ONLINE-ROMAN ‚SCHEERBART / HOLOGRAMM‘

Norbert W. Schlinkert

SCHEERBART / HOLOGRAMM

Roman

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O es fällt ein trüber Regen,
Und verweinte Winde wehn.
Nein, ich will ins Bett mich legen
Und nach meinen Puppen sehn.
 
Spielend form ich aus den Kissen
Weiße brennende Figuren,
Welche mir gehorchen müssen:
Kinder, junge Herrn und Huren.
Klabund: Tapioka

I

Der Punkt ist folgender: Ich habe den Schreibtisch ohne mit der Wimper zu zucken ans Fenster gerückt. Die U-Bahn rattert als Hochbahn vorbei. Wer aus dem U-Bahn-Wagen rausguckt, kann mich sehen. Gäbe es noch so etwas wie Steckbriefe an jedem Zaun und jeder Laterne, ich wäre sicher längst verhaftet. Der Wachtmeister stünde vor meiner Wohnungstür, er wisse genau wer ich sei und dass ich ihm nicht entwischen könne. Widerstand sei zwecklos. Natürlich schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu und entfliehe, Balkon über Balkon, auf’s Dach. Stell’ ich mir so vor. Dabei findet sich nirgends mein Name, weder auf dem Klingelschild oder dem Briefkasten noch an der Tür. Nur Marie-Louise weiß über alles bescheid, über mich, mein Dasein und meine Geheimnisse. An lauen Abenden wie diesem liegt sie mit einem Frotteeschlüpfer bekleidet auf dem Futon hinten in der Ecke und liest Bücher über Otto Müller, Anselm Kiefer, Louise Bourgeois, Rosemarie Trockel und Pipilotti Rist. Ich frage, was diese seltsame Auswahl denn bedeute. „Eine Art Bogen“, sagt sie aus der Tiefe des hinter mir liegenden Raumes, „von der Vergangenheit zur Gegenwart.“ Ich überlege kurz. „Laut Samuel Beckett“, sage ich, „lässt sich über die Vergangenheit am besten in Form des mythologischen Präsenz sprechen.“ Marie-Louise sagt nichts dazu, wie immer, wenn sie denkt, ich redete Blödsinn. Doch Gegenwart und Vergangenheit hin oder her und welche Zeitform auch immer, Tatsache ist, dass wir nun in dieser Ein-Raum-Wohnung Unterschlupf gefunden haben. So eine typische mit einem schlauchartigen Klo. In der Küche eine Pumpdusche mit Plasteschiebetüren. Funktioniert tadellos. Fünf Minuten Warmwasser. Der Flur ist klein und besteht nur aus Türen. Der Wohnraum vier mal fünf Meter mit Balkon zur Schönhauser Allee. Auf dem zehnmal am Tag Marie-Louise, die Zigarette nachdenklich auf Stirnhöhe. Eine zarte Person. So könnte man denken. Doch wer so denkt, täuscht sich. Aber das nur am Rande. Wir haben übrigens noch so einen orangebraunen Kachelofen, der jetzt im Sommer still vor sich hin sinniert und im Dunkeln manchmal säuselt, damit wir ihn nicht vergessen. Einziges Zeichen der Moderne ist der Router im Flur. Wir leben ziemlich spartanisch. Marie-Louise hat die Wohnung für uns gefunden. Eines Tages kommt sie, ich weiß es noch als sei es gestern gewesen, über das ganze Gesicht strahlend ins Café gelaufen, rückt einen der wackeligen, unbequemen Kaffeehausstühle genau in den Weg zu den Toiletten, setzt sich und legt ihre bloßen, ziemlich dreckigen Füße in meinen Schoß. Sie trägt nicht gern Schuhe. Sie habe einen Eigenbrötler kennengelernt, sagt sie laut, worauf ich leise zurückfrage, ob ich richtig verstanden hätte. Eigenbrötler? „Wir können seine Wohnung haben, er zahlt Miete, Strom, Flatrate und so weiter. Wir überweisen den Gesamtbetrag.“ Ich bin skeptisch und frage, ob es da nicht weitere Gegenleistungen gäbe, worauf mir Marie-Louise erklärt, sie habe eine Tante in Ipsach mit Einliegerwohnung, Garten und ein paar Hunden. Der Eigenbrötler habe mit der Tante telefoniert und sei auch schon fort, gleich mit dem nächsten Zug. Sie grinst breit und drückt ungeniert ihre Zehen in meine Weichteile. Was mag das für eine Tante sein, überlege ich. Doch noch bevor ich weiter fragen kann, springt Marie-Louise auf die Füße und ist auch schon wieder weg. Auf dem Tisch, halb unter meinem Buch, liegt ein Zettel mit der Adresse, dem Namen auf dem Klingelschild, F. Jung, und einer Uhrzeit, 20 Uhr 30. Die Einzugsdaten. Erleichtert sehe ich mich im Café um. Endlich gehören wir dazu! Mein Blick trifft sich mit dem der jungen Bedienung im froschgrünen Kleid. Sie lächelt. Ich bin der mit den vielen Büchern und dem Kamillentee. Der mit der Frau mit den bloßen Füßen. Was sie nicht weiß, dass wir bisher fast jede Nacht woanders schlafen. Mal umsonst, mal gegen ein paar Euro. Meist auf einer Schlafcouch oder in der Küche auf dem Boden, manchmal auch im Atelier irgendeines Künstlers in Weißensee, wenn da nicht grad übelriechende Chemikalien aufwendig hergestellte Kunstwerke zerfressen. Der neueste Schrei auf dem Kunstmarkt. Sozusagen Edvard Munch auf die Schnelle. Man hat ja keine Zeit mehr, heutzutage, denke ich jedes Mal, wenn ich mir mit gespieltem Interesse den Kram ansehe. Nun aber Wohnen. Ein Dasein. In den Prenzlauer Bergen! Ich bestelle zur Feier des Tages einen weiteren Tee, klappe aber schließlich das Buch zu, lehne mich gemütlich zurück und betrachte die Bedienung. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich. Sie heißt Nadja. Das Kleid reicht ihr bis Mitte der muskelgestählten, braungebrannten Oberschenkel. Beugt sie sich nach vorne, um das Tablett mit leeren Gläsern und Tassen über den Tresen zur Spüle zu schieben, deutet sich unter dem groben, festen Stoff ihr Hintern an. „Seht her“, sagt er jedes Mal, „wie wohlgeformt ich bin, wie schön!“ Schön aber ist vor allem der blonde Flaum auf ihren Beinen im abendlichen Gegenlicht. Als ob ein leichter Wind durchginge. In Gedanken streichele ich zart ihre Schenkel. Sie lächelt mich an, als habe sie meine Gedanken erraten. Marie-Louise errät nie etwas. Sie ist Künstlerin auf dem Weg zum Erfolg. Manchmal, wenn ich mir ihr geschäftstüchtiges Tun so ansehe, denke ich, das Leben ist ohne jede Poesie. Und dabei war vor nicht einmal hundert Jahren sogar der technische Fortschritt die poetische Antwort auf alles Nichtpoetische. Oder etwa nicht! Es gab Tote. Sicher. Aber das ist immer so. Doch die Lebenden ließen sich nicht beirren. Heute, ein Jahrhundert später, ist der Mensch der Sklave alles Technischen. Die Menschen sind stumm, taub und tumb gegen alles Besinnen. Das ist die traurige Wahrheit. Nur gelehrt wird sie noch, die Poesie, in Kübel hinein. Am Ende ist alles Kalauer. So wie mein Untergetauchtsein eine Kalauerei ist. Man kann das übertrieben finden. Niemand aber kennt mich hier im Haus, so wie auch niemand F. Jung kannte. Das ist die Hauptsache. Die Leute im Treppenhaus nicken mir zu, wie sie jedem zunicken, und sagen Hello, alles us-amerikanische Jungs und Mädels, boys and girls, die von ihren reichen Eltern zum Hörnerabstoßen nach Berlin geschickt worden sind. Theme Park Berlin. Die zahlen jede Miete. „I’m Goofy, it’s my nickname“, säuselt mir einer in kurzen Hosen und Sneakers gleich am ersten Tag auf halber Treppe zu, der mal abgesehen von der fehlenden schwarzen Hundenase in der Tat so aussieht wie der lange doofe Kumpel von Mickey Mouse. „Hey“, sage ich, „I’m Arno, nice to meet you, and I’m so glad, und da bin ich sicher nicht der Einzige, dass ihr jetzt anderswo die Zivilisten bombardiert. Echt nett, die Leute einfach nur lebendig aus dem Kiez zu vertreiben. Thank you for that!“ Er lacht verkniffen, läuft die Treppe hoch, schließt hastig seine Wohnungstür auf und weg ist er. Der Hundsfott! Oder habe ich mir das nur ausgedacht? Das mit dem Amerikaner? Unter uns wohnt jedenfalls Frau Stein. Sie ist schon älter und schwerhörig und dreht am Sonntagmorgen den Fernseher voll auf, wenn die Messe läuft. Keine Ahnung, ob protestantisch oder katholisch. Es wird gesungen und gebetet. Sie hat mich aber gleich gefragt, als sie mich zum ersten Mal sah, ob das in Ordnung sei. Ich sagte ja, klar, und seitdem beben jeden Sonntag ab halb zehn die Dielen unter unseren Füßen, mal in Orgel, mal in Trompete, mal mit Chor, mal ohne. Ihre ältere Schwester, das erzählte sie noch, wohne seit Jahrzehnten in Prag, schon zu Ostzeiten, und sei inzwischen auch schwerhörig, also schreibe man sich eben wieder mehr Briefe statt zu telefonieren. Eine nette ältere Dame ist das. Sie lässt uns in Ruhe, von der Messe mal abgesehen. Marie-Louise sagt, die eine Woche ist es ein evangelischer, die andere ein katholischer Gottesdienst, ob ich das denn nicht unterscheiden könne! Da hat sie einen Wissensvorsprung, wie es aussieht. Ich drehe den Kopf und sehe sie an, wie sie da so im Schein der Stehlampe in einem Buch liest, der nackte Bauch mit seinem kleinen Speckhügelchen wirft Falten und die linke Brust liegt auf ihrem Oberarm wie zur Ruhe gebettet, das linke Bein ist ausgestreckt, das andere angewinkelt. Eine kleine dürre, unscheinbare Person, in die ich mich da verliebt habe. Für die Arbeit aber steckt sie ihre Füße in plumpe Pumps, und die machen aus ihren Kinderbeinen stramme Frauenbeine. Der Hintern hebt sich. Die gut zehn Kilometer zur Universität der Künste fährt sie mit dem Rad. Ihre Baseler Professorin hat ihr die Stelle vermittelt, um die Abschlussprüfungen zum Master of Arts in Fine Arts gleich mal mit der Praxis zu verbinden. So läuft das. Auf jeden Fall hat sie eine feste, seriöse Stelle für zwei Semester, für mich Grund genug, mein gesamtes Geld auf ihr Konto zu überweisen. Sinn der Sache ist, nirgends mehr aufzutauchen, kein Konto zu haben, keine Steuernummer, keine eigene Mobilfunknummer und so weiter. Für etwaige Krankheitsfälle kennt Marie-Louise in Berlin einige Ärzte verschiedener Fachrichtungen. Anwälte übrigens auch, so als Schweizerin aus Bern ist das normal. Überhaupt hat sie einen ganzen Haufen Verwandte im großen Kanton im Norden. Bis rauf nach Karlsruhe und darüber hinaus. Hat sie mir alles sofort erzählt, als wir uns kennenlernten in Basel. Vor einem Jahr. Jetzt bin ich hier, wir sind hier, Berlin, Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee, Vorderhaus, zweites Obergeschoss. Gut achtzig Kilometer entfernt von dem Ort, an dem das groß angelegte Kunstprojekt namens Amphitryon Komplex seinen Platz hat. Was das ist? Gute Frage. Doch ich bin nur der Unwissende, der Übertölpelte, in jedem Fall aber eine Figur am Rande, die nicht eingeweiht war. In was eingeweiht? Die entscheidenden Fragen! Es kommt vor, dass ich tagelang nicht an Alkmene, Karl und Max oder an Amphitryon denke. Irgendwann, so aus der schönsten Entspannung heraus, kommt es mir aber immer wieder hoch und ich sage zu Marie-Louise, dass wir vorsichtig sein müssen. Unruhig werde ich und stehe auf, gehe herum, blase Zigarettenrauch auf den Schreibtisch und beobachte mit zusammengebissenen Zähnen, wie das zarte Gespinst samtig und weich darüber hinwegrollt. So auch jetzt. „Ich kann mich in Bad Wutzenwalde jedenfalls nicht mehr blicken lassen“, sage ich, „da bin ich bekannt wie ein bunter Hund, das ist ein winziges Städtchen, da gibt es nichts weiter als die Bäckerei, die Fleischerei, die Post in einem Fernsehfachgeschäft, ein Bootsverleih und ein Moorbad am Stadtrand“, so sage ich, worauf Marie-Louise den Mund spitzt und zum ersten Mal überhaupt etwas sagt zu all dem, nämlich dass man in Bad Wutzenwalde weder sie, Marie-Louise, „noch  deinen Zwillingsbruder kennt! Den nicht!“, worauf ich wieder sage, ich hätte aber keinen. Sie schweigt und wartet, bis bei mir der Groschen gefallen ist. Sie lacht. „Nicht dein Ernst, oder?“, sage ich. „Doch! Mein voller Ernst!“, so wieder sie, „du bist in Bad Wutzenwalde auf der Suche nach deinem Bruder, deinem Zwilling, irgendwas Wichtiges steht im Raum, da fällt uns schon was ein.“ Ich war ganz baff, bin es noch und bekomme Schweißausbrüche, wenn ich über die Sache nachdenke. Wir arbeiten daran. Ich an mir vor allem. Ich muss, soll die Sache durchgezogen werden, schauspielern. Mich selbst spielen, meinen Zwillingsbruder spielen. Geheuer ist mir das Ganze nicht. Ich mache mir eher zu viele Gedanken als zu wenige. Fragen tauchen auf, mehr als mir lieb sind. Was zum Beispiel weiß Arno von mir, seinem Zwillingsbruder, was weiß er nicht, in welchen Punkten täuscht er sich? Was weiß er sicher? Und was weiß ich über ihn? Wichtige Fragen, ohne Zweifel! Und wenn ich tatsächlich auf dem Gutshof bin, denn da muss ich hin, will ich etwas herausbekommen, verrate ich mich dann nicht, wenn ich Dinge allzu selbstverständlich tue? Einen versteckten Lichtschalter betätige zum Beispiel. Oder eine knarzende Stufe wie selbstverständlich meide. Marie-Louise sagt, ich dächte zu viel nach, worauf ich erwidere, sie kenne Alkmene nicht, die sei das Misstrauen in Person. Und wer wisse schon, ob sie nicht in Wirklichkeit eine ganz andere ist als die, die ich zu kennen meine. Was, wenn sie die Künstlerin nur spiele? „Immerhin“, so sage ich abschließend zu Marie-Louise, sie wird unruhig, ihre Augen flackern schon, „haben wir nun diese Wohnung“ Sie nickt, holt tief Luft und vertieft sich in ihre Bücher. Ja, denke ich, die Hochbahntrasse wieder in den Blick nehmend, die Wohnung als sicherer Hafen, sozusagen als unser Hauptquartier. Das ich allerdings kaum verlasse. Sicher, Berlin ist groß genug, um nicht an jeder Ecke in einen Bekannten zu rennen, dennoch aber bin ich während der Zeit, die ich tagsüber im Café verlebte, lesend, meinen Tee trinkend und von Nadjas muskulös-flaumigen Oberschenkeln träumend, einmal auch erkannt worden. Von Eduard Raban. So schnell geht das. Er setzte sich umstandslos zu mir an den Tisch und begann ein Gespräch. Als sei ich nie fort gewesen. Es machte fast hörbar wusch und ich war wieder der von früher, der Kerl vor der Amphitryon-Sache. Ich sah ihn an. Das runde, böhmische Gesicht, die Nickelbrille, die kurz geschorenen blonden Haare als Kranz um die Glatze, das karierte, weit aufgeknöpfte Hemd, die schmalen Lippen, das charmante Lächeln. Ohne Zweifel Eduard! Er erzählte von seiner kleinen Wohnung in Prag, fast immer an Touristen vermietet, und dann schreibe er natürlich noch. Und so weiter. Ein Mensch, dachte ich immer wieder, ein Mensch, ein richtiger Mensch! Ich winke einmal kurz der U-Bahn auf ihren Stelzen zu. Wie so oft sind Kinder zu sehen, die auf den längs der Fahrtrichtung eingebauten Sitzbänken der U 2 knien und, den Kopf in beiden Händen, in die Welt hinausstieren. Zum Winken ist eigentlich keine Zeit, es geht zu schnell, und ein Zurückwinken kann überhaupt nicht gelingen. Die U-Bahn ist zwischen zwei Stationen und hat Tempo. An den Türen stehend Erwachsene. Manchmal stelle ich mir vor, Alkmene stünde dort und sieht mich eine Sekunde. Was würde sie tun? Stände sie binnen zehn Minuten vor meiner Tür? Ginge sie wie eine Furie auf mich los? Oder drohte sie mit irgendwelchen Anwälten? Zuzutrauen ist ihr alles. Sie hat eine Menge zu verlieren, wenn ich denn recht habe mit meinen Vermutungen. Meinem Verdacht. Ich habe übrigens keine Ahnung, ob Amphitryon (ich bleibe bei den Projektnamen) leibhaftig zurückgekommen ist auf den Gutshof. Ich weiß es nicht. Womöglich ist er von Basel aus nach Italien. Ist fort. Egal wohin. Ich aber werde nun auf jeden Fall, will ich etwas herausbekommen wollen, wieder hin müssen nach Bad Wutzenwalde, dorthin, wo ich drei Jahre lang Teil dieses Projekts war. Amphitryon Komplex. Groß aufgezogen, als das Fördergeld floss, vor allem von der Eric und Olja Kübler-Balgbützel Stiftung. Eine gute Idee, die ganze Sache, so dachte ich ganz zu Beginn und lange noch. Mit Herzklopfen hatte ich den Vertrag unterschrieben, in einer Kneipe in Kreuzberg, und fröhlich mit allen angestoßen. Ich war guter Dinge, damals. Alle waren guter Dinge. Jetzt aber sage ich in den Raum hinein, noch habe es keine Toten gegeben, aber das sei nur eine Frage der Zeit. Marie-Louise erwidert, ohne aufzublicken, ich übertriebe maßlos und nähme die Sache zu ernst. Ich wende meinen Blick wieder dem Hochbahnviadukt zu. Immer, so denke ich, nähert sich eine Bahn. Eine beständige Annäherung. Als ich mich umdrehe, um Marie-Louise diesen Gedanken mitzuteilen, steht sie mit dem Rücken an der Wand und macht ihre Übungen, Schulter, Arme, Rücken, alles ganz langsam. „Alkmene ist besessen, Marie-Louise“, sage ich, als hätte sie mir eine Frage gestellt, „ganz und gar besessen, nur weiß ich noch immer nicht, wovon eigentlich. Und was hinter all dem steckt. Damals hielt ich ihre ständige Anspannung für ganz normale künstlerische Leidenschaft.“ Marie-Louise schweigt und streckt sich in die unmöglichsten Figuren hinein. Einmal knackt es im Schultergelenk. „Die Wahrheit ist, Arno“, sagt sie endlich, „dass dein Künstlerpaar mit Dir und allen anderen zusammen aus dem Amphitryon-Mythos banalen Kitsch gemacht hat. Nicht mehr, nicht weniger. Die Welt hat das nie interessiert. Das ist die Wahrheit und womöglich auch die ganze Geschichte.“

II

Manchmal begegnen sich die U-Bahnen genau vor meiner Nase. Die Richtung Alexanderplatz und die nach Pankow. Urplötzlich tauchen sie auf, passieren sich in schnellem Takt, ein Starren, dann das Hochbahnviadukt wieder leer und der Häuser gegenüber blinde Scheiben. Oft warte ich auf nichts anderes als auf diese exakte, mittige Begegnung der Bahnen in meinem kleinen Ausschnitt der Welt. Nie geschah es zwei Mal nacheinander in all der Zeit, nicht passgenau. Ich sehe hinaus. Ich warte. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich bringe nichts zustande, ich schreibe nichts auf von all dem, was mir im Kopf schwirrt. Denn wo ansetzen, frage ich mich, während alle paar Minuten eine Bahn vorbeidonnert, wen denn nun was und vor allem wie erzählen lassen? Und geht das überhaupt, aufschreiben, was wer wie und wann und warum erzählt, sagt, erwidert? Das waren die Fragen, die mich quälten. Der Text selbst würde sie beantworten. Sobald er entstünde. Ein klassischer Fall von Deduktion, soweit ich das überblicke. Mehr festzustecken war demzufolge nicht möglich. Ich schrieb keine Zeile. Nichts über meine Zeit als Sosias, so mein Projektname in Bad Wutzenwalde. Nichts über das Projekt selbst: Amphitryon Komplex. Und erst recht nichts über meine Zweifel und Ahnungen. Ich fand die Worte nicht – oder nein, die Worte wussten sich selbst nicht, wussten nicht, was bedeuten, fanden den Weg nicht aus meinem Kopf hinaus auf das Papier vor meinen Augen, unter meinen Händen. Der Plan allerdings, nach Bad Wutzenwalde zu fahren und mich dort als mein eigener Zwillingsbruder auszugeben, ist bereits wieder perdu. Eine dumme Idee. Ich hatte mich verrannt, hatte mich anstiften lassen von Marie-Louise. Mitunter versuchte ich mir sogar einzubilden, all dies – Bad Wutzenwalde, der Gutshof, das Projekt, Alkmene und Amphitryon – sei nichts weiter als eine Hirngespinsterei. Ich selbst ein Hirngespinst. Ein Gespenst meiner selbst. Doch konnte das sein, fragte ich mich immer wieder, kann ein Hirn sich derart differenziert etwas ausmalen und auf diese Weise Texte, Melodien, ganze Gespräche erfinden, Menschen, Orte, Maschinen und Mechanismen? Ja, es kann. Sicher. Robert Musil weist immerhin ganz zurecht darauf hin, wenn ich das hier einfügen darf, dass nicht der Autor eines Romans die Figuren zum Leben erweckt, sondern diese sich selbst erschaffen. Auch Jean Paul äußert sich ein Jahrhundert zuvor in diesem Sinne. Sich selbst erfinden. Aus dem Nichts. Weil es nämlich möglich ist. Da sind wir, die Figuren, die Menschen, die Seelen des Romans! So entsteht aus dem Möglichkeitssinn eine Wirklichkeit, und zwar ganz ohne dass es eines Wirklichkeitssinnes bedarf. Bingo! Nur die wirkliche Wirklichkeit des Schreibens, die muss es wirklich geben, denn eine literarische Figur schreibt sich nicht selbst – geschrieben werden muss sie. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Und der Hund begraben. Mit Marie-Louise spreche ich selten über diese Dinge. Ich will nicht, dass sie mich für verrückt hält, und überhaupt ist sie tagsüber jetzt immer an der Uni, während ich zuhause am Schreibtisch sitze, beherrscht von dem Gedanken, wie aus drei Jahren Arbeit in Bad Wutzenwalde nichts weiter wurde als ein mäßig erfolgreiches, ja imgrunde weithin ignoriertes Kunstprojekt, von dem ich nun nicht einmal berichten kann, wie es aussieht, obwohl ich ja aus all dem Geschehenen die Vermutung ableite, dass da etwas nicht stimmt. Nicht stimmen kann! Marie-Louise hieß mich, als ich mich heute Morgen wieder einmal darüber beklagte, lachend ein Sensibelchen. So laufe das nun mal im Leben, auch im Kunstbetrieb, und man könne nicht jedes Mal gekränkt sein oder Verschwörungstheorien nachhängen, wenn etwas nicht grandios werde oder Preise gewinne. Doch was denn eigentlich, apropos, aus dem Doppelgänger geworden sei, meinem Zwillingsbruder, den zu mimen ich doch üben wollte. „Ja“, sagte ich wahrheitswidrig, „ich übe!“ Obwohl ich es nicht tue, sondern allein hier sitze und verzweifele. Also nichts, kein Text, kein Roman, kein Bericht, keine Erkenntnis, nur die ewigen U-Bahnen, hin und her und her und hin.

Am nächsten Morgen jedoch änderten sich die Dinge! Ich lag noch im Bett, Marie-Louise war eben aus der Tür und polterte das Treppenhaus hinunter, als die vorbeifahrende, von der Sonne grell bestrahlte U-Bahn nach Pankow alle anderen Geräusche überrumpelte und zugleich reflektierend die schmutzig-weiße Stirnwand unserer Behausung gelblich bestrich. Ein morgendlich wiederkehrendes sommerliches Schauspiel, gut ein Dutzend U-Bahnen strahlen herein, wenn denn nur die Sonne prall genug und von der richtigen Stelle aus vom Himmel scheint. Ich beschließe, noch ein wenig liegen zu bleiben. Ich döse vor mich hin. Die nächste U-Bahn fegt über die Wand. Ein gelber Strom, den ich blinzelnd über mich ergehen lasse. Plötzlich aber erscheint Alkmene im Zimmer. So als sei sie eben durch die geschlossene Balkontür eingetreten. Ganz deutlich erkennbar. Alkmene. Lichtübergossen. Lichtdurchstrahlt. Ich springe ohne zu zögern auf und gehe zwei Schritte auf sie zu, die mich starr ansieht, berühre sie an der Schulter, greife aber durch sie hindurch. Ein Hirngespinst, denke ich sofort, ein wahrhaftiges Hirngespinst, die reinste Vorstellung! Ich will es weglachen. Alkmene weglachen aus unserer Wohnung. Doch es kommt nur ein Krächzen aus meiner Kehle. Das gelbe Licht erlischt im selben Augenblick, ich schließe die Augen, aber nicht der Straßenlärm ersetzt den der U-Bahn und nimmt seine Stelle ein, sondern Stille. In der Ferne so etwas wie Vogelstimmen. Gezwitscher. Ich horche. Ja, Vögel. Das Rauschen von Blättern. Irritiert öffne ich die Augen und sehe mich selbst im sogenannten Gutshaus in Wutzenwalde stehen, im großen Wohnraum, von schräg oben aus einer der Ecken sehe ich mich, in denen die Kameras installiert sind, ich sehe mich, so als sei ich die Kamera. Panik steigt in mir auf und packt mich bereits an der Kehle, doch dann bin ich mit einem Male wieder ich selbst. Ich atme auf und kneife mich in den Unterarm. Es schmerzt, das schon, aber es hilft nicht. Wie ich feststellen muss, bin ich tatsächlich im Wohnraum des Gutshauses. ich erkenne die Sitzecke hinter dem offenen Fachwerk, erkenne die in die historischen Mauern hineinverbrochenen, von der Decke bis zum Boden reichenden französischen Fenster, den großen Tisch im Hintergrund. Ich träume! Träume mich zu kneifen, träume aufzuwachen, träume weiter zu träumen. In Wirklichkeit stehe ich in unserer Wohnung vor dem Bett und habe kurz zuvor versucht, das Scheinbild Alkmenes an der Schulter zu berühren. Ich griff hindurch, die Erscheinung verschwand, ich also noch dort stehen und ich mich also nur zurück ins Bett fallen lassen muss, um wieder klar zu werden im Oberstübchen.

Mit dem Hinterkopf auf dem nackten Boden aufgeschlagen. Es schmerzt fürchterlich. Der ganze Leib schmerzt. Ich öffne die Augen. Über mir eine Kamera. Spöttisch mich einäugig anstarrend. Deren Auge mir, das weiß ich, surrend folgen wird, bewege ich mich. Bis eine andere Kamera mich erfasst. Viele weitere, kleine Kameraaugen in allen möglichen Ecken und Winkeln des Gutshauses. Karl und Max, auch Jupiter und Mercurius genannt, sprachen immer von einer Sintflut an Daten, die sie zu verarbeiten hätten. Ich tat unbeeindruckt und war es auch. Habe denn nicht auch ich mit einer Sintflut zu kämpfen, mit Worten, Begriffen, Bedeutungen und all den möglichen Verknüpfungen und Konstellationen und zudem mit dem ganzen Zeugs zwischen den Zeilen! Diese technischen Menschen glauben immer, sie wären uns überlegen, dabei sind sie es doch, die sich selbst abschaffen und Büttel der Technik sein werden, bald schon. Oder jetzt schon. Und Alkmene? Sie steht draußen auf der Terrasse, den Rücken mir zugewandt, die Zigarette wie immer leicht zitternd zwischen Zeige- und Mittelfinger, der rechte Ellenbogen ruht in der linken Hand. Windstille. Ich erinnere mich: ein ganz bestimmter Tag, ein ganz bestimmter Abend. Jetzt. Oder wieder jetzt? Kein Lüftchen weht, die Bäume und Büsche am Hang starr, wie gemalt, drückende Hitze. Alkmenes Blick ins Weite gerichtet. Die Landschaft ihr zu Füßen. Sanfte Hügel abwärts zum See hin, von dem im Sommer von hier aus nichts zu sehen ist. Ihre hohe, weiße Gestalt. Buchen, Linden, Weiden, unten am See auch Birken und Erlen. Eine einsame Eiche. Die Wiesen vereinzelt hier und da sattgrün, meist aber schon sommerlich verdorrt, strohig. Quer über den Hang wie eine Narbe der gewundene Weg. Nie sah ich jemanden ihn gehen. Jenseits des Sees Strommasten und, kaum zu erkennen im Dunst, zwei Dutzend Windräder, die, so dachte ich jetzt wieder, der Landschaft das Gesicht geben, das sie verdient. Auf Alkmenes immerwährende Klage hin, ich erinnere mich, man verderbe in Deutschland die Landschaften, hatte ich einmal erwidert, die Felder, Nutzwälder, die Straßen, Eisenbahntrassen und Strommasten und die in ihr Bett zu Tode gepressten Flüsse, die Kanäle und auch das Schiffshebewerk ganz in der Nähe, all dies sei doch faktisch Industrie. Und zwar lange schon. Unübersehbar. Sie schwieg dazu. Mein Blick, scheint mir, trifft sich den Bruchteil einer Sekunde mit dem eines Kindes in der Bahn Richtung Pankow, ich erkenne nicht, ob Junge oder Mädchen, dann Hinterköpfe und dann Leere. Ich muss mich täuschen. So oder so.

Ich kneife mich in den Arm, es schmerzt, und dann trete ich hinaus auf die Terrasse. Die Hitze umfängt mich, so als habe sie nur auf ein weiteres Opfer gewartet. Dachte ich das schon damals, das mit der Hitze und dem Opfer, oder denke ich das jetzt? Ist Damals und Jetzt eins? Schräg hinter Alkmene stehend, den Kopf im Schatten, den Körper im gleißenden Licht, zünde ich mir eine Zigarette an. Der Schweiß dringt mir aus allen Poren. „Ich fühle mich sicher“, sagt Alkmene jetzt ganz leise wie zu sich selbst, „mit all diesen auf uns gerichteten, uns verfolgenden Kameras, denen nichts entgeht. Keine Bewegung, kein Ausdruck. Das ist wunderbar! Das Gegenteil vom Erwarteten ist eingetreten, es ist fast so, als passte ich in dieser Weise auf mich selber auf. Manchmal, wenn ich schlaflos bin, sehe ich mir die Videoaufnahmen des Tages an und werde zugleich wieder gesehen von all den Kameraaugen, durch die die Welt mich sieht.“ Sie nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch senkrecht nach oben. Ich sage nichts. „Die folgende Nacht, Sosias“, fährt sie fort, „wieder schlaflos, sehe ich mir dann erneut beim Beobachten meiner selbst zu. Denk dir nur, ich werde so immer eindeutiger ich selbst als je zuvor. Nach innen geht der Weg. Ja! Ich werde mehr und mehr mein eigenes Ich. Als Mensch und als Geist und als eine Projektion. Das Außen bleibt als Schattenwelt zurück, wie einst Novalis schrieb. Die Tiefen unsers Geistes, so schrieb er, kennen wir nicht, nach Innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt. Das sagt Novalis in Blüthenstaub. Wir sprachen einmal darüber, weißt du noch, Sosias? Amphitryon kann das nicht verstehen. Er ist kein Leser, er ist anders als du und ich. Du begreifst alles, das Projekt, die Kunst, den Sinn darin, mich.“

Die Hitze des nicht enden wollenden Sommers. Ich erinnere mich. Sie wirbt um mich, dachte ich, denke ich, um des Projektes, um ihrer selbst willen. Ich kannte das alles, diese Sätze aus einem ihrer Vorträge, das gehauchte Pathos. Wusste sie denn wirklich nicht, wie sinnlos das war? Am Morgen eben diese Tages hatte Alkmene die Entscheidung getroffen, die geplante Beendigung der Videoaufzeichnung unseres Lebens auf dem Gutshof zu verschieben. Den Übergang zur infinitiven Phase vorerst abzusagen! Und das, nachdem alles bis ins Kleinste geplant und von mir schließlich in Texte gegossen worden war. Zunächst solche, die die Form von Antragsprosa hatten, ganz zuletzt Pressemitteilungen, die bedeutungsschwangerer nicht hätten formuliert sein können. Doch nun würden, anders als vorgesehen, die Kameras im Wohnraum und auf der Terrasse weiter in Funktion bleiben. Die Übertragung in alle Welt per Internet ginge weiter. Dabei ist die Beendigung des Blickes auf uns Menschen, des Blickes aus der Götterperspektive gewissermaßen, ein absolut zwingender Teil des Projekts. Immer gewesen. Das Ende ist die Botschaft! So war es gedacht und konzipiert gewesen. Wir Menschen hier unten. Die Götter dort oben, die immerzu wissen, was der Mensch tut. Am Ende des Stückes aber, unseres Stückes, würde es dann eben nicht zu einem Deus ex machina kommen. Kein Gott soll, kein Gott darf durch ein Machtwort oder durch eine göttliche Tat den Konflikt lösen, so wie dies in der Tragikomödie Amphitryon des Plautus und in so vielen antiken Dramen stattfindet. Eben dies wollten wir doch ändern, es endlich anders haben, es als Möglichkeit auslöschen! Arbeit am Mythos! Den Göttern das Wissen abschneiden! Das entscheidende Blatt in die Hand bekommen. Es ausspielen. Uns selbst zwar auch Doppelgänger erschaffen, wenn wir es denn wollen, so wie dies Jupiter tat aus eigenem Willen heraus, als er Alkmene in Gestalt ihres Gatten Amphitryon erschien. Was hatten wir nicht philosophiert, Alkmene, Amphitryon und ich, über das Erschaffen von Doppelgängern in den Amphitryon-Stücken all dieser vielen Autoren, die Plautus folgten! Und immer waren es naturgemäß die Götter, die als Doppelgänger auftraten, zum eigenen Vorteil und gegen die Interessen der Menschen. Jupiter, der Amphitryons Gestalt annimmt, um in langer Nacht Alkmene zu verführen und zu schwängern! Um Herakles zu zeugen, den Zwillingsbruder des Iphikles, der indes von Amphitryon gezeugt wurde. Eine Doppelschwangerschaft, die einer göttlichen Anmaßung entsprang. Einer Anmaßung, die wir brechen wollten! Indem wir am Ende unsere eigenen Doppelgänger schaffen, als Bilder, als Hologramme, und dies alles ohne Schaden anzurichten, rein aus Lust! Das war die Idee, das war der Plan gewesen. Alkmene aber hatte alles zerstört an diesem Morgen. Ausgerechnet sie. Mit einem Federstrich. Einer Fortsetzung über das zwingende Ende hinaus. All die jahrelange Arbeit war plötzlich umsonst, so dachte ich dort auf der Terrasse, im Rücken von Alkmene stehend, die Planung, die Anträge, die Finanzierung, die Ausarbeitung, die Installation der Technik, die Broschüren. Ganze Tage auch mit Sponsoren. Die reinste Quälerei, doch für Alkmene ist so etwas immer eine Feier gewesen, sie liebt das Aufrufen hoher Geldbeträge, final praktiziert im zum Abschluss der Gespräche mit den Geldgebern privat gemieteten Restaurant in Charlottenburg. Die Herren der Werbeabteilung des deutschen Autokonzerns nahmen es lässig, rauchten wie Alkmene trotz Rauchverbot, zogen ihre teuren Jacketts aus und lockerten die Krawatten. Amphitryon hingegen ganz pragmatisch, Jupiter und Mercurius absolut selbstsicher, Könige ihrer Technikwelt. Ich aber quälte mich. Statt mir Notizen zu machen, wie ich sollte, wer weiß, sagte Alkmene, was die alles von sich geben, kritzelte ich nichts weiter als Strichmännchen in mein Notizbuch. Gute Miene zum bösen Spiel. Nicht mal rausgehen zum Rauchen konnte man. Der Übergang zur zweiten, infinitiven Projektphase, Alkmene erklärte es den Herren damals noch einmal ausführlich, ich erinnere mich, sei die Finissage in Basel. Das sei definitiv der epochemachende Übergang in das Zeitalter, in dem wir uns, so Alkmene, alle selbst begegneten. Sich selbst, dem eigenen Ich begegnen. Dem Doppelgänger. Hergestellt aus Daten, die kein anderer Mensch besäße. Eben an dieser Stelle ergriff ich damals das Wort. Alkmene zuckte zusammen, sagte aber nichts. Ich erklärte, wie ausgesprochen gefährlich es sein könne, sich selbst zu begegnen. Dies zeige sich etwa in Jean Pauls Roman Titan, wo Leibgeber, aus dem früheren Roman Siebenkäs, der hier nun Schoppe hieße, sich im Sinne des Wortes zu Tode erschreckt, weil er sich vermeintlich plötzlich seinem anderen Ich gegenübersieht, während dieses Ich aber nur sein Freund Siebenkäs ist, der ihm bis aufs Haar gleicht. Die Herren lächelten, Interesse heuchelnd, sie verstanden kein Wort. Schoppe beziehungsweise Leibgeber habe eben zu intensiv, so schloss ich, die Ich-Philosophie Johann Gottlieb Fichtes studiert, so dass er immer mehr fürchtete, der Ich werde ihm tatsächlich einmal begegnen. Die Männer nickten meine kleine Geschichte ab, einer sagte laut danke, worauf ein anderer mit den Fingern schnippte und neue Flaschen orderte. Da erkannte ich die Gier in diesen kahl gefressenen Gesichtern, den toten Augen. Irgendwann ging ich einfach zum Hinterausgang raus und schleppte mich in mein Hotel an die Bar. „Verhandlungen?“, fragte der Barkeeper, ein schwarzgewandeter Mitfünziger mit Glatze und Koteletten, der an diesem Abend bereits in die Phase des Polierens polierter Gläser eingetreten war. „Ja“, sagte ich, „sehr wichtige Verhandlungen. Wir werden die Welt verändern! Ach was, retten! Wir retten die Welt!“ Er grinste. „Kenn ich“, sagte er und stellte das Glas ins Regal, „was glauben Sie, was hier abgeht an Weltrettung, wenn Berlinale ist oder Grüne Woche oder Modemesse oder …“ „Kirchentag?“ „Ja, Kirchentag!“

Ich erinnerte mich an den Abend, während sie jetzt schweigend rauchte. Spürt sie denn nicht, dachte ich wieder, wie aussichtslos es ist, mich umgarnen zu wollen? Warum sprach sie die Angelegenheit nicht wenigstens deutlich an und erklärte, warum sie über alle Köpfe hinweg eine Entscheidung getroffen hat, die das Projekt zerstörten? Karl und Max mochte das egal sein, sie hatten ihre Verträge, der Geist des Unternehmens war ihnen egal. Aber für mich und für Amphitryon war diese Änderung des Konzepts eine Sinnentleerung. Hatte sie Amphitryon überhaupt davon schon in Kenntnis gesetzt? Ein kleiner Ruck ging plötzlich durch ihren Körper, so als sei ein Hebel umgelegt worden. Langsam schritt sie über die Wiese, den Weg querend den Hügel hinab, um schließlich zwischen den Bäumen in tiefem Schatten zu verschwinden. Eine hohe, weiße Gestalt. Meine Tage hier, dachte ich, ihr nachsehend, sind gezählt. Bald schon würde ich noch einmal nach Basel reisen müssen zur Unterstützung Amphitryons. Vor der Finissage waren die Verkaufsverhandlungen zum Abschluss zu bringen. Alkmene wird derweil dem Konzept gemäß auf dem Gutshof bleiben und ihr Leben zu leben haben. Ein Leben, dem sich bald schon eine zweite Alkmene und ein zweiter Amphitryon und ein zweiter Sosias hinzugesellen würde, ganz zu schweigen vom gedoppelten Jupiter und doppelten Mercurius. Alles war vorbereitet, die Herstellung der Hologramme lag in den Händen von Karl und Max, manches war auch ausgelagert worden an eine Firma in London. Nur dass dies alles eben, anders als geplant, weiterhin gefilmt, beobachtet, gespeichert und von oben überwacht werden soll! Kein Bruch also, so will es Alkmene, keine Selbstermächtigung des Menschen, kein Auslöschen des Deus ex machina, kein Kappen der Fäden, an denen wir alle hängen! Was für ein falsches Theater, dachte ich, an dem ich aber nicht mehr teilhätte, denn ich würde nicht, wie geplant und selbstverständlich von allen erwartet, von Basel aus auf den Gutshof zurückkehren. Alkmene ging, das wusste ich, ohne jeden Zweifel davon aus, dass ich weiterhin den Sosias spielte. Sie glaubte, ich hätte mich derart an all die Bequemlichkeiten gewöhnt, das mietfreie Wohnen, die zum Leben gut ausreichende Bezahlung, dass ich nicht einmal auf die Idee käme, den Dienst zu quittieren. Doch sie würde mit dem Hologramm-Sosias Vorlieb nehmen müssen. Verschwinden werde ich, ohne ein Wort, ohne den dummen Vertrag zu kündigen, ohne mich an irgendeine Abmachung zu halten, dachte ich lächelnd und blinzelte in die Sonne, während Alkmene schemenhaft im Schatten zwischen den Bäumen unten am See auftauchte und gleich wieder verschwunden war. Ich ging zurück ins Haus. Eine der Außenkameras nahm meine Bewegung auf, verfolgte mich und übergab mich passgenau an eine der innen angebrachten Kameras, die ebenfalls meinen Schritten folgte, kaum hörbar surrend. Alle Welt konnte das sehen. Live in der Basler Kunsthalle und auf dem Bildschirm an der Außenfassade des Gebäudes. Und auch jeder Besucher im Internet. Die Zählmaschine zählte mal fünfzehn oder zwanzig, aber auch mal dreihundert Besucher pro Tag. Zu Anfang hatte ich noch ständig an das Aufgenommenwerden gedacht, fiel mir ein, und genau abgewogen, was ich tat, nun aber war ich längst gewöhnt an das Auge der Kamera, an das Auge der Welt. Banal ist das alles, dachte ich jetzt, so wie ich das schon oft gedacht habe, es interessiert niemanden. Wir alle hier bewegen uns unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, wir unterfliegen das Radar, nicht weil wir es wollen, sondern weil wir nicht hochkommen, nicht hinauf in die Lüfte der medialen Welt.

Bevor ich das Haus verlasse, vollführe ich eine meiner üblichen Pirouetten, reiße die Arme nach hinten und verbeuge mich, mit den Fingernägeln über den Fußboden kratzend, zur nächstliegenden Kamera hin. Ich weiß, dass alle Blicke zur Kamera, jeder Bezug zum Beobachtetwerden, Mimik, Gestik, Körperhaltung, von Karl und Max penibel herausgerechnet werden müssen aus all dem Material, aus dem die Hologramme entstehen. Herausgerechnet! So sagen sie. Nicht geschnitten. Gerechnet. Sie sitzen vor ihren Rechnern und den Monitoren und rechnen unsere Doppelgänger aus, unsere anderen Ichs, die sich ganz natürlich verhalten müssen. Ein Hologramm habe sich sozusagen zu benehmen, so die Beiden unisono biederen Sinnes einmal gesprächsweise gegenüber mir. Ich habe versucht, ihnen den besonderen Witz zu erklären, wenn ein Hologramm sich vor seinem Meister ins Leere hinein verbeugt, und dass es durchaus zum Geist des Projekts passe, aber darauf konnten sie wohl nicht recht eingehen, wie ich mich erinnere, weil sie es nicht verstanden. Ich probierte es noch mit dem Beispiel des Beiseitesprechens zum Publikum hin, bei Moliere, der Commedia dell’arte, erläuterte den Zweck des Ausderrollefallens, aber ohne Erfolg, eine Verständigung war nicht möglich. Wahrscheinlich dachten sie, ich erfände das alles.

Ohne weiteres Theater gehe ich schnurstracks durch den Flur auf den Hof hinaus und zu meinem Bungalow. Zwei Minuten später stehe ich vor dem einzig modernen Gebäude der Anlage. Außerhalb der Videoüberwachung, außerhalb des Projekts. Meinem Bungalow. Ich habe, überlege ich, eine Menge zu tun, bevor ich verschwinde. Unauffällig verschwinde. Ich gehe hinein, laufe durch den kurzen Flur in den Wohnbereich und werfe mich, wie ich es gerne tue, schwungvoll in den Rollen-Sessel. So gleite ich, die Füße ausstreckend und mich langmachend, drei Meter Richtung Küchenzeile. Aber nicht nur verschwinden muss ich, denke ich, auch entleeren werde ich mich müssen. Buchstäblich, denn bin ich nicht tatsächlich randvoll mit Texten zu dem Projekt. Raus damit, auskotzen sollte ich sie. Und ist dieses Verfassen von Verkaufstexten für ein Kunstprodukt nicht überhaupt von Anfang an ein Verrat gewesen? An mir selbst. War ich nicht einfach der falsche Mann für solch eine Aufgabe? Und tatsächlich bin ich letztlich unfähig gewesen in all der Zeit, auch nur eine einzige eigene Zeile zu schreiben. Und nun auch noch diese Entscheidung zur Fortsetzung der ersten statt des Einleitens der zweiten Projektphase! Erst jetzt wurde mir richtig klar, wie sehr ich diese letzte, infinitive Projektphase als Befreiung gesehen hatte. Von den Zwängen des Projekts und von allem, was die Figur des Sosias mit mir machte. Zwar hatten Amphitryon und ich schon sehr früh durchgesetzt, nicht in albernen antiken Gewändern herumlaufen zu müssen, aber eine Rolle ist eine Rolle, ein Name ein Name. Sosias! Wer will schon ewig Sklave und Diener sein? Ewig überwacht? Und wer weiß, überlege ich, wie lange Alkmene das Weiterführen der ersten Phase schon geplant hatte? Ob denn, denke ich wieder, wenn schon nicht ich und wahrscheinlich auch nicht Amphitryon, dann doch Karl und Max eingeweiht waren? Unsere Götter auf Zeit, gewissermaßen. Oder hatten sie, fällt mir ein, vielleicht sogar die Idee gehabt!

Ich springe auf, laufe hinaus, setze mich auf den Klappstuhl und starre die Waldschneise hinunter Richtung See, der gleißend in der Abendsonne liegt, ganz rund, ein Musterexemplar seiner Art. Ich lasse den heutigen Morgen Revue passieren. Alkmene im Wohnbereich. Das weiße Kleid. Barfuß. Die dunklen, glatten Haare, mit Nadeln zu einem Knoten zusammengesteckt. Die Kameras folgen ihr, mal die eine, mal die andere, das leichte Surren. Sie geht auf und ab, das Telefon ans Ohr gepresst. Ich ohne Beachtung. Die Welt sieht zu, sieht mich stehen, statuengleich. Im Hintergrund. Stumme Bilder. „Eine Änderung, Molitor“, ruft sie, kaum war am anderen Ende abgenommen worden, ins Telefon hinein, „es geht um den Übergang von der ersten zur zweiten Projektphase. Die kann ohne einen Käufer nicht beginnen! Nicht stattfinden! Verstehen Sie, Molitor! Unmöglich!“ Ich sehe an ihrem Gesicht, Molitor, unser Anwalt und Berater, hat Einwände, die er ihr klarzumachen versucht. Sie geht hinaus auf den Hof, die Kameras erstarren und sehen nur mich, der ich von meinem Platz am Fenster sie auf und ab gehen sehe. Immer noch barfuß. Kies knirscht unter ihren Schritten. Die Worte Finanzierung, Geld, Abschreibung dringen zu mir durch, man könnte glauben, dachte ich, eine Bankerin macht Geschäfte. Dann verschwindet sie den Weg hinauf Richtung Straße. Leer der Hof. Ich gehe hinaus. Alkeme x-beinig auf der Treppe des alten Verwaltungsgebäudes, tot und leer ragt es hinter ihr auf. Links das Gerippe der Feuertreppe, die in den Himmel führt, zum Dachboden, auf dem Karl und Max ihr Studio haben. Sie spricht erregt ins Telefon, hören aber kann ich nichts. Verbissener Gesichtsausdruck, rauchend, die Knie fest aneinandergepresst. Im Bereich der Kameras würde sie sich nie so gehen lassen. Sie stößt den Rauch senkrecht nach oben, Kopf im Nacken. Die rot-weiß-getigerte Hofkatze beschreibt einen Bogen um sie, bevor sie in der spaltbreit offenstehenden Tür des alten Gebäudes verschwindet. Ich gehe quer über den Hof zum Bungalow, ich muss etwas tun, so dachte ich, und als ich nach ein paar Minuten, den Ordner mit den Verträgen unter dem Arm, zurückkomme, sitzt die Katze zwei, drei Meter neben Alkmene und gähnt. Ich setze mich auf die andere Seite. Ein scharfer Schweißgeruch geht von Alkmene aus. Whisky, Zigaretten und Angst, denke ich. Angst vor allem. Alkmene hat Angst! „Alkmene“, sage ich zu leise und zu sanft, ich merke das, ich spreche wie mit einem beleidigten Kind, „nach dem Vertrag sind wir verpflichtet, die Aufnahmetechnik fristgerecht zu deinstallieren und den vorherigen Zustand wieder herzustellen, bevor dann die Technik zur Projektion der Hologramme installiert wird.“ Sie zögert. „Sagt Molitor auch“, erwidert sie endlich, „du brauchst mir die Verträge nicht zu zeigen, Sosias, ich kenne sie auswendig. Wenn Amphitryon nur endlich einen Käufer auftreiben würde! Den Schweizer Russen meinetwegen oder die Italiener! Ganz egal, Hauptsache einen Käufer!“

So Alkmene heute morgen. Doch war sie nicht schon eine Weile übernervös gewesen! Ich erinnere mich gut an ein Arbeitstreffen. Oben im Himmel. Max zeigt uns einige Sequenzen, in denen die Hologramme interagieren. Es ruckelt. Ich erinnere mich. „Die Doppelgänger! Leben sollen sie! Leben!“, rief Alkmene dann auf einmal mit Pathos. Wir anderen aber schwiegen, niemand sagte etwas, minutenlang, die Katze schnurrte uns um die Beine, die Hologramme ruckelten durch den Raum, waren kurz mal verschwunden, tauchten dann an anderer Stelle wieder auf, bis Karl endlich die Vorführung beendete und so die Stille brach. Die Software, so referierte er mit ruhiger Stimme, wie ein Großvater, der mit seinen Enkeln spricht, sei aus einer von ihnen bereits zuvor eingesetzten weiterentwickelt. Es sei machbar, nicht nur zuvor aufgenommene Sequenzen eins zu eins als Hologramme ablaufen zu lassen, sondern ganze Abläufe neu zu kreieren, die schließlich aus sich selbst heraus stattfinden würden. Selbständig. Lebendig. Noch viel Arbeit sei das, es koste Geld und Zeit, doch der point of no return sei nicht mehr fern. Alkmene hing an seinen Lippen. „Die Software“, so erklärte er weiter, „schreibt sich vereinfacht gesagt von einem bestimmten Punkt an selbst. Die Hologramme handeln wie Schauspieler ohne festes Drehbuch, aber auf einer fest definierten Bühne und in einem fest definierten Rollenprofil, und je länger das System läuft“, fuhr er ruhig fort, „desto besser wird es funktionieren. Die Hologramme reagieren aufeinander und leben ihr eigenes Leben. Und wir hätten da auch noch eine weitere Idee.“ Er warf einen Blick auf Max, der sich mit Daumen und Zeigefinger enervierend lange den Bart strich, um dann plötzlich und ohne jedes einleitende Wort mit der Idee herauszurücken, die Hologramme sprechen zu lassen. „Dennoch sprechen zu lassen, dennoch“, sagte er mit einem Seitenblick zu mir. Das sei, fuhr er, noch bevor ich etwas sagen konnte, fort, zwar ambitioniert, sehr sogar, und es erfordere natürlich auch noch eine technische Nachrüstung, aber es sei möglich, auch wenn die Aufnahmen selbst weiter stumm blieben. Ich atmete tief ein und aus. Meine Idee ganz zu Beginn, auch Audioaufzeichnungen zu machen, war letztlich mit der Begründung abgebügelt worden, ein Sprechen der Hologramme zerstöre das Geisterhafte der ganzen Installation. Das Geisterhafte! Alkmene überlegte. „So lange es sich nicht um Banales handelt“, sagte sie endlich, „sondern um etwas Neues, Lyrisches, Poetisches, Absurdes, etwas nach dem Zufallsprinzip vom Rechner Zusammengestelltes, wie auch immer, bin ich hundertprozentig dafür! Eine gute Idee.“ Sie nickte den Beiden zu. Ich sagte nichts. Warum Streit beginnen? Auch Amphitryon tippte etwas in seinen Rechner und tat teilnahmslos. So macht er das immer, wenn etwas im Raum steht.

So hatten wir alle, oben im Studio der Götter, im Himmel, ganze Sequenzen in die Mikrofone zu sprechen. Seitenlang Romanauszüge, Zeitungsartikel, Gebrauchsanweisungen, das Alphabet, Vor- und Nachsilben und so weiter, aber auch Kehl-, Zisch- und Nasallaute, Murmeln, Räuspern, Husten, Gähnen, Niesen, Schniefen, Stöhnen, Weinen, Lachen, auch Schreien wie am Spieß. Es war grotesk. Ein Freund von Karl und Max, der bei der BBC in London arbeitet, führte Regie und glotzte uns per Monitor an, brachte hier und da Einwände vor und tat sich auch sonst wichtig. Ich frage mich, warum ich jetzt an all das denke, auf dem Klappstuhl sitzend, die Sonne tiefrot zwischen Horizont und dunklen, sich wild auftürmenden Wolken. Ich denke auch wieder an Alkmene auf der Treppe, nach dem Telefonat mit Molitor. Das war heute am Vormittag gewesen. Ich darf nicht durcheinanderkommen!

Plötzlich ein Geräusch. Unter tausenden würde ich es herauskennen, und da kommt auch schon die stämmige, uniformierte Gestalt vom Hof her leicht hinkend auf mich zu, lässig die Hand zum Gruße an die Mütze legend. Der Wachtmeister. Er schreitet, trotz seines Handicaps, mit einer dienstlichen Würde sondergleichen einher, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Gelegentlich, vor allem am Abend, sieht man ihn aber auch auf seinem stolzen, bordeauxfarbenen Hollandrad, das der hügeligen Landschaft wegen mit einer 8-Gang-Schaltung (mit Freilauf) ausgestattet ist, durch die Gemeinde radeln. „Wachtmeister!“, sage ich laut und militärisch knapp. „Herr Sosias“, erwidert er jovial und reicht mir die Hand. Er nimmt einen der Klappstühle, klappt ihn aus, lässt ihn auf die Füße fallen und setzt sich schwergewichtig drauf. „Schöner Ausblick hier“, sagt er mit seinem tiefen Bass, „auch und besonders im Sommer. Hab die Schneise selbst geschlagen, habe ich das mal erwähnt?“ Ich sage nichts, denn er erwähnt es jedes Mal aufs Neue. Vielleicht machte er sich einen Spaß daraus, mich zu verwirren. Oder es ist einfach seine Art, Zusammenkünfte rituell zu beginnen. Wie auch immer. Hinter dem rechten Ohr hat er eine Zigarette stecken, weswegen er die Dienstmütze, die wie die Uniform ohne jedes Abzeichen ist, ein wenig schief trägt. Ich gebe ihm Feuer. Wir rauchen schweigend. Der See glimmt matt in naher Ferne. „Auch am Bau Ihres Bungalows war ich beteiligt“, sagt er schließlich, „das können Sie mir glauben, ich war mit der Materialanlieferung betraut. Hinein durfte ich nicht, die Baustelle war streng bewacht. Am Anfang lag noch keine behördliche Genehmigung vor, nichts Offizielles, Sie verstehen! Am Ende gab es natürlich die Baugenehmigung, aber da stand die Kiste schon. Der Blick auf den See war damals übrigens picobello schnurgerade, nicht so verwachsen wie heute. Das nur am Rande, Herr Sosias, damit Sie im Bilde sind.“ Ich nicke knapp. Er nimmt einen letzten, tiefen Zug bis zum Filter, bläst den Rauch auf seine Stiefel, wirft die Kippe auf den Boden und tritt sie mit dem Absatz in den Kies. Auch die Historie des Bungalowbaus kenne ich. Manchmal geht er mehr ins Detail, dann kommen die Parteibonzen zur Sprache und die Angelegenheit mit den Fenstern und Türen, baugleich denen des Kanzlerbungalows in Bonn, BRD. Doppelte Bestellung, vermeintlich aus Versehen, bewies aber damals, so der Wachtmeister jedes Mal mit Nachdruck, wieder einmal die Überlegenheit des Sozialismus. Diese Fenster-und-Türen-Geschichte, die, denke ich, nicht stimmen kann, kennt in Bad Wutzenwalde jedes Kind. Und dann, so geht die Geschichte weiter, sägte sich einer in den Fuß, ein anderer wurde von einem Baum erschlagen, aber der Blick zum See sei frei gewesen. Das mit dem Fuß und dem toten Mann erzählt der Wachtmeister nur, wenn er seinen Flachmann mit dem selbsthergestellten Schlehengin der Innentasche seiner Uniformjacke entnimmt und ich infolgedessen die Schnapsgläser aus dem Sideboard hole. Der Schlehengin übrigens werde, auch das erzählt er bei diesen Gelegenheiten, mit Ingredienzien hergestellt, die er seit je her, schon zu Ostzeiten, von seinem Vetter in Thüringen bezieht, der in Bad Langensalza ebenso wie er selbst Wachtmeister gewesen sei und immer noch ist. Eine Cousine aus Warin versuche zwar bis heute, ihn zur Herstellung von Sanddornschnaps zu animieren, das aber lehne er rundheraus ab. Heute aber würde es keinen Schlehengin geben, denn der Wachtmeister sitzt, die Hände auf dem Bauch, ganz friedlich und unbeweglich neben mir, eine Zigarette hinter dem rechten Ohr. Ich sah ihn nie eine aus einer Schachtel herausfingern und sie sich hinter das Ohr klemmen. Es war, als würde die Dinger einfach nachwachsen. „Wie ich höre“, sagt er plötzlich leise ohne mich anzusehen, „gibt es Probleme beim Abverkauf der Kunst?“ Ich ziehe heftig an meiner Zigarette, erwische den Filter und huste. Woher wusste der Kerl das nun schon wieder? Wusste er etwa auch, dass Alkmene an diesem Morgen die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes verschoben hatte, eben weil noch kein Sammler und kein Museum das Projekt hat kaufen wollen? Nicht einmal der Autokonzern für das hauseigene Autokonzernmuseum. Wusste er sogar mehr als ich? Das war die Frage. Der See jetzt wie aus Blei, die Wolken mit rosa Rand. In der Mitte des Sees vage zu erkennen ein Ruderboot und Gestalten, stehend, in ihm. Manchmal wird getaucht, mit Ausrüstung, sommers wie winters. Der See soll ziemlich tief sein, tiefer als man denkt. „Nun“, sagt der Wachtmeister und reißt mich aus meinen Gedanken, „der Dienst ruft. Glückauf, mein Sohn!“ Ich erhebe mich ebenfalls und reiche ihm die Hand. Ein fester Druck, ein scharfer Blick seinerseits, dann wendet er sich um, ja er lässt sich geradezu nach hinten fallen, um sich sogleich neben dem Bungalow in die Büsche zu schlagen. Das tut er immer, selbst in tiefster Dunkelheit, eine Abkürzung zur Straße hin. Der Gute! Er nähme nie den selben Weg zurück, das könne er sich als Amtsperson nicht erlauben, so sagt er oft und zwinkert mir jedes Mal verschwörerisch zu, worauf ich wissend nicke. Dabei weiß ich nicht im mindesten, was das zu bedeuten hat. Ich setze mich wieder. Ein warmer Landregen, der nichts kaputt machen würde, beginnt herabzuperlen. Die verdorrten Wiesen und die Bäume können das gut gebrauchen, denke ich. Ich gehe ins Haus, gieße mir einen großen Whisky ein, die Flasche hatte ich Alkmene geklaut, und fläze mich wieder auf den Klappstuhl. Die nackten Füße strecke ich in den Regen. Der See liegt nun bereits in tiefer Dunkelheit. Ein Boot ist nicht mehr zu erkennen. Und die Wolken schwarz wie Pech. Ich nehme einen Schluck Whisky. Warum bleibe ich nicht einfach hier auf dem Gutshof, denke ich. Trotzdem! Ich könnte eine ruhige Kugel schieben, wenn ich denn wollte, ein wenig Geld beiseitelegen und mich aus allem so weit es geht heraushalten. Doch ich wusste imgrunde genau, warum ich das Projekt würde verlassen müssen. Angst aber habe ich nicht. Weder vor meinem eigenen zweiten Ich als Hologramm, selbst wenn es sprechen könnte, beileibe nicht, nein, und auch nicht vor den beiden Nerds dort droben in ihrem Himmel, die mir allerdings dann doppelt auf die Nerven gehen würden, wenn sie auch noch als Hologramme im Wohnraum und auf der Terrasse herumschleichen oder mit Alkmenes Hologramm in die Sitzlandschaft verschwinden, um Serie gucken. Das ist schon in Wirklichkeit nicht zu ertragen. Ins Haus kommen die Beiden zwar immer als relativ seriöse Menschen, schwarze Jeans, schwarze Shirts, schwarze Vollbärte, auch wenn das in dieser Kombination unschön ist. Kurz darauf aber lümmelen sie auch schon mit Alkmene auf dem Sofa herum, Drinks in der Hand, Zigaretten und Zigarillos rauchend. Freizeit machen nennen sie das. Erwähnte ich, dass sich hinter dem offenen Fachwerk ein Ensemble aus Ledersesseln- und sofas, Sitzwürfeln und zwei dutzend großer Kissen befindet? Das Fenster in der Nische hat Alkmene von einem pensionierten Maurer aus Bad Wutzenwalde eines Tages einfach zumauern lassen, so dass der große Monitor wie ein Altarbild aufgestellt werden konnte. Amphitryon meidet, wie auch ich, den Bereich. Dabei ist alles ganz proper, könnte man denken. Es gibt einen kleinen Barschrank aus den 50er-Jahren, rund und geschmeidig, mit Lamellentüren, gut gefüllt mit Whisky, Wodka, Gin und so weiter. Darauf legt Alkmene großen Wert. Ihr erster Gang, kommt sie nach Hause, ist der zu ihrer Hausbar, wo sie sich einen Whisky eingießt. Sie sei eben seit je her, so erzählt sie, ein großer Fan von Sue Ellen aus der legendären TV-Serie Dallas. Die mache das auch, sich nämlich einen Whisky eingießen, kaum ist sie zuhause. Eine der besten Fernsehserien ever. Sagt Alkmene. Den ersten großen Streit mit ihrem Vater, der Westfernsehen ganz und gar ablehnte, habe sie wegen dieser Serie gehabt. Acht Jahre alt war sie da. Heulend hatte sie im Bett gelegen und so lange gezetert, bis sie es dann doch durfte. Serie gucken! „Ich bin durch eine kapitalistische Serie aus den Staaten zur Künstlerin geworden“, das hatte sie mir schon ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft verraten. Und Sue Ellen sei in Wirklichkeit ebenfalls Künstlerin und habe zwei Ichs, ein starkes und ein vermeintlich schwaches, trotz, ja wegen des Alkohols! Nur die Feigheit der Produzenten habe es damals verhindert, Sue Ellen ganz und gar zu zeigen, als vollständige Person, das wisse sie aus sicherer Quelle. Ich sagte nichts dazu. Auch ich hatte die Serie als Jugendlicher gesehen, aber das einzige, an das ich mich erinnern konnte, waren Riesenhüte, das Lachen von J.R. und Fönfrisuren. Der Wachtmeister, der bei irgendeiner Gelegenheit ins Haus gebeten worden war, lobte übrigens die Gemütlichkeit der Sitzlandschaft, er sagte Sitzecke, ließ sich aber partout nicht dazu überreden, dort Platz zu nehmen.

Überhaupt, der Wachtmeister! Alkmene schien von Anfang an Respekt vor ihm zu haben, während sie manch andere Leute in Bad Wutzenwalde eher von oben herab behandelte, wie Dienstboten. Je nach Laune. Dagegen strafft sie sich geradezu, wenn sie ihn nur kommen hört. Er gibt sich nie auch nur die geringste Mühe, lautlos heranzukommen, ja er hexametert jedes Mal sogar so laut wie nur möglich über den Kies. So sagt er übrigens selbst: Hexametern! Das sei schöner als humpeln zu sagen. Oder hinken. Nicht selten murmelt er gehend auch Verse vor sich hin, die allerdings mit dem antiken Versmaß nicht das Geringste zu tun haben, soweit ich das beurteilen kann. Die Bäckersfrau in Bad Wutzenwalde erzählte mir einmal kurz vor Ladenschluss, ich war der letzte Kunde, der Wachtmeister habe als junger Mann außerordentlich viel gedichtet. Lustige Gedichte mit tieferem Sinn. Dann aber sei er dienstlich abgemahnt und sogar verdächtigt worden, mit dem Klassenfeind zu kooperieren. Eines Tages sei er dann verschwunden gewesen und durch einen Abschnittsbevollmächtigten ersetzt worden, der überhaupt nicht nach Bad Wutzenwalde gepasst habe. „So ein junger Leutnant“, setzte sie nach einer Pause mit bösem Blick hinzu, „ein scharfer Hund, der vorwärtskommen wollte, während der Wachtmeister erstens immer Unterleutnant geblieben ist und zweitens nirgendwo hinwollte und drittens immer Wachtmeister hieß für alle, nie Abschnittsbevollmächtigter.“ Schließlich sei er zurückgekommen und habe seinen Dienst bei der Volkspolizei wieder aufgenommen, lange Jahre aber gar nicht mehr gedichtet, bis er eines Tages in die Backstube gekommen sei und laut verkündet habe, sein Dichten wieder aufzunehmen, auch wenn er seitdem niemandem mehr Einblick gewähre, auch ihr nicht. Sie selbst besäße aber noch eines seiner frühen Gedichte, sie habe es damals gestickt, weil sie es so schön fand. Das sei viel Arbeit gewesen. Es hänge noch immer in ihrem Wohnzimmer und habe auch immer dort gehangen. Hinter der Tür zwar, aber immerhin. Sie zog eine Schublade auf und holte eine große Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Stickarbeit hervor, die könne ich behalten. Auf dem Weg zurück zum Gutshof las ich das Gedicht des Wachtmeisters mehrmals halblaut, Die Meise, und ich fragte mich, ob dieses Gedicht tatsächlich einen ausreichenden Grund hatte hergeben können, ihn vom Dienst zu suspendieren. Aber was wusste ich schon, wie denn die Volkspolizei der DDR getickt hat und die Staatssicherheit. Nix wusste ich. Staatsfeindlich aber erschien mir das Gedicht nicht: Es ging ’ne kleine Meise / einmal auf die Reise / und auf diese Weise / kam sie auch zum Eise. // Dort im ew’gen Eise / ward sie dann zum Greise / denn die Landeschneise/ dort im ew’gen Eise / verlief nunmal im Kreise. // So hat uns’re Meise / dort in dieser Schneise / auf nicht sehr schöne Weise / den Verkehr im Kreise / zu einem hohen Preise / und am Ende dann sehr leise / wenn auch langsam weise / landend auf dem Steise / (diese kreise Schneise) / sterbend auf dem Eise / auf todesstille Weise / zum Grab gemacht / die Meise / (so ’ne Scheise).

Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie mir hinter das rechte Ohr. Wie der Wachtmeister. In seiner Anwesenheit hätte ich das nicht gewagt. Ein Wind ging durch die Bäume, kurz und entschlossen. So saß ich also da. Eine kleine Lampe über meiner Haustür spendete ein wenig Licht. Eine Funzel. Ich ließ die Zigarette, wo sie ist. Seit ich auf dem Land lebte, rauchte und trank ich mehr denn je. Von wegen gesundes Landleben! „Ich muss hier weg, so oder so“, dachte ich laut, stand auf und begann unter dem schmalen Vordach auf und ab zu gehen. Kleine Steinchen drückten sich in meine Fußsohlen. Der Regen fiel knapp an mir vorbei. Keine Kamera folgte mir hier, außerhalb des Projekts, doch ich stellte mir, wie ich es oft tat, umstandslos eine vor. Ein leises Surren. Ich spürte das Auge. Genau so hatte ich das in unserem Katalog für die Basler Ausstellung beschrieben. Das beständige Gefühl, beobachtet zu werden. Das Wissen um die permanente Möglichkeit des Verfolgt- und Beobachtetwerdens durch ein technisches Auge. Gefühl und Wissen! Ein Essay über die Entstehung der Intim- und Privatsphäre und deren womöglich restloser Auflösung durch Datenerfassung und die ständige Überwachung jedes einzelnen Individuums, nicht zuletzt auch durch sich selbst. So eine Art Pietismus ohne Religion. Ein Mensch, so schrieb ich, der sich überwacht fühlt, ist überwacht! Die Digitalisierung frisst ihre Kinder, so die Überschrift des Textes. Ich hatte mir viel davon versprochen, Resonanz aber gab es noch keine, denn der Text ist nicht online, auch nicht die Übersetzung ins Englische. Alkmene hatte mir umstandslos im Brustton der Überzeugung erklärt, was für eine wunderbare Pointe es doch sei, ausgerechnet diesen Text nur auf Papier lesen zu können. Auf meine Nachfragen hin, Wochen und Wochen später, ob man den Text nicht endlich auf die Website, zu deren Dashboard nur Karl, Max und Alkmene Zugang haben, stellen könne, schüttelte sie immer nur den Kopf und schwieg. „Sobald ich aber hier weg bin“, dachte ich und sah direkt in die von mir imaginierte Kamera über meinem Kopf, „geht der Text online an die Öffentlichkeit, so wahr ich Arno heiße und nicht Sosias bin!“ Ich zündete mir die Zigarette dann doch an, sog den Rauch tief in die Lunge und marschierte kurzentschlossen barfuß durch den Regen Richtung Gutshaus. Im Wohnraum niemand, von der Katze einmal abgesehen, die gut ausbalanciert auf der schmalen Lehne eines Stuhls liegt und über die leere, glänzende Tischplatte glotzt. Auch die Terrasse leer. Dann glaubte ich Alkmene vage, als eine Ahnung von Weiß, zwischen den Stämmen des kleinen Waldstücks unten am See erkennen zu können. Manchmal lief sie lange, selbst bei schlechtestem Wetter, zwischen den Bäumen hindurch, die Arme vor der Brust verschränkt. Auch sie, dachte ich und warf einen scheelen Blick zu der Kamera schräg hinter mir, entzog sich der Beobachtung, so oft sie konnte. Trotz ihres Bekenntnisses zum Beobachtetwerden! Ich trat hinaus, ein fahles Licht bestrich die Terrasse, und ging ein paar Schritte zur Wiese hin. Das Auge der Kamera folgte leise surrend, ich ging wieder zurück, wieder hin, wieder her, wieder hin. Ich dachte gehend nach, im Regen, und das sollte die Welt da draußen ruhig mitbekommen, wo ich doch sonst schon keine große Rolle zu spielen hatte. Nicht spielen wollte! Fest jedenfalls steht, überlegte ich, dass ich mich ganz gegen meine Absicht zu einer Art Sekretär entwickelt hatte, ich, Sosias, der ich im richtigen Leben Arno Scheerbart heiße, während Amphitryon zum Projektmanager wurde und Alkmene die alles dominierende Künstlerin, die in der Weltkunstszene bald schon in aller Munde sein würde. So jedenfalls ihre Hoffnung, ihr Plan. Nie habe ich einen ehrgeizigeren Menschen erlebt als sie. Zugleich aber gilt sie als ruhig und geduldig, das wusste ich durchaus. Abgebrüht würde ich das eher nennen, denn das ist sie auf jeden Fall. So zeigte sie etwa keine sichtbare Reaktion, als ein Kulturjournalist ihr gleich in der ersten Kritik schon am Tag nach der Vernissage in Basel umstandslos Überkitsch, so das Wort, vorwarf. Überkitsch! Das Tragen der halbtransparenten, an die griechische Antike angelehnten weißen Kleider mit all dem Faltenwerk und das halbnackte Herumgehen des Nachts bediene nicht mehr als den Voyeurismus des Publikums, so schrieb er. Ein Artikel kurz darauf in der vierzehntäglich erscheinenden Schweizer Kunstzeitung Künstlii, ich las ihn ihr vor, hatte die Überschrift Riefenstahl reloaded. Die Kritikerin sprach davon, das fiel mir wieder ein, während der weiße Fleck in der Dunkelheit näherkam und tatsächlich zu Alkmene wurde, die ganze Installation sei nichts weiter als die reinste Pornografie, und zwar schlechte, die Direktübertragung der Bilder in die Kunsthalle und ins Internet heutigentags völlig banal. Oft, so schrieb sie, säßen Jugendliche draußen vor dem in halber Fassadenhöhe angebrachten Monitor und johlten laut, wenn Alkmene im fernen Ostdeutschland im Wohnraum auf und ab ginge oder affektiert rauche. Das muss Alkmene getroffen haben! Anzumerken aber war ihr nichts. Meinen Essay aber hat auch Künstlii nicht erwähnt. Ich drückte wütend die Zigarette im großen Standaschenbecher aus, den Alkmene für teuer Geld bei ebay erstanden hatte. „Ich muss hier weg“, murmelte ich noch einmal vor mich hin und ging, begleitet vom aufgeregten Surren der Kamera, großen Schrittes ins Haus, starrte die Katze an und machte mich dann über den Hof zu meinem Bungalow davon. Nur weg hier, dachte ich, nur weg.

III

Ich setze den Geländewagen rückwärts an den Bungalow heran. Vier große Pakete mit meinen Habseligkeiten stehen bereit, adressiert an eine Spedition im Wedding, bei der ich die kleinstmögliche Lagerfläche gemietet habe, einen Kubikmeter. Beheizt. Bezahlt für ein Jahr im Voraus. Beim Packen all diese Bilder in meinem Kopf, Erinnerungen, schwarz-weiß, grün-beige. Bootsausflüge auf der Alten Oder. Radtouren durch die Wälder. Alkoholselige Abende auf der Terrasse oder am See unten. Der Kampf gegen die Mücken. Purzelbaumwettbewerbe die Wiese runter, wenn Freunde mit Kindern da waren. Meist aber Ruhe. Alkmene und Amphitryon betrieben ihre Kunst. Ölbilder, Objekte, Installationen. Ich schrieb meine Kurzgeschichten und Novellen und nebenbei die Texte für Ankündigungen, Broschüren, Kataloge und die Website. Gelegentlich ein schlecht bezahltes Lektorat. Gebrauchstexte. Wir kamen über die Runden. Jeder für sich und alle zusammen. Schönste Ordnung. Bis das Projekt Amphitryon Komplex Gestalt annahm. Pläne wurden geschmiedet. Bald schon riefen wir uns mit den Projektnamen, Alkmene, Amphitryon, Sosias, erst noch lächelnd, dann mit allem Ernst. Schließlich stellten wir Anträge auf Förderung. Der Anfang vom Ende.

Genau genommen aber, dachte ich jetzt und hievte die Pakete auf die Ladefläche, kam erst mit Karl und Max etwas ins Spiel, das einen anderen Sound hatte. Die Ankunft. Wir konnten den LKW hören, bevor wir ihn sahen. Die Arme vor der Brust verschränkt standen wir auf dem Hof. Schweigend zu warten. Der Zufahrtsweg seit Ostzeiten nicht mehr repariert. Schlaglöcher, Mulden, weggebrochene Ränder. Schwer schwankend kommt der LKW schließlich näher, ein geliehener 7,5-Tonner, Kurve um Kurve, kaum in Schrittgeschwindigkeit. In der Frontscheibe spiegelt sich die beginnende Dämmerung. Rotorange, dunkelblau. Zwei, drei trockene Äste werden krachend von den Bäumen gerissen. Der Motor heult immer wieder auf, dumpfes Gebrüll. Eine Kuhle, in der oft das Wasser steht, wird nur mit Mühe gemeistert. Wir drei rühren uns nicht vom Fleck. In der letzten Kehre vor dem alten Verwaltungsgebäude verbiegt sich der ganze Wagen noch einmal und knarzt, als schriee er vor Schmerzen, rollt dann aber, schwankend noch, doch siegreich, so denke ich in diesem Augenblick tatsächlich, siegreich, auf uns zu. Der Motor erstirbt. Zwei dünne, vollbärtige Männer springen heraus, schwarze Jeans, schwarze Turnschuh, dunkelgraue Rollkragenpullover, und landen sicher im Kiesbett. Ein Moment der Stille und der Erstarrung, dann setzt sich Alkmene wie ein zum Leben erweckter Automat in Bewegung, stakst auf die Männer zu und umarmt sie unbeholfen, zunächst den Älteren, dann den Jungen. Amphitryon und ich sehen uns an. Die Männer nicken uns zu. „Karl, Max“, sagt Alkmene, „Amphitryon, Sosias.“ Im Laderaum nicht mehr als zwei dutzend nicht sehr große Metall- und Holzkisten und ein paar große Leinensäcke mit Kabeln und Steckern. Dazu zwei Stühle, Arbeitsplatten und Böcke. Einige Kisten sind verplombt gewesen und stammen aus Los Angeles, USA, und London, Great Britain, den Aufschriften nach. Alkmene betrachtet alles mit strahlenden Augen, die Hände in die Hüften gestemmt. „Amphitryon Komplex“, sagt sie laut, „die Welt wird Augen machen!“ Wir laden aus. Im Treppenhaus des alten Verwaltungsgebäudes bricht Max mit einem Bein durch eine Bodendiele und zieht sich eine lange Risswunde zu. Nicht sehr tief. Alkmene kümmert sich. Zwischenlagerung des Geräts bei mir im Bungalow. Ein Experte aus Alkmenes Freundeskreis sieht sich die Sache an. Der Dachboden wird als sicher erklärt, Zugang aber nur von Außen. Organisieren der Feuertreppe. Das alles nimmt viel Zeit, zwei, drei Wochen in Anspruch. Alkmene jedoch bester Dinge. Ich aber spürte vom ersten Augenblick an, dass da etwas in unser Leben eindringt. Etwas Fremdes. Wenn ich sie sah, Karl und Max, im Gespräch untereinander oder mit dem Rechner auf den Knien, setzte in meinem Kopf jedes Mal ein ganzes Orchester ein. Wie im Film. In schwerem, was sage ich: in schwerstem Moll. Ich bin kein musikalischer Mensch, nicht explizit, aber mein Kopf erschuf tatsächlich ohne jede Verzögerung diese Musik. Unheilschwanger. Den Gesprächen bei Tisch, anfangs aßen wir noch gemeinsam zu Abend, konnte ich nicht folgen, weil das Gesagte gegen den Klang in mir nicht ankam. Die Geigen und Bratschen und Cellos, Trompeten und Jagdhörner übertönten alles. Nach einer Weile dann brach die Musik mit einem gemeinen Geräusch ab, so als risse jemand den Tonabnehmer von einer Schallplatte. Von da an musste ich zuhören. Überwiegend ging es um Technisches. Alkmene fragte, Karl und Max antworteten, während Amphitryon fast immer schwieg, ebenso ich. Bald schon entzogen Amphitryon und ich uns der lästigen Pflicht des abendlichen Zusammenseins, aber auch dies schien …

„Warte einen Augenblick!“ Ich erschrecke heftig. Alkmene steht hinter mir. Wie aus dem Nichts. „Sorry“, sagt sie, tritt auf mich zu und zündet sich direkt vor meiner Nase eine Zigarette an. Ich kann die Hitze der Feuerzeugflamme spüren. Ihr Atem riecht nach Whisky. „Ich habe endlich Amphitryon erreicht, im Zug nach Zürich. Verhandlung mit dem Russen, der eigentlich Schweizer ist. Oder umgekehrt. Amphitryon ist der selben Ansicht wie ich, die zweite Phase mit der Deinstallation der Kameras und der Projektion der Hologramme beginnt erst, wenn alles in trockenen Tüchern und das Projekt verkauft ist.“ Sie lächelt und bläst den Rauch scharf und spitzlippig neben meinem Kopf gegen die Scheibe der Fahrertür. Ahnt sie, dass ich mich aus dem Staub machen will? „Es bleibt also bei der kleinen Verzögerung“, fährt sie fort, „aber du kannst ja in Basel selbst deinen Teil beitragen. Sobald die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen sind, bekommst du deinen Doppelgänger. Wir alle! Wir alle bekommen uns noch einmal hinzu.“ Sie sieht mich herausfordernd an. Ich sage nichts. „War doch schon immer dein Thema, nicht wahr! Doppelgängertum, Wiedergänger, die Wiederholung des Immergleichen!“ Ich nicke, steige ein, starte den Motor und fahre los. Wir hatten uns oft über das Thema unterhalten in den guten Zeiten, und tatsächlich war ich es gewesen, der Alkmene auf das Thema Doppelgänger aufmerksam gemacht hatte. Ich war es, der ihr damals einen Band mit allen Amphitryon-Stücken zu lesen gab, der ihr von Jean Pauls Siebenkäs erzählte, von E. T. A. Hoffmann, Dostojewskij, Robbe-Grillet und so weiter. Das hatte einen Punkt getroffen, denke ich, und all das zuvor so nebulöse Tun hatte plötzlich ein klares Ziel: Die Erschaffung von Doppelgängern. Hätte ich das Thema bloß nicht aufgebracht, denke ich, während ich im Rückspiegel zitternd, verschwimmend, kleiner werdend, Alkmene stehen sehe, den rechten Ellenbogen in der linken Hand. Rauchend. Eine hohe, weiße Gestalt.  Seltsam, denke ich noch, auf die Straße einbiegend, wenn ich Amphitryon anzurufen versuche, ist immer nur die Mailbox dran. Sie lügt!

Ich parke direkt vor Fernseh-Knocke. Hauptsächlich Postfiliale. Die Schlange reicht bis auf den Gehweg. Ein Mann dreht sich um und hat diesen Hier-darf-man-aber-nicht-parken-Blick. Ich beschließe, im Auto sitzen zu bleiben und zu warten, bis es leerer ist. Auf dem Beifahrersitz liegt die fast vergilbte Maiausgabe des Bad Wutzenwalder Anzeigers, das örtliche, monatliche erscheinende Blatt mit neunzig Prozent offener und zehn Prozent versteckter Werbung. Ich hatte bisher noch nicht hineingesehen. Auf dem Titel ein Foto des Bürgermeisters mit dem, so die Bildunterschrift, Künstlerpaar Alkmene/Amphitryon. Ich nehme die Zeitung zur Hand. Im Text auf Seite drei, die Überschrift lautet einfach AMPHITRYON KOMPLEX, wird die Basler Installation als Multimediaperformance bezeichnet. Die Grundidee liege in der griechisch-römischen Antike, in der die Götter die Menschen ständig beobachteten und in Kenntnis all ihrer Heimlichkeiten in deren Leben eingriffen. Ausgangspunkt sei die Amphitryon-Tragikomödie des Plautus und die darauf fußenden Stücke von Molière, Heinrich von Kleist, Jean Giraudoux, Georg Kaiser und Peter Hacks, in denen der Gott Jupiter die Gestalt von Alkmenes im Krieg sich befindlichen Gatten Amphitryon annehme und mit der so getäuschten Frau eine Liebesnacht verbringe, in der Herkules gezeugt werde. Die Performance, las ich weiter, werde bald auf dem Gutshof dauerhaft präsentiert als eine Projektion von Hologrammen, die aus den live nach Basel in die Kunsthalle übertragenden Videobildern extrahiert werden. Die Gastronomie und die Hotels Bad Wutzenwaldes versprächen sich steigende Umsätze durch Gäste, die den Gutshof mit ihren Bewohnern, den realen und den projizierten, besuchten und auch das umfangreiche Angebot an Freizeitaktivitäten in der Region … bla, bla, bla. Mein Name, mein Projektname, Sosias, taucht in dem Artikel nicht auf. Ich hatte mich geweigert, für ein Foto zu posieren. Alkmene hatte darauf bestanden. Es gab Streit. „Alle machen hier mit, nur du mit deiner Sturheit stellst dich quer“, hatte sie mich angeblafft. „Aber Herrin“, hatte ich erwidert, „warum soll denn der Sklave genannt sein? Ich bin doch nichts weiter als eine reizende, kugelrunde Null!“ „Gut“, zischte sie, „lassen wir das!“ und stiefelte wütend mit hochrotem Kopf davon. Ich hingegen war außerordentlich zufrieden mit meiner Erwiderung, auch wenn diese geklaut ist.[1]

Endlich lichten sich die Reihen. Mit zwei Paketen betrete ich den kleinen Laden. Noch immer drei Leute vor mir, zwei Rentner in Beige-Braun-Grau und ein dürres, x-beiniges Schulmädchen mit einem zerknüllten Abholzettel in der Hand. Ich stelle die Pakete auf den Boden und gehe noch mal raus, die beiden anderen zu holen. Kaum stehe ich wieder in der Reihe, von hinten plötzlich zwei Sanitäter. Eine Rentnerin hinten in der Ecke am Boden zwischen den Postkartenständern. Ohnmächtig. In blauem Kostüm und Bernsteinkette. Silbergraues Haar. Die jungen Männer in roten Overalls knien, einer hantiert herum, einer redet mit der Frau, die jetzt zu sich kommt. Ein Gehstock liegt quer. Dazu ein zitternder Pinscher mit eingezogenem Schwanz. Wir alle, auch Knocke hinter seinem Tresen, der ja immerhin auch schon im Rentenalter ist, gucken verschämt hin. Der Rentner vor mir tut ein paar Schritte und streichelt den Pinscher, der ihn fragend und zugleich dankbar ansieht. Dann kommt der Spitz vom Knocke ganz zappelig angelaufen und schnüffelt dem Pinscher am Hintern herum. Ziemlich unpassend natürlich. Zehn Minuten später gebe ich die Pakete auf und versuche dabei, ganz unschuldig auszusehen. Hier nämlich bleibt nichts lange im Verborgenen. Der Frau geht es inzwischen besser. Sie sitzt auf einem Stuhl und atmet tief ein und aus, den Pinscher auf dem Schoß. Ich sehe dem Hund in die Augen und könnte schwören, das ist überhaupt kein Hund! So wie der guckt!

Auf der Rückfahrt hupe ich und bremse scharf beim Gemüsehändler, der trotz seiner bestimmt achtzig Jahre mit seiner blauen Schürze um den Leib aus seinem Laden eilt und eine Kiste für Alkmene auf die Ladefläche schiebt, dann die Heckklappe krachend zuschlägt und auf’s Dach klopft. Ich hasse das, hupe aber noch einmal, winke mit der Hand aus dem Fenster und gebe Vollgas. So macht man das hier, das muss man drauf haben. Bald aber bin ich weg, denke ich, dann könnt ihr mich alle mal gern haben! Als Hologramm nämlich. Die Serpentinen nehme ich mit Karacho, sieben, acht Kurven. Ich halte auf dem Hof, trage die Kiste mit dem Gemüse in die Küche und gehe dann zu meinem Bungalow. Die Schneise zum See. Er glänzt matt in der Nachmittagssonne. In der Mitte, genau in der Mitte, ein Ruderboot. Aber ich kann mich täuschen. Das Licht ist oft trügerisch hier, und nicht nur das Licht. Ich gehe hinein. Ich muss irgendwie kaschieren, dass mein Zeug fehlt, überlege ich, und wenn auch nur für den Wachtmeister mit seinem scharfen Blick. Am Abend ruft mich Alkmene an, ich soll ins Gutshaus kommen, das mit der Pressemappe für die Finissage sei noch zu besprechen. Die Druckerei habe angerufen, ein Text müsse gekürzt werden und so weiter.

Drei arbeitsreiche Tage später reise ich ab von Bad Wutzenwalde in Richtung Basel. Der Bungalow leer. Die schweren, dunklen Vorhänge zugezogen. Die Tür fällt ins Schloss. Der Blick zum See. Alkmene nirgends aufzufinden, Karl und Max, die ich ignoriere, auf der Terrasse. Zu Fuß mit den beiden kleinen Koffern zur Bushaltestelle. Bis Eberswalde und von dort mit dem Zug nach Berlin, dann ICE erster Klasse, einmal umsteigen, bis Basel. Zehn Stunden, in denen ich darüber nachdenke, wo meine Flucht mich denn hinbringen wird. Soll! Flucht, Fluchtpunkt denke ich in einer Dauerschleife. Amphitryon empfängt mich in Basel am Bahnhof und erklärt mir ohne Gruß und Umschweife, wie er die entscheidenden Verhandlungen angehen will. Heute noch gäbe es ein Treffen mit dem Schweizer Russen. Amphitryon hat sich sehr verändert, finde ich, der Arme, in all den Wochen an der Verhandlungsfront. Irrer Blick, fahrige Gesten, eine zappelige Schwarz-Weiß-Figur in einem Farbfilm. Ich frage mich, was ich mit all dem noch zu tun habe. Wir gehen zu Fuß zur Kunsthalle. Nach einer Weile fällt mir wieder mal auf, dass nirgends Werbetafeln zu sehen sind. Schön ist das. Dann stehe ich zehn Minuten staunend vor dem Fasnachtsbrunnen, was Amphitryon stoisch hinnimmt, und gehe schließlich hinein in die Kunsthalle, während Amphitryon draußen bleibt und auf meine Koffer aufpasst. Ich hatte ihm klarzumachen versucht, dass das erste, was ich zu tun hätte doch wäre, die zu verkaufende Ware mir wenigstens noch einmal anzusehen. Ich begutachte kurz die Bachelor- und Master-Ausstellung, durch die ich ohnehin hindurch muss, dann ziehe ich einer Eingebung folgend mein Mobiltelefon aus der Tasche und rufe Alkmene an. Sie live auf den Bildschirmen in ihrem weißen Kleid sehr aufrecht am Tisch. In einem Bildband blätternd. Das tut sie täglich. Das reinste Theater. Ich stehe direkt neben der zur Installation gehörenden, nominell von Amphitryon stammenden Installation Palast Amphitryons in Theben, eine verwinkelte Konstruktion aus Glas und Stahl, die ein arbeitsloser Architekt, der sein Geld letztlich für sein Schweigen bekommt, entworfen hat. Meine Lieblingsecke übrigens. Kein Mensch beachtet das Konstrukt, so dass ich von hier aus an den Tagen nach der Vernissage hatte beobachten können, wie denn unsere Arbeit aufgenommen wird. Die wenigen Besucher meist ziemlich irritiert. Bildschirme mit Ansichten eines Raumes oder einer Terrasse mit einer Wiese und Bäumen im Hintergrund? Manchmal Menschen. Die Katze. Die meisten entdecken bald die Tafeln mit der Erläuterung des Konzepts (auf deutsch, englisch, französisch, italienisch, rätoromanisch, keltisch, spanisch, schwedisch, dänisch, flämisch, türkisch, russisch, polnisch, serbisch, kroatisch, griechisch, ungarisch, finnisch, arabisch, hebräisch, japanisch und chinesisch; unten rechts das Logo von LIST, einer internationalen Sprachschule, die die Übersetzungen meines Textes gesponsert hat). Sie lesen, sobald sie ihre Sprache gefunden haben, aufmerksam den Text, sind danach aber nicht minder ratlos. Einmal dreht sich eine Gruppe von sechs, sieben beigefarbenen Rentnern geschlossen zum Wächter um. Alle ziehen die Schultern in die Höhe. Des Wächters Schultern zucken ebenfalls, zack-zack geht das. Der selbe Wächter wie damals wirft mir, als ich das Telefon zum Ohr führe, scheele Blicke zu. Ich ignoriere ihn. Es klingelt drei, vier Mal, bevor Alkmene reagiert. Auf dem großen zentralen Bildschirm mit der Gesamtsicht des Wohnbereichs sehe ich (und der Wächter und die Besucher der Website), wie sie das Mobiltelefon zur Hand nimmt. „Ich bin’s, Sosias“, sage ich laut, bevor sie etwas sagt, „ich stehe mitten in der Ausstellung. Heute noch haben wir einen Termin mit unserem Schweizer Russen.“ Sie benötigt einen Moment und sieht dann direkt in die Kamera. Mich an, gewissermaßen, ohne mich sehen zu können. Unwillkürlich lächele ich. „Ich rufe später noch einmal an“, sage ich, „der Aufpasser macht mir böse Zeichen“. Ich drücke das Gespräch weg. Sie ist wütend. Jeder kann das sehen. Aber nur ich weiß warum.

Nach dem Essen in einem Altstadt-Restaurant, bei dem Amphitryon kaum etwas sagt, verabschiede ich mich und gehe zu meiner Unterkunft. Da ich unangenehme Überraschungen vermeiden wollte hatte ich kurzfristig, und daher mit etwas Glück verbunden, das selbe Zimmer in der selben Pension gebucht wie drei Monate zuvor während der Vorbereitungen zur Vernissage. Die Pensionswirtin des Stampfli, Frau Klöti-Stampfli, war inzwischen allerdings verstorben, wie ich bei Eintritt in die kleine Halle feststellen musste. Eine sehr nette Frau war das gewesen. Sie hing als lebensgroßes Ölgemälde, versehen mit einem Trauerflor, hinter dem kleinen Tresen, von wo aus sie jeden Eintretenden freundlich ansah, ganz wie zu Lebzeiten. Hatte ich nicht vor ein paar Tagen noch mit der Frau telefoniert? Und was hatte zuvor an der Stelle des Gemäldes gehangen? Doch wohl kein Kreuz? Ich konnte mich nicht erinnern. „Guten Tag, Grüß Gott, Grüzi“, sagte eine jüngere Kopie der Frau Klöti-Stampfli, allerdings in Hochdeutsch, „womit kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ich legte den Ausdruck der Bestätigungsmail auf den Tresen. „Sie haben ein Sternchen“, sagt sie. Ich sage nichts. „Ein jeder Gast“, fährt sie lächelnd fort, „hat immer einen Stern weniger als Besuche in unserem Haus. Bei jedem zehnten Stern gibt es eine Überraschung.“ Ich lächele unsicher. „Kommen denn viele Gäste so oft?“, frage ich. „Aber ja“, sagt sie. „Zimmer 4?“, frage ich. „Zimmer 4!“ Ich atme tief durch.

Ein goldener Stern auf dem Kopfkissen aus Schweizer Schokolade, Lavendelduft in der Luft, das kleine Fenster zur Gasse geöffnet und gedämpfter Straßenlärm. Alles also wie beim ersten Besuch? Nein! Denn hatte nicht schon Sören Kierkegaard in seinem Roman Die Wiederholung ausführlich beschrieben, dass sich partout nichts wiederholen lässt, sein zweiter Aufenthalt in Berlin also keineswegs die Wiederholung des ersten bedeuten könne. Und wenn das schon nicht zu machen ist, wie soll sich dann, so ja das Hauptthema seines Romans, die erste Liebe wiederholen lassen? Tja, dachte ich, man steigt eben nicht ein zweites Mal in den selben Fluss. In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht – so sagte ja schon Heraklit. Aber ich lasse Heraklit erstmal einen guten Mann sein und räume in aller Ruhe die Wäsche in den Schrank. Da also muss ich nun durch, denke ich, durch die Finissage, die natürlich streng durchgeplant ist, wie ich wusste. Eine Basler Eventagentur wird Schnittchen, Hostessen, Kellner, einen Barkeeper und auch einige Bodybildertypen in Anzug und mit Sonnenbrille schicken, dazu erklingt gedämpfte Musik vom Band. Bei der Eröffnung hatte man Fahrstuhljazz gewählt. Sollte also nicht zufällig ein Ehekrieg eskalieren oder jemand beim Koksen auf der Toilette einen Herzinfarkt erleiden, so würde es ein langweiliger Abend werden. Meine Idee der Livezuschaltung Alkmenes, eine kleine Ansprache ihrerseits, war abgebügelt worden. Das würde die Aura verletzen, hatte sie gesagt. Dabei kann sie das gut, das Redenhalten. Doch das sollte mir ja alles egal sein!

Ich schlafe bestens und ganz traumlos, obwohl ich ja am nächsten Morgen Amphitryon auf seinen Streifzügen durch die Welt des Schweizer und internationalen Kapitals zu begleiten hatte. Alkmene nannte das meine Pflicht um des Erfolgs willen. Ich hätte natürlich protestieren sollen. Im Namen der Kunst! Stattdessen aber saß ich dann jedes Mal mit dem schlechtesten Anzug aller Anwesenden brav am Tisch. Arno Scheerbart im Anzug! Ich sah aus wie verkleidet! Wie ein Clown. Wie einer, der nicht dazu gehört. Ein Statist. Später erinnerte ich mich mit Grausen vor allem an das Treffen am dritten Tag. Wir mit den Russen, die alle jetzt Schweizer sind, in der Sauna. Fünf Männer mit ihren Pimmeln, baumelnden Hodensäcken und speckigen Hüften. Sogar der Dolmetscher strahlte so etwas aus wie bürgerlichen Wohlstand. Dabei hatten wir alle die gleichen reinweißen Bademäntel ausgehändigt bekommen und saßen nackig und mit schwitzenden Arschbacken auf den gleichen, reinweißen Handtüchern. Keine Ahnung, wie solche Leute das hinkriegen, das mit dem nackt wohlhabend aussehen. In der Umkleidekabine, eine eigene für jeden Gast natürlich, hing ein Messingschild mit dem Hinweis, die Bademäntel und die großen und kleinen Handtücher könne man käuflich erwerben, 150 bzw. 60 bzw. 45 Franken seien zu berappen, zahlbar mit der Abschlussrechnung. Natürlich nichts weiter, dachte ich, als eine Aufforderung, die Dinger zu klauen. Was ich nicht tat. Ich warf das reinweiße Zeug in das dafür vorgesehene Behältnis und war, erinnere ich mich, als erster in der Lobby. Keine Russen weit und breit, und als Amphitryon endlich auftauchte, schnauzte er mich gleich an. „Du machst es mir beileibe nicht leicht“, zischte er mir zu, „wenn du nicht einmal eine einzige Bemerkung machst. So für die Stimmung, irgendwas über Frauen und Geld oder Autos, was Russen eben so mögen.“ Ich machte ein dummes Gesicht. „Mir war schlecht“, sagte ich, „ich vertrage keine Sauna. Und wer weiß, was der Dolmetscher dann übersetzt. Am Ende habe ich die russische Mafia am Hals und lande im Fundament einer Brücke.“ Amphitryon grinste. „So machen die Italiener das“, sagte er, „die Russen machen das anders. Willst du wissen wie?“ Ich sagte nichts. Kaum zu glauben, dachte ich, dass wir mal befreundet gewesen waren.

Eine Woche nach meiner Ankunft änderte Amphitryon die Verhandlungsstrategie. Mit oder auch ohne Wissen Alkmenes. Statt der Betonung des Eventcharakters und der technischen Besonderheiten des Projekts argumentierte er nun eher intellektuell. Was er dafür hielt! Man erschaffe, so sagte er bei einem vormittäglichen Informationsgespräch mit den Vertretern eines niederländischen Museums, ein Gesamtlebenskunstwerk. Wir saßen im Restaurant der Kunsthalle Basel. Er hauchte das Wort sozusagen in die Runde. Gesamtlebenskunstwerk. Etwas Einmaliges sei das, nämlich eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, nur eben nicht als ein Negativum, als ein Zusammenprallen teils schädlicher Entwicklungen, sondern als Überwindung derselben. Ich wusste in etwa, wo er das her hatte (und jetzt, später, weiß ich es genau[2]) und nickte eifrig. Etwas dazu sagen wollte ich aber nicht, da half auch kein langer böser Blick Amphitryons. Hätte er mich eben vorher informieren müssen über die neue Strategie, dachte ich, während er bereits wieder drauflos redete über Hologramme im Museum, Figuren, die sich spielerisch bewegten unter den Besuchern und immer wieder Szenen der Amphitryon-Stücke spielten und somit Kernfragen unserer Moderne buchstäblich in den Raum stellten. Das sei epochemachend und so weiter und so fort.

Ich höre nicht mehr zu. Stattdessen tauchen, während abgeräumt und kurz darauf für alle Espresso serviert wird, Bilder vor meinem geistigen Auge auf, eine Art Erinnerung, die mir plötzlich präsent ist. Ich sitze unten an unserem See, gegen Abend, es ist kühl geworden, rauche eine Zigarette und beobachte eine hübsche, etwas melancholisch wirkende Ente mit grünem Kopf, ein Erpel, der an dem kleinen Sandstrand hin und her watschelt. Immer hin und her, so als warte er auf jemanden, die Flügel auf dem Rücken zusammengelegt. Er wirkt ärgerlich. Dann endlich flutscht er unversehens ins Wasser und schwimmt quakend davon, noch bevor ich aufgeraucht habe. Wo er wohl hinschwimmt, frage ich mich, und plötzlich steht der Wachtmeister hinter mir. Eines Tages, sagt er, habe er von dieser Stelle aus in dienstlicher Funktion mittels eines von seinem Vater aus dem Krieg mitgebrachten Feldstechers, alles noch zu Ostzeiten, beobachtet, wie von einem Boot in der Mitte des Sees Enten rechtswidrig gejagt wurden. Weiße, verwilderte Hausenten. Das habe ihn sehr geschmerzt, doch die Sache sei dann abgebügelt worden. „Das Argument war am Ende“, sagt der Wachtmeister, der sich gesetzt hatte und den Rauch seiner Zigarette auf seine Stiefel pustet, „dass es zur Herstellung von exklusiven Federbällen notwendig sei, die Enten zu bejagen. Ein Federballturnier in der Waldsiedlung, hieß es. Natürlich unter der Hand, offiziell wusste niemand etwas. Wahrscheinlich spielten die Kandidaten des Politbüros gegeneinander, würde ich mal sagen, oder der Besuch einer russischen Kommission stand an. Allerdings gab es durchaus keinen Mangel an Federn damals. Wenn wir alles so üppig gehabt hätten wie Federn, sähe die Welt heute anders aus!“ Er saugt an seiner Zigarette, während ich zu meiner eigenen Überraschung, den Wortbeitrag Amphitryons unterbrechend, etwas sage, nämlich „Mensch ist man ja nur, wenn man denn spielt, so wie dies schon Friedrich Schiller vor zwei Jahrhunderten so schön behauptete! Nicht wahr!“ Stille. Alle sehen mich an. Amphitryon ist sichtlich überrascht, stockt, sucht nach dem Faden seiner Rede, findet ihn aber nicht. Wer weiß zu welchen Höhenflügen er grad eben ausgeholt hatte. Die Amsterdamer blinzeln mir derweil mit ihren blauen Äuglein zu, während die Dame an der Stirnseite des Tisches, Amphitryon gegenüber, ihre Handtasche vom Schoß auf den Tisch stellt, aufsteht, die Lesebrille von der Stirn zieht und in die Tasche knallt. Dann klickt sie die Tasche entschlossen zu, alles steht auf, Händeschütteln, vielen Dank, wir bleiben in Kontakt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie der Chef ist, die Dame mit der Handtasche. Amsterdam jedenfalls würde nicht kaufen, das stand fest.

Jeder Satz von mir ist ein Risiko. Ich weiß das. Am Abend gehe ich dann noch einmal allein in die Kunsthalle. An der Tür wie gehabt ein Wächter, dem ich zunicke. Ich stelle mich, wie immer, vor die Installation Palast Amphitryons in Theben. Alkmene auf dem Bildschirm, auch Karl und Max kurz auf der Terrasse. Die Katze. Über Lautsprecher dann auch schon die freundliche Aufforderung, die Kunsthalle binnen einer viertel Stunde bitte verlassen zu haben. Aber noch war es nicht so weit. Ich ging aus dem Komplex hinaus, um mir die Fotoausstellung in einem anderen Raum noch einmal anzusehen. Oder genauer gesagt ein Foto, das mich beeindruckt hatte. Es zeigt, schwarz-weiß, einen zu einer Art Wohnatelier umgebauten Bunker an einer Küste, das Gebäude im Anriss rechts im Bild, Blick auf die Dünen, das Gras, breiter Sandstrand, die feinen Wellen wie eingefroren, einige Möwen im Mittelgrund auf halber Höhe, Wolkenberge über der See. Unten links mit feinem Silberstift signiert. U. Z. 2024. Ich betrachtete die Fotografie einige Minuten, dann schlendere ich wieder hinüber zum Amphitryon Komplex. Ich betrete den Saal und stutze: Eine ganz offensichtlich, ganz unverkennbar als Alkmene verkleidete junge Frau steht mitten in der Ausstellung. Sehr aufrecht. Weiß. Und rauchend! Den rechten Ellenbogen in der linken Hand. Auch Alkmene raucht, sehe ich, auf der Terrasse des Gutshauses, siebenhundertundfünfzig