen, ins Gras beißen, und sicher wäre eben dies geschehen und ich läge jetzt womöglich nicht im warmen Bett und betrachtete die Baumwipfel unter dem trägen Himmel, sondern tot in der Kühlkammer, doch dann sah ich im Augenwinkel Carl auf unsere Gruppe zuschreiten, Pax, sagte er laut, Pax, trat zwischen uns und legte Dotz und mir eine Hand auf die Schulter, Pax, sagte er noch einmal und blickte ernst von Dotz zu mir und von mir zu Dotz, und siehe da, Dotz räusperte sich und sagte nein, weder habe ich von dir gehört noch etwas von dir gelesen, worauf ich mich räusperte und laut dito sagte und der Pfeifenraucher sein Pfeifenbesteck in den rauchenden Pfeifenkopf drückte, eine Frau mit weißem Rollkragenpulli, die mir bisher nicht aufgefallen war, aus ihrer Handtasche eine zerknautschte Packung Ernte 23 kramte, eine Zigarette herausklöppelte und sich vom Pfeifenraucher Feuer geben lies, einen tiefen Lungenzug nahm und plötzlich laut Anneliese Bier in die Runde sagte, sie heiße Anneliese Bier und sei ganz sicher, vom niemandem hier gelesen worden zu sein, wo käme man denn da hin, lachte sie und blies ihren Worten Rauch hinterher, dem wieder Worte folgten, es sei ja doch wohl, erklärte sie, nicht zuletzt Ziel und Aufgabe des Treffens, des Kongresses, dass am Ende der Veranstaltung jeder und jede etwas gehört hat von Jedem und Jeder, so es doch völlig unwichtig sei, ob man vorher bereits etwas kannte von der Einen oder dem Anderen, worauf ich, erinnere ich mich, wohlwollend nickte und die mit einem Kribbeln im Nacken verbundene Lust verspürte, noch einmal laut und deutlich meinen Namen zu sagen, doch da mischte sich der Pfeifenraucher ein, er heiße Clemens von Stuckenbostel und er wolle darauf aufmerksam machen, dass die erste Lesung von Texten am nächsten Morgen Punkt zehn Uhr stattfinde, und zwar im Roten Salon, denn nur dort sei es zurzeit möglich, die Vorträge mittels der für die Hologramm-Herstellung notwendigen Technik aufzuzeichnen. Er selbst werde, dies habe er mit Anna Bulgakowa verabredet, moderieren, weswegen er sich nun entschuldigen müsse, um eben dies noch ein wenig vorzubereiten. Wer denn lesen würde, wollte ich fragen, doch da rief ein kleiner dicker Mann in Anzugshose, Oberhemd und Pullunder überlaut Bis morgen, Clemens! und winkte ihm nach, zugleich tief Luft holend, denn er hatte noch etwas zu sagen, seinen Namen nämlich, doch noch bevor er ihn nennen konnte, zerstob die Runde in alle Richtungen. Nur ich blieb, da ich eine Sekunde zu lange gezögerte hatte, ihm gegenüber stehen, so erinnere ich mich. Er gab mir die Hand, angenehm, sagte er, verriet mir aber durchaus nicht seinen Namen. [Frank Meier] Wir schwiegen eine Weile. Westphal, nicht wahr, sagte er endlich, nickte mir zu, drehte sich aber sogleich um und ging grußlos, worauf ich zur Bar gegangen sein muss, denn das Letzte an das ich mich erinnere ist, dass Carl etwas von dieser Maya sagte, die ihn ablösen würde. Kurz darauf zwirbelte ich die Münze in die Luft …

 

Die Uhr zeigt 7 Uhr 38. Ich ziehe mich vollends an. Alles stinkt fürchterlich nach Rauch. Ich trete aus meinem Zimmer hinaus in den Flur der vierten Etage und gehe, die linke Hand auf dem Geländer, vorsichtig und aufmerksam Stufe um Stufe das Treppenhaus hinunter. Zwar blicke ich immer wieder einige Augenblicke in die dunkle Tiefe, die mich gestern so sehr angezogen, ja eingsogen hatte, erreiche aber schließlich aufatmend und unbeschadet das Foyer. Dort empfängt mich ein junger Mann, wie gehabt in Pagenuniform, mit geöltem Haar, dunkelblond, helle Strähnchen. Zum Frühstück bitte in den Blauen Salon, immer der Beschilderung nach, so sagt er, und als ich zögere, verlässt er seinen Tresen und geht einige Meter neben mir, dort bitte links und dann immer den Düften nach, und tatsächlich, zwar geht es mal links und mal rechts in einen Flur hinein, die Wahl des Weges jedoch ist in der Tat einfach, denn es riecht betörend nach Kaffee, Pfannkuchen, Speck, Eiern, Zitrone, Knoblauch und allerlei Kräutern. Als ich im Blauen Salon ankomme, finde ich ihn menschenleer. Gut so, denke ich, denn ich hasse nichts mehr als frühmorgens Menschen sehen und womöglich Gespräche führen zu müssen. Im gedämpften Licht erkenne ich vier große Holztische, bestückt mit blauen Platzdeckchen und je zwei brennenden Kerzen, dazu noch ein kleiner Tisch direkt am Fenster. Linkerhand das Buffet, ausladend und üppig mit Speisen bestellt und von einem Deckenspot überhell beleuchtet.

 

Da sind Sie ja!, höre ich plötzlich hinter mir eine Stimme, kommen Sie, ich habe uns den Fensterplatz gesichert. Frau Dingelen strahlt mich an. Ich hätte wetten können, sagt sie, dass Sie der Erste beim Frühstück sind, nach mir natürlich. Sie lacht laut auf und ich versuche nickend zu lächeln, es misslingt, kommen Sie!, ruft sie nochmals, legen Sie das Jackett über den Stuhl, dann ist er gesichert, für immer, Gewohnheitsrecht, verstehen Sie! Darf ich mal!, höre ich, und schon schiebt sich Dotz an mir vorbei, wo kommt denn der plötzlich her, denke ich, Speck, Eier und Feldsalat auf einem Teller vor sich hertragend, während Frau Dingelen mir das Jackett über die Schultern zieht, es mit einem Ruck herunterreißt und es wie eine Trophäe zum Fenstertisch trägt. Ah, Herr Westphal, ruft jemand, und als ich mich umdrehe steht da Anneliese Pröper, die Seniorchefin der Literaturagentur, und in diesem Augenblick bemerke ich, dass ich ganz sicher träume – allerdings geht sie tatsächlich auf mich zu und haucht, wie es ihre Art ist, mir links und rechts ein Wangenküsschen auf das Ohrläppchen, es durchläuft mich, wie immer, auch wenn ich nicht einmal sicher bin, ob ich das mag oder nicht mag, doch schon habe ich, bevor ich die Frage stellen kann, was sie denn hier mache, einen leeren warmen Teller in der Hand. Füllen!, aber zackzack!, lacht mir die Dingelen ins Gesicht. Trinken Sie Kaffee?, fragt sie noch, Schwarz! rufe ich, Bis später bei den Vorträgen, sagt die Pröper, ich nicke ihr zu, und dann hat auch sie einen leeren Teller in der Hand und bewegt sich stracks Richtung Buffet.

 

Westphal hatte durchaus nicht geträumt an diesem ersten Morgen im Kongress-Hotel. Und was sollte er sagen, er litt. Überall Menschen, ohrenbetäubender Lärm, Geklirre und Geklapper, die Dingelen ihm gegenüber am Fensterplatz, von dem aus der rauschende Wald unter stahlblauem Himmel zu sehen war. Oh wäre ich nur allein dort im Walde, wäre ich nur!, dachte er, während die Dingelen in ihrem Dichterin-T-Shirt vollen Mundes und mit Leinsaatkörnern zwischen den Zähnen ihm von ihrem Leib-Thema, wie sie sagte, erzählte, die Leibhaftigkeit humanoider Roboter und die von Androiden, dazu künstliche Vaginas und Penisse in unübertroffener Lebendigkeit, sie habe in den USA und in Ägypten mit Fachleuten gesprochen und Prototypen sehen und ausprobieren dürfen, wunderbar, dieser Feldsalat, aber Sie essen ja gar nichts!, Moritz, und ob Sie es glauben oder nicht, ich habe nicht die geringste Schwierigkeit, mich mit Robotern und Androiden zu unterhalten und zu …, aber dazu mehr in meinem Vortrag – nun essen Sie doch endlich Ihren Pfannkuchen!, Moritz!

 

Zwanzig Minuten später sitzt Westphal auf seinem Bett und wippt ein wenig auf und ab. In der Hand den Ablaufzettel, den Clemens von Stuckenbostel, der hier wohl so etwas wie die erste Geige spielen wollte, ihm aufgenötigt hatte. Vierundzwanzig Namen, die eine Hälfte männlicher Natur, die andere weiblicher, wie ausgesprochen pc!, dachte er, wobei zwei Namen aber nichts hergaben in Sachen Geschlechtszugehörigkeit: Karnack und D.A.F. Egal, dachte er. Er selbst würde am fünften Tag, ergo am 6. Oktober, um 19 Uhr in das Geschehen eingreifen, und zwar nach dem Vortrag von, er fiel aus allen Wolken, Dr. Kaspar Molitor. Westphal pustete alle Luft aus seinen Lungen und japste eine Weile vor sich hin, beruhigte sich aber schnell wieder, denn er spielte sich selbst offensichtlich etwas vor und war somit zugleich Akteur und sein eigenes Publikum, was ihm nun doch, wiederum vor sich selbst, peinlich war. Bockmist, rief er laut, Bockmist!

 

Vorsichtig bewege ich mich das Treppenhaus hinunter. Aufpassen! Ich trete ins Foyer. Kein Mensch zu sehen, der Empfang verwaist. Die Klappzahlenuhr über dem Empfang zeigt 9 Uhr 51. Um zehn Uhr würde Karnack sprechen. Im Roten Salon. Eine Klappe fällt, 9 Uhr 52. Die großen metallenen Kugellampen werfen Lichtflecken auf den Steinfußboden. Ich trete unter eine der Lampen und nehme eine Lichtdusche. Ich blicke mich um. Tatsächlich niemand. Durch die Fensterfront der Wald aus Tannen, hier und da eine Eiche oder einer von diesen anderen Laubbäumen, die ich nicht recht voneinander unterscheiden kann. Sarah hatte mir tatsächlich einmal Unterricht gegeben in Sachen Baum – Eiche, Buche, Esche, Robinie, Birke, Pappel, Erle, Kiefer, Fichte, Tanne und so weiter. Geholfen hat es kaum. Zwar kann ich manche Bäume an den Blättern erkennen, etwa die Ulme, andere an ihrer Rinde und wieder andere anhand ihres winterlichen Skeletts, aber es dürfte wohl kaum ein Baum dabei sein, den ich jederzeit erkenne, die Birke, ja, die schon, die Tanne, gut, die Kiefer, die Eiche, die Robinie – mmh, denke ich, so schlecht scheine ich in Sachen Baumerkennung nun doch nicht dazustehen. Ich nehme das eben Gedachte halb zurück. Aber gleichviel, Wald her und hin: niemand zu sehen. Nicht drinnen, nicht draußen. Sicher war bereits alles, Jeder und Jede, im Roten Salon, wo immer der sein mochte, den ersten Vortrag anzuhören. Von Karnack. Ich würde jedenfalls, beschloss ich, als Letzter auftauchen und damit meine Rolle als Außenseiter zementieren, so viel stand fest.

