Vergessene Texte II: Nächster Halt Leipzig (2016 / 2022)

Nächster Halt Leipzig

Eine Kurzgeschichte

von

Norbert W. Schlinkert

Leo ergattert einen Fensterplatz rechts in Fahrtrichtung. Es fahren, stellt er fest, ausgesprochen viele Menschen im ICE von Berlin nach Leipzig, so früh am Morgen und mitten in der Woche. Was die wohl alle dort zu tun hatten? Nur wenige Reisende führten nennenswertes Gepäck mit sich. Leo schien es, als seien viele auf dem Weg zur Arbeit, Anzugsträger und Kostümträgerinnen, von denen einige in die Waggons der ersten Klasse gestiegen waren, mit kleinen Aktenköfferchen und Laptops bewaffnet. In der ersten Klasse gibt es Einzelsitze, denkt er, in der zweiten nicht. Eben noch hatte eine ältere Frau minutenlang im Gang zwischen den Sitzen gestanden und ihm Angst gemacht. Dass die sich bloß nicht neben ihn setzte! Dann war sie weitergezogen. Noch einmal Glück gehabt. Es war ihm schon passiert, dass er sich, ohne es zu wollen natürlich, den nackten Leib alter Frauen oder Männer, die ihm in der S-Bahn gegenübersaßen, vorgestellt und dann Lippenherpes bekommen hatte. Innerhalb von Minuten. Ach was, von Sekunden! Frühmorgendliche Berlin-Reste rauschten vorbei, eine Lagerhalle, Reihenhäuserreihen, doch bald schon würde sich die Landschaft in dieses Nichts zwischen Berlin und Leipzig verwandelt haben. In der Mitte davon Wittenberg, Lutherstadt, doch da würde dieser Zug nicht halten, das war drei Mal durchgesagt worden, kein Halt in Wittenberg. Natürlich saß inzwischen jemand neben ihm. Eine Frau. Scheuer Blick nach links. Ein weiblicher Oberarm, tüllumhüllt. Glück im Unglück, eine junge Frau. Keine alte. Sie duftete sogar dezent. Als sie gefragt hatte, ob der Platz noch frei sei, war er eben damit beschäftigt gewesen, den rechten Schuh wieder zu binden, dessen Schleife irgendwie ungleich gewesen war, also nicht in sich ungleich, aber anders als die des linken Schuhs. Das war zu korrigieren gewesen. Er hatte nur Ja gesagt, aber nicht zu ihr eigentlich, sondern eher zu seinem Schuh. Er wusste also nicht einmal, wie sie aussah, diese Frau, doch jetzt hinüberzusehen wäre ein wenig unhöflich, fand er. Verstohlen warf er stattdessen einen Blick auf ihre Beine. Akkurat nebeneinander, schlank, fleischfarben nylonbestrumpft. Dazu schwarze oder eher dunkelbraune Peeptoes, nicht sehr hoch, ganz schlicht, und natürlich war der Fußnagel der großen Zehe rot bepinselt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und überlegte, wo denn die Herpes-Creme stecken mochte. Was tun? Schon wurde ihm schlecht. Wenn er etwas nicht sehen konnte, nicht sehen wollte, dann Füße. Im Herbst, dachte er, wie herrlich ist doch der Herbst, und auch im Winter tragen ja nur Verrückte offene Schuhe. Vom Frühsommer an jedoch überall Ungepflegtheiten, eklige Zehen und rissige Fersen, eingewachsene Fußnägel, grassierender Nagelpilz, durchgelatschte Fußsohlen. Unerträglich! Ganze Völkerschaften warmer Weltgegenden waren ihm verhasst wegen dieser ewigen Sandalen und Flip-Flops! Da war die Dame neben ihm ja noch ein Wunder der Ästhetik. Vor den Fenstern des dahinjagenden Zuges breitete sich indes die erwartete Landschaft in ihrer Flachheit gnadenlos aus. Die Frau neben ihm, die sicher nicht einmal dreißig sein mochte, so schätzte er wenigstens, legte jetzt das eine Bein, dessen wurde er