Heinrich Schirmbeck: Ärgert dich dein rechtes Auge / Vortrag (II)

Zum Vortrag, der dann schlussendlich am 14.09.2015 gehalten wurde! => => =>

Ich werde am 14. September einen Vortrag über Heinrich Schirmbecks Roman Ärgert dich dein rechtes Auge (1957, Neuauflage 2005) halten, und zwar in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt („Ärgert dich dein rechtes Auge“, Schirmbecks Roman im Blick der Vergangenheit und Zukunft. ULB, Vortragssaal (UG 1), 20:00 Uhr)

Dazu fortlaufend einige erste Notizen, alles mitunter noch etwas durcheinander, zu kompliziert oder zu unpräzise oder was auch immer – work in progress also …

II) Der einzige mit Optimismus aufgeladene Satz des Romans steht auf Seite 5, die Widmung, nämlich: „Für die kommenden Generationen“; sie bezieht sich auf eben die Zukunft, in der wir alle uns jetzt befinden, in der wir leben, nach der Kuba-Krise von 1962 und dem langen, kalten Krieg von 1947 bis 1989 und schließlich der Auflösung des Warschauer Paktes, der Auflösung also des Ostblocks, wie man in Westdeutschland sagte. Womöglich wäre es besser gewesen, die NATO gleich mit aufzulösen, des Gleichgewichtes halber. Eben dieses, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West als Möglichkeit, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, spielt eine wichtige Rolle in Schirmbecks Roman, und diese Kräfte sind, wie sollte es anders sein auf diesem Planeten, natürlich im Endeffekt immer militärische Kräfte, deren Hauptbedrohungspotential die von der Wissenschaft ersonnenen, allesvernichtenden Bomben darstellen, von der Atombombe bis hin zur Kernfusionsbombe respektive Wasserstoffbombe. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass nicht das Gleichgewicht das Ziel der jeweiligen Partei ist, „Ost“ wie „West“, sondern die Übermacht – das Gleichgewicht der militärischen Kräfte konnte (und kann wieder; Stand 2015) also nichts anderes sein als so etwas wie eine, wenn man so will, friedensstiftende Notlage, mithin das kleinere Übel also.

Warum aber wählte Heinrich Schirmbeck die Form des Romans, diese Thematik  zu behandeln? Warum die Ich-Perspektive, obgleich weder der Ich-Erzähler noch irgendeine andere Figur des Romans eine seelische Entwicklung durchmacht, die aufzeigte, wie sehr er oder sie persönlich mit der Verantwortung ringt? Eine mögliche Antwort findet sich in dem Umstand, dass der Kunstgriff des Romans eben darin besteht, in Thomas Grey nicht nur den Physiker sehen zu sollen, der am Bau von Vernichtungswaffen auch ohne sein Wissen beteiligt sein könnte bzw., wie er befürchtet, ist, sondern auch den Schriftsteller, dessen im Gefängnis verfasste Schrift eben diesen Roman darstellt, in dem alle Argumente aller Seiten in die Handlung verwoben sind. Diese hier aufgezeigte Verbindung von Naturwissenschaft und Literatur zeigt sich dennoch nicht vordergründig darin, der erzählenden Literatur eine Informationspflicht aufzubürden, sondern gründet sich auf die Erkenntnis, nach dem Abwurf der Atombomben über Japan im August 1945 in einer quasi neu definierten Welt zu leben, die neuer Kunstformen bedarf, weil die Technologie der Massenvernichtung, die die Vernichtung allen menschlichen Lebens möglich werden lässt, sichtbar Wirklichkeit geworden ist. Darf die Kunst, darf die Literatur sich dem also entziehen, so die implizit gestellte Frage. Im Roman heißt es: „Für mich hatte die traditionelle Unterscheidung (…) zwischen Dichtung und exakter Forschung, zwischen Mathematik und Literatur nicht jene Gültigkeit, die sie für alle meine Studienkollegen noch besaß“, (Neuauflage 2005, S.97) und weiter an anderer Stelle, „ich wollte an den bestürzenden Offenbarungen der modernen Physik zum Lyriker werden. Ein abstruses, ein phantastisches Vorhaben, ich wußte das!“ (S.99) Geht es unserem Protagonisten und damit dem „eigentlichen Autor“ hier also darum, die Literatur auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit zu bringen, einer Wirklichkeit, in der die Technik eine immer größere, auch bedenkliche Rolle einnimmt bis hin auch zu Robotern, die selbständig agieren? Letzteres, nämlich „goldene Mägde“, die lebendigen Mädchen gleichen, Verstand im Innern, Stimme und Kraft haben und von ewigen Göttern die Werke lernen, finden sich bereits in der Ilias des Homer als künstliche, roboterhafte und zugleich also menschenähnliche Wesen. (Homer: Ilias. 18. Gesang, 417-420.) Bram Stokers Roman Dracula von 1897 ist beispielsweise absolut auf der Höhe der damaligen technischen Entwicklung, und auch bereits um das Jahr 1800 herum schreiben Autoren wie Jean Paul oder E.T.A. Hoffmann auf der technischen Höhe ihrer Zeit. Ein Zeitgenosse Schirmbecks, Halldór Laxness, thematisiert schon 1948 in seinem Roman Atomstation den kalten Krieg und die Ohnmacht des Einzelnen. Woher also Schirmbecks Annahme, die Literatur sei ausgerechnet Mitte/Ende der 1950er Jahre nicht mehr zeitgemäß und man müsse gleichsam einen Sprung machen, um wieder im Spiel zu sein? Ist es, wie angesprochen, allein die Erkenntnis, sich als Menschheit nun selbst vernichten zu können? Die Gefahr, dass nun nur ein Mensch auf den berühmten Knopf zu drücken braucht, um eine selbstvernichtende Kettenreaktion auszulösen? Oder liegt dem – auch – eine zeittypische Missdeutung eines Teils der damals aktuellen Literatur zugrunde, die allein dem L’art pour l’art oder dem Absurden zugeneigt zu sein schien? Wollen wir heute begreifen, in welchem Spannungsfeld Schirmbeck seinen Roman ansiedelte, wollen wir heute als Leser unseren Teil im Lesevorgang dazu tun, um eine lebendige Lektüre zu bewerkstelligen, so müssen wir diese Fragen zu klären suchen, denn der Roman selbst gibt sie uns auf ………

Mögliche Stichworte für Weiteres: Kybernetik, Pascals Rechenmaschine, Dualismus, Spaltung, Teufel, Leukotomie/Lobotomie, Mensch-Maschine, Licht als Welle und Teilchen, Teilchenbeschleunigung, Unschärferelation, Werbung, Propaganda, Psychoanalyse, Boheme, L’art pour l’art, das Absurde, Existentialismus, Feminismus, Mechanopathie, Tanz, Eros, Suizid, Todesstrafe, Spionage, Gleichgewicht der Kräfte …

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