Nachdenken über: Michael Lentz‘ „Textleben“/1

In Michael Lentz‘ Essayband Textleben. Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt finden sich unterschiedliche Arten von Reden und Aufsätzen „aus den ersten elf Jahren des 21. Jahrhunderts“, wie der Herausgeber Hubert Winkels schreibt (S.9). Das erste Viertel des Buches wird eingenommen von Texten unter der Überschrift ‚Vom Ich und zurück. Poetologien‘, und da der Schreibakt des Individuums und auch die Individuen in den Texten mich seit jeher interessieren, siehe meine Studie ‚Das sich selbst erhellende Bewußtsein als poetisches Ich‚, so lese ich dies mit großem Interesse.

Eine der Hauptfragen, wie ich als Leser mit einem Text umgehe, was ich mit ihm tue und was nicht, stellt Lentz implizit. Er schreibt: „Die Partie nachspielen, die dem Text zugrundeliegende Ordnung rekonstruieren – das hat mich als Leser immer interessiert. Eine Textordnung, die fahrlässig genug für eine Weltordnung gehalten wird. Den Text rätselhaft lassen, das hat mich nicht weniger interessiert. Einen Text über die Jahre immer wieder lesen, mit jeder neuen Lektüre könnte ein Vorverständnis gelöscht werden, den Text neu belegen, ihn neu ausstatten mit Sinnbezügen, unvermutete Kohärenztrassen deutlich erkennen, Kafka zum Beispiel, Celan zum Beispiel.“ (S.20f.) [Es geht um die Gegenwart des Lesens, die Erinnerung später ist nichts weiter als Gefühl.]

Winkels schreibt in seinem Vorwort, der Chiasmus sei eine der grundlegenden Figuren in Michael Lentz‘ Denken (S.7f.), und auch in dem obigen Zitat zeigt sich dies, denn einen Text begreifen zu können und ihn zugleich nicht begriffen, ihm seine Geheimnisse trotz der erlesenen Nähe nicht entrissen zu haben, ist eine besondere Kunst, die immer wieder erneuert werden muß in dem scheiternden Versuch einer Wiederholung, im Jetztlesen. Das Verstehen eines Textes ist somit eng gebunden an den Leser, der er im Augenblick des Lesen ist; Wahrheiten als auch anderswo verbürgte Fakten finden sich somit nicht in literarischen Texten, selbst wenn Fakten faktisch richtig sind, bildet doch der Text einen eigenen Kontext, zu dem zwingend der augenblicklich lesende, den Text quasi wiederholende Leser gehört.

[Erich Kleinschmidt schreibt in Autorschaft. Konzepte einer Theorie: „Formulierung und Verstehen sind nicht voneinander zu sondern. Sie fallen in der durch Autorschaft errichteten Textordnung zusammen. Weil dies so ist, ergibt sich überhaupt erst die Situation, daß auch der Leser zu einer produktiven Auseinandersetzung mit Texten fähig ist und in die funktionale Rolle einer ‚zweiten‘ Autorschaft eintreten kann.“ (S.43) Der Leser hat somit das Potential, den begriffsgebundenen Äußerungen des Autors eine eigene Sinngebung zu geben, wenn er sich nicht durch die Denkfigur ‚Wahrheit‘ blockieren läßt. (siehe dazu Kleinschmidt S.25)]

Lentz schreibt: „Literatur macht keine – begrifflichen oder begrifflich zu fixierenden – Aussagen.“ (S.25), schränkt diese These aber explizit ein (und erweitert sie zugleich), wenn er hinzufügt: „Literarische Texte bewegen sich, sie oszillieren zwischen dem begrifflichen und dem nichtbegrifflichen Pol.“ (S.25) Dies dürfte auch die gesamte Bandbreite ausmachen, denn wenn die Textordnung „fahrlässig genug für eine Weltordnung gehalten wird“ (S.21), warum dann nicht alles zwischen den besagten Polen für die Welt halten, als Welt erleben, aktuell belebt im Lesevorgang?

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