gewahr, vorsichtig über das andere. Stammen Sie aus Meißen, könnte er sie fragen, fiel ihm ein, das wäre witzig, und auf ihr überraschtes Warum würde er sagen, weil Sie ihre wunderbaren Beine so vorsichtig übereinandergelegt haben, als seien sie edelstes Porzellan. Doch er sagte natürlich nichts, denn weder waren diese Beine wunderbar, ohne eine umfassende, auch haptische Prüfung war das ohnehin nicht herauszubekommen, noch wollte er mit jemandem reden, der geschmacklose Schuhe trug. Er sah immer wieder hin. Jetzt zuckte auch noch etwas am Knöchel ihres rechten Fußes, eine pulsierende Ader, unregelmäßig rhythmisch, pöppöpp, pöpp, pöpppöpp und so weiter. Es war nicht auszuhalten. Und sicher noch fast eine Stunde bis Leipzig. Er legte seine Hände flach an beide Schläfen, Scheuklappen gleich, trotzdem aber sah er durch die sich unwillkürlich spreizenden Finger immer wieder auf die Schuhe und diese rotbepinselten Großzehen. Einfach einzuschlafen wäre jetzt nicht das Schlechteste, allerdings bestünde die Gefahr, dass ihm der Sabber aus dem Mund liefe. War ihm schon mal passiert, auch im Zug. Also wach bleiben, rote Onkel hin oder her. Und sich bloß nicht den Tag verderben lassen von dieser Frau, die nicht mal einen Kopf hat! Allerdings, das musste er zugeben, dieser dezente Parfümduft, den sie absonderte, gefiel ihm durchaus. Das wäre etwas, das er zu einer Personenbeschreibung hätte hinzusetzen können. Aber gehörte so etwas zu einer Personenbeschreibung? Er hörte schon den Beamten sagen, Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, sie hätten die Frau nicht einmal angesehen während der ganzen Zugfahrt! Mit Beinen können wir hier nicht viel anfangen, ich bitte Sie, wie sollen wir denn Beine zur Fahndung ausschreiben? Und Parfüm haben wir auch nicht in der Datei. Am Ende werde ich noch, dachte er, als Komplize verdächtigt! Also mal den Kopf der Frau ansehen, ganz wichtig! Aber wie das bewerkstelligen? Entschuldigen Sie, dachte er, könnte ich leise sagen, ich muss mir Sie mal ansehen, wer weiß, für was es gut ist. Seien Sie so nett und zeigen Sie mir mal Ihr Gesicht, Profil, ja, von vorne, vielen Dank, haben Sie eigentlich besondere Merkmale, ach was, ein großes Muttermal im Nacken und eines, ein wenig kleiner, auf der linken Brust, über dem Herzen sozusagen! Das ist ja putzig! Wollen Sie mal sehen, fragt sie mich, treuherzig lächelnd, und ich frage, das im Nacken oder das auf der Brust? Das auf der Brust natürlich, sagt sie mit Überzeugung und ein wenig empört. Berühren Sie es ruhig einmal, es ist ganz flauschig und sieht aus wie ein kleines Tier, besonders dann, wenn die Brustwarze ganz groß und hart ist, sehen Sie! Es ist, als wenn das große böse Tier das kleine flauschige Tier fressen will, so, und sie drückt mit Daumen und Zeigefinger die beiden Tierchen zusammen und macht fauch-fauch: Nun kämpfen sie miteinander! Die Dame schlägt die Beine jetzt andersherum übereinander, ein winziges Nylongeräusch entsteht. Leo war eingeschlafen. Zum Glück hatte er nicht gesabbert, das hätte ihm gerade noch gefehlt. Und hoffentlich hat die Dame neben mir die Beule in meiner Hose nicht gesehen, denkt er. Zwei miteinander kämpfende Tierchen, das war ja lächerlich! Vielleicht fuhr sie zu einer Sitzung einer jungen, aufstrebenden Firma, in der sie eine führende Position anstrebt, und da würde sie