Stephen Dedalus hat gesündigt, nun erleidet er Höllenqualen. Katholische natürlich. Ich kann mich dunkel an die erste Lektüre von Ein Porträt des Künstlers als junger Mann erinnern, in der Übersetzung von Klaus Reichert. Ich habe Anfang der 90er-Jahre sehr viel Joyce gelesen, viel dazu geschrieben und Gemälde und Collagen zum Thema gemacht. Aus heutiger Sicht muß ich sagen, ich war damit vollkommen isoliert gewesen in der Dortmunder Nordstadt, ja ich war sogar weit weg von der Kunstszene in Dortmund, die einfach anders tickte. Am falschen Ort war ich aber trotzdem nicht, mir ist eben die Nordstadt mein Dublin gewesen, selbst wenn es für die meisten nur ein banaler Ort war. Warum bin ich nicht einfach in irgendein Eldorado gezogen, wo Kunst und Literatur einen Stellenwert hat, frage ich mich heute manchmal, obwohl ich die Antwort kenne, die nicht weiter schwierig ist: weil ich nicht in eine fertige Welt kommen wollte mit all den längst besetzten Nischen, mit abgewürgtem Wandel durch Verwohlständigung der Kreativlinge. Ich wollte diese alten Geschichten vom Aufbruch der Kunst in Düsseldorf oder München nicht hören, diese Erfolgsgeschichten, das wären Qualen der Hölle gewesen, denn wie sollte man heranreichen an jene Helden, die in den 60er- und 70er-Jahren die Kunstwelt auf den Kopf stellten. Die Quölle wäre es also gewesen, sozusagen, ganz sicher! Also blieb ich ein paar Jahre noch in der Nordstadt und machte mich dann wieder auf den Weg und auf die Suche, nach meiner Stadt, die ich bis dahin eben doch nicht gefunden hatte und die mir jetzt, nach dem Umweg über Hamburg, Berlin ist. Warum mir das alles einfällt? Weil ich dieses Buch nun wieder lese, in der neuen Übersetzung von Friedhelm Rathjen, und weil dieses Buch mich packt, mehr noch als damals, was auch an der Übersetzung liegen mag, an Kleinigkeiten. Gelegentlich treibt es mich, wenn eine Stelle besonders schön ist, sogar zum Vergleich der Übersetzungen, ohne das Original zu haben allerdings. Die Beschreibung eines Bordellbesuchs, den der jugendliche Stephen, natürlich heimlich und verbotenerweise, unternimmt, gehört sicher zur schönsten Liebesprosa, die je geschrieben worden ist. In der wunderbaren Übersetzung Rathjens heißt es gegen Ende des zweiten Kapitels:
„Als er schweigend mitten im Zimmer stand, kam sie zu ihm her und umarmte ihn unbekümmert und würdevoll. Mit ihren rundlichen Armen drückte sie ihn fest an sich, und als er ihr Gesicht in ernsthafter Ruhe zu ihm aufblicken sah und das warme ruhige Senken ihrer Brust spürte, wäre er um ein Haar in hysterisches Weinen ausgebrochen. Tränen der Freude und der Erleichterung schimmerten ihm in den begeisterten Augen, und seine Lippen, auch wenn sie nicht sprechen mochten, öffneten sich. – Gib mir einen Kuss, sagte sie.“ (S.121f.)
Zur Strafe gerät Stephen dann in die Hölle, als er an den jährlichen Exerzitien zu Ehren des heiligen Franz Xaver teilnehmen muß. Er erleidet echte Qualen, nachdem er seine Erlösung zuvor in der Sünde gefunden hatte und wohl auch wieder finden wird. Hach!