Je mehr ich weiß, desto weniger will es mir gelingen, eine eindeutige, fixe Position zu gewinnen. So in etwa ging es mir mein Leben lang bei allen möglichen wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten, am Ende ist man oft der Dumme oder der einzig Ausgegrenzte, der einzig Hinausgeschmissene. Man müsste, so ist zu lernen, eine Machtstellung gewinnen, damit einem zugehört wird, man ausreden darf, aber eben eine solche Machtposition verträgt sich meiner Ansicht nach eben nicht mit einer liberalen und unvoreingenommenen Herangehensweise. Ich stamme ursprünglich aus einem Milieu und einer Weltgegend (Kleinbürgertum und Ruhrgebiet), wo eine solche Haltung zu nichts führen kann, außer dazu, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Deswegen bin ich, der ich aus finanziellen und zeitlichen Gründen zurzeit nicht aktiv mittun kann, positiv überrascht über die Resolution der Mitgliederversammlung des PEN Berlin vom 15. Dezember 2023 mit dem programmatischen Titel Gegen gesellschaftliche Polarisierung und illiberale Tendenzen im Kulturbetrieb. Und weil es so selten ist, dass ich einem fremdverfassten Text vollends zustimme, hier die vollständige Resolution, veröffentlicht auf der Website des PEN Berlin:
Gegen gesellschaftliche Polarisierung und illiberale Tendenzen im Kulturbetrieb
Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel eine neue, besonders blutige Welle der Gewalt in Israel und Palästina ausgelöst. Ein friedliches und gerechtes Miteinander scheint derzeit in weiter Ferne.
Dieser Konflikt polarisiert Menschen weltweit, auch und gerade hier bei uns in Deutschland. Nicht bestritten werden kann, dass der Auslöser der aktuellen Eskalation der durch nichts zu rechtfertigende Terrorangriff der Hamas war. Das ändert nichts daran, dass der Konflikt verschiedene Gruppen unserer Gesellschaft auf unterschiedliche Weise berührt.
Sich entschlossen und unzweideutig gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in diesem Land einzusetzen, ist für uns alle essentiell und wichtig. Der Schutz vor Gewalt und Diskriminierung, der Schutz der Religions- und Meinungsfreiheit ist als Staatsauftrag im Grundgesetz verankert. Er darf nicht exklusiv formuliert werden. In früheren Jahrzehnten haben gerade jüdische Vertreter wie Ignatz Bubis diese universelle Verpflichtung auf die Würde aller Menschen immer betont. Unsere Sorge gilt zurzeit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Wohlergehen aller hier lebenden Menschen. Sozialer Frieden schützt am wirkungsvollsten vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, also auch vor Antisemitismus.
Eine offene Gesellschaft muss es ertragen, dass es unterschiedliche Deutungen desselben Geschehens gibt, die unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse unvereinbar erscheinen. In Deutschland leben nicht nur gut 200.000 Jüdinnen und Juden, sondern etwa gleich viele Menschen palästinensischer Herkunft sowie Millionen Menschen mit muslimischem, arabischem oder nahöstlichem Hintergrund. Die Mehrheit dieser Menschen solidarisiert sich mit dem palästinensischen Anspruch auf Selbstbestimmung, aber nur eine Minderheit von ihnen sympathisiert mit terroristischer Gewalt.
So wie viele Jüdinnen und Juden um Angehörige in Israel trauern, so trauern viele Palästinenser derzeit um Angehörige im Gazastreifen oder sorgen sich um sie. Der Ausdruck dieser Gefühle ist legitim. Hassreden und Hetze oder die Verherrlichung von Gewalt müssen verurteilt und abgewehrt werden. Keinesfalls aber dürfen Trauernde gegen Trauernde, Wütende gegen Wütende, Verzweifelte gegen Verzweifelte gehetzt oder ausgespielt werden.
Für uns Schreibende ergibt sich daraus eine besondere Verpflichtung: Größtmögliche Toleranz gegenüber anderen Meinungen, Standpunkten und Perspektiven. Und besondere Sorgfalt in der eigenen Wortwahl. Das erfordert die Mäßigung, nicht jeder als falsch empfundenen Aussage, nicht jeder schiefen Formulierung sofort geharnischt entgegentreten zu wollen. Es erfordert, einzelne Worte nicht zu roten Linien zu machen, an denen sich angeblich Gut und Böse scheiden. Es erfordert die Geduld, zuzuhören und manchmal die Selbstbeherrschung, lieber nicht zu antworten. Ein friedliches Zusammenleben kann nicht gelingen ohne die Bereitschaft zur Toleranz. Demokratischer Dialog bedeutet, die Meinung des anderen für legitim zu halten, auch wenn man sie nicht teilt.
Zur offenen Gesellschaft gehört eine vielfältige Kunst- und Wissenschaftsszene, die auch Projekte und Forschungen zulässt, die nicht allen gefallen. Wir treten daher illiberalen Tendenzen im Kulturbetrieb entschieden entgegen. Meinungs- und Kunstfreiheit bedeuten dabei kein Recht auf Widerspruchsfreiheit; ein zivilisierter Dialog steht nicht im Widerspruch zu harter Kritik. Jedoch gibt es einen kategorialen Unterschied zwischen Kritisieren und Absagen. Theaterstücke, Ausstellungen und Konferenzen abzusagen, Literatur- und andere Preise abzuerkennen oder auszusetzen, beschädigt die Betroffenen und beendet jede Auseinandersetzung.
In diesem Sinne wollen wir als PEN Berlin uns auch in Zukunft für eine offene, faire, tolerante und angstfreie Debatte in diesem Land einsetzen. Wir wollen Verantwortung übernehmen für die Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens. Daher müssen wir gerade jetzt als Schreibende zusammenstehen und zusammen bleiben, trotz, nein, gerade wegen aller Unterschiede in Meinung und Perspektive. Der Terror zielt darauf ab, demokratische Gesellschaften in verfeindete Stämme zu spalten. Es liegt auch an uns, dieser Spaltkraft zu widerstehen.