ihm doch nicht so ein Theater mit Brustwarze und Muttermal vorspielen! Wo käme man da hin! Die Dame neben ihm räuspert sich. Sie haben da eine Beule in der Hose, sagt sie, oder nein, natürlich sagt sie das nicht. Würden Sie, sagt sie in Wirklichkeit, auf meine Handtasche achtgeben, ich bin gleich wieder da. Da ist es ja, ihr Gesicht, im Halbprofil, kantig, wie die Knie, großgeschminkter Mund, schöne Zähne, einer ein wenig schief, graugrüne Augen, Wimpern getuscht, Augenbrauen wie ein Strich. Er sagt ja, natürlich, und als sie weg ist, denkt er, was ist denn das für eine Frau, die ihre Handtasche nicht mitnimmt, wenn sie aufs Klo geht? Und führe der Zug nicht haltlos durch, so würde er denken, da stimmt doch etwas nicht, warum lässt sie die Tasche, braunes, weiches Leder, zwei aufgesetzte Taschen vorne, hier bei mir? War sicher sehr teuer. Doch kein Halt vor Leipzig! An dem sie den Zug verlassen könnte! Denn gäbe es einen, denkt er, so müsste wohl eine Bombe in der Tasche sein! Wie teuer sie auch immer sein mag. Doch eine Bombe in einer so kleinen Tasche, was sollte die schon anrichten können? Wahrscheinlich würde sie nur, denkt Leo, mich töten, niemanden sonst. Die Beule in der Hose war jetzt natürlich weg. Was also tun? Den Waggon verlassen, nicht auf die Tasche aufpassen? Sicher pinkelt sie gerade in diesem Augenblick mit einem Pfüh-Geräusch in die Kloschüssel der Deutschen Bahn, um sich danach die paar Urintröpfchen, die am Schamhaar hängen, mit dem Deutsche-Bahn-Klopapier abzuwischen. Oder ist ihr Schamhaar abrasiert, denkt Leo, und da kommt die Beule schon wieder, und da kommt auch die Dame, also ist keine Bombe in der teuren Handtasche. Er atmet auf. Sie lächelt ihn an und sieht auf seine Hände, das fällt ihm sofort auf. Was glaubt sie da zu sehen? Die zugeschnappte Mausefalle vielleicht, die im Inneren der Tasche lauert für den Fall, dass so ein Aufpasser seine Pfoten hineinsteckt? Kann ja wohl nicht wahr sein, denkt Leo. Sie lächelt, sagt Dankeschön, nimmt die Tasche vom Sitz und setzt sich wieder, doch irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas ist anders, die Frau ist noch die selbe, das Parfüm riecht wie zuvor, und da sieht er es plötzlich: Sie trägt andere Schuhe! Rot, schlank und spitz, hochhackig, wohl eher solche, die man Pumps nennt, oder sogar schon High-Heels. Sie sind vorne geschlossen, doch man sieht den Zehenansatz, das mag Leo auch nicht so. Trotzdem hätte er beinahe Danke gesagt, aber er sagt nichts, sondern fragt sich, wo hat sie denn die Schuhe her und was hat sie denn mit den anderen Schuhen gemacht? Ins Klo gespült? Wohl kaum, denkt er, und zum Fenster raus kann nicht sein, nicht im ICE. Noch eine halbe Stunde bis Leipzig, höchstens. Gleich würde die Rennerei zum Klo losgehen. Doch Leo zögert. Seine Tasche, fragt er sich, kaum größer als die der Dame, kann er sie mitnehmen ohne Misstrauen zu erwecken? Denn hatte sie nicht die ihre ihm anvertraut, und müsste sie nicht denken, er sei ein komischer, misstrauischer Kauz, oder dass er eben doch etwas gestohlen hat und nun in einen vorderen Waggon verschwinden will, um sich zu verdünnisieren, sobald der Zug in Leipzig hält? Aber was soll’s, ich muss pinkeln, denkt er, greift seine Tasche, macht Anstalten, die Dame versteht und lässt ihn hinaus, halb die Beine in den Gang streckend. Danke, sagt