Die Königsberger Schriftstellerin Katarina Botsky (1880 bis 1945) ist heute nahezu unbekannt, ihre Schriften sind selbst antiquarisch kaum noch zu bekommen. Umso wichtiger ist es, dass nun einige ihrer Novellen, zuerst gedruckt im Simplicissimus, und zwei sie (als Pro- und Epilog) einrahmende Gedichte neu unter dem Titel In den Finsternissen im Elsinor Verlag erschienen sind, herausgegeben von Martin A. Völker. Im Nachwort stellt der Herausgeber die Novellen Botskys in den jeweiligen kulturhistorischen Zusammenhang; die Spanne reicht dabei vom Ende des Kaiserreichs und der Zeit des Ersten Weltkriegs über die Weimarer Republik bis hin zu den ersten Jahren des sogenannten Dritten Reiches.
Botsky schildert in ihren Novellen sehr eindringlich und, das sei hier bereits vorweggenommen, auf hohem literarischen Niveau, wie entschieden die Zeitumstände das Leben des einzelnen, schwachen, am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen prägen und beeinflussen. Die Novellen, erschienen im Zeitraum von 1912 bis 1935, tauchen tief ein in das elende Dasein geschundener Gestalten, die kaum mehr besitzen als einen Hoffnungsschimmer auf ein vielleicht doch noch besseres Leben, auf ein (Über-)Leben in Würde, ohne Fremdbestimmung, Angst, Gewalt und Demütigung.
Katarina Botsky stammt, so berichtet es der Herausgeber Martin A. Völker im Nachwort, aus einer Königsberger Kaufmannsfamilie, die dort eine Flachs-, Hanf- und Getreidehandlung betreibt. Schon in einer ihrer ersten Buchveröffentlichungen, dem Roman Der Trinker von 1911, wendet sich Botsky den Schattenseiten des Daseins zu. Völker vermutet hier einen autobiografischen Hintergrund, ist doch in ihrem ersten Werk, dem tagebuchartigen Vor den Gittern des Lebens (1905), von einem von Krankheit gezeichneten Bruder die Rede. Viel mehr als diese Hinweise auf schwierige und bedrückende Lebensumstände ist allerdings über Katarina Botsky nicht bekannt, allein eine Selbstdarstellung, die sie den in einer Anthologie erschienenen Gedichten beigibt, gibt Auskunft beispielsweise über ihren ursprünglichen Berufswunsch, sie wollte zunächst Schauspielerin werden, und ihre Hinwendung zu einer modernen Literatur, die sich, so Völker, „von dem oberflächlichen bürgerlichen Unterhaltungsbedürfnis ebenso abgrenzt wie von dem ästhetisch amalgamierten Humanismus in der Nachfolge Goethes und Schillers“.
Botsky will also dezidiert zeitgemäß schreiben und greift infolgedessen die Themen ihrer Zeit auf, jedoch nicht distanziert und abgeklärt, sondern mit einem gewissen expressionistischen Furor, der wissend und nachfühlend tief hineinfährt in die armen, vom Leben deformierten Seelen. Gleich in der ersten Novelle des Bandes, G, veröffentlicht 1912, spannt Botsky den Himmel „wie ein totes, bleiernes Meer, das nur hier und da kleine graue Wellen aufwarf“, über die Dächer, und das ist dann die Szenerie, in der eine einsame, verhärmte Frau in ihrer Wohnung unter dem Dach (vor hundert Jahren wohnten die Armen oben und die Reichen unten) wartet, so wie sie als junger Mensch wartete auf denjenigen, der sie retten würde; sie hatte sogar mal eine Novelle geschrieben, in dem ein Graf vorkommt, der liebeglühend ihr zu Füßen lag. Nun aber ist sie alt geworden und wartet, „ohne etwas erwarten zu dürfen“. Von ihrer einzigen Freundin wird sie nur noch „G“ genannnt, und bereits hier ahnt der Leser, dass es Botsky selbst sein muss, die ihre einzige, wenngleich ihr unbekannte Freundin ist, heißt es doch im Text, „ich nenne sie G, weil sie sich einbildete, keinen Vornamen mehr zu besitzen“.
