Die zweite Novelle des Bandes beginnt mit einer Überzeichnung: „Wie häßlich war dieser Saal! Es war der häßlichste, den die Stadt besaß; aber auch der größte. Eigentlich glich er dem leeren grauen Bauch eines alten ausgedörrten toten Riesenfisches.“ Der größte Saal einer Kleinstadt ist zudem, so erfährt man weiter, staubig und schlecht beleuchtet durch altmodische Gaskronleuchter, ja sogar das himmlische Deckengemälde wirkt nur noch stumpf und hat etwas Tragisches, wie überhaupt der ganze Saal – alles an ihm spricht von „Gewesenheit“.
So die Exposition, die Katarina Botsky dem Leser darbietet – eingedenk des Titels scheint der Schauplatz ein Saal zu sein, den man, wegen der Wichtigkeit eines Prozesses, zum Gerichtssaal umfunktionierte. Doch weit gefehlt, es geht um eine Darbietung auf der Bühne, vor der noch der Vorhang herunter ist, während nach und nach das Publikum Platz nimmt, mit dunklen Handschuhen an den Händen; nur eine elegante, laute und anmaßende kleine Gesellschaft ist ohne Handschuhe. Das Publikum wartet, tückisch schweigend und steif wie ein „Pinguinenvolk“. In der weiblichen Hauptrolle einer Geisha wird eine reiche, „sehr vornehm tuende Dame“ zu sehen sein, die vor Jahren aus der Hauptstadt in die Kleinstadt kam und ihrer rotgefärbten Haare wegen „die Löwin aus Berlin“ genannt wird. Der Vorhang geht auf, die Szenerie einer Frühlingslandschaft, das Gegenteil des tristen Saals, wird sichtbar, das Publikum macht Ah!, und dann beginnt das Stück eines stadtbekannten Gymnasialprofessors, ein japanisches Drama …
Auch von dieser Novelle will ich nicht zu viel an Handlung verraten und deswegen ein wenig auf die Mittel eingehen, derer sich Katarina Botsky bedient, um von der „Hinrichtung“ zu berichten. Wie schon gesagt, es beginnt mit einer Überzeichnung, denn nicht nur ist der Schauplatz der hässlichste und größte Saal der Stadt, sondern er ist eigentlich noch viel mehr, nämlich gleichsam das Innere von etwas Totem, eines ausgedörrten Riesenfisches, wozu auch die meterlangen schlaffen Vorhänge passen, die wie „Leichentücher vor den mächtigen Fenstern“ hängen. Nur wenige Zeilen benötigt Botsky, um so den Eindruck des Morbiden zu erzeugen, des Gewesenen, und auch das sich langsam sammelnde Publikum scheint sofort im Bann dieser Stimmung zu sein und ihr, sie selbst weiter ausbildend, anzugehören. Die Seltsamkeit, dass das Publikum, später das „Grauvolk“ genannt, „mit dunklen Handschuhen an den Händen“, so als wolle sich niemand die Hände schmutzig machen, Platz nimmt und in tückischem Schweigen verharrt, ist eine weitere Überzeichnung, und als dann die handschuhlose elegante Truppe laut und anmaßend und erst kurz vor Beginn in den Saal kommt, ist dies nicht nur als ein Gegensatz zum gleichsam normalen Kleinstadtpublikum zu erkennen, sondern eine letzte Bestätigung dafür, dass sich von Anfang an all das hier Gegebene in einem Gegensatzverhältnis befindet, nicht zuletzt auch der hässliche Saal zur schönen Landschaft der Bühne, selbst wenn diese nur gemalt ist.
Katarina Botsky ist gleichsam sowohl Teil des Geschehens als auch zugleich distanzierte Chronistin dieses Abends, sie changiert zwischen den Möglichkeiten, je nachdem, ob sie nur die Handlung des banalen Stückes referiert oder ob sie das eigentliche Geschehen beleuchtet. Sie bedient sich dabei weder einer ihrer Personen, um das Vorgehende zu bewerten, noch überlässt sie es allein dem Leser, sondern bewertet und urteilt deutlich federführend selbst. Über das aufzuführende Stück des kurzsichtigen Gymnasialprofessors bemerkt sie in Klammern, es sei ein „(langes Geschwätz in einem Akt, durch Lektüre erzeugt)“, wodurch nicht nur die auch heutigentags noch vorherrschende Meinung, Lehrer sollten sich des Schreibens von Literatur besser enthalten, zum tragen kommt, sondern auch ihre Ablehnung des Weltfremden und Vergangenen, wie es in der klassischen Literatur ihrer Ansicht nach zu finden ist. Der Herausgeber Martin A. Völker weist im Nachwort, wie in der Rezension zur Novelle G bereits erwähnt, ja darauf hin, dass sich Botsky „von dem oberflächlichen bürgerlichen Unterhaltungsbedürfnis ebenso abgrenzt wie von dem ästhetisch amalgamierten Humanismus in der Nachfolge Goethes und Schillers“. Eben diese quasi aus der Vergangenheit exhumierte „Gewesenheit“ ist es nun aber, die nicht nur, das betont sie ja bereits im ersten Absatz, aus dem Saal spricht, sondern sie attestiert sie auch der „Löwin aus Berlin“, denn ihr Gesicht habe, so heißt es, eine „unverkennbare Ähnlichkeit mit dem des Saals; es sprach ebenso deutlich von Gewesenheit“. Kaum hat das Stück also begonnen, ist die Maniriertheit durch das Wort der Autorin bereits aufgebrochen – noch aber bleibt dem Publikum der Blick ins intime Geschehen hinein, wie beim naturalistischen Theater durch die sogenannte vierte Wand, verwehrt, wenn auch von nun an die Dinge ihren Lauf nehmen …
Katarina Botsky hat mit der Novelle Die Hinrichtung eine sehr gelungene und lesenswerte kleine Erzählung geschaffen, die an der Schnittstelle, ja Bruchstelle angesiedelt ist, die sich zwischen der untergehenden überschaubaren, auf festen Werten fußenden, alten bürgerlich-klassischen Welt und ihren Normen und derjenigen auftut, in der der Mensch angesichts von Industrialisierung und zunehmender Urbanisierung mit sich und den menschenverachtenden Umständen der Moderne zu kämpfen hat.
(Sie finden alle Rezensionen hier!)
Katarina Botsky: In den Finsternissen. Novellen.
Herausgegeben von Martin A. Völker.
Elsinor Verlag 2012. 108 Seiten. ISBN-10: 3942788071
So, ich habe das Büchlein jetzt zur Hälfte gelesen, und erstmal möchte ich Ihnen für diese Empfehlung und die Einladung zur Parallell-Lektüre danken, denn auf dieses Buch wäre ich sonst nie gekommen, und es ist ein gutes, ein außergewöhnliches Buch, soviel kann ich jetzt schon mit Bestimmtheit sagen.
Die hier besprochene „Hinrichtung“ erscheint mir als eine eigentlich völlig zeitlose und ziemlich geniale Etüde über Schein und Sein, Spiel und Wirklichkeit. Schon zu Beginn heißt es über das auf den Beginn der Vorstellung wartende Publikum, es entwickle „allmählich so viel Säure im Saal, daß sie den Staub in der Luft aufzufressen begann.“ Und dann zerfrisst diese Säure im Lauf der Vorführung die vierte Wand, die Löwin wird mit ihrer Vergangenheit in Berlin konfrontiert, und fällt dann eigentlich aus zwei Rollen, nämlich der Bühnenrolle der Geisha, aber auch aus der Löwinnen-Rolle, die sie fünf Jahre lang den Kleinstädtern vorgespielt hat. „Da sie ihre Position verloren sah, gab sie sich jetzt, wie es ihr beliebte“, heißt es im Text und aus einem schlechten Provinz-Laienspiel wird plötzlich ein ziemlich atemberaubender Abend. Eine echte Tragödie einerseits, und gleichzeitig ein Bühnenereignis, das das Skript des Lehrers weit zu übersteigen scheint. Als er zaghaft ruft, dies sei nicht mehr sein Stück, was da gespielt würde, wird er vom Publikum weggequakt.
(Ich hoffe, ich habe jetzt nicht zuviel verraten, aber das sind ja auch keine Kriminalgeschichten, wo man durch das Verraten des Mörders allen Lesespaß verderben könnte.)
Die Säure, die die vierte Wand zerfrisst – das ist sehr treffend ausgedrückt. Tatsächlich wird so auch das „Gewesene“ des Saals und das dem Saal trotz aller Schminke ähnliche Gesicht der Löwin mit Gewalt in die Gegenwart gerissen, das belanglose Theaterspiel wird, wie Sie schreiben, zu einer echten Tragödie, in der die banale Wahrheit, die der Vergangenheit der Löwin, offenbar wird. „Jetzt war sie wieder, was sie gewesen“ heißt es dann schließlich kurz und knapp wie ein Urteil. Am Ende ist der Abend, wie Katarina Botsky ihn so überaus lesenswert darbietet, naturalistisches Theater (sozusagen mit einem Stück im Stück), bei dem das Publikum mitspielt, mittut. Mich erinnert die Szenerie ein klein wenig an Ludwig Tiecks bitter-humoristisches Stück ‚Der gestiefelte Kater‘ von 1797, bei dem ein gewisser Wiesener (zu Beginn des dritten Aktes) fragt „Gehört denn das zum Stück“, worauf sein Nachbar antwortet „Natürlich, – das motiviert ja die nachherigen Verwandlungen.“
(Selbstverständlich haben Sie nicht zu viel verraten, es handelt sich ja um eine Novelle, die man, selbst wenn man das „Ende“ kennt, immer noch vollauf genießen kann – ich wollte nur in meiner Besprechung nicht den ganzen Text komplett referieren, so als habe ich gleich alles komplett erkannt. Dass nun in einer Diskussion der ganze Text zur Sprache kommt, ist natürlich ganz folgerichtig.)