Bar jedes Gedankens
Miniaturen
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Es begann damit
dass der Eichelhäher sich aus der Schar auf meinem Balkon einen Spatz krallte. Oder sollte es noch früher begonnen haben? Die anderen Spatzen flohen, ihr Leben zu retten. Der im Todeskampf zappelnde Spatz hängt an den Krallen des Eichelhähers. Er sitzt auf dem Schneegitter am unteren Rand des Daches gegenüber. Der Spatz stirbt. Blicke des Jägers. Kalt und dunkel. Wie denn blicke ich? Menschlich etwa? Ich gehe hinein und schließe leise die Balkontür. Am nächsten Tag mehr Spatzen als je im Hof. Im Seitenflügel schräg gegenüber auf dem Balkon im dritten Stock die Futterstation, Spatzen über Spatzen. Ich offeriere Wasser zum Trinken und zum Baden im vierten. Spatzen über Spatzen. Eine Demonstration. Ich stehe regungslos hinter der geschlossenen Balkontüre. Die Tonschale ist wie belagert. Viele wollen trinken, ein Spatz will baden. Ein Kampf entbrennt. Bald schon ist die Tonschale leer. Ich trete auf den Balkon hinaus und fülle nach. Kein Eichelhäher weit und breit. Aber auch keine Spatzen, nicht hier, nicht da. Wo sind sie denn hin, frage ich.
Es setzt sich fort
durch die Ankunft einer Jungtaube. Eine Jungtaube ist wie ein Mensch der pubertiert, ist unbeholfen, tapsig und unentschlossen. Während die Elterntaube panisch davonschießt bleibt die Jungtaube, betrete ich den Balkon, stur in der Ecke auf dem kopfförmigen Sandstein hocken und glotzt mich an. Ich glotze zurück. Nichts geschieht. Ich wünschte, wir hätten eine gemeinsame Sprache. Sicher wünscht auch die Jungtaube eben dies. So bleiben wir stumm. Immerhin neugierig sind wir. Als ich zehn Minuten später den Balkon erneut betrete, ist die Jungtaube fort. Ich werde nachzudenken haben, so sage ich mir und gehe hinein.
Kaum aber dass ich
dem Weltgeschehen den Rücken kehre, ich mich in meine Räumlichkeiten zurückbegebe, die Küche durchschreite und den Wohnraum betrete, wo ich mich in den Sessel fallen lasse, geschieht das Folgende, nämlich dass es knöchern klopft an meiner Türe, zwei, drei Mal mit Dringlichkeit, worauf ich sogleich nach meinem auf der Truhe liegenden Gesicht taste, es aufsetze und zurechtrücke. Ja doch, rufe ich ungehalten. Wer nur kann das sein? Herein! Die Tür geht auf, und wie überrascht ich bin, als mein zweites Ich eintritt, auf mich zuschreitet und mir ohne zu zögern das Gesicht entreißt, es sich auf den Schädel legt, es zerrend, ziehend und zupfend zurechtrückt, um dann, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, die Tür hinter sich zuwerfend, zu verschwinden. Kopfschüttelnd bleibe ich zurück, stehe auf, greife mir mein zweites Gesicht aus dem Regal, staube es ab, lege es auf, ziehe und zerre und rücke und drücke, und siehe da, es passt. Ein Glück! Noch einmal passieren darf mir das aber nicht, denke ich und betrachte mich nachdenklich im Spiegel.
Wenn ich mich
in eine Bar wünschte, in der ich unbemerkt am Tresen sitzen kann, eine Bar, in der kein Misstrauen, keine Neugierde entsteht, auch kein Unbehagen, so bleibt dieser Wunsch doch Wunsch. Unsichtbar ist niemand. Abgesehen vielleicht von demjenigen, den ich in der Tat nicht sehen kann. Ich nicke dem leeren Platz neben mir zu, in der Leere entsteht eine Unruhe, scheint mir, aber das ist auch schon alles. Draußen geht der Regen und benässt die Welt. Doch wer weiß, denke ich, ob der Unsichtbare neben mir mich denn überhaupt sehen kann, ob nicht auch ich ihm unsichtbar bin. Hat auch er mir zugenickt und einen Hauch von Unruhe gespürt? Doch nur die Toten, denke ich, trinken nicht, sitzen sie in einer Bar am Tresen, und reden tun sie auch nicht, nicht einmal miteinander.
Stehen die Toten
denn nicht im Pakt mit der Leere? Der Tod mithin, so denke ich, ist keine persönliche Erfahrung. Keine Angelegenheit. Und da, wo du doch hättest sein können, lebtest du, ist fortan Luft, ein Mensch, ein Tier, ein Hauch, ein Wehen. Die Welt ist dein gewesen, der Tod jedoch ein Nichts für dich. So denke ich. Da aber setzt ein Mensch sich in die Leere und nimmt des Unsichtbaren Platz. Ich schlucke schwer und gehe in die Nacht hinaus. Und sitzt im Rückblick nicht schon längst wer anders dort, wo ich noch eben saß, und lacht und redet, trinkt? Zwei Menschen, Körper, Leiber. Ich aber treibe durch die Häuser.
Durch mich hindurch
zu blicken gelingt nur allzu gut. Verwundert stell ich’s fest, selbst wenn ein feister fester Mensch mir noch immer auszuweichen hat, stell ich nur auf stur und weiche nicht. Ich sehe euch. In Gruppen, gehend die Köpfe ineinander. Nordwärts treibt es mich, den Mantelkragen hochgeklappt, immer nordwärts, wo feiner Nieselregen im gelben Laternenschein sich niederlässt. Straßen, Häuser, ein lichtes Fenster, fremde Wand in einem fremden Zimmer. Weiter geht’s durch all der Baumskelette Reihen. Ein Hund mit Leuchthalsband kreuzt mir den Weg, kurz darauf Kapuze, Zigarettenglut, ein Ruf, ein Pfiff und all die Schemen und die Schatten und Gestalten hinter den beschlagenen Scheiben einer Straßenbahn nach Werweißwohin.
Vor langer Zeit
da war ich noch sehr jung, zog ich einen großen gelben Hund, in die Strömung geraten, aus einem sommerlichen Fluss. Ich stieg hinein und und brachte ihn ans Ufer. Er schüttelte sich, dass es nur so spritzte, und trottete davon. Kein Blick, kein Dank. Meine Freundin auf dem Badetuch sagte nichts zu meiner Tat, und so erzählte ich niemandem davon, oder wenn ich es doch einmal versuchte, ging es den Menschen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen Ohr wieder heraus, ohne mit dem Gehirn in Berührung gekommen zu sein. So bin ich der einzige Mensch, der davon weiß. Eines Tages aber wird diese Geschichte meinen Mund verlassen und mir selbst in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus geraten, ohne mein Gehirn zu berühren. Dann wird sie vergessen sein.
Es herrscht
eine Undurchsichtigkeit. Schlieren sind im Kopf und klare Worte unbekannte Wesen. Es sei denn, ein Streit bricht aus, dann zischen die klaren, bösen Worte aus schmalen Lippen und schlagen Male, die nicht verheilen werden und nicht verheilen wollen. Denn auch scharfe Schneiden hinterlassen schwärende Wunden. Mach mal die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört, so sagte man mir. So tat ich und entdeckte eine Welt. Ich hatte das große Los gezogen, wusste aber nichts davon. Niemand sagte es mir. Bin ich denn nicht ohne Land landlos, so fragte ich mich stattdessen, ohne Arbeit arbeitslos, ohne Zweck zwecklos, ohne Sinn sinnlos? In dieser Weise erschien mir meine Welt, die mein Los war. Wie lange nur war ich tumb und hatte Schlieren im Kopf?
Nach wie vor
scheint mir, ich weiß von innen nicht, wer ich von außen bin. Du musst der Soundso sein, wird gesagt. Ja, sage ich, ich muss bereits mein Leben lang der Soundso sei. Oder ich sage: muss ich wohl – oder übel, füge ich nach einer genau kalkulierten Pause hinzu. So gelte ich in jeder kleinen Runde als Philosoph der Allgemeinplätze. Als Aufsager abgestandener Witze. Als der witzlosen Zeitgenossenschaft schwer verdächtig. Als Gimpel, Einfaltspinsel, trübe Tasse. Witzlos auch zu erklären, dass es die Wiederholung des Immergleichen zu sein scheint, die das Leben würzt. So stehe ich stets neben mir als der mir am nächsten stehende Fremde unter all den Fremden um mich her. Doch was heißt denn schon um mich her, denke ich. Ist das Leben denn ein Kreis und ich die Mitte?