Kaum jemand beachtet jemals G, nur ein seltsames Augenpaar sieht sie täglich auf ihrem Heimweg von der Arbeit aus einem Fenster heraus an, worauf sie jedes Mal schnell fortzukommen versucht, was aber eine plötzliche, seltsame Lähmung ihres linken Fußes erschwert. Geht sie hinaus, um beim Apotheker, der sie herablassend bedient, ihre Herztropfen zu bestellen, so nimmt allein ein verrückter Schuster Notiz von ihr, dem sie, da wieder ihr linker Fuß seinen Dienst nicht tut, nicht entfliehen kann. „Glück zieht Glück“, so kommentiert Botsky dies, „Schönheit zieht Schönheit an, und Jammer und Häßlichkeit gesellt sich zu Jammer und Häßlichkeit“. Einmal aber sieht sie, als sie doch vom Schuster fortkommt, schöne Blumen hinter einem Gitter und greift nach ihnen, doch diese weichen, schön wie sie sind, zurück. Sie eilt erschöpft in ihre Wohnung, und sie weiß nicht recht, was mit ihr vor sich geht, ob all diese Geschehnisse etwas zu bedeuten haben, doch immerhin, das macht ihr ein wenig Hoffnung, hat sie ja seit Wochen das Gefühl, etwas komme näher und näher, wie ein ferner Reiter, und das, glaubte sie meistens, müsse wohl „das lange ersehnte Glück sein, das, was sie jetzt herannahen fühlte; aber manchmal – – aber manchmal …“
Die Novelle G, von deren Handlung ich mit Rücksicht auf das Lesevergnügen nicht zu viel verraten will, ist klassisch als Novelle aufgebaut, durchaus aber, wie bereits angedeutet, keinem Ideal verpflichtet, es sein denn, man sähe die schonungslose Beschreibung des Nichtbürgerlichen und des Außenseitertums als ein solches an. Zeitlich und auch inhaltlich kann man diesen Text dem Beginn des Expressionismus in Deutschland zuordnen, für den eben dieses Außenseitertum eines der Hauptthemen bedeutet. Als Leser gerät man mit hinein in die Katastrophe eines misslingenden Lebens, gewahr einer vielleicht letzten Wendung, die unabänderlich kommen muss, ist ein Mensch zu schwach, sich gegen die Kräfte einer gottlosen Welt zu wehren. Und G ist schwach, denn, so heißt es im Text eindeutig, sie verdanke ihren Eltern nichts weiter „als das bißchen erbärmliche Vorhandensein“. Ihr einziges kleines Glück scheint, von außen betrachtet, darin zu liegen, sich der ganzen Tragik ihrer Verhältnisse nicht klar bewußt zu sein, „denn ihr Denken ging gewissermaßen noch immer in Kinderschuhen“.
Was ist neu an dieser Geschichte? G wartet, so also hebt die Novelle an, ohne auf etwas warten zu dürfen. Unruhig verlässt sie ihre Wohnung, sie muss ihre Herztropfen in der Apotheke bestellen, und da ist ja auch noch diese Ahnung, diese Erwartung, diese Hoffnung auf Glück, auf Erlösung, auf was auch immer, das nun endlich kommen mag. Warum also, denn hier läge die gewöhnliche Erwartung eines Lesers, zumindest noch im Jahr 1912, geht diese arme, kranke und einsame Frau nicht in die Kirche, warum betet sie nicht und sucht Trost bei Gott? Wäre nicht die Erwartung der meisten Leser in eben diese Richtung gegangen? Katarina Botsky weiß dem von Anfang an zu begegnen, denn schon ganz zu Beginn heißt es bereits, „der Abend zog in die Stadt, und die katholischen Glocken klingelten. Sie klingelten fast den ganzen Tag“, womit wohl angedeutet sein soll, daß sie nicht läuten, nicht rufen, den Menschen nicht zu Bewusstsein kommen, ihrer Kläglichkeit wegen. So weist auch im weiteren Verlauf der Erzählung kein Wort mehr auf Gott hin, auf den Trost, den der Glaube womöglich zu geben vermag.
Martin A. Völker hat den Novellen Botskys Gedicht Die Verkündigung, veröffentlicht 1926, als Prolog vorangestellt, wo es zu Beginn heißt: „Klagend hörte ich im Traum,/ im Weltenraum,/ die Engel singen:/ ‚Er ist gestorben – Gott!’/ (…)“. Dieses Gedicht und auch die Novellen sieht Völker als eine Reaktion auf Friedrich Nietzsches Wort vom Tode Gottes, gleichsam Folge des Phänomens der Abnabelung des Menschen von überirdischen Mächten durch Vernunft und Verstand. Ob man nun diesem Gedanken folgen will oder nicht, eines ist in jedem Fall deutlich, dass nämlich Trost und Hilfe, denn dies stellt Katarina Botsky eindringlich dar, kein Mensch mehr erwarten darf, der sich selbst nicht zu helfen vermag – der Himmel ist verschlossen, der einzelne Mensch auf sich allein gestellt und ohne Trost.
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Katarina Botsky: In den Finsternissen. Novellen.
Herausgegeben von Martin A. Völker.
Elsinor Verlag 2012. 108 Seiten. ISBN-10: 3942788071
Spannend. Freue mich schon auf die Fortsetzung!
Und ich erst! Beim zweiten Lesen zwecks des Darüberschreibens werden nämlich gute Texte oft noch besser!