Jeder Mensch kennt Lehrer. Jeder hat einem Lehrer schon einmal etwas wenig Schönes an den Hals gewünscht. Aber ihn entführen? In Hans Henny Jahnns Monumentalroman „Fluß ohne Ufer“ wird einmal ohne weiteren Zusammenhang ein Lehrer namens Sierk erwähnt, der, so das Gerücht, von Zigeunern entführt worden und deshalb nicht zum Unterricht erschienen sei. Der Lehrer in der Novelle von Jan Kuhlbrodt heißt Herr Rudolph und wird von Kollegen wie Schülern Kroll genannt. Und ist entführt worden! Sicher wäre Kroll nie auf den Gedanken verfallen, etwas aus seinem durchgeplanten und geordneten Leben zu berichten, geschweige denn seine innersten Gedanken, seine Gefühle preiszugeben. Nun aber, nachdem er ohne jede Forderung wieder freigelassen wurde, brennt es in ihm. Er muss, so sagt er, seinen Entführer ausfindig machen. Kaum dass er dessen Gesicht gesehen hat – ein Polizeigriff, in einen Lieferwagen geworfen, in eine Halle gesperrt, so lief es ab. Kroll denkt nach, es müsse sich um einen Irrtum handeln, oder er wäre eine Art Übungsopfer. Am meisten irritiert ihn, dass der Entführer ihn Hundsfott nannte, wie jemand, so stellt er sich das vor, der sein Deutsch mit einem alten Lehrbuch erlernte. Vielleicht ein Rumäne? Kroll ist sich bald schon dessen fast sicher. Seine Schüler würden dieses Wort, Hundsfott, nie benutzen, wahrscheinlich kennen sie es nicht einmal. Oder sollte der Rumäne nur Werkzeug gewesen, der Auftraggeber ein anderer sein? Seine Freilassung, dasselbe nur andersherum, Polizeigriff, Lieferwagen, Freiheit, ist verbunden mit dem drohenden Satz des Rumänen, er, Kroll, könne sich an nichts erinnern. Doch Kroll kann sich erinnern. Und er muss den Entführer suchen, er muss wissen, wer er ist. Eingesperrt in der Halle dachte er ja sogar darüber nach, dass sich nach Aufklärung des Irrtums vielleicht sogar eine Freundschaft mit dem Rumänen entwickeln könnte. Womöglich aber, denkt er weiter, ist es einer seiner Schüler, der den Auftrag gab zur Entführung, Schroth vielleicht, der nicht nur in der Körperhaltung an den Rumänen erinnert, sondern auch noch in den Schulpausen spurlos verschwindet. Kroll beginnt damit, Schroth in den Pausen zu beschatten und folgt ihm in ein seltsames Haus hinein …
Jan Kuhlbrodt, 1966 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, zeitweilig Lehrer für straffällig gewordene Jugendliche und heute freier Schriftsteller in Leipzig, entführt den Lehrer Kroll gewissermaßen in den Kopf der Lesenden, die sich im Gegenzug im Kopf Krolls wiederfinden. Kuhlbrodt gelingt es auf ansprechende und lesenswerte Weise, das Ringen des sonst so kontrollierten und gewissenhaften Lehrers für Mathematik und Geographie als einen Kampf um sich selbst aufzuzeigen, der nur über die Suche nach dem Entführer zu betreiben ist. Immerhin hat der Rumäne Kroll am Ende einer für ihn unnützen, nicht erklärbaren Tat unverletzt freigelassen, Grund genug für Kroll, ihm nach dem Geschehen persönlich begegnen zu wollen, ja zu müssen.
Kuhlbrodt verdichtet das titelgebende Stockholm-Syndrom als eine sich erweiternde Wahrnehmungsverzerrung im Kopf des Opfers und als eine Abhängigkeit, einen persönlichen Bezug zum hier unbekannten Täter. Sprunghaftes Denken und absurde, ja völlig unwahrscheinlich erscheinende Erlebnisse, durchsetzt noch mit den kraftlosen Wahrheiten seines früheren Lebens, treten an die Stelle des Geordneten. Und dann hat Kroll am Ende auch noch eine Begegnung mit seinem Alter Ego …
Jan Kuhlbrodt: Das Stockholmsyndrom. Eine Novelle. Elif Verlag 2018. 87 Seiten. 12 €. ISBN 978-3946989066 https://elifverlag.de/
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