Leo. Zwei Klos, doch im zweiten liegt zweifelsfrei der dezente Parfümduft in der Luft. Ihm wird ganz anders, aber mit einer Erektion wird er nicht pinkeln können, also muss er sich beherrschen. Er öffnet den Hosenstall, fummelt seinen Schwanz heraus und will eben lospinkeln – da sieht er es! Er traut seinen Augen nicht. Die Peeptoes liegen in der Ecke! Hinter der Schüssel. Das Zehenloch obszön leer und glotzend. Was tun? Jemand will hinein, es rüttelt an der Türklinke. Er muss nachdenken, schnell, denn das sind natürlich ihre Schuhe, aber wie kommt sie überhaupt zu den roten, neuen, die Frage ist nicht geklärt, sie hatte nichts bei sich, und was wäre, würde er sie jetzt einstecken und sie stünde vor der Tür? Was sollte er sagen? Dass er sie ihr bringen wollte, nichts weiter, und da nimmt er sie und steckt sie in seine Tasche, sie passen gerade eben so rein. Er geht zurück zu seinem Platz. Die Dame wirft ihre Beine über die Armlehne und lächelt. Er setzt sich. Weiß sie, dass ich ihre Schuhe habe, fragt er sich. Soll ich flüsternd bekennen, sie mitgebracht zu haben? Denn warum hätte sie sie sonst auf dem Klo liegenlassen, denkt er. Aber das wäre doch absurd, weil ich doch diese Schuhe nicht mag, was sie aber, denkt er weiter, natürlich nicht wissen kann. Sie glaubt sicher, ich mag die Schuhe, weil sie die Beule in meiner Hose gesehen hat. Aber da steht sie, noch bevor der Zug hält, plötzlich auf, nickt ihm zu und geht. Leo ist überrascht. Vor dem Fenster schiebt sich der Bahnhof Leipzig ins Bild. Alles rennt und hastet, Leo aber wartet, bis sich der Waggon ganz geleert hat und verlässt dann als Letzter in aller Ruhe, zu der er sich zwingt, diesen Zug von Berlin nach Leipzig, geht langsam längs durch die Bahnhofshalle, links die Treppe hinunter und zum Vorplatz hinaus. Er atmet tief durch. Was tun, überlegt er. Vor dem Bahnhof Straßenbahnen und Menschen, die Dame aber nirgends zu sehen. Vielleicht sollte ich die Schuhe einfach wegwerfen, geht ihm durch den Kopf. Sie loswerden. Das würde wohl das Beste sein! Ein wenig verschämt, dass ihn bloß niemand dabei sieht, zieht er die Schuhe halb aus seiner Tasche. Schnell muss es gehen! In einer einzigen, fließenden Bewegung. Wo ist nur der nächste Mülleimer? Er sieht sich um. Wegwerfen also! Das ist entschieden! Die Farbe, die ginge noch, denkt er, ja die ganze Frau wäre halb so schlimm gewesen ohne diese Löcher vorne in den Schuhen und ohne die bepinselten Großzehen! Er geht ein paar Meter. Da, ein Mülleimer! Und schon zieht er die Schuhe mit einem Griff ganz aus der Tasche, doch als er sie eben hineinstoßen will in die Öffnung des Eimers, sie entsorgen will, die hässlichen Schuhe mit den hässlichen Löchern, da lugt aus dem Loch des linken Schuhs etwas heraus. Ganz plötzlich. Ein Zettel, stellt er fest, zusammengerollt. Was tun? Herausnehmen, beschließt er endlich. Mit spitzen Fingern. Ein Zettel also. Nun denn. Er zieht ihn glatt und liest. Liest noch einmal. Und noch einmal. Meine Güte, sagt er endlich halblaut, damit, ja damit habe ich ja nun überhaupt nicht gerechnet – nicht im Traum!

© und alle Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor 2016 / 2022 / 2025

Norbert W. Schlinkert. Polaroid 34

Dieser Beitrag wurde unter NACHRICHTEN aus den PRENZLAUER BERGEN! veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert