Norbert W. Schlinkert
Fensterwetter / Fensternis
Eine Art Märchen
Vor dem einen Fenster scheint die Sonne, vor dem anderen Fenster regnet es. Beides findet draußen statt. Das eine Fenster ist auf der Horizontalen zwei Meter vom anderen Fenster entfernt, und zwar in der selben nach Westen hin gelegenen Hauswand, hinter der sich meine Wohnung befindet, die auf der anderen Seite mit der nach Osten gelegenen Hauswand, die ebenfalls ein Fenster hat, begrenzt ist. Schnell schließe ich die Augen, ertaste die Türklinke der Wohnzimmertür und ziehe sie zu. Klack macht es. Ein drittes Wetter würde ich nicht ertragen. Man muss ja schließlich auf seine mentale Gesundheit achten, denke ich und wende mich wieder den beiden Fenstern zu. Das eine befindet sich im kleinen Zimmer, dort ist meine Bibliothek untergebracht, das andere, das genau genommen eine Balkontür ist, spendet der Küche Licht. Wenn auch im Augenblick trübes, denn es regnet ja, während das kleine Zimmer von Sonnenstrahlen geradezu geflutet ist. Träte ich nun aus dem Flur in die Küche und dann auf den Balkon, müsste ich also entweder eine scharfe Wetterscheide sehen oder einen unscharfen Übergang. Letzteres wäre, so wird mir plötzlich klar, aber dann doch ein drittes Wetter, von dem so oft die Rede ist in den alten Geschichten, die ich als Kind vollständig glaubte, bis mir in den Jahren der durchlittenen Pubertät im Kopf nach und nach graue Zweifel wuchsen. Ich stürze also ins Wohnzimmer, und tatsächlich erkenne ich sonniges Regenwetter, nicht das eine, nicht das andere, sondern beides, da draußen, worauf ich das Fenster aufreiße und mich ohne zu zögern ins Wetter werfe, um ein wenig hinauszuschwimmen. Die Gunst der Stunde, so denke ich, muss genutzt werden – die Mythen lügen schließlich nicht – ganz gleich, an welche Strände es mich nun wirft. Ja, so muss ich wohl gedacht haben, während ich bereits von der Hoftanne von einem Ast zum anderen sanft zu Boden gebracht werde. Wie hingepurzelt liege ich auf den Pflastersteinen. Mmh, denke ich, doch bevor ich mich überhaupt auch nur rühren, geschweige denn aufstehen kann, fährt mir plötzlich ein Kind mit seinem Bobby-Car voll in den Bauch. Aua, sage ich. Das Kind lacht. Ich stehe schnell auf und blicke auf das Kind hinunter und zu meiner Wohnung im vierten Stock hinauf. Weißt du, sage ich zu dem Kind, ich habe das dritte Wetter ausnutzen wollen, um ein wenig hinauszuschwimmen, aber nun kann ich mich an das Schwimmen gar nicht mehr erinnern. Stattdessen erinnere ich mich nur daran, der Tanne den Buckel hinuntergerutscht zu sein. Da lacht das Kind, wird dann aber ernst und sagt, das dritte Wetter reicht nicht, es muss auch noch der Vollmond scheinen und die Fledermäuse müssen fliegen, und du kannst von Glück sagen, dass die alte Tanne dich aufgefangen hat. Nicht wahr, alte Tanne, sagt das Kind, dreht sich dann aber mitsamt seinem Bobby-Car so schnell um und pest derartig fix davon, dass ich nichts mehr erwidern kann und allein im Hof stehe mit meinem Satz über altkluge Kinder, die der Teufel holen soll. Ich sehe mich um, die Tanne steht still, als sei nichts gewesen, niemand zu sehen, während sich die Dunkelheit langsam über dem Hof ausbreitet und hier und da einen Stern sehen lässt. Keine Sonne, kein Regen, keine einzige Fledermaus. Nur der Mond, und der wirft mir, als gäbe es kein Morgen, sein Alabasterlicht ins Gesicht, und so sehen wir uns eine Weile bleich an, bis der alte Knabe schließlich über die Brandmauer gleitet und verschwunden ist. Ich aber klettere, bevor die beginnende Morgendämmerung uns alle ereilt, flugs die Hauswand hoch in meine Wohnung. Vor allen Fenstern, das sehe ich sofort, ist das Wetter genau gleich, so als wäre es nie und niemals anders gewesen und als müsse es immer so sein, der Sonne, dem Mond, den Sternen und auch all den Fledermäusen zum Trotz. Regen wäre schön.