 

Ich sehe auf meinen Zettel. Karnack: Die Menschheit im Strom der Zeit, so der Titel, moderiert von Clemens von Stuckenbostel, Roter Salon, 10 Uhr. In sieben, nein: sechs Minuten beginnt die Chose. Ich sehe mich also zum Roten Salon eilen und durch die sich automatisch schließende Tür eben noch hineinhuschen. Ich nicke allen freundlich zu, der Stuckenbostel ergreift, mich irritiert ansehend, das Mikrofon, oder nein, zunächst ist die Bulgakowa dran, sie sieht mich irritiert an und sagt dann etwas, worauf der Stuckenbostel seinerseits etwas sagt, und dann endlich beginnt Karnack seinen oder ihren Vortrag, denke ich, und natürlich sitzen alle gespannt und aufmerksam da auf ihren Stühlen – nur mich, mich kann ich in diesem Bild nun auf einmal partout nicht finden, ja bin ich denn überhaupt anwesend dort im Roten Salon, so frage ich mich allen Ernstes. Bin ich? Im selben Augenblick, der Kies knirscht unter meinen Schritten, fährt der Wind wütend durch die Wipfel. Ich gehe, einen Viertelkreis beschreibend, die Auffahrt entlang, überquere die schmale Straße und trete ein in den Wald. Ein Trampelpfad, kein ausgewiesener Weg. Ein Wildpfad. Ich gehe also, denke ich,  wohl doch nicht in den Roten Salon zum Vortrag des Karnack oder der Karnack, moderiert von von Stuckenbostel, und wer weiß, die Dingelen wird womöglich einen Platz freihalten für mich, auf den sich dann im selben Augenblick, in dem die Türen sich schließen, Dotz setzen wird. Ich sehe es vor mir. Dotz, Hermann Dotz! Nie zuvor gehört! Die Dingelen wird ein wenig abrücken von ihm, und er wird es bemerken.

 

Strammen Schrittes bewege ich mich zwischen Tannen abwärts, erreiche bald aber einen kleinen Buchenwald, ein Carré, wie es aussieht. Hellgrün leuchtendes Moos umpelzt die Stämme ein zwei Handbreit. Auf das Carré folgt Mischwald. Sicher ist die oder der Karnack schon halb durch mit dem Vortrag, denke ich. Karnack! Was sich die Leute nicht alles einfallen lassen, nur um aufzufallen inmitten der abertausenden von Schriftstellern! Und es kommen täglich welche hinzu. Die meisten kaumgelesen, ach was: ungelesen. Wie gedruckt so verramscht. Geschreddert. Ein künstlicher Markt. Ich frage mich oft, warum überhaupt noch geschrieben wird. Immerhin aber würden bald schon die Unterhaltungsschriftsteller von A bis Z aussterben, überhaupt keine Frage, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, weil nämlich die Künstliche Intelligenz die Menschen ebensogut unterhalten wird können. Wenn nicht besser! Viel besser! Übrig- oder eher zurückbleiben werden die künstlerisch schreibenden Autoren. Und das sind nicht viele. Ich!, Ich!, Ich!, rufe ich laut in den Wald hinein. Krah!, Krah!, Krah! kommt es aus den Wipfeln, den Lüften zurück. Ich gehe weiter. Es folgt ein düsterer Tannenwald.

 

Zwanzig Minuten später erreiche ich die kleine Stadt, deren Name mir selbstverständlich bekannt ist, die ich aber, sicher ist sicher, ich bin ja nicht verrückt, Trutzberg nennen will, dem wirklichen Namen in gewisser Hinsicht entgegengesetzt. Durch das spätmittelalterliche Stadttor betrete ich sie. Ich humpele ein wenig. Das Bergabgehen in meinen normalen Straßenschuhen hat mir nicht gut getan. Ein Dackel, der gelangweilt neben zwei älteren Damen auf seinen kurzen Beinen steht, bellt mich an, ich aber bleibe höflich und frage, wo es denn hier ein Café gäbe. Der Dackel guckt mich nur blöde an und schweigt, während eine der beiden Damen mir den Weg zum Café Krämer beschreibt, Mittagstisch, Torte, Kaffee, worauf ich mich bedanke und in die gewiesene Richtung humpele, die Fußgängerzone in Richtung Neustädter Tor, die dritte Gasse rechts, über den Münsterplatz, und dann sehen Sie es schon, das Café befindet sich im Historischen Kaufhaus. Ich muss mir unbedingt, denke ich, einen Hut besorgen, um mich angemessen bedanken zu können. Vielen Dank, sage ich und versuche zu lächeln. Der Dackel beschnüffelt mein Hosenbein, und dann bin ich auch schon unterwegs. Mein erster Gang ins Café Krämer.

 

Ich erinnere mich.

 

Plötzlich habe ich, den Münsterplatz überquerend und nach einem historischen Gebäude Ausschau haltend, die Vorstellung, ja die Vision der Frau Dingelen, wie sie da in ihrem Zimmer mit der Nummer 364, genau unter mir, nackt, nervös und äußerst angespannt auf der Bettkante sitzt. Sie wippt leicht auf und ab und starrt hinaus auf den Wald, auf dunkelgrüne Tannen. Dann sitzt sie still. Was tue ich hier, was soll ich hier, abreisen oder nicht abreisen, das ist die Frage, sagt sie leise vor sich hin, legt beide Hände auf die Oberschenkel und reibt kräftig die weißrötliche Haut. Gah, gah, gah, sagt sie endlich laut und trommelt mit den Fäusten auf die Oberschenkel: Gah, gah, gah! Bleiben oder nicht bleiben? Was tun?

 

Ich schüttele Frau Dingelen ab. Prompt rutscht sie mit ihrem nackten Hintern über die Bettkannte und knallt voll auf den Boden, während ich das rotverputzte Renaissancegebäude hinten rechts als das Historische Kaufhaus ausmache. Ich beschließe, noch bevor ich es überhaupt betreten habe, das Café Krämer zu meinem Hauptquartier zu machen, aus Lust, aus Laune, aus Trotz, als eine Art Reminiszenz an die alten Zeiten … ach, was weiß denn ich!

 

Keiner der Tische im Außenbereich ist besetzt, obwohl doch noch milde Temperaturen herrschen. Auf jedem Tisch ein rotbrauner Aschenbecher aus Bakelit, in einem eine glühende, kaum angerauchte Zigarette. Westphal sieht sich um. Niemand zu sehen. Der ganze Platz menschenleer. Am Filter Lippenstift. Er nimmt die Zigarette und tut einen tiefen Zug, und obgleich die Fensterscheiben des Cafés den Münsterplatz und die Kirche spiegeln, er also nicht hineinsehen kann, ist er sicher, beobachtet zu werden. Die an den Fenstern Sitzenden machen sich Zeichen, eine junge Frau bleibt mit dem Tablett in der Hand stehen und sieht hinaus. Westphal nimmt einen zweiten tiefen Zug, lässt den Rauch, so langsam es eben geht, aus der Nase strömen, und drückt dann die Zigarette hastig und brutal in den Aschenbecher, ja zermalmt sie geradezu, festen Blickes auf sein eigenes Spiegelbild. Daraufhin strafft er sich und betritt das Café Krämer. Niemand sieht zu ihm hin. Hinter dem Kuchenbuffet eine Frau mit dem Rücken zu ihm. Sie heftet etwas an eine Tafel. Guten Tag, sagt Westphal. Die Frau dreht sich um, lächelt, nickt ihm zu, sagt aber nichts. Nun war es sehr wichtig, das ist Westphal klar, den richtigen Platz zu finden. Das Café war durchaus nicht überfüllt, ein mittelaltes Publikum, meist Frauen, weder Kinder noch Hunde, man spricht leise und gesittet miteinander. Er entscheidet sich für einen kleinen Tisch auf dem halbrunden Podest im hintersten Winkel. Blick auf den Eingang und einen guten Teil des Platzes, Blick auf den Tresen samt Kuchenbuffet, Blick auf den Durchgang zur Küche. Gut, sagt er zufrieden leise zu sich selbst, und da kommt auch bereits die junge Frau auf ihn zu. An dem an der schwarzen Weste angehefteten Schildchen erkennt er den geschwungenen Schriftzug des Cafés, darunter in Blockschrift: Nadja. Ah! Ihm geht ein Licht auf! Nadja! Eine nur einmal auftauchende Nebenfigur in seinem Roman Scheerbart / Hologramm, sie arbeitete in einem Café im Prenzlauer Berg und löste in der Hauptfigur erotische Gelüste aus, die ohne Folgen blieben. Sie muss dann wohl Berlin verlassen haben, denkt er, und ihm, Westphal, sozusagen vorausgereist sein. Er lächelt ihr zu und bestellt einen schwarzen Kaffee, einen Americano, wenn möglich.

 

Wer hätte das gedacht! Dass natürlich sie ihn nicht kennt, nicht kennen kann, gehörte zwar zum Geschäft, störte ihn aber im Augenblick nicht im geringsten. Er freute sich einfach. Und auch, dass er nicht dort oben in diesem Roten Salon saß, freute ihn. So würde er eben den zweiten Vortrag des Tages besuchen, oder den dritten oder vielleicht auch nur den vierten. Oder gar keinen! Von einer Verpflichtung war ja schließlich nirgends die Rede gewesen, und auch das von vielen aufgerufene Thema der Künstlichen Intelligenz und ihrer Auswüchse interessierte ihn, wenn er ehrlich war, nur peripher. Sicher, es konnte gut sein, dass sich die Arbeitswelt mehr oder weniger krass umgestaltete und es in der Medienwelt zu perfektionierten falschen Nachrichten kommen würde. Die autoritären Regime werden womöglich an Stärke gewinnen und weltweit an Zahl zunehmen, auch könnten neuartige Massenbewegungen entstehen, getragen von einem Menschentypus, der zuvor jahrzehntelang vor dem Fernseher ruhiggestellt gewesen war. Wer weiß, dachte er, unter Umständen wird sogar die Zukunftsforschung bald schon von den Ereignissen überholt werden! Überrollt! Nun ja, alles schön und gut, aber warum darüber referieren und reden? So dachte er. War denn nicht all das morgen schon Schnee von gestern? Brachte es etwas, wenn dort oben Schriftsteller und Schriftstellerinnen sich die Köpfe heißredeten und am Ende noch mehr Texte schrieben? Und hat das Schreiben und all das künstlerische Tun denn überhaupt noch einen erkennbaren Sinn? Oder hat es einen Sinn, der aber eben nicht erkennbar ist, an den man aber zu glauben hat? Wie der Gläubige an seinen Gott?

 

Eine Glaubenssache! Alles ist immer unbedingt eine Glaubenssache!

 

Er nahm einen Schluck Kaffee, streckte die Beine aus und blickte hinaus. Zunächst war nichts und niemand zu sehen, nicht mal Tauben, bis er des alten Diesel-Mercedes’ gewahr wurde, der ihn zum Hotel hinaufgebracht hatte und der nun im Schritttempo über den Münsterplatz fuhr, bald aber aus dem Bild geriet, um dann doch von links wieder in selbiges hineinzufahren und direkt vor dem Café zu halten. Der ihm bekannte schnauzbärige Taxifahrer stieg aus, ging um seinen Wagen herum und öffnete die hintere Tür. Alles sah auf, Gespräche wurden unterbrochen, Nadja lief leichtfüßig zur Eingangstür und öffnete sie weit, und da erschien auch schon eine ältere, elegant gekleidete Dame, die aber sogleich, nachdem sie huldvoll, ohne jemanden besonders zu meinen, allen zugenickt hatte, in der Küche verschwand.

 

Noch bevor Westphal über diesen Auftritt hatte nachdenken können, klebte plötzlich eine Stimme ganz nah und heiß an seinem Ohr. Das ist, so sagte die Stimme, Frau Dörrfleisch, Besitzerin des Café Krämer und, wenn man denn so wolle, Grand Dame der kleinen Stadt. Das müsse er wissen. Unbedingt! So die Stimme.

 

Nachdem ich meinen Kaffee getrunken und bei Nadja bezahlt hatte, Frau Dörrfleisch war nicht mehr aufgetaucht, stapfte ich den Trampelpfad hoch durch den Wald und kreuzte dabei abwechselnd den in Serpentinen angelegten Wanderweg und die Straße. Kurz vor dem Ziel zog ich den Ablaufzettel aus der Gesäßtasche. Evelyn Marie Hämmerle stand da geschrieben, 2. Oktober, 13 Uhr. Ist der Androide beseelt?, so der schlichte Titel der Hämmerle, die sich meiner Erinnerung nach noch nicht vorgestellt hatte, die aber vor meinem geistigen Auge sogleich als ein mit einem eleganten Kleid behängtes Großgerippe erschien, darüber ein hakennasiger Kopf mit graudurchwirktem, aber üppigem Haar. Dieses Bild schickte mir ihr Name zu. Es ist ja in der Tat immer so, dachte ich, dass mir auch beim Schreiben zunächst der Name einfällt, aus dem dann im besten Falle selbständig die Figur, der Mensch wird. Womöglich bin ich mir ja selbst so eingefallen, dachte ich, derweil ich auf einen am Wegesrand aufragenden Stein kletterte, ein Riesenfindling, der von der Sonne angenehm erwärmt war. Ich beschloss, ein wenig zu verschnaufen und mir den Schweiß von der Oktobersonne trocknen zu lassen. Und dann muss ich wohl eingeschlafen sein.

 

Der Ruf einer Amsel weckte Westphal, dem ein fernes Grummeln folgte. Er benötigte einen kleinen Augenblick, sich wiederzufinden und zu erinnern, wer er denn ist und wo er sich befinden mochte. Ah! Der Wald. Das Rauschen des Blätterdachs über ihm. Dann wieder ein Grummeln. Sicher, so dachte er, gibt es ein Gewitter. Oder war das ein Flugzeug? Der Rücken schmerzte. Die Armbanduhr zeigte 13 Uhr 27. Die Hämmerle war also bereits mittendrin in ihrem Vortrag. Was war noch gleich das Thema gewesen? Ach ja: die Seele. Hat die Maschine eine? Westphal war sich nicht einmal sicher, ob der Mensch eine hatte. Seiner Meinung nach sollte man den Begriff ausschließlich in Anführungszeichen verwenden, so wie ernstzunehmende Philosophen das gemeinhin tun. Wie leicht geht den Menschen doch beispielsweise dieses Das liegt mir auf der Seele über die Lippen – so als sei deren Dasein gesichert! Die Seele, die Psyche, das Gemüt, das Herz, der Magen, die Leber, dachte Westphal, etwas unbeholfen vom Findling rutschend, alles nur alberne Metaphern, die alberne Figuren sich ausdenken, um sich wichtig zu tun.

 

Im Foyer wie immer niemand. Westphal geht im Zickzack von Lichtinsel zu Lichtinsel. Vier große Schritte von der einen zur anderen. Er bleibt stehen. Was tun? Er hätte nun doch gerne erfragt, wo der Rote Salon zu finden ist. Den Blauen zur Frühstückszeit zu finden, war ja nun kein Problem, man folgte einfach dem Geruch; den Roten aber konnte man sicher nicht erschnüffeln. Westphal trat an den Tresen. So ein Glöckchen, mit dem man Ping machte, und das an keinem Hoteltresen fehlen durfte, fehlte. Hallo!, rief Westphal, doch niemand antwortete, niemand kam. Hallo! Er sah sich um. Kein Lageplan, nirgends, und auch an ein Leitsystem hatte niemand gedacht, wie sie in allen Hotels der Welt üblich sind. Sind die Hinweise etwa mit Absicht entfernt worden? Wie auch immer, dachte er, einem Androiden kann man das Innere eines Gebäudes sozusagen implantieren, Menschen aber müssen sich, fehlen alle Hinweise, auf ihre Beobachtungsgabe und ihren Instinkt verlassen. Hallo!, rief er nochmal, aber wieder nichts. Alles wie ausgestorben.

 

Über dem Wald war nun so eine Art Wolkensteppdecke zu erkennen. Also eher kein Gewitter. Doch was nun tun, fragte er sich. Auf sein Zimmer gehen, um zu arbeiten, oder doch lieber auf eigene Faust den Roten Salon suchen und der dem Vortrag folgenden Diskussion zuhören? Seele, Seele, Seele. Eher letzteres, dachte er: auf also zum Roten Salon! Das wichtigste auf Tagungen, Kongressen und Jahreshauptversammlungen war schließlich noch immer, Interesse zu zeigen: wer am besten heuchelte, war der Schönste. Nicht zu unterschätzen ist auch immer noch das Verteilen von Visitenkarten. Der und der, die und die, Namen, Straßen, Orte, Telefonnummern, Mailadressen, Webseiten. Bei Westphal lagen die Kärtchen in einem Schuhkarton der Größe 45, der fast bis zur Hälfte damit angefüllt war. Massenhaft Schriftsteller und Schriftstellerinnen! Viele arbeiteten im Unterhaltungsbereich und schrieben Liebesdramen und Krimis, nicht selten zugleich als Roman, Drehbuch und Hörspiel. Manch einer tummelte sich zudem noch im Journalismus, nicht selten sogar im leicht schmierlappigen Bereich des Boulevards. Irgendetwas musste ja schließlich die Miete bezahlen. Andere wiederum beharrten dickköpfig auf ihrer künstlerischen Schreibe, mit der aber nur einer von Zehntausend, so sagen es die Gesetze des Marktes, Erfolg haben konnte. Ich, dachte Westphal, ich gehöre wohl zur letzteren Sorte als einer der Neuntausendneunhundertneunundneunzig. Aber kein Selbstmitleid, Moritz, murmelte er halblaut, bloß kein Selbstmitleid!

 

Er rief nochmals Hallo! Ein solcherart totes Hotel hatte er ja noch nie erlebt. Was hatte der Mensch am Empfang gesagt: es habe eine lange Schließzeit gegeben? Der häufigen Stromausfälle wegen? So etwas ruiniert den Ruf eines Hauses natürlich nachhaltig, da kommt am Ende niemand mehr, ergo das Personal reduziert und alles zusammengestrichen wird. Allein der Gedanke an einen Stromausfall riecht ja nach durchgeschmorten Kabeln, Feuerwehr, Tod und Verwesung. Und dann wird auch niemand ausgerechnet hier eine Tagung abhalten wollen, niemand außer irgendwelchen Randgestalten, so eine wie die Bulgakowa von diesem ominösen Bureau zur zukünftigen Rückführung der Welt zu ihrer ursprünglichen Beziehung zur Kunst. Vierundzwanzig Gäste tauchen auf, nicht mehr, die in diesem Klotz aus Beton nicht einmal auffallen. Dazu kommen noch die Bulgakowa, Carl, diese Maya und ein paar weitere Bedienstete im Service, der Küche und so weiter. Es dürften also kaum mehr als vielleicht vierzig Personen anwesend sein, dachte er, noch einmal, aber leiser schon, Hallo! rufend, und es wäre doch ohne Zweifel möglich, hier mehrere Kongresse oder Tagungen gleichzeitig ablaufen zu lassen. In so einem Klotz!

 

Hallo!!!

 

Mit einem Male, wie aus dem Boden geschossen, steht diese Frau in der Pagenuniform vor ihm. Er erschrickt fürchterlich, wo kommt denn die plötzlich her, sie aber lächelt ungerührt und bittet ihn mit leiser Stimme, obgleich er keinen Ton gesagt hat, ihr zum Blauen Salon zu folgen. Unvermittelt geht sie schnellen Schrittes los, er folgt, immer ihre strammen Waden im Blick, folgt ihr Gang auf Gang, um die Ecken links und rechts herum, und die Frage, ob es denn nicht einen einfachen Weg gäbe, geben müsse zu dem Veranstaltungsraum, liegt ihm natürlich auf der Zunge, und jetzt führt sie ihn sogar treppab, ein düsteres Loch, die Beleuchtung beidseitig unter dem hölzernen Handlauf, es folgt ein türenloser, neonbeleuchteter Gang, worauf es wieder treppauf geht, Entschuldigung!, sagt er endlich, als sie oben angekommen sind, Entschuldigung!, doch es geht weiter einen Gang entlang, keine Reaktion, die Frau läuft einfach weiter, und schließlich bekommt Westphal es mit der Angst zu tun, entdeckt eine Tür links, betätigt die Klinke, wirft sich dagegen – und steht wieder im Foyer.

 

Ah!, sagt eine Stimme, Westphal, nicht wahr? Moritz Alexander Westphal!

Frau Dingelen steht lächelnd direkt vor ihm.

Sie erinnern sich? Wir haben miteinander gefrühstückt! Ich bin es, Frau Dingelen!

Wieder weist sie auf ihr T-Shirt mit dem Aufdruck Dichterin. Westphal nickt. Natürlich weiß er, wer sie ist. Wie kommt sie darauf, ihn zu fragen?

Wissen Sie, sagt Frau Dingelen, dass es mich jedes Mal erregt, wenn ein Mann das Wort Dichterin auf mir liest und zugleich meine Brüste betrachtet. Er, der Mann kann ja auch garnicht anders, nicht wahr! Auch in Ihren Augen erkenne ich eine Melange sexuellen, poetischen und intellektuellen Begehrens. In solchen Augenblicken bin ich zugleich Kunstwerk und sinnliches Wesen. Was sagen Sie dazu? … Moritz?

Westphal ist völlig überrumpelt. Er sieht sich um. Das Foyer immer noch leer, niemand zu sehen. Und draußen rauscht der Wald.

Haben Sie, fragt er ausweichend, den Vortrag der Hämmerle besucht? Ich selbst war auf dem Weg, bin dann jedoch auf einem großen Stein im Wald eingenickt und zu spät wieder aufgewacht.

Nein, sagt Frau Dingelen, ich habe das Kongress-Hotel erkundet. Vorträge kann ich selbst halten. Es ist dieser Bau hier, sie warf beide Arme in die Höhe, der mich interessiert.

Westphal nickt wieder. Ihm fiel ein, dass er sie heute morgen vor seinem geistigen Auge nackt gesehen hatte, auf ihrem Bett wippend, bis sie herunterrutschte. Ein Knäul nackter Arme und Beine. Gah, gah, gah! hatte sie gerufen.

Warum, fragt er und merkt zu spät, dass er das Thema, das er zu vermeiden trachtete, wieder aufs Tapet brachte, tragen Sie das Wort Dichterin auch hinten auf ihrem Shirt? Da merken Sie doch gar nicht, wenn es jemand ansieht.

Prompt dreht sie sich um, und siehe da, dort stand Dichterin in Spiegelschrift aufgedruckt, was ihm zuvor nicht aufgefallen war.

Ich verstehe, sagt er.

Nix verstehen Sie! Aber kommen Sie, ich will Ihnen etwas zeigen!

 

Nun folgte er der Dingelen. Ihre mageren Waden in den safrangelben Strumpfhosen ließ er nicht aus den Augen. Auch sie legte ein gehöriges Tempo vor, Westphal kam ins Schwitzen. Hinter dem Empfang war es zunächst eine lange Treppe hinabgegangen, dann liefen sie von Rohren und Leitungen gesäumte Kellergänge entlang, um schließlich in einem ruckeligen Lastenaufzug nach oben zu fahren. Westphal war sofort die Sache mit den Stromausfällen in den Sinn gekommen, sagte aber nichts. Leicht rumpelnd fuhren sie vier Stockwerke aufwärts, schweigend geriffelte Betonwände betrachtend. Wenn Westphal sich richtig orientiert hatte, so mussten sie sich im hinteren Teil des Hotelkomplexes befinden. Der Aufzug stoppte, die Gittertür sprang auf, und schon standen sie vor einer Stahltüre, auf der mit fetten Buchstaben HAUSTECHNIK geschrieben steht. Voilà, sagte die Dingelen, der Videoüberwachungsraum! Voll die Siebziger, voll Enterprise!

 

Eine Stunde später sitzen Frau Dingelen und ich auf Hockern an der Bar. Wir hatten uns am Buffet einiges an Fingerfood auf extra große Teller geladen, die wir jetzt auf unseren Oberschenkeln balancierten. Marquard, der sich uns steif und gediegen vorgestellt hatte, er heiße Marquard, sei erster Barkeeper des Hauses und stehe ganz zu unserer Verfügung, goss uns Weißwein nach. Ich war immer noch, nun sagen wir mal: irritiert. Da sindse geplättet, wa!, hatte die Dingelen triumphierend, wie ich fand, gerufen, als ich offenen Mundes vor all den Monitoren und dem Schaltpult stand. Meine Äuglein flitzten hin und her. Schieber, Drehknöpfe, Lämpchen, alles in bestem Zustand. Ein Einblick in die Veranstaltung mit der Hämmerle war leicht herzustellen. Frau Dingelen drückte und drehte gezielt an Knöpfen und Reglern herum, und schon hatte man eine schöne Totale des Rotens Salons in schwarz-weiß und einen etwas knarzigen Ton. Die Hämmerle, ich erkannte in ihr die Frau mit dem weißgrundierten geblümten Kleid wieder, stand vorne und beantwortete, so schien es, eine Frage zum Seelenbegriff der Antike. Sie warf mehrmals den Begriff Tabula rasa in den Raum, und zwar, wie ich fand, mit übertrieben großer Geste. Schließlich stellte die Dingelen die Anlage wieder ab. Man könne auch, wenn man denn wolle,  sagte sie noch, direkt in den Raum dort hineinsprechen, aber dann verrate man ja ein Geheimnis. Sie zwinkerte mir zu. Dann machten wir uns auf den Weg zurück, benutzten allerdings nun das Treppenhaus statt des Fahrstuhls: ich hatte der Dingelen von den Stromausfällen erzählt.

 

Die Dingelen! Während ich beim Frühstück noch dachte, die Frau hoffentlich nicht an der Backe zu haben, betrachtete ich sie nun mit einigem Wohlwollen. Ihr Alter war schlecht einzuschätzen. Von Weitem ginge sie für einen Teenager durch, der Gang, die Sprunghaftigkeit, die Klamotten, von Nahem aber wirkten ihre blassgrünen Augen fast weise, konterkariert von den Lachfältchen und der Stupsnase. Ende dreißig mochte sie sein, Anfang vierzig. Sie mümmelte, während ich nachdachte, eines dieser Dinkel-Kürbiskernbrötchen und goss mit Weißwein nach. Wissen Sie Moritz, sagte sie plötzlich mit vollem Mund, ich hasse Kongresse, Tagungen und überhaupt alle Veranstaltungen mit mehr als zwei Teilnehmern. Sie machte Marquard ein Zeichen. Er goss uns beiden nach. Die Frau in der Pagenuniform ging vorbei und grüßte, Guten Tag Frau Dingelen, Guten Tag, Herr Westphal. Wir nickten ihr zu. Ich erzählte der Dingelen, wie diese Frau in Pagenuniform mich zum Roten Salon hatte führen wollen, oder sollen, ich ihr aber, als es immer nur die Gänge entlangging, durch eine Tür sozusagen entwischte, nur um unmittelbar wieder im Foyer zu landen, wo, sagte ich, wir uns dann, ich machte eine rhetorische Pause, ja zufällig trafen. Die Dingelen blinzelte mich, kauend und schluckend, an. Das Sollen wollen, was wir wollen sollen, sagte sie schließlich in tiefem Tonfall und lachte. Und umgekehrt! Wobei, fügte sie, als sie endlich ausgelacht hatte, hinzu, ein gewisser Anton Zeilinger, Nobelpreisträger, ja allen Ernstes behauptet, der Zufall sei immer und überall konstitutiv für die Welt. Immer und überall! Allerdings fürchte ich, dass der Anton als Quantenphysiker aus der falschen Perspektive heraus spricht, denn er sagt auch noch, die Welt sei alles, was der Fall sein kann, in Abwandlung des Satzes von Ludwig Wittgenstein: Die Welt ist alles, was der Fall ist. Dabei gilt, sage ich, die Welt ist alles, was der Fall zu sein scheint. Sie trank ihr Glas leer, Marquard füllte nach. Ich verstand kein Wort. Wittgenstein sprach sie Wittgen-s-tein aus, und zwar allen Ernstes. Das einzige Wort, sagte ich, ohne auf die Weltenfrage einzugehen, das sinnvoller Weise in dieser Art auszusprechen ist, wie Sie Wittgenstein aussprechen, dürfte allerdings Schrifts-teller sein, wobei das tell sinnigerweise auf das Erzählen selbst verweist. Frau Dingelen nickte, trank einen Schluck und machte Marquard wieder ein Zeichen, der schon eine weitere Flasche entkorkt hatte. Ein Barkeeper kennt seine Pappenheimer.

 

Westphal schlief, satt und betrunken, bis zum Abend. Da habe ich doch glatt, dachte er, aufwachend seine Armbanduhr mit Mühe scharfstellend, die ersten vier Vorträge des Kongresses allesamt verpasst. Es war ganz genau 20 Uhr. Die Dingelen, dachte er, ist schuld! Betrunken hatte sie ihn gemacht. Mühsam rappelte er sich hoch, schlurfte nackt zum Tisch, klappte den Rechner auf und begann damit, das Erlebte niederzuschreiben. Sollte er etwas dazuerfinden? Schließlich bin ich ja, dachte er, Schriftsteller, und wer sich tagsüber mit einer Frau betrinkt, der landet natürlich mit ihr im Bett, überhaupt keine Frage, worauf dann, kurz gesagt, das Immerselbe geschieht: man bestreicht, berührt und massiert des anderen Menschen intimste Zonen und lässt es selbst mit Lust zu, und wenn dann alle Raserei schließlich an ein Ende gekommen ist, liegt man ermattet nebeneinander. Da hatte man der Welt einen schönen Streich gespielt! Westphal sah zum Bett hin, zerwühlt zwar, aber leer. Dass Franz Ferdy aufgetaucht war, das wusste er immerhin noch, dass er einen Whisky trank und seine altersfleckigen Hände zugleich auf seinen, Moritz’ rechten und auf den linken Oberschenkel der Dingelen legte, so als wollte er sie segnen. Wie er aber nun in sein Zimmer gekommen war, tja, da hatte Westphal keine Erinnerung … doch halt – war das denn hier überhaupt sein Zimmer, fragte er sich plötzlich, war das denn hier überhaupt sein Rechner, sein Bett, sein Stuhl, sein Tisch, und musste diese nackte Frau, die jetzt mit einem Handtuch um den Kopf ins Zimmer trat, denn nicht zwingend die Dingelen sein?

 

Gah, gah, gah!

 

Westphal war quer über dem eigenen Bett dann noch einmal eingeschlafen, schließlich aber, leidlich erholt und ziemlich nüchtern, wieder erwacht. 21 Uhr 47. Er rappelte sich hoch. Was tun? Auf dem Tisch fand er den Ablaufzettel, arg zerdrückt und teilweise unleserlich. Er selbst würde am 6. Oktober um 19 Uhr seinen Vortrag halten: Das Leben als schopenhauersche Theatervorstellung, die mit lebendigen Schauspielern beginnt und mit Automaten in den selben Kostümen endet. Er würde natürlich auf Nachfrage zugeben müssen, die Stelle, auf die der Titel Bezug nimmt, bei Schopenhauer nicht gefunden zu haben. Womöglich gibt es sie nicht einmal. Gelesen hatte er sie bei Michel Houellebecq in seinem wirklich einzigen lesenswerten Roman, Die Möglichkeit einer Insel, in dem es allerdings nicht um Androiden ging, sondern um Klone. Zudem handelte es sich bei der betreffenden Stelle auch eher darum, dass laut Schopenhauer der Mensch gleich dem Tier nichts mehr nützt, sobald der Geschlechtstrieb abgestorben und so der eigentliche Kern des Lebens verbraucht ist. Ich aber, dachte Westphal, denke natürlich weiter, nehme das Zitat in meinem Sinne und so den Begriff des Automaten in den Blick, der nicht zeugungsfähig ist, weil er eben nicht Mensch ist – aber nicht mehr nicht mehr, sondern von Anfang an nicht. Das in jedem Menschen angelegte individuelle Ende findet somit in der Entwicklung humanoider Roboter und in der von Androiden seine Entsprechung im Großen und Ganzen, gleichsam endend mit dem Aussterben der säugetierhaften Menschheit und der Befreiung der Natur vom Joch ebendieser. Wahrscheinlich hat Molitor, als er seinen Text ablehnte, dachte Westphal, genau diese Stelle gar nicht verstanden, worauf sein Verstand zum Selbstschutz in den Tilt!-Modus überging, wie ein Flipper-Automat. Gibt’s die Dinger eigentlich noch?, fragte sich Westphal, notierte sich Datum und Zeit seines Vortrag und warf den Ablaufplan als zerknülltes Rundes in den Papiereimer. Getroffen! Er würde einfach, wenn es sich ergab, wenn er Lust hatte, gegen 10 und 13 und 16 und 19 Uhr zum Roten Salon schlendern und sich einen Vortrag anhören, egal welchen. Natürlich musste er den Raum erst einmal finden! Was sich diese Pagenuniform-Frau wohl gedacht haben mag, als sie ihn kreuz und quer durchs Gebäude führte? Nun ja, das würde wohl ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht war sie ja verrückt, dachte er, vielleicht waren hier alle verrückt. Verrückt geworden! Er musste unbedingt die Dingelen fragen, was sie von all dem hielt.

 

Carl wie eine Eins hinter der Bar, ein Glas polierend. Die Klappe der Gläserspülmaschine stand halb offen und entließ den Duft chemischer Sauberkeit. Sicher war noch allerhand getrunken worden vor dem 19 Uhr-Vortrag. Das Buffett zumindest war offensichtlich geplündert. Unsere Blicke trafen sich. Ob er bescheid wusste. Hatte Marquard ihm bei der Übergabe sozusagen Meldung gemacht: dieser Westphal, diese Dingelen, die sind sturzbetrunken das Treppenhaus hoch. Hat er? Anzumerken war Carl nichts. Wir nickten uns zu. Ich weiß immer noch nicht, sagte ich, ohne dass ich die Absicht dazu gehabt hätte, wo der Rote Salon sich befindet. Carl hielt sein Glas ins Licht, polierte einen Flecken weg, sah mich endlich an und sagte, den Gang dort entlang und geradeaus durch die Flügeltür, schon sei man da. Ein strenger Blick. Drei Service-Mitarbeiter machten sich indes am Buffet zu schaffen, trugen leere Schüsseln und Platten fort, brachten volle, stellten hier und da etwas um, kurz: sie taten etwas Sinnvolles, ebenso wie Carl Sinnvolles tat. Ich fühlte so etwas wie Neid. Das passierte mir oft. Wie nutzlos konnte man sein? Sicher, ich hatte Hunger, trank bereits wieder Alkohol, mit welchen Gedanken also war zu rechnen? Ich nahm einen tiefen Schluck. Abgesehen von Grundsatz- und Sinnfragen, dachte ich, die man mit einiger Berechtigung auch als obsolet ansehen konnte, ist da aber noch eine andere, aktuelle Frage, die mich sehr verwirrte: hatte ich nun mit der Dingelen geschlafen? Oder hatte ich nicht? Das war mir noch nie im Leben passiert, eine Erinnerungslücke formidablen Ausmaßes. Erinnern konnte ich mich nur an mein Aufwachen, an den Augenblick, wo sie splitternackt ins Zimmer trat. Kurz darauf die Verabschiedung, die Dingelen im knallgelben Bademantel. Bis später, hatte sie gesagt, und passen Sie auf sich auf!

 

Tut man so etwas, siezt man den Anderen noch, wenn man mit ihm Sex gehabt hat?

 

Ich taperte zum Buffett. Plötzlich stand Dost neben mir. Er trug immer noch diesen strohgelben Schnäuzer und warf alle Augenblicke mit einer ausholdenden Bewegung des Kopfes das lange blonde Haar aus dem Gesicht. Ich könnte schwören, dachte ich, der Dost hat bei unserer ersten Begegnung keinen Bart gehabt! Und kurze Haare! Sie haben nichts verpasst, sagte er. Gut, sagte ich, war aber nicht sicher, ob er nur den 19-Uhr-Vortrag meinte oder alle vier Vorträge des Tages. Dost schaufelte sich seinen Teller voll, als gäbe es kein Morgen. Ich tat es ihm gleich. Ich sah mich um. Dost muss sich wohl als Einziger herausgeschlichen haben aus der Veranstaltung. Kommen Sie, sagte er, setzen wir uns dort hinten hin. Kommen Sie! Da kann man natürlich nicht nein sagen, ohne grob unhöflich zu sein, und so waren die Rollen, für den Augenblick wenigstens, verteilt: Dost-Befehler, Westphal-Befehlsempfänger. Das mir das nicht noch einmal passierte!

 

Warum fallen einem Dost solche Dinge auf, mir aber nicht! Mitternacht war vorbei, ich sitze in meinem Zimmer und schreibe das auf, was Dost mir erzählt hat, allerdings, und das war das Seltsame, aus meiner eigenen Erinnerung heraus. Zwei Stunden oder mehr hatte er mir umständlich die Eindrücke, auch die nebensächlichsten, seiner Anreise mit der Bahn geschildert. Er kam zwar nicht wie ich aus dem Nordosten, sondern aus dem Südwesten Deutschlands, dennoch aber war ein Umstand der Anreise von A bis Z dem Kern nach, so nannte er das, genau gleich: mit jedem Umsteigen nämlich war man jeweils mit einem älteren Gefährt befördert worden, und zwar ganz augenscheinlich, erkennbar auch ohne Fachkenntnisse in Sachen Eisenbahn. Alles schien doch, sagte er eindringlich, immer altbackener zu werden, das hätte ich doch bemerken müssen. Oder stimme das etwa nicht? Doch, doch, sagte ich, nach dem dritten Umsteigen war es ein Zug aus den achtziger Jahren … die Übergänge von Waggon zu Waggon mit ihrem ungedämmten Gekreische der Schienen und der sich aneinanderreibenden Bodenplatten, die Toilettenlöcher mit freiem Blick auf Bahnschwellen und Schotter … natürlich, selbstverständlich war mir das aufgefallen, sagte ich, aber eben nur als eine leicht anzunehmende Ausnahme – man musste wohl, so hatte ich gedacht, in der Not Loks und Waggons aus der Reserve geholt haben, das kam vor; Hauptsache doch, es ging voran. Auf die Idee, darin eine Folgerichtigkeit zu sehen, war ich aber eben nicht gekommen, bevor mich Dost mit der Nase darauf stieß. Das musste ich zugeben. Schlussendlich brachte uns ja sogar ein Taxi hier herauf, das, Dost hat das nachgeprüft, im selben Jahr in Dienst gestellt worden war wie das Hotel, nämlich 1969. Punktlandung! Der Triebwagen hingegen, mit dem wir, wenn auch nicht zur gleichen Zeit, er sei zwei Stunden früher angekommen, den Bahnhof erreichten, ist von 1972. Naja, und so weiter, er habe das, wie gesagt, alles nachgeprüft. Den Zettel mit meinen Verbindungsdaten könne ich, sagte er irgendwann zwischendurch, wir saßen immer noch in der Ecke, während alle anderen an der Bar saßen oder standen, also wiederhaben, vielen Dank! (Ich erinnerte mich nicht, ihm den Zettel gegeben zu haben, stutzte wohl einen kleinen Augenblick, ließ mir aber, glaube ich, nichts anmerken). Tja. Und nun? Bin ich etwa, überlegte ich, den Stift zur Seite legend, auf einer Zeitreise? Wir alle?

 

Eine Petitesse, all das. Eine Konstruktion. Mehr nicht.

 

[3. Oktober] Da war es ja endlich, das Gewitter! Ein Krachen, Westphal fuhr aus dem Schlaf. Blitze erhellen die Nacht, Irrwische tanzen durchs Fensterbild. Seine Hand tappste nach der Nachttischlampe. Na, wer sagt’s denn, dachte er, nichts: Stromausfall. Er schlief wieder ein, Krachen und Blitzen her oder hin, und träumte, sogleich oder später: da stand er plötzlich vor der Giebelwand eines Hauses, die hat er im Blick, ein altes Haus und ein Fenster in der Giebelwand, ein Fenster mittig ganz oben unterm Knick, und es ist der Kioskmann vom Bahnhof, der sich da oben herausreckt, in die Weite blickend, suchend, die Hand über den Augen, wann kommt sie denn, wann kommt sie denn?, ruft er, und Moritz, der steht breitbeinig unten, wiegt den Kopf hin und her und sieht hinauf, und da ruft der Kioskmann Ach!, so ruft er, Ach! Limette!, wann kommst du endlich an mein Herz, Limette!, Limette, ach Limette!, und wie wütend Moritz dann plötzlich wird, wie ein Springteufelchen tobt er, umbringen wird er den Kerl, umbringen, und schon ist er, ungeahnte Kräfte!, die Wand hochgeklettert, schon hat er das Fenster erreicht, ich geb dir Limette, schreit er, Schaum vor dem Mund, du Kioskkerl, du, depperter: Lenette heißt’s, Lenette!, und morgen ist Premiere, du Schuft, und da greift er dem Kioskkerl in die Schnauze hinein und zieht ihn heraus aus seinem Loch, und zubeißen tut das Aas auch noch, dem werd ich’s zeigen, denkt Moritz, und dann schleudert er den Kioskmann auch schon in hohem Bogen in die Tiefe hinab, der schreit natürlich, doch was hilft’s, und da liegt er auch schon mit dem Gesicht nach unten, ein kurzes Zittern noch, der Bretterboden färbt sich, alles ist dunkelrot, ja, da liegt er, mitten in seinem eigenen Blut liegt der Kioskmann, und wenn er nicht schon tot wäre, würde er jetzt ertrinken, ersaufen, denkt Moritz, und schuld ist er ja selbst, da muss ihm keiner dumm kommen, denkt Moritz, denn hätte er nur Le-nette gesagt! Lenette!, er läge nicht in seinem eigenen Blut und … Und da reißt das Mobiltelefon Moritz aus dem Schlaf. Es ist heller Morgen. Die Tannenspitzen stehen unbeweglich unter blauem Himmel. Ja, sagt Moritz unsicher mit knarzender Stimme, Westphal. Sarah! Es ist Sarah!

 

Die Dingelen beim Frühstück mir gegenüber. Wusste sie, was ich nicht wusste? Wir blinzelten uns an, schwiegen aber zunächst, kauend und trinkend, und sprachen dann schließlich über das Gewitter. Es habe, sagte ich, einen Stromausfall gegeben, ob sie das mitbekommen hätte, doch noch bevor sie etwas antworten konnte, trat von Stuckenbostel an unseren Tisch. Sicher galten wir bereits als Paar, denn er hob mit priestlicher Geste seine Hände und berührte mit Zeige- und Mittelfinger unsere Schultern. Wir sahen uns an, zuckten aber nicht. Stuckenbostel legte einen Zettel, nicht zwei!, auf den Tisch und lud uns zu den heutigen Vorträgen ein. Änderungen habe es gegeben, Umstellungen, er tippte mit dem Zeigefinger auf das Blatt, und außerdem, er blickte mich intensiv an, sei es nun möglich, verpasste Veranstaltungen, sein Blick wechselte zu der Dingelen, nachzuerleben, indem man den Aufzeichnungen, so sagte er, Aufmerksamkeit schenke. Im Grünen Salon stünden nämlich die Hologramme zum Abspielen bereit, er starrte wieder mich an, der Hausmeister, der zugleich Haustechniker sei, habe alles zur vollen Zufriedenheit Frau Bulgakowas eingerichtet, die Schalttafel sei narrensicher, imgrunde, er wechselte wieder die Blickrichtung, müsse man nur zwei Knöpfe drücken, den Einschaltknopf und dann den der betreffenden Veranstaltung, alles sei beschriftet, und schon erschiene das Hologramm auf der Bühne und hielte seinen Vortrag. Die Dingelen nickte ihm ernst zu, worauf von Stuckenbostel die Lippen aufwarf und ebenfalls zusammengekniffenen Auges nickte, um dann, ohne mich noch einmal anzusehen, schweigend weiterzuziehen. War das nun eine Ein- oder Ausladung, dachte ich, verzerrte noch schnell mein Müsli, trank meinen Kaffee, worauf ich mich bei der Dingelen entschuldigte, ich werde mich, sagte ich, noch ein wenig frischmachen, so etwas hatte ich noch nie im Leben gesagt, mich frischmachen!, was war nur in mich gefahren?, und schon stand ich auf, brachte Geschirr und Besteck zum Servicewagen in der Ecke und verließ schnellen Schrittes den Blauen Salon. Was tat ich hier? Was sollte ich hier? Und was hatte ich gestern im Zimmer der Dingelen getan? Was hatten wir getan?

 

Mein Koffer war nicht übermäßig schwer. Wechselte ich alle paar Minuten von der einen zur anderen Hand, würde ich den Weg vom Kongress-Hotel zum Bahnhof gut zu Fuß bewältigen können. Durch den Wald hindurch. Zwar war heute Feiertag, der der deutschen Einheit, und die Züge mochten zu anderen Zeiten verkehren, doch das wäre, dachte ich, ja leicht zu recherchieren, auf der Website des Verkehrsunternehmens oder durch eine schlichte Frage am Empfang, wann denn, würde ich fragen, fahren denn heute am Feiertag die Züge Richtung Norden? Warum ich dann zwar in die Stadt hinunter ging, aber ohne Koffer, weiß ich nicht. Vielleicht war mein Hauptgedanke an diesem Tag auch nicht der der Abreise, der Flucht, sondern galt dem Kioskmann, den ich in der Nacht im Traum zu Tode gebracht hatte. Die Wut steckte immer noch in mir, und eben sie wollte ich wohl loswerden, einfach indem ich ein ruhiges, banales Gespräch führte mit meinem Opfer. Das nächtliche Gewitter wäre dazu ein guter Anlass. Ich taperte also, immerhin hatte ich dieses Mal daran gedacht, meine schweren Juchtenlederschuhe anzuziehen, das Treppenhaus hinunter. Das Foyer wie immer menschenleer. Ich entschlüpfte durch die rechte Drehtür, überquerte die schmale Straße betrat den Wald und lief schnurstrackts den Wildpfad entlang, der mich fast bis zum Stadttor führen würde. Das Gewitter hing deutlich noch in der Luft, Dunstschwaden hier und da, mal in Bodennähe, mal in einiger Höhe unter den Wipfeln, der Waldboden nassgesättigt, die Luft schwer und moderig. Wieder würde ich, dachte ich, den ersten Vortrag des Tages verpassen, ja womöglich würde ich wieder alle Vorträge des Tages verpassen. Aber kratzte das jemanden? Und Sarah? Was war denn nun mit Sarah? Ideen hatte die!  

 

Die älteren Damen mit dem Dackel standen an eben derselben Stelle wie gestern. Der Hund streifte mich kurz beleidigten Blickes, das war alles. Mit dem Koffer in der Hand wäre es sicher nicht anders gewesen. Ein Fremder. Das kam vor. Auf dem Weg vom Hotel zum Bahnhof. Zu geizig, ein Taxi zu nehmen. Zurück in die Großstadt, nach München, Köln, Frankfurt, Hamburg oder Berlin. Was taten diese Menschen hier, so fragten sie sich. Was tun sie dort in ihren Großstädten! Ich umlief einige Pfützen, in denen die Spatzen fröhlich schwatzend badeten. Links und rechts wurden Rollos in die Höhe gezogen, Gitter aufgetan, Türen geöffnet. Punkt zehn Uhr. Das Geschäftsleben der kleinen Stadt! Hatte er nicht überlegt, sich einen Hut zu kaufen?

 

Statt des Kioskmanns füllt ein fettes, fast quadratisches Frauengesicht die kleine Höhlung zwischen all den Zeitungen und Zeitschriften aus. Westphal spürt sofort, dass ein Gespräch, ein anlassloses zudem, unmöglich sein würde. Er kauft eine überregionale Zeitung, mit der er im Café Krämer auffallen würde, und verlässt ohne weiteres das Bahnhofsgebäude. Wie ein Rentier, schießt es ihm plötzlich durch den Kopf, wie ein Rentier benehme ich mich, denn er hatte nicht einmal sein Schreibzeug dabei, Notizbuch, Füllfederhalter, Kugelschreiber und Bleistifte lagen auf dem Tisch im Hotelzimmer. In Zukunft würde er, wenn er denn nicht abreiste, nicht mehr ohne Notizbuch ausgehen, in die Stadt gehen, das Café Krämer besuchen. Ein Schriftsteller ohne Blatt und Stift, wo gab es denn so etwas! Den Computer allerdings nahm er selten mit nach draußen, zu sehr wurde er in das Gerät hineingesogen, zu sehr blendete sich die Umwelt aus, sei er nun in einem Café oder sonst an einem Ort, der sich zum Arbeiten eignete. Nein, nein, die beste Methode, so hatte sich herausgestellt, war noch immer, dort draußen in der Welt handschriftliche Notizen zu machen und diese dann in den Rechner zu übertragen. Mochten manche Kollegen, mochte die Jugend das anders sehen, für ihn war es die einzig gangbare Methode. Ihm fiel sein kleines Treppenhaus-Abenteuer des Ankunftstages ein, auch da handelte es sich ja um ein Eingesogenwerden. Eine seltame Sache war das gewesen, befördert womöglich von den Reisestrapazen, die zu einer Verwirrung geführt hatten, die gleichsam in ihm schlummerte, um dann im Treppenhaus Gewalt über ihn zu erringen. Er musste unbedingt noch einmal da hinuntergehen, gut vorbereitet natürlich, und wahrscheinlich würde sich alles als ganz und gar harmlos herausstellen, dachte er, quer über den Münsterplatz, auf dem Marktstände aufgebaut wurden, gehend und endlich das Café Krämer betretend. An einem kleinen Tischchen nahe der Garderobe saß Frau Dörrfleisch, im Schoß einen Aktenorder, in dem sie, offensichtlich etwas suchen, blätterte. Guten Tag, sagte sie, aufsehend, könnten Sie bitte Nadja ausrichten, mir noch einen Kaffee zu bringen. Westphal war überrascht, sagte Guten Tag, Westphal!, Dörrfleisch, erwiderte sie, mach ich, sagte er, tat ein paar Schritte durch das leere Café, lugte durch den Türrahmen in die Küche, Nadja, sagte er, rot anlaufend, Ihre Chefin möchte noch einen Kaffee, worauf Nadja, ihre Zigarette im außen auf dem Fensterbrett stehenden Aschenbecher ausdrückte, das Fenster schloss und von der Arbeitsplatte heruntersprang. Für Sie auch, Moritz, fragte sie.

 

Sarah hatte nicht ganz unrecht gehabt, die Zeitung, die Frankfurter Allgemeine, behandelte das Thema zentral. Zwei weltengefährdende Ereignisse standen, buchstäblich, im Raum: die drohende Gefahr eines Atomkriegs, brandaktueller diplomatischer Dummheiten und bereits stattfindender Kriege wegen, und der Einschlag eines, so hieß es, mindestens garagengroßen Meteoriten. Zwei Themen, zwei Gefahren, die eine menschengemacht, die andere schicksalsmächtig. Das Wort Schicksalsmacht würde er jetzt, hätte er es nur dabei, in sein Notizbuch übertragen. Er musste es sich merken. Nadja brachte den Kaffee, sagte bitteschön und dass das da, sie wies mit dem Kinn auf die Schlagzeilen, in Trutzberg keine Unruhe auslösen würde. In Berlin, da müsse jetzt wohl Panik herrschen, stellte sie sich vor, denn Berlin sei ja wohl das allererste Ziel der östlichen Atombombe, oder gleich aller Atombomben. Was aber, bemerkte sie noch, diesen Meteoriden angehe, so sei der ja wohl politisch neutral. Westphal lachte. Die politisch neutrale Schicksalsmacht!

 

Ich legte den Artikel zu den Spannungen zwischen den Großmächten zur Seite und widmete mich dem zum Meteoriten, der längst bekannt als harmlos eingestuft worden war, so las ich, bis sich jüngst herausstellte, dass er nicht über eine Masse von etwa 10 Tonnen verfügte, sondern über eine von etwa 100 Tonnen. Ein Rechenfehler, eine verschobene Kommastelle, ein Programmierfehler oder, so hieß es in dem Artikel abschließend, womöglich ein von der Künstlichen Intelligenz absichtlichtlich herbeigeführter Fehler, wobei das absichtlich in Anführungszeichen gesetzt war. Man prüfe das alles fieberhaft, und ebenso fieberhaft erwäge man, den Meteoriten in den nächsten Wochen gezielt zu beschießen, um ihn von der Erde abzulenken. Letzteres aber sei, so war es in einem Kommentar des Chefredakteurs zu lesen, sicherlich nur im Verbund der Großmächte möglich, die aber nun leider alle vier im Moment mit ihren Atombomben sich gegenseitig bedrohten. Stürbe die Menschheit also durch schiere Dummheit aus? So der so?

 

Westphal tippte den letzten Satz in den Rechner. Auch das Wort Schicksalsmacht hatte er stimmig in den Text eingebaut. Die Armbanduhr zeigte zehn vor eins. Er stand auf, klappte den Rechner zu und verließ das Zimmer. Fünf Minuten später befand er sich im Roten Salon, einem schmucklosen Raum mit einer Bühne, auf der ein altmodisches, buchenholzfurniertes Rednerpult stand, das eindeutig nach Schulaula aussah. An der Decke Scheinwerfer und Kameras. Die Stühle, stapelbar und mit rotem Bezug, bildeten vier Reihen á acht. Guten Tag, Herr Westphal, sagte jemand und stellte sich als Frank Meier vor. Er halte gleich seinen Vortrag, Thema sei, wie er ja sicher schon wisse, Der Mensch als Beute seiner selbst. Eine Pause entstand. Westphal musste, so die Spielregel, eine Frage stellen, oder wenigstens etwas erwidern, einen Ton von sich geben, aber ihm fiel nichts ein. Da stand dieser Frank Meier vor ihm, Schriftsteller wie er selbst, von dem er noch nie ewas gehört hatte, wie er selbst Angehöriger einer absterbenden Spezies, der mit seinen blauen Äuglein blinzelte, atmete, dessen Herz einmal pro Sekunde schlug und das Blut im Kreis durch seinen Körper pumpte, ein lebendiger Mann, schlank, mittelgroß, auf den ersten Blick recht symphatisch, und doch war es Westphal, als könne er durch Meier hindurchsehen, ja: als sei dieser halbtransparent, als scheine in diesem Augenblick die hinter ihm vorbeigehende Bulgakowa halb durch, einem Schatten gleich. Ich bin gespannt, sagte Westphal endlich. Meier nickte ihm sichtlich erleichtert zu, wandte sich sofort lächelnd ab und betrat die Bühne. Die Flügeltüren des Roten Salon schlossen sich, leise über den Teppichboden fegend, von selbst, Westphal hörte ein feines Klacken, im selben Augenblick erlosch das Licht im Raum und das der Bühne flutete auf, worauf sich in den Wänden links und rechts vier Klappen öffneten, aus denen surrend Kameras herausfuhren. Wenige Sekunden später sagte eine tiefe Stimme vom Band Drei, Zwei, Ein, und die Bulgakowa trat zum Pult. Guten Tag, sagte sie, gebeugten Kopfes unter ihren dichten schwarzen Augenbrauen hervorlugend, ich begrüße Sie zum Vortrag von Frank Meier mit dem Titel Der Mensch als Beute seiner selbst. Viel Vergnügen! Westphal sah sich um. Er war der einzige Besucher.

 

Zu meiner Überraschung, und auch die Bulgakowa lauschte erkennbar offenen Sinnes dem Vortrag, spulte Meier mitnichten den üblichen kulturwissenschaftlichen Unsinn ab, so wie ich es womöglich selbst tat, plötzlich kamen mir Zweifel an meinem eigenen Text und der von mir aufgestellten Argumentation, sondern spielte alle Konstallationen durch, die eine Gefahr darstellen konnten für eine liberale Gesellschaftsordnung und die dafür notwendigen individuellen Freiheiten, denen sich, das betonte er gleich mehrfach, auf der anderen Seite der Wagschale aber auch notwendigerweise Pflichten zugesellten. Androiden, humanoiden Robotern und allgemein der sogenannten Künstlichen Intelligenz aber würde, da sie quasi nur über Faktenwissen verfügten und normierte Gestaltungsmuster, das menschliche Gespür dafür fehlen, wie Freiheit und Pflicht im Zusammenspiel auszugestalten seien – ein Roboter, sagte er, würde beispielsweise über eine Entscheidung nicht noch einmal schlafen wollen oder überhaupt nur können, weil der Faktor Zeit keinerlei Rolle für ihn spiele. Zudem hat ein Androide, so Meier weiter, auch keinen lebendigen Bezug zur Sprache, besonders Redewendungen seien für ihn nicht abgleichbar mit eigener Erfahrung, sich auf die Zunge beißen etwa sei ihm nicht in den beiden Hauptbedeutungen körperlich erfahrbar, sondern nur faktisch lernbar, und überhaupt habe er prägende Erfahrungen nie machen können, er habe sich weder als Kind vor Angst in die Hose gemacht, noch je einen Wettbewerb gewonnen oder verloren, habe nie Eltern gehabt oder Geschwister, niemals ein Haustier über alles geliebt, einen Lehrer gehasst und so weiter – ergo man der Künstlichen Intelligenz nur einen klar bemessenen Handlungsraum zubilligen dürfe, auch wenn es dafür nun schon, so müsse er leider sagen, der neoliberalen Wirtschaftsdiktatur sei dank, zu spät sei. So weit Meier – sehr stark verkürzt allerdings, da ich mir beim besten Willen nicht alles merken konnte. Aber wozu gab es schließlich, erstens, den Hologramm-Meier, und, zweitens, den unvermeidlich folgenden Tagungsband, herausgegeben vom Bureau zur zukünftigen Rückführung der Welt zu ihrer ursprünglichen Beziehung zur Kunst. Ich musste die Bulgakowa unbedingt danach fragen, und überhaupt hatte ich mit ihr ja noch kein Wort gewechselt – und in eben diesem Augenblick, in dem ich dies dachte, trat die Bulgakowa auf mich zu und sagte: Die Unlesbarkeit vieler Werke der Romanliteratur führt nicht selten zu absonderlich hohen Verkaufszahlen, zu Übersetzungen in alle möglichen Sprachen und insgesamt zu einer üppigen Verbreitung des Werkes, zumeist allerdings nach dem Ableben des Autors oder der Autorin. Was sagen Sie dazu? Und warum schreiben denn Sie nicht einmal einen unlesbaren Roman? Sie sind doch noch so jung!

 

Die Bulgakowa trat nicht nur auf Westphal zu, sondern hakte sich, ihren Arm in seine Armbeuge legend, auch bei ihm ein. Ein Stechen durchfuhr ihn. Das mochte daran liegen, dass er sich seinerseits eingehakt hatte, und zwar bei sich selbst, nämlich mit den Daumen im Hosenbund. Geistesgegenwärtig konnte er immerhin verhindern, in den Knien einzuknicken. Die Tür öffnete sich automatisch. Also: was sagen Sie dazu?, wiederholte die Bulgakowa und schritt mit ihm aus dem Roten Salon hinaus in den leeren Betongang. Von ferne war Stimmengewirr zu hören, und als sie um die Ecke bogen, stand der gesamte Kongress vor der Theke, trank und redete. Mitten unter ihnen Frank Meier. Westphal stutzte, die Bulgakowa aber presste kurz ihre Finger in seinen Oberarm, so dass er eine Bemerkung unterließ. Sie führte ihn an den Tisch links der Bar. Passen Sie auf, Moritz, sagte sie, ich benötige einen Sekretär, kurz gesagt Sie! In Ordnung, sagte Westphal, noch bevor er überhaupt nachgedacht hatte.

 

Es stellte sich heraus, dass der Co-Vorsitzende des Bureaus, Fritz W. Waldemar, am Tag der Ankunft im Kongress-Hotel spurlos verschwunden ist, ganz früh am Morgen, kurz nach seinem Eintreffen. Er habe ihr, so die Bulgakowa, den Fahrstuhl betretend, noch zugewinkt, sei dann aber nie in seinem Zimmer angekommen. Man habe lange nach ihm gesucht, an allen möglichen Orten. Eine Vermisstenmeldung habe stattgefunden. Mit fiel mein kleines Abenteuer am Ankunftstag ein, das Hinabgesogenwerden, die Durchwanderung des Untergrundes. War Waldemar etwas ähnliches widerfahren, nur mit weniger glücklichem Ausgang? Hatte man denn auch dort unten gesucht, in den Katakomben? Doch noch bevor ich fragen konnte, orderte die Bulgakowa bei Carl per in die Luft gemaltem W eine Flasche Wein und entschuldigte sich, sie wäre gleich wieder da. Aus der Gruppe vor dem Tresen heraus waren inzwischen immer wieder die Worte Meteorit und Atombombe zu hören. Franz Ferdy sagte etwas zu Kuba und der Situation von 1962, das Gefühl damals, am nächsten Morgen womöglich in einer neuen, fürchterlichen Welt aufzuwachen, oder gleich tot zu sein – aber man solle doch bitteschön, fügte er mit seinem charmanten Wiener Akzent hinzu, ruhig bleiben, weder in Zynismus noch Panik verfallen und sich also trotz alledem einen schönen Abend machen. Ernst nickend stimmte man ihm zu, nur die Dingelen machte, so weit ich sehen konnte, ein skeptisches Gesicht. Carl brachte inzwischen den Weißwein und Gläser. Später auf ein Wort!, sagte er leise.

 

Ich wachte auf, erkannte mein Hotelzimmer und schrie. Warum weiß ich nicht. Es war auch nur ein kurzer Schrei, ein kehliges Ah, und es gelang mir praktisch sofort, mich zu beruhigen. Mich zu fangen. Zu beherrschen. Ich atmete tief durch. Was nur war geschehen in der letzten Nacht? Etwas Banales wie das, was ich mit der Dingelen getan hatte? Wenn ich es denn getan hatte, wir es getan hatten. Aber nein, dachte ich, es muss etwas Gewichtiges geschehen sein. Ich überlegte. Die Bulgakowa? Carl? Und siehe da, die Erinnerung kam zurück. Also der Reihe nach: Die Bulgakowa, daran erinnerte ich mich plötzlich überdeutlich, hat mich als Sekratär haben wollen! Weil der Co-Vorsitzende des Bureaus, Fritz W. Waldemar, verschwunden ist! Seltsam. Ich muss, so weit ich mich erinnere, zugestimmt haben (ich wälzte mich aus dem Bett und stand für einen Augenblick nackt und schwankend da), denn sie berichtete mir allerlei Profanes und Pragmatisches, das ich nun, so sie verschwörerisch, schließlich wissen müsste  – das Kongress-Hotel etwa sei nur in Betrieb, weil ein Nichtbetreiben den Besitzer teurer zu stehen käme als ein Betreiben, sowohl der Bausubstanz wegen als auch aus steuerlichen, rechtlichen und denkmalschützerischen Gründen, wobei sie am Ende ihrer Ausführungen den Zeigefinger auf die Lippen legte, worauf ich, so erinnerte ich mich mit Beschämung, meinen Mund mit dem Reißverschlusszeichen versiegelte. Besteht denn, sagte ich mir, mich wieder zurück ins Bett wälzend und die Decke unters Kinn ziehend, unsere Kommunikation bald nur noch aus Symbolen, einer vereinfachten Zeichensprache und Lautmalerei? Hatte mich nun auch die Infantilisierung gepackt?

 

Auf dem Tisch fand ich, nachdem ich endlich aufgestanden war und mich angekleidet hatte, eine handgeschriebene Liste der, so hieß es, zum Kongress Geladenen. Die hatte mir aber nicht die Bulgakowa untergeschoben! Da war ich sicher. Denn was sollte das für einen Sinn machen, da ja auch der Ablaufplan der Vorträge die vollständige Liste ergab. Auf der Rückseite des Blattes aber fand sich eine zarte Bleistiftzeichnung, auf der unter einem Halbmond- und Sternenhimmel eine hohe glatte Wand zu sehen ist, und auf ihr weit oben nichts weiter als ein Balkon, und auf dem zwei Menschen.

 

Der Vollständigkeit halber übetrug ich die Liste der zum Kongress Geladenen in mein Notizbuch, gleichsam, so sagte ich mir, für die Nachwelt, die sie in tausend Jahren aus dem Schutt des Hotels klauben wird:

1) Dr. Moritz Alexander Westphal, Schriftsteller

2) Dr. Kaspar Molitor, Chefredakteur der Neuen Wochenzeitung NWP

3) Anneliese Pröper, Seniorchefin einer Literaturagentur

4) Hermann Dotz, Schriftsteller

5) Anneliese Bier, Schriftstellerin

6) Franz Ferdy, Schriftsteller / Journalist

7) Frau Dingelen, Schriftstellerin

8) Clemens von Stuckenbostel, Schriftsteller / Verleger / Moderator

9) Karnack, Schriftsteller oder Schriftstellerin

10) Evelyn Marie Hämmerle, Schriftstellerin

11) Frank Meier, Schriftsteller

12) Sibylle von Bodelschwingh, Schriftstellerin / Redakteurin

13) Emma Log, Schriftstellerin

14) Lennart L. Laage m Schriftsteller

15) Susanne Kaminsky, Schriftstellerin

16) Sema Kus, Schriftstellerin / Musikerin

17) D. A. F. , Schriftsteller oder Schriftstellerin

18) Thomas Pratzenberger, Schriftsteller

19) Joseph Gransee, Schriftsteller

20) Michael M. Artz, Schriftsteller

21) Louise Lankwitz, Schriftstellerin, Influencerin

22) Dagmar Mertens, Schriftstellerin

23) Ferdinande Grahm-Bohringer, Schriftstellerin / Bildhauerin

24) Greta Gratzinger, Schriftstellerin

 

Hunger überfiel mich. Die Armbanduhr neben dem Rechner zeigte 9 Uhr 17. Ich musste mir unbedingt die Möglichkeit verschaffen, auf meinem Zimmer zu frühstücken. Weder würde ich die Dingelen mir gegenübersitzend noch weiter ertragen, noch all die Gesichter der Meute, dieser vom Bureau hergelockten Gestalten, mal ganz abgesehen vom Geruch und dem Geklapper und Geplapper dort unten im Blauen Salon. Ein Wasserkocher, eine Schale, Besteck und so weiter, diese Dinge waren anzuschaffen, dazu ein Bestand an Haferflocken, Leinsaat, Sonnenblumenkernen, Öl. Obst würde alle zwei Tage einzukaufen sein. Ja, Pläne mussten her! Alles betreffend! Alles musste geplant sein! Vor allen Dingen aber war zu eruieren, warum ich vieles von dem, was ich erlebte, offensichtlich über Nacht vergaß und dann mühsam rekonstruieren (oder neu erfinden) musste. Denn so war es von Anfang an, seit ich das Kongress-Hotel betreten hatte, so als überschriebe alles Neuerlebte das zuvor Erlebte. Oder Teile des zuvor Erlebten. Eine Fehlfunktion, die mir nie im Leben vorgekommen war, eine Verwirrung, eine Verrückung knapp neben sich – so schien es mir. Zuvor war mir, ganz im Gegenteil zur jetzigen Situation, zumindest die Essenz des Vergangenen immer präsent, ganz gleich, ob ich etwa Alkohol getrunken hatte oder nicht. Sollte womöglich eine Droge im Spiel sein, fiel mir ein, die im Essen steckt? Oder durch die Lüftung in die Räume geleitet wird?

 

Ich sah mir noch einmal die Zeichnung an. Der Betrachter blickte nach oben, steil nach oben, er musste sich also an der Rückseite des Hotels befinden am Fuße der hinter dem Komplex aufragenden Steilwand. Denn die Zeichnung zeigte, da war ich aus irgendeinem Grund sicher, die Rückwand des Hotels, die in einem Abstand von etwa zehn Metern parallel zum Fels, der das Gebäude aber, von Tannen gekrönt, überragte, in die Höhe schoss. Der nächtliche Himmel nimmt den größeren Teil des Bildes ein, flankiert von den beiden Wänden, der natürlichen und der menschengemachten Wand. Die beiden Figuren auf dem Balkon erheben (gestikulierend?) ihre Arme. Wer mochte das sein?

 

Ich werde mich erinnern müssen.

 

Wieder stapfte ich mit meinen schweren Schuhen durch den Wald. Ich würde mir unten in der Stadt alles Notwendige kaufen, auch einen Rucksack, wenn möglich. Zeug würde ich mir kaufen, um mich in meinem Sein unabhängig zu machen. Außerdem wäre es sicher eine gute Idee, freundschaftliche Bande mit der Küchenbesatzung des Hotels zu knüpfen. Denn wenn ich auch ab dem frühen Nachmittag, da hat der Tag seinen Grund und ich stehe fest im Geschehen, durchaus Gesellschaft ertragen oder sogar genießen konnte, so würde doch eine gewisse Selbständigkeit in Sachen Verpflegung mich beruhigen, so dachte ich, nun bereits das Stadttor vor Augen. Kurz darauf durchschritt ich es, die beiden älteren Damen nickten mir zu, während der Dackel offensichtlich Probleme hatte, mich einzuordnen. Was nun war zuerst zu tun, überlegte ich. Ach ja, fiel mir ein, der Hut!

 

Ich war in der Sitzecke eingeschlafen, die Bulgakowa sicher längst fort und der ganze Barbereich menschenleer. Ich erinnere mich. Nadja bringt mir soeben einen Kaffee, einen Americano, Frau Dörrfleisch sitzt vorne neben der Garderobe, auf der obenauf meiner neuer Hut liegt, und sieht Papiere durch, während drei ältere Männer zwei Tische weiter Tee trinken und sich auf einem übergroßen Tablet Schwarz-Weiß-Fotos ansehen und Notizen machen. Ich schreibe ebenfalls, und zwar mit meinem Füllfederhalter in mein Notizbuch. Es gilt, die vergangene Nacht zu rekonstruieren. Sie steht mir allerdings bereits recht klar vor Augen, erste Bilder und Gesprächsinhalte fielen mir bereits im Wald ein, etwa, dass ich in der Sitzecke erwachte und Maya hinter dem Tresen stand, es also drei Uhr gewesen sein muss in dieser Nacht vom 3. auf den 4. Oktober. Carl stellte mich vor. Maya entpuppte sich als Tschechin mit charmantem Akzent. Sie wird so etwa um die vierzig sein, blond, mandeläugig und der Typ weißer Rollkragenpullover. Sie reichte mir über den Tresen die Hand, sagte Hallo Moritz, freut mich sehr, ich habe viel von Ihnen gehört.

 

Kurz darauf schon ging es schnellen Schrittes durch das stille, in blassgrünem Notlicht vor sich hin dämmernde Hotel. Mir unbekannte Gänge taten sich auf mit Türen, auf denen jeweils statt Zahlen Buchstaben zu erkennen waren. Nachdem wir vier oder fünf Gänge passiert hatten und ich schon glaubte, mit der nächsten Wendung wieder im Bereich der Bar landen zu müssen, drückte Carl eine Tür mit dem Buchstaben S auf, trat in ein sehr enges, roh betoniertes Treppenhaus und hieß mich, der ich zögerte, folgen, worauf wir dann etliche Stufen hinaufstiegen, um endlich einen kurzen türlosen Gang zu erreichen, an dessen totem, fensterlosem Ende links und rechts wieder Treppen hinaufführten. Carl schien einen Augenblick zu zögern, dann wandte er sich nach rechts. Diese Treppe jedoch endete nach kaum mehr als zwanzig Stufen in einem leeren, quadratisch anmutenden Raum, in dessen Stirnwand ich eine schmale Glastüre, einer Scharte gleich, erkannte. Schon drehte Carl den Türknauf, öffnete sie und trat hinaus. Ich folgte ihm auf einen winzigen Balkon. Über uns der Halbmond, die Sterne, unter uns die schwarze Tiefe, gegenüber aber, fast zum Greifen nah, die warm und feucht atmende Steilwand. Wir befanden uns also an der Rückseite des Hotels. Die warme Luft, die uns umgab, erinnerte mich an die der Tropenhäuser in Zoologischen Gärten, eine Luft, die man eher zu trinken als zu atmen glaubte. Dies hier, sagte Carl, ist der einzig sichere Ort des gesamten Komplexes, nur wenige Eingeweihte kennen ihn, und noch weniger kennen den Weg hierher. Warum der Architekt in diese ansonsten undurchbrochene Betonwand eine Öffnung verfertigen und einen Balkon anbringen ließ, wird sein Geheimnis bleiben. Sie und Frau Dingelen hätten diesen Balkon, als sie dort unten herumkraxelten auf dem Rückweg vom Videoüberwachungsraum, zwar sehen, den Weg jedoch hierher niemals finden können. Nun aber, Moritz, zu dem, was der Aussprache bedarf.

 

Westphal litt an Höhenangst, die von der Dunkelheit unter ihm nicht gemildert wurde. Er sah zwar keine Tiefe, wusste aber um sie. Das reichte aus, ihn schwindeln zu machen. Auf dem Grund dort unten war er mit der Dingelen herumgekraxelt, was Carl seltsamerweise wusste, und nun stand er in einer Höhe von gewiss fünfundzwanzig Metern auf einer kleinen Betonplatte, begrenzt von einem filigranen Geländer und in Begleitung eines ihm imgrunde unbekannten Menschen, der zudem ganz offensichtlich über ganz bestimmte Möglichkeiten und damit Macht verfügte. Sollte ich fliehen, fuhr es Westphal durch den Kopf. Die schmale Tür ins Innere war zwar geschlossen, doch er musste ja schließlich nur den Knauf ergreifen, ihn drehen, die Tür nach innen aufstoßen, den kleinen Raum durchschreiten, die Treppe hinunterlaufen … Doch da begann Carl ruhig und mit angenehmer Stimme zu sprechen. Sein Gesicht lag bleich im Mondschein. Moritz, sagte er, man kann die Welt mit Mitteln ergründen, der Möglichkeiten sind viele. Wir Schriftsteller aber sind kaum mehr in der Lage oder überhaupt nur bereit, unseren Teil beizutragen. Das Dasein mit all seinen Zwängen will bewältigt sein, das Lesepublikum schwindet und unterwirft sich diversen Medien, die, anders als das Lesen, nicht zur Mitgestaltung aufrufen. Das ist bekannt. Und doch müssen wir, all die Schriftsteller und Schriftstellerinnen des Planeten Erde, unseren Teil beitragen, uns fragen, was wir und wie viel wir voraus haben gegenüber dem mechanisch-normierten Erzählen, das uns nun länger schon die sogenannte Künstliche Intelligenz anbietet und das zuvor auch schon angeboten wurde als schlechte Unterhaltungsliteratur. Als Propaganda. Ich bin, Moritz, ganz Partei und schließe qualitativ schlechte Literatur ganz und gar aus und damit deren Macher und Macherinnen. Da sind wir uns einig, Frau Bulgakowa, Fritz W. Waldemar und ich. Der Kongress nun dient der Hinzufügung neuer Mitglieder, die der gestellten Aufgabe würdig sind. Verstehen Sie, Moritz, es geht um mehr als nur Markt, Unterhaltung, Business und Lifestyle. Es geht, Moritz!, er warf die Arme in die Luft, um Alles!

 

(…)

 

[…………]

 

Vier Wochen, genau 28 Tage später. Ende Oktober. Oder Anfang November? In jedem Fall jetzt. Ich weiß nicht einmal, ob ich der Einzige bin, der das Geschehen vom 1. Oktober an in Worte zu fassen versucht. Mutmaßlich aber tun dies alle zum Kongress Geladenen, denn eben dies scheint von uns verlangt zu sein. Nicht etwa, dass eine tatsächliche Bitte im Raum stände oder eine Aufforderung, ein Befehl, eine Nötigung oder gar eine Erpressung, nichts dergleichen ließe sich aufzeigen oder belegen, nein, es ist eher so ein Gefühl, es tun zu wollen und zugleich zu sollen. Der Dingelen ihr Das Sollen wollen, was wir wollen sollen fiel mir ein, Immanuel Kant entlehnt und ihr Anlass genug, erinnere ich mich, ausgiebig zu lachen. Das aber dürfte uns allen inzwischen vergangen sein. (…)

 

 

[…WORK IN PROGRESS…]

 

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© Norbert W. Schlinkert 2023

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