Norbert W. Schlinkert
Das Haus / Die Straße
Eine Erzählung
Heft III
Fortlaufende Übertragung des Manuskripts in ein Typoskript
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[1] Kann man sich selbst zuhören, frage ich mich, und ist diese Frage bereits die Antwort auf die Frage? Schwierig. Ich stehe auf, beschreibe einen Kreis im Raum und bin bereits im Begriff zur Tür hinauszugehen, die Treppe hinab, um entweder im sommerlichen Garten zu landen oder auf der staubigen Landstraße. Etwas jedoch hält mich zurück. Muss ich das eben Angedachte noch einmal durchdenken, bevor ich in den Garten gehe oder zur Landstraße hinaus, das frage ich mich, denn ich kann ja alle Fragen, die mich und die Welt betreffen, ebenso gut wie [2] hier in diesem Zimmer auch draußen im Garten, auf der Landstraße gehend oder an anderen Orten überdenken. Wer weiß, sage ich, womöglich ist das Zimmer, der Raum, in dem ich lebe, der schlechteste Ort, Dinge zu überdenken. Oder der beste. Oder es ist gleich, wo ich mir selbst zuhöre, um die mir wichtigen Fragen zu stellen, zu erörtern, zu beantworten, denn bei mir und mit mir bin ich schließlich immer. Ich lege die Hand auf die Türklinke und ziehe die Tür auf. Jetzt, sage ich. Beantworte dir deine Fragen an der frischen Luft, sage ich, das wird dir gut tun. Ja.
*
Ein Wissenskorsett anzulegen ist mir nicht möglich, da all mein Wissen zu wild erworben worden ist und in kein Muster passt. Selfmade-Wissen müsste man es nennen, denke ich, während ich den Garten in meinem Rücken atmen höre, dennoch aber auf die staubige Straße trete, deren Baumreihen in beide Richtungen [3] beidseitig zu einem Punkt in der Ferne zusammenlaufen. Noch gut vorstellbar, wie die Gastwirtschaft in diesem Haus vor fünfzig, sechzig Jahren florierte. Die Lastwagen standen sicher in langen Reihen sauber positioniert unter den noch jungen Bäumen, während die Fahrer im Gastraum saßen und ihren Eintopf löffelten, ihr Bier tranken, zwei vielleicht, bevor es weiterging. Zigaretten im Staub, zerdrückt, zertreten. Der Garten der Gastwirtschaft, so wurde mir gesagt, sei ein reiner Nutzgarten gewesen, während er heute ein reiner Ziergarten ist. Ziergarten, denke ich und drehe mich um, die Zierde des Hauses, der ehemaligen Gaststätte, nunmehr meines Hauses, das ich allein bewohnen werde müssen, wie es aussieht. Das halb verrottete Emailleschild über dem Eingang bleibt. Der [4] Gast bin ich. Noch. Ob aber weitere Gäste kommen, entscheidet die Landstraße. Ich drehe mich um, der Garten erwartet mich, er will bearbeitet werden, mit Hacke und Spaten, Sense und Axt. Ich bin bereit. Der Geruch der Brennnesseln liegt schwer in der Luft. Ich werde eine Schneise schlagen müssen. Bis zu den Pflaumenbäumen. In der Senke werde ich nicht sensen, auch die Taubnesseln, die hier und da ihren Raum füllen, bleiben. Ich habe kaum Reste des Ziergartens finden können, vom Nutzgarten einige Beeteinfassungen aus Backstein oder großen Kieseln. Beides wuchs aus sich heraus zur Wildnis. Bewohnt aber war das Haus. Behaust gewissermaßen. Gegenstände oder Kleider, Schuhe, was auch immer ein Mensch im Leben hat und gebraucht, finden sich nicht. Dort jedoch, wo die Schuhe an- und ausgezogen wurden, an diesen Stellen sind Spuren eines Tuns, eines Lebens. Im Flur. Dort findet sich auf den ochsenblut[5]roten Dielen eine mattglänzende Stelle gegenüber der Küchentür, kaum mehr als als untertassengroß, und ich nehme an, hier wohl müssen alle Bewohner mit dem bestrumpften, wohl linken Fuß einbeinig gestanden haben, während sie sich den rechten Schuh vom Fuß zogen, um ihn dann achtlos fallen zu lassen. So stelle ich es mir wenigstens vor angesichts der Indizien, stellte es sogar sogleich nach, kaum dass ich diesen Eindruck gewonnen hatte, und siehe da, ich stehe mit dem linken, bestrumpften Fuß exakt auf der mattglänzenden Stelle des ochsenblutfarbenen Dielenbodens, nachdem ich mir zuerst den linken Schuh auszog, in die Knie gehend, mich bückend, um dann in einer sich natürlich ergebenden Standhaltung mich an das Ausziehen des rechten Schuhs zu machen. Womöglich tat das ein jeder Bewohner und ein jeder Gast auf genau diese Weise, obgleich es andere, ebenso natürliche Möglichkeiten gibt, etwa knieend beide Schuhbänder zu lösen, sich auf die Treppe zu setzen, die Schuhe (oder auch Stiefel) bereits vor der Haustür auszuziehen und so weiter. Doch die mattglänzende Stelle auf den ochsenblutroten [6] Dielen spricht eine andere Sprache. Die Schuhe wollen so und nicht anders ausgezogen werden, ich halte mich daran. So werde ich in immer höherem Maße Bewohner des Hauses sein, so hoffe ich, und dementsprechend immer weniger Gast.
*
Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht, ob ich nach irgendwohin zurückkann, zurückkönnte, und ich habe auch kein ahnungsvolles Gefühl, ob ich die staubige Allee nach links oder rechts hin begehen müsste, um einen Ort zu erreichen. Wohin führt diese Straße, frage ich mich, links ist Westen, rechts ist Osten, doch die eigentliche Antwort ist: zu diesem Haus hier führt die Straße. Mir ist, als sei ich sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten gekommen, und dies nicht im metaphorischen Sinne, sondern ganz real – zumindest in meiner Vorstellung der Realität. Tatsache [7] ist, sage ich, die hochstehende Sonne im Rücken, dass ich nun das Haus zu bewohnen und den Garten zu gestalten habe, oder umgekehrt, denn der Garten benötigt nur ein lichtendes Moment und später eine Art behutsamer Pflege, während das Haus von sich aus nichts selber machen kann, sondern gestaltet werden muss. Am Tag meiner Ankunft drehte ich zunächst einmal alle Wasserhähne auf, in der Küche, dem kleinen Badezimmer im ersten Stock, der Toilette am Ende des Flurs und in der Werkstatt im Anbau links vom Garten. Minutenlang rann rostiges Wasser aus den Hähnen. Auch lief ich durch alle Zimmer und schaltete das Licht an, trübe Deckenlampen, Wandlampen und zwei Nachttischlampen im Schlafzimmer. Nur in den Keller traute ich mich nicht. In der Küche dann, auf einem sonst leeren Bord, fand ich ein altes Transistorradio. Es funktionierte und spielte mir einen Marsch. Ich nahm das Radio [8] zur Hand und lief durch alle Räume, die Steckdosen zu prüfen. Sie funktionierten, auch in der Werkstatt. Dann war der Marsch zuende und ich stellte das Radio wieder auf das Bord zurück. Fehlte nur noch der Keller. […]