Katarina Botskys Novelle Das Krachen über alle Maßen erschien am 20. März 1917 in der Zeitschrift Simplicissimus. Es herrscht zu diesem Zeitpunkt seit fast drei Jahren Krieg, die Menschen litten unter der das ganze deutsche Reich betreffenden Hungersnot, die als „Steckrübenwinter“ in die Geschichtsschreibung einging, obwohl sie noch weit in das Jahr 1917 hineinreichte. Die Geschichte, die Botsky erzählt, scheint mit diesem Krieg aber zunächst nichts weiter zu tun zu haben. Es geht um den kleinen Johannes, ein etwas ängstliches Kind, das aus lauter Angst lauschend im Bett liegt und nicht schlafen kann, wann immer der Sturm durch die Straßen läuft. Er befürchtet dann, das Pfeifen und Heulen könne plötzlich zu einem Geräusch über alle Maßen anschwellen, zu einem „Weltuntergangskrachen“, wie der Großvater, der es liebte, zu prophezeien, immer sagte. Doch des Morgens nach solch einem Sturm ist seine Welt immer noch heile, er hört die vertrauten Geräusche, das Holzpantoffelklappern der zur Schule gehenden Waisenkinder und die Fischfrau, die gellend „Ei Broatfösch, ei Botterfisch, ei Broatfösch!“ ruft. Nach der Schule darf er manchmal mit, wenn Lena und die anderen Kinder auf die Wiesen hinauslaufen, um über die im Frühjahr und Herbst mit Wasser gefüllten Gräben zu springen. Außer Lena gibt es da noch Nelly, die krank ist und in einem geheimnisvollen Haus wohnt und die Johannes aus dem Fenster der Schule heraus, während der dicke Religionslehrer den Kindern von Martin Luther erzählt, beobachtet. Manchmal sieht sie gleichgültig zur Schule hinüber, und dieses Bild bleibt ihm auch noch im Gedächtnis, als Nelly längst schon gestorben war.
Dann, Jahre später, ist Krieg. Johannes, inzwischen Buchbinder geworden, hatte ganz naiv gedacht, so etwas gäbe es nicht mehr, doch nun sieht er bestürzt „die Soldaten zum Tore ziehen, um – um zu töten“. Er will nicht Soldat werden, er hat Angst, die „Riesenhand“ des Staates, der „Macht über Leben und Tod jedes einzelnen“ hat, würde sich ihm auf die Schulter legen und sagen: „Du kommst auch mit“. Eines Tages ist es soweit, er wird eingezogen und zum Soldaten ausgebildet. Seinen alten Eltern sagt er an dem Tage, als er auszurücken hat, nun sei er nur noch eine Nummer, die auf einer Blechmarke steht. Der alte Vater betet still: „Laß diesen nicht umkommen, Gott! Laß Nummer 3524 nicht umkommen, O – Gott!!“, so als sei das Leben und auch der Krieg eine bitterböse Lotterie. Die Dinge nehmen nun ihren Lauf …
Katarina Botsky hat mit Das Krachen über alle Maßen eine meisterhafte Novelle geschrieben, die den Leser tief ergreift und mitnimmt in die Welt eines Menschen, dessen Geschichte in einem kleinen Haus beginnt und die gewissermaßen auch dort endet. Vom ängstlich von Johann herbeiphantasierten maßlosen Krachen schlägt sie den Bogen über den Soldaten mit der Nummer 3524 in seinem Schützengraben, der inmitten des tatsächlichen Höllenlärms sich nun als Schönstes die Stille vorzustellen vermag, ein „wenig Trost bei der krachenden Todesmusik der Geschütze“, auch wenn die „Angst seiner Kindheit vor einem Weltuntergangskrachen“ in seinem Innern aufgewacht war, bis hin zu der tatsächlichen Stille, die die alten Eltern umgibt, die wie kleine, erstarrte Marionetten in ihrer Stube stehen und unheilahnend auf die Rückkehr ihres Sohnes hoffen.
Höllenlärm und Stille, das Hoffen des Einzelnen und die Macht des Staates, Fülle und Leere, Wirklichkeit und Traum, dies alles verwebt Botsky in die Geschichte eines einfachen Menschen, der wie alle Menschen leben will und seine kleinen Hoffnungen und Wünsche hat. Sie nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, sie spricht aus, was der Staat schlimmstenfalls ist, nicht Schutz der Menschen, sondern im Gegenteil die Riesenhand, die den Einzelnen zu einer Nummer werden lässt und ihn in die Hölle führt und dem Tode preisgibt, und sie spricht deutlich aus, dass der Soldat zu Felde zieht, um zu töten. Rettung scheint nicht denkbar, in keiner Zeile, und auch nicht zwischen den Zeilen, findet sich ein Ausweg, denn auch in dieser Novelle kommt etwa die Religion zwar am Rande vor (wie auch in der Novelle G), doch weder spielt der dicke Religionslehrer mit seinem Martin Luther eine Rolle noch kann das verzweifelte Gebet des Vaters, der Gott um die Schonung der „Nummer 3524″ bittet, eine Wirkung haben. Auch in ihrem Gedicht Die Verkündigung, das der Herausgeber Martin A. Völker dem Band als Prolog voranstellt, erkennt Botsky Gott als tot, so dass auch die Gebete kein Ziel mehr finden können. Es heißt dort: „Immer fliegen noch Gebete himmelan. / O wie traurig dieser Flug ins Leere! / Ihr wißt ja nicht –! Laßt ab!“ Bedenkt man, dass seit je her alle Kriegsparteien den Segen Gottes (und zuzeiten auch den der Kirche) für sich beanspruchen, so ist dieser Ansicht womöglich nicht viel entgegenzuhalten.
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Katarina Botsky: In den Finsternissen. Novellen.
Herausgegeben von Martin A. Völker.
Elsinor Verlag 2012. 108 Seiten. ISBN-10: 3942788071
Volle Zustimmung. „Das Krachen über alle Maßen“ ist wirklich eine sehr ergreifende Erzählung. Dass der einzelne Mensch sich in der Masse auflöst, seine Individualität verliert und zu einer bloßen Nummer wird, das scheint ja eine kollektive Grunderfahrung des beginnenden 20. Jahrhunderts gewesen zu sein. Eine Entwicklung, die dann so folgerichtig wie fatal zum Faschismus hinführte. Welchen Horror aber diese Nummernwerdung des Menschen wirklich darstellt, das hat Katarina Botsky hier sehr eindrucksvoll gezeigt.
Zum „Broatfösch“ und „Botterfösch“: Es ist auffällig, wie viel Dialekt in diesen Novellen gesprochen wird, und doch sind die Texte nie in Gefahr in die Richtung folkloristischer Heimatliteratur abzurutschen. Das ist auch eine hohe Kunst, denke ich, mir gefällt das sehr.
P.S.: Fanden Sie auch die dritte Novelle „Die Amme“ nicht ganz so stark wie die anderen?
Ja, „Das Krachen über alle Maßen“ ist sehr eindrucksvoll, wogegen „Die Amme“ auch meiner Ansicht nach ein wenig abfällt, wobei mir noch nicht ganz klar ist, warum. Vielleicht deswegen, weil die Amme als solche für uns Heutige keine Rolle mehr spielt und diese Figur so nicht die Wucht entwickeln kann wie ein Soldat, der gegen seinen Willen zum Töten in die Welt geschickt wird und seine alten Eltern zurücklässt. Ohne Zweifel ist auch die Novelle über das Schicksal der Amme sehr gut geschrieben, doch es ist eben auch „nur“ ein Einzelschicksal ohne Wirkung auf die Allgemeinheit, wenn auch die Frau ja sozusagen Lebenskraft gegeben hat und Besseres verdient, als im Alter arm und verrückt zu werden. Vielleicht ist auch die Wirkung nicht so groß, weil sich Katarina Botsky nicht wertend in die Geschichte einmischt, sondern die Begebenheit „nur“ beschreibt?
Was den Einsatz von Dialekt und Alltagssprache betrifft, so sehe ich das genau wie Sie. Die tatsächlich gesprochene Sprache wird von Botsky immer sehr passend eingesetzt, nie effektheischend.
Ja, das mag der Grund sein. Unter einer „Amme“ kann ich mir heute tatsächlich nichts mehr vorstellen. Das gibt es heute nicht mehr. Aber Krieg habe ich auch noch nicht erlebt am eigenen Leib (und verzichte auch gern darauf), und fand dennoch das „Krachen über alle Maßen“ einen irre guten Text.
Bin gespannt auf Ihre Bewertung der „Ziehkinder“. Für mich die beste Erzählung des ganzen Buches.
Ich werde mir zunächst einmal „Es ist noch nicht an der Zeit“ etwas näher ansehen, weil diese Novelle sozusagen inhaltlich an das „Krachen über alle Maßen“ anschließt, denn dort taucht ja quasi der zur Nummer gemachte Mensch als ehemaliger Soldat wieder auf. „Ziehkinder“ kommt dann danach, eine tatsächlich beeindruckende kleine Erzählung, die für mich beim ersten Lesen so etwas von einem düsteren Stummfilm hatte.
Lieber Herr Schlinkert, haben Sie zunächst herzlichen Dank für Ihre unermüdliche wie genaue Lektüre, die ich sehr gern nachvollzogen habe. Es ist ja nicht unbedingt selbstverständlich, dass ältere Texte auf solch wohlmeinde Leser treffen. Als Herausgeber stimmt mich das natürlich froh. Bei meinen Nachforschungen bin ich darauf gestoßen, dass Botsky mit E. T. A. Hoffmann verglichen wurde, allerdings mit dem wichtigen Zusatz, dass sie das schadlos haltende künstlerische Jenseits des Romantikers nicht übernimmt. Viel stärker erinnert sie mich freilich an Poe. Vielleicht schafft sie mit ihren Sujets und der Art der Darstellung aber auch ein ganz eigenes Genre, was sicherlich dazu geführt hat, dass sie wenig schulbildend gewirkt hat. Was die „Amme“ anlangt, so mag ich gerade diese Novelle besonders gern, nicht allein deshalb, weil hier so etwas wie ein literarisches Programm aufscheint. Erschütternd ist doch, wie – um es einmal auf den Punkt zu bringen – untere Schichten geradezu ausgesaugt werden. Die Oberschicht benutzt solche Individuen, ohne sich weiter um sie zu sorgen. Die Abgrenzung zwischen reich/anerkannt und arm/missachtet stellt einen Kern all ihrer Novellen dar. Das Schlussbild der „Amme“ halte ich für sehr gelungen und einprägsam. Was mich sehr anregt beim Lesen dieser feinen, kleinen Novellen ist das ungeheuer Bildhafte. Da ist Ihr Wort vom „düsteren Stummfilm“ nicht weit. Beste Grüße auch an den „zweiten Leser“ Herrn Wolf.
M. Völker
Lieber Herr Völker, die Lektüre der Novellen von Katarina Botsky war in jedem Fall ein bereicherndes Leseerlebnis, insofern ist es auch an der Leserschaft, Ihnen für diese Entdeckung und die Herausgabe der Texte zu danken! Botsky ist ohne Zweifel eine Autorin, die nicht nur ihr Handwerk wunderbar beherrscht, sondern eben auch heute noch durch die Wahl ihrer Themen lesenswert ist. Es scheint mir übrigens durchaus nicht notwendig, sie mit anderen Schriftstellern zu vergleichen, auch wenn auch mich einige Texte an E. A. Poe erinnern, während andere an Heinrich von Kleist und wieder andere an Leonhard Frank denken lassen.
Ich habe noch zwei weitere Novellen besprochen, darunter auch „Ziehkinder“, die Herr Wolf als die beste Erzählung des Bandes ansieht; ich wüßte allerdings nicht, welcher ich den Vorzug geben würde. Schön wäre es in jedem Fall, noch mehr von Katarina Botsky lesen zu können!
Ja, vielleicht habe ich „Die Amme“ auch wirklich nicht aufmerksam genug gelesen, denn dass es da um den Antagonismus Oberschicht vs. Unterschicht geht, ist mir beim ersten Lesen tatsächlich ganz entgangen, erscheint mir jetzt aber plausibel, da ich nochmal kurz drübergelesen habe. Und das Schlussbild ist wirklich sehr stark: die Pfefferkuchen wie schwarze Kröten und die roten Bonbons wie Blutstropfen, so kullern die Süßigkeiten, von keinem Kind mehr aufgeklaubt, aus dem Sack dieser nunmehr nutzlosen alten Frau, deren Lebenszweck es doch gewesen war, Kinder zu nähren.
Dass mich die Erzählung dennoch, im Vergleich zu den anderen, weniger angesprochen hat, mag wirklich an Herrn Schlinkerts Argument liegen, dass man mit einer Amme heute nichts mehr verbindet, das gibt es schlichtweg nicht mehr, und ich weiß nichts über die soziale Stellung und dergleichen Konnotationen, die mit diesen Frauen einmal verbunden gewesen sein mögen. Da fehlt mir möglicherweise ein Kontext, der dem damaligen Leser noch völlig geläufig war.
Beste Grüße zurück an Sie beide.