Ein Roman ist ein ästhetisches Gebilde. Das gilt in jedem Fall, selbst wenn alle Fakten im Roman dagegen sprechen, denn es geht nicht um Fakten, sondern darum, was sie bedeuten, was sie als ein Ganzes sind. Ein Roman bedeutet immer die ganze Welt, nicht eine kleine in der großen, nicht eine nur persönliche, auch keine Gegenwelt, so wie dies auch von den Brettern gilt, die die Welt bedeuten, wie man so schön sagt. Für das Schreiben von Romanen heißt das, sich der schier unmöglichen Verantwortung bewußt zu sein, andere Menschen in die eigene, selbstentworfene Welt hineinzulocken und dort zum Mittun zu verleiten, ja zu zwingen. Ich selbst bin als Leser aus vielen Romanen nie wieder herausgekommen, und wenn, dann bedurfte es eines gewichtigen Grundes und eines Kampfes. Das alles, auch die negativen Erfahrungen, gehört zum Zauber der Literatur, der entsteht durch die vom Leser gesuchte Nähe zu dieser Welt und seinen Protagonisten, die es allein deswegen gibt, weil der Autor zuvor diese Nähe zu „seinen“ Geistern suchte, die dann durch ihn lebendig, zu poetischen Ichs wurden. Die Kunst dabei ist es, diese Ichs nicht wieder aus den Augen zu verlieren, sie aber auch nicht zu sehr „lieb zu haben“, denn dann erdrückt der Autor seine Figur und sie stirbt ihm unter der Hand weg, noch bevor überhaupt eine Welt erschaffen wurde, diese Welt von „Es war einmal“ bis zu dem „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ – genau darum geht es.
Ich stelle also fest und zitiere mich selbst: „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schmücken sich nicht wenige Schriftsteller mit ihrem sehr speziellen Verhältnis zu der ein oder anderen Figur ihrer Romane, doch auch bereits Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts nutzten alle Möglichkeiten, dem poetischen Ich so nah wie nötig zu sein. Dies ist um so verständlicher, wenn bedacht wird, daß keinerlei Nähe gleichbedeutend ist mit der Unmöglichkeit lebendigen Erzählens, während eine zu geringe Distanz dem im Text zu erscheinenden Ich alle Bewegungsfreiheit nähme – es hinge gleichsam, wie eine Marionette, an Schnüren. Eine wohldosierte Nähe zu den Protagonisten läßt hingegen sowohl den Zufall als auch den mitunter dummen Gedanken zu, den Irrtum und – nicht zu vernachlässigen – die Frage, wie denn der potentielle Leser zu all dem stehen wird, denn er muß in jedem Fall mit hinein ins Geschehen, in den Binnenraum des Romans, nicht nur weil er wollen soll, sondern auch, weil er gleichsam Vollstrecker ist. Liegt es da nicht nah, von einer Komplizenschaft zu sprechen, einer Bande, bestehend aus poetischem Ich, Autor und Leser, zusammengeschweißt auf Gedeih und Verderb? Nah liegen tut es schon, das poetische Ich jedenfalls fühlt sich sehr lebendig in dieser Welt mit all den Abenteuern und den ihr immanenten Fragen, all dem Nachdenken über Willensfreiheit oder Schicksal, Seelenwanderung und Liebe, den Sinn oder Unsinn des Seins und so weiter. Mögliche Verwicklungen zwischen Autor und poetischem Ich, die sich bei Jean Paul und Sören Kierkegaard ebenso finden lassen wie in manchem Roman oder Theatertext des 20. Jahrhunderts, sind die Folge des Erschaffens eines lebendigen Geistes, der sich, einmal in der Welt, nicht mehr ausschalten läßt. Am Ende jedenfalls ist es die stabile Dreieckskonstruktion, mitunter über Zeiten, Sprachen, Kulturen und Kontinente hinweg, die ein lebendiges Miteinander aller Beteiligten möglich macht, sofern im Hier und Jetzt der Leser den Text zur Hand nimmt und seinem Zauber erliegt.“