KREISE
oder:
Das Zeitalter der Ichs
Eine abgebrochene autobiographische Erzählung
von
Norbert W. Schlinkert
Handlungs-Vorsatz, in eigener Sache, einleitend
Der Gedanke, all’ meine Freunde seien in Wirklichkeit schwer beleidigt, weil sie nicht in meinen Schriften auftauchen, war mir nie gekommen. Aber so musste es sein. Alles sprach dafür. Und diese Erkenntnis passte nun plötzlich gut in mein Leben und Schreiben, denn ich hatte nach zwei gelungenen Romanen, die allerdings, da sich kein Verleger dafür fand, buchstäblich in der Schublade verwelkten, beschlossen, eher denn Romane erzählende Essays zu schreiben. So jedenfalls würde sich Jedwedes einfügen können, Jeder und Jede kann auftauchen, Alles und Nichts. Eine Riesensache, die ich mir da eingebrockt habe, das stand fest! Ich ziehe einen neongelben Klebezettel vom Klebezettelblock, kritzele Erst schreiben, dann ordnen! darauf und hefte ihn an die oberste Schublade der drei Schubladen beherbergenden Schubladenbox aus Bambus, die rechts auf meinem Schreibtisch steht. Ich nehme den Zettel sofort wieder ab, befördere ihn in den 101-Dalmatiner-Blecheimer und schreibe einen neuen, ordentlichen, dieses Mal mit dem Füllfederhalter. Erst schreiben, dann ordnen!
Es gibt, das ist mir klar, unendlich viel zu erzählen, weil so ein Leben eines Schriftstellers ja gar nicht anders kann als Geschichten zu erzeugen, sowohl echte wie erfundene, imaginierte, die aber auch echt sind. Voneinander zu trennen ist das nicht, das Echte und das auch Echte, so viel sollte klar sein. Es aber in eine Ordnung zu bringen, so wie etwa ein Warenlager geordnet sein muss, würde ebenfalls nicht möglich sein, obwohl genau das getan werden muss. Bezüge sind herzustellen, buchstäblich alles ist an den richtigen Platz zu rücken, um es dann aber sofort in den Fluss der Dinge zu werfen. Nichts also bleibt wie es ist, vor allem dann, wenn meine versuchte Ordnung schließlich in den Kopf der Leser und Leserinnen und damit in eine mehr oder weniger vorgefertigte Erwartungshaltung purzelt, die an den richtigen Dreh- und Angelpunkten zu enttäuschen Ehrensache ist. Absicht. Die eigentliche Kunst. Ich schreibe einen zweiten Zettel, Das eigene Leben muss gleichsam ausgewrungen werden!, und hefte ihn neben den ersten. Sofort aber frage ich mich, ob denn nun der ausgewrungene Lebenslappen oder die herausgewrungene Flüssigkeit das ist, aus dem der Text entsteht. Und dann dieses Wort, Wringen – ich wringe, du wringst, wir wringen. Ich wrang mein Leben, bis am Ende ein Roman herauskam! Was habe ich um diesen Roman gewrungen, das könnt Ihr mir glauben, Leute! So in etwa? Ich male ein Fragezeichen auf einen dritten Zettel und klebe ihn neben die beiden anderen.
Ich schreibe. Macht es wohl, frage ich mich, für die Gedanken einen Unterschied, ob sie in die einen Stift haltende Schreibhand fließen oder in beide Hände, mit denen man die Tastatur von Schreibmaschine oder Rechner bearbeitet? Und ob man mit zehn Fingern schreibt oder mit zweien, dreien, vieren? Ich selber habe meine Geschichten zunächst mit der Hand geschrieben, in der Zeit meiner Tischlerlehre von 1982 bis 1985, denn mein Vater lehnte es rundheraus ab, mir seine kleine graue Reiseschreibmaschine zu leihen, machste ja nur kaputt, hieß es. Reisen war übrigens das Allerletzte, was mein Vater jemals freiwillig getan hätte. Das Gleiche war mir Jahre zuvor in Sachen Nähmaschine passiert, wir hatten sogenannten Hausarbeitsunterricht und ich wollte nähen, aber auch da hieß es, seitens der Mutter, machste nur kaputt. Den Versuch, mit der Hand zu nähen, gab ich allerdings schnell auf, die Nähte schief und krumm, der Stoff ganz blutig und die Finger zerstochen. Aber Schreiben, das tat ich mit der Hand, und die erste Geschichte meines Lebens spielte im leerstehenden Haus neben der Tischlerwerkstatt, wo wir die Furniere lagerten, und auf die kackten alle Katzen der Nachbarschaft. Ich, der arme Tischlerlehrling, versank am Ende in Katzendreck, buchstäblich. Das Manuskript ist verschollen, wer es findet, der soll es nach Marbach schicken ins Literaturarchiv, es ist ein wichtiges Beispiel der Schriftstellerei in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Aber wie auch immer, gegenwärtig, heutigentags schreibe ich am Rechner Erzählende Essays, eine nicht näher zu bestimmende Literaturgattung, die der Gattung des Romans in der Tat sehr ähnelt. Ein genialer Anfang, so im Stile von „Mein Vater war ein Kaufmann“ (Stifter) oder „Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar“ (Jahnn), wird mir allerdings nicht immer gelingen können. Ein wirklich guter Anfang wird es aber jeweils dennoch werden müssen, denn aus einem schlechten Beginn kann kein guter Roman entstehen, das ist mal sicher.
Nun also ist dreierlei zu tun, um die Schrift in Bewegung zu setzen. Erstens werde ich mir mich selbst vorzustellen haben mit Vor- und Zunamen, und dann dürfte es zweitens nötig sein, ein wenig Inhalt und einige handelnde Figuren zu generieren, um schließlich drittens die Gedankengänge des Erzählers einzuweben. Und durch alles muss, nicht zu vergessen, ein roter Faden hindurchgehen, damit auch aus dem kleinsten Stück hervorgeht, dass es gleichsam zur Krone gehört. (In alle Taue der britischen Kriegsmarine war zu früheren Zeiten ein solcher Faden eingewebt, als Diebstahlschutz gewissermaßen.) Bliebe, nach dem genannten Dreigestirn, noch die Frage des Stils, denn ein Roman, besonders wenn es sich um einen erzählenden Essay handelt, muss zwangsläufig geschwätzig sein. All’ seine Teile und Themen sind also von absolut gleicher Wichtigkeit und Relevanz, so dass es also kaum angeht, unterschiedliche Stile zu verwenden, weder nacheinander noch ineinander verwoben. Jede andere Vorgehensweise wäre literarischer Selbstmord, so dass in der Tat kaum jemand so etwas tut, abgesehen mal von James Joyce und Virginia Woolf und Halldór Laxness und Alban Nikolai Herbst. Die allermeisten Schriftstellerinnen und Schriftsteller jedenfalls haben ihren, im Guten wie im Schlechten, einzigartigen Stil, bei dem sie, unabhängig von Thema oder Inhalt, ohne jede Rücksicht bleiben müssen. Punktum. Das kann sehr böse in die Hose gehen, wie etwa bei Günter Grass, aber auch, so im Falle Knut Hamsuns, zu grandiosen Ergebnissen führen. Ich selber habe in meiner Person dieses offensichtliche doch so leicht zu begreifende Gesetz des literarischen Schreibens bisher allerdings nicht recht akzeptieren wollen, man werfe nur mal einen Blick in meine Bücher, vor allem aber in meine Schubladen. Nun aber weiß ich es: Unterschiedliche Stile sind weder einem Verleger noch dem Publikum zuzumuten, allenfalls Schriftstellerkollegen können damit ohne weiteres umgehen. Aber wer schreibt schon für Schriftsteller?
Sommer 1989
Beginnen wir mit dem Augenblick, als ich auf dem Stahlträger ausglitt und ungebremst in meinen eigenen Schritt fiel. Zum Glück lag der Träger noch auf Kanthölzern gebettet auf dem Asphalt, so dass ich nicht auch noch in die Tiefe krachte, mir den Hals zu brechen. Der Schmerz aus den Hoden zog, weil er nicht anders konnte und keinen anderen Weg fand, blitzschnell in den Darm und über den Magen in den Hals und den Gaumen und setzte sich schließlich in der Nasenwurzel und den Augenhöhlen fest, während im knapp darüber liegenden Hirn Panik entstand in Form des Bildes zerquetschter Eier. Ich saß, die Füße links und rechts des Trägers auf dem Boden des Mercedes-Geländes in Sindelfingen, die Stadt mit den marmornen Zebrastreifen, einige Sekunden wie erschlagen da. Keiner der Kollegen hatte etwas mitbekommen, wie es aussah. Da war ich nun fünfundzwanzig Jahre alt, wir schrieben das Jahr 1989, es war Sommer, und ich zerdepperte mir in der südwestdeutschen Fremde mit einer idiotischen Unachtsamkeit meine Zeugungs- und Erektionsfähigkeit! Ich hatte zwar nicht die Absicht, mich dem Familienpapawesen zuzuwenden und mich zum Vollidioten machen zu lassen, aber das mit der Erektion war nun schon von alleräußerster Wichtigkeit. Lebenswichtig. Breitbeinig machte ich mich, die Angelegenheit zu begutachten, auf den Weg zu den Toiletten in der angrenzenden Halle, wo wie immer automatische Transportwägelchen langsam hin und her manövrierten und Kotflügelfachleute die Kotflügel von Luxuskarossen dengelten. Alle vierzig Minuten oder so ertönte eine Pausensirene und die Männer standen eine kurze Weile herum, für eine Zigarette reichte die von der Gewerkschaft erkämpfte Pause nicht wirklich. Wirklich nicht. Die Wägelchen gondelten ungerührt weiter. Als ich nun breitbeinig und mit schmerzgetrübter Miene Richtung Klo schlich, dengelten drei, vier Männer konzentriert, ergeben und offenbar glücklich vor sich hin. Keiner blickte auf, und es hätte mir auch gerade noch gefehlt, gefragt zu werden und zugeben zu müssen, mir die Eier poliert zu haben. Ich weiß nicht, ob ich in diesem Augenblick in der Mercedeshalle daran dachte, doch es gibt natürlich auch Situationen, in denen das Polieren der Eier zwar von allen gesehen, dies aber keineswegs als peinlich bewertet wird, sondern ganz im Gegenteil einem zu Ehren gereicht, weil es ein Zeichen unbedingter Hingabe und Einsatzbereitschaft ist, etwa wenn man in einem Fußballmeisterschaftsspiel auf einem Asche’platz in Dortmund-Hörde beim Stand von 4:0 für die eigene Mannschaft in letzter Minute noch den Ball zu erkämpfen versucht, um diesen zum 5:0 zu versenken. Dem gegnerischen Knaben, ich will ihn mal so nennen, gelang es aber, zuerst an den Ball zu kommen, um ihn aus dem Strafraum zu dreschen, während ich mich ihm entgegenwarf. Der Ball traf aus einem Meter Entfernung meine Körpermitte, im selben Augenblick pfiff der Schiedsrichter ab und wir trollten uns Richtung Kabine. Nichts ist schlimmer als fehlender Einsatz.
Nun aber stand ich Jahre später in einer picobello sauberen Toilettenkabine im Sindelfinger Mercedeswerk, wo ich vier Wochen lang und damit Zweidrittel meiner Ferien am Aufbau einer Halle beteiligt war, löste den Gürtel meiner Hose und zog sie vorsichtig über die Hüfte nach unten. Mit Einsatz hatte dieses Malheur nun nichts zu tun gehabt, das war mir klar, nicht im geringsten, denn ich war nur hier, weil ich mich im ersten Semester am Dortmunder Westfalen-Kolleg, Institut zur Erlangung der Hochschulreife, finanziell etwas übernommen hatte. Die Abende im Bass, der Jazz-Kneipe in der Nordstadt, direkt neben dem Programmkino Roxy gelegen, hatten Löcher in mein Budget gefressen und zu einem dicken Minus auf meinem Konto geführt. Ich lebte in einer von der Postbank so genannten geduldeten Überziehung, weil ich an den Abenden sozusagen in der Kneipe wohnte, von acht Uhr bis zur letzten Runde. Heinz, der Wirt und bekennende Jazzfan, niemals perlte Abweichendes aus den Boxen, stellte mir schon am zweiten oder dritten Abend ein Norbert-Bier auf den Tresen, und das ist keine Biersorte, sondern einfach die Verbindung meines Vornamens mit dem gewünschten Getränk. Ein Norbert-Bier, wohl bekomm’s, hieß es, ein Bleistiftstrich auf dem Bierdeckel folgte als Beglaubigung, und schon war ich für den Abend eingemeindet. Daher also das Minuszeichen auf dem Kontoauszug, und daher auch die nur langsam verblassenden Schmerzen, die sich jetzt, da ich die Unterhose auf die Knie hinunterstreifte, eher im Hals konzentrierten. Mein Geschlecht, ich bin Linksträger, lag im fahlen Licht der Toilettenanlage nun also frei, ich wagte kaum hinzusehen. Als ich es tat sah ich nichts als den in alltäglicher Gelassenheit am Leib hängenden Schwanz inmitten krauseligen Schamhaars und den ebenfalls unbeeindruckt wirkenden Hodensack. Blut war nicht zu erkennen. Mit der flachen Hand hob ich das Gemächt vorsichtig an und der Schmerz im Hals drückte ein wenig in den Kopf hinein. Die Eier schienen noch ganz zu sein, ich bewegte sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, was leichte Schmerzen im Bauch auslöste. Richtig kaputt waren sie jedenfalls nicht. Bliebe nur noch die Frage nach der Erektionsfähigkeit, aber die musste ich wohl nach Feierabend in meinem Hotelzimmer in Tübingen überprüfen. Von der Halle her hörte ich das Pausensignal, ich wartete, dann endlich erklang das Signal erneut. Pause ausgestanden, weiterdengeln!
Bass und bässer
Die Dortmunder Nordstadt hatte (und hat) nicht den allerbesten Ruf. Doch wozu zum Teufel noch eins ein langweiliges Leben führen, so dachte ich und donnerte im zweiten Gang durch die lange Backsteinunterführung an der Union-Brauerei in den Norden hinein. Sechshunderfünfzig Kubik, fünfzig PS und ausreichend Krach. Das Leben war scheiße genug. Ich war, um auf besagtes Westfalen-Kolleg zu gehen, nach Dortmund gezogen. Eigentlich hatte ich mich bereits gegen ein Leben im Ruhrgebiet entschieden gehabt und zwei Jahre in Freiburg verbracht. Denn warum auch um alles in der Welt musste ich auch ausgerechnet in Schwerte an der Ruhr geboren werden, einer unwirtlichen Kleinstadt, Blick nach Süden aufs Sauerland, im Norden, jenseits des Ardeygebirges, Dortmund, nach Osten hin die Soester Börde, nach Westen Witten, Herdecke, Bochum und wer weiß was noch. Schwerte würde mir mein Leben lang am Hintern kleben, wenn ich nicht aufpasste. Während andere Menschen sechshundert Kilometer weiter in Paris oder London oder wenigstens einer Großstadt aufwuchsen, würde man mir auf ewig das Kleinstädtertum und vor allem das Ruhrgebietlersein ansehen, anhören, anmerken. So dachte ich damals, bevor dann doch ein abgezockter Großstädter aus mir wurde.
An der Kreuzung Schützen-/Mallinckrodtstraße bog ich rechts ab, linker Hand die Camera, wie das Roxy ein Programmkino, dann die zweite wieder rechts. Die Uhlandstraße. Uhland! Überhaupt ist der Arbeiternorden gespickt mit Schriftsteller- und Komponistenstraßen, man darf sich durchaus fragen warum, während die Arbeiterhelden ihre Straßen eher Richtung Süden haben. An meinem Schlüsselbund jedenfalls zwei neue Schlüssel, einen für die Haustür der Uhlandstraße Nummer 34 und einen für die Wohnungstür, vierter Stock. Vier Mietparteien, die Familie Behrend im ersten Obergeschoss hatte ich bereits kennengelernt, Vater, Mutter, Tochter auf 60 Quadratmetern, Guten Tag, steht die Wohnung oben leer, aber ja. Rufen Sie den Vermieter einfach an, in Hamm wohnen die. Gesagt, getan, kommse einfach vorbei. Im Wohnzimmer bei Kaffee mit Milch Mietvertrag unterschrieben, ein Monat mietfrei, ist ja einiges zu tun, ach, Abitur wollnse machen auffem Westfalen-Kollech! So lief das damals noch, 1988 im Westen, der sogenannten BRD. Ein Jahr später war es Essig damit, freie Wohnungen Mangelware, gebrauchte Autos ausverkauft.
Wir waren jung und faul wie Hucke. Gearbeitet wurde nur, wenn das Geld knapp war, was leider nicht selten vorkam. Im November 1988 allerdings dachte ich noch nicht an solche Spitzfindigkeiten des Daseins, sondern machte mich mit Berthold daran, aus einer Bruchbude eine WG-taugliche Wohnung zu gestalten. Das Beste war das Loch in der Mauer in Bertholds Zimmer, ein Klassiker der Bruchbudenromantik. Links des Fensters unter der Dachschräge befand sich nämlich ein faustdickes Loch in der Wand, das nur mutwillig und ohne sachlichen Grund ausgestemmt worden sein musste. Wer macht denn so etwas?
[Ende des Fragments]
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Norbert W. Schlinkert: Kreis (Druckstock)