Dem Wort Trostlosigkeit ist neue Kraft zugewachsen, das allein ist sicher. Galt zuvor schon eine nicht auf Spaß, Spiel und Unterhaltung getrimmte Umgebung als trostlos, so spüren wir jetzt in der Corona-Krise, dass wirkliche Trostlosigkeit bedeutet, als alter Mensch seine Kinder und Enkel nicht mehr und womöglich nie mehr zu sehen, von Verstorbenen nicht Abschied nehmen zu können, als Arzt oder Ärztin fürchterliche Entscheidungen über Leben und Tod treffen zu müssen. Auch kognitiv eingeschränkte Menschen, die nicht in Gänze begreifen können, was geschieht und warum sich Dinge geändert haben, werden nur schwer Trost finden können. Dagegen ist die momentane Langeweile der Hedonisten geradezu ein Gottesgeschenk. Apropos: Gerade jetzt sind die Gotteshäuser geschlossen und Trost wird digital, per TV, Mail, Brief oder Telefonat gespendet. Aber kann das funktionieren? Ist Trost abstrahierbar, auf Formeln zu reduzieren? Die einfache Antwort wird die sein: nein, so einfach ist es nicht – denn vielmehr ist Trost überhaupt nur zu spenden durch wirkliche Nähe, das heißt durch körperliche Berührung, also durch eben dies, was vielen Menschen nun nicht mehr zuteil wird. So leben wir unvermittelt in trostlosen Zeiten, auch wenn ich persönlich am Credo des optimistischen Fatalismus festhalte, des Trostes halber.
Nun aber zu meinem Roman Ankerlichten, aus dem ich heute einen Ausschnitt des zweiten Kapitels präsentieren möchte.
SCHWERTE
Es ist sommerlich warm am 24. Oktober des Jahres 1687. Schönwetterwolken ziehen gemächlich ihre Bahn, die Sonne steht hell und strahlend am Himmel, während die Bürger der Stadt Schwerte an der Ruhr sich auf dem Markt vor der Stadtkirche St. Viktor um die wenigen Stände mit Gemüse und grobgewebten Stoffen drängeln. Inmitten des Gewühls hängt der kleine Heinrich mit der einen Hand an der seiner Schwester Emilia und mit der anderen am Rockzipfel der Mutter, die die rechte Hand bettelnd den Menschen entgegenstreckt. Daumen und Zeigefinger stehen steif von der Handfläche ab. Drei Finger fehlen. Warum das so ist, weiß Heinrich nicht. Seine Schwester Emilia sagt, es sei Gottes Wille gewesen. Mehr sagt sie nicht.
Emilia hatte in der offenen Halle des Rathauses gestanden und der Bestrafung der Mutter zugesehen, ihren kleinen Bruder in ein Tuch gehüllt bei sich tragend. Nur der dritte Prediger von St. Viktor, ein kleiner, schmalschulteriger Mann mit melancholischen Gesichtszügen und ganz glatten, schwarzen Haaren, gesellte sich zu ihr und sagte ein paar tröstende Worte. Die Mutter hatte mehrere Tage nacheinander stundenlang am Pranger stehen müssen, weil sie zum zweiten Male unsittlich gehandelt und mit einem französischen Soldaten Unzucht getrieben habe. So jedenfalls lautete die Anklage gegen die Magd Dorothea Holzkötter. Als die Heere Ludwig des XIV. im Jahre 1673 die kleine, nicht einmal tausend Einwohner zählende Stadt brandschatzten, war es ihr noch gelungen, eine Notzucht glaubwürdig zu machen, denn dass die papistischen Teufel zu allem fähig sind, war ausgemachte Sache. Einer der Schichtmeister nahm sie sogar mitsamt ihrer kleinen Tochter als Magd in sein Haus. Als dann jedoch wenige Jahre später die Franzosen wiederum plündernd in Schwerte einfielen, wurde Dorothea erneut schwanger. Sie konnte zwar sowohl die Schwangerschaft als auch die Geburt verheimlichen, doch als Ende des Jahres 1680 der Große Komet am Himmel stand, war sie zum ersten Mal mit dem nur wenige Wochen alten Kind auf dem Markt gesehen worden, kurz vor dem Weihnachtsfest. Dort versetzte ihr die strenggläubige Jungfer Trine Wullenweber statt eines weihnachtlichen Almosens eine Ohrfeige und zeigte sie überdies noch bei der Obrigkeit an. Am selben Tag ertappte man Dorothea bei dem Versuch, ein Brot zu stehlen. Das machte die Sache nicht besser. So nahm der Prozess seinen Lauf, begleitet von Gerüchten und Mutmaßungen aller Art. Ohne den Kometen, so sagten manche, der auch tagsüber deutlich am Himmel zu sehen war und allerlei Ängste auslöste, hätte jene Jungfer womöglich still gebetet statt offen geohrfeigt. Nach einer peinlichen Befragung, die wegen des Gesundheitszustandes Dorotheas vorzeitig abgebrochen wurde, kam es am nächsten Tag zu einem umfassenden Geständnis, denn in ihrer Not folgte Dorothea den Einflüsterungen ihres Peinigers und gestand die zweimalige Unzucht. Der Richtspruch des Schwerter Richters erging im nächsten Frühjahr. Als dann das Urteil kurz darauf höheren Ortes bestätigt worden war, stand der Bestrafung nichts mehr im Wege. Die Verbannung aber, die Dorotheas sicheren Tod bedeutet hätte, wurde ausgesetzt. Der zweite Prediger von St. Viktor, ein massiver, schon älterer und wortgewaltiger Mann, hatte dies erwirkt, so dass es beim Abschneiden dreier Finger der rechten Hand bleiben würde. Dorotheas weinend gestammelte Klage, sie könne nie wieder zu Gott beten, wenn drei Finger fehlten, tat er ab.
„Dann bete, so lange du noch mit gefalteten Händen zu beten vermagst und fortan stille“, sagte er salbungsvoll und verließ die kalte Zelle, um sich zum Mittagstisch zu begeben. Das Urteil bestimmte zudem, Dorothea dürfe sich in Zukunft nur während der Tagesstunden in der Stadt aufhalten, nächtigen aber müsse sie außerhalb der Stadtmauern.
So stand Dorothea an den Tagen vor dem Vollzug der Strafe am Pranger, aufrecht gehalten allein durch Holz und Strick. Das Mitleid der Schwerter, die dieser Tage gerne einen kleinen Umweg über den Markt machten, hielt sich in Grenzen. Die Schichtmeister und die Prediger von St. Viktor konnten aber verhindern, dass die arme Frau noch zusätzlich gequält wurde. Viele hätten es gerne gesehen, wenn ihr die ganze Hand abgeschlagen worden wäre, so wie dies bei Diebstahl gemeinhin üblich ist. Auch der bestellte Abdecker und Scharfrichter Vogt schlug lieber eine ganze Hand ab als nur ein paar Fingerchen. Am liebsten waren ihm Köpfe, eine Vorliebe, die er an all seine Söhne vererbte. In solch einem leider seltenen Falle wäre es zum Kreinberg gegangen, nördlich der Stadt, wo es eine ansehnliche und weitbekannte Richtstätte gab mit einem massiven Holzblock und einem schönen Galgen.
Obwohl es also nur um Finger und, wie üblich, Ohren gehen sollte, war Vogt an jenem Tag höchstselbst in der Stadt erschienen. Ein vierschrötiger Mann mit schwerem Gang, dichtem dunkelblonden Haar und gestutztem Vollbart und ganz in Leder gekleidet. Er hauste mit seiner Familie auf einem Gehöft südlich der Ruhr, mitten im zum Sauerland aufsteigenden Wald. Der Ort war schwer zu erreichen und die Bauern fluchten, wenn sie, was vorkam, die Kadaver von Rindern und Pferden zu ihm zu bringen hatten. Auch die Seifen- und Leimsieder, die dort Knochenmehl und verfaultes Fleisch und Häute aufkauften, beklagten sich bitter, wenn sie den Weg zu machen hatten. Denn Vogt lieferte nicht. Er wartete. Diejenigen aber, die nicht ihres Gewerbes wegen in diesen Wald mussten, mieden die Umgebung des Gehöfts wie die Pest.
Vogt wurde begleitet von seinem Jüngsten, der ebenfalls ganz in Leder gekleidet war und etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Er war zum ersten Mal überhaupt in der Stadt und sollte nun einmal sehen, wie der Vater sein Handwerk auszuüben pflegte. Die anderen Söhne, die alle gerne zur Tat geschritten wären, waren maulend auf dem Hof geblieben. Schwungvoll betrat Vogt nun also um die Mittagsstunde, nachdem in Anwesenheit des Schwerter Richters, dem hochverehrten Johann Christoph Gräving, das Urteil verlesen worden war, das Podest. Alles reckte die Hälse, um nichts zu verpassen. Zwei junge Mädchen fielen in Ohnmacht, bevor auch nur das Werkzeug präsentiert war. Man ließ sie liegen, bis sie sich von selbst wieder aufrappelten. Die Axt, da jedenfalls konnte man Vogt keinen Vorwurf machen, war offensichtlich scharf, und auch sein reichverziertes Messer war geeignet, Haare zu spalten. Vogt wusste natürlich, wie schnell sich die Wut des Volkes gegen ihn richten würde, wenn er es versäumte, sauber zu arbeiten. Das bläute er auch seinen Söhnen ein.
Er sah seinem Sohn tief in die Augen, bevor er zu seiner ersten Amtshandlung schritt und der Magd Dorothea Holzkötter mit einem schnellen Schnitt das linke Ohr abtrennte. Die Verurteilte gab einen erstickten, langgezogenen Laut von sich, der bald zu einem hohen, kaum vernehmbaren Wimmern sich verflüchtigte, das auch nicht wieder anschwoll, als der zweite Schnitt getan war. Alles hielt den Atem an. Vogt nahm zwei Nägel aus der Tasche seines Mantels und nagelte die Ohrmuscheln mit der stumpfen Seite der Axt an das Holz des Prangers. Dann packte des Scharfrichters Sohn, der mit zwei großen Schritten zur Stelle war, ohne weitere Umstände die Frau, zog die instinktiv Widerstrebende nach vorn zu dem Holzklotz, presste den rechten Unterarm der auf die Knie sinkenden Magd mit beiden Händen auf den Klotz, ergriff mit seiner Linken Zeigefinger und Daumen der Hand, zog sie, tagelang hatten Vater und Sohn das geübt, über die Kante, worauf sofort ein einziger gezielter Schlag folgte, mit großer Präzision ausgeführt, der die drei Finger sauber abtrennte. Dorothea schrie auf, sonst aber Totenstille. Eben deswegen schlug Vogt lieber Köpfe ab, dann nämlich entlud sich all die Anspannung mit einem allgemeinen Aufschrei. Die abgehackten Finger warf Vogt den Hunden vor, die die Fingerchen indes nicht bekamen, denn ein ganz Gewiefter, ein noch junger Kaufmann namens Thorbecke, der neuerdings eine Familie zu ernähren hatte, war hinter das Podest geschlichen und sprang nun mit einem Satz auf die drei Finger zu und beförderte sie mir nichts dir nichts in seine Tasche. Die Köter verjagte er mit Tritten. Thorbecke kannte den Aberglauben seiner Zeitgenossen, und nachdem er einige Tage Gerüchte gestreut hatte, verkaufte er die Finger zu einem guten Preis als Talisman an zwei Kaufleute aus Dortmund und an einen Brauereibesitzer aus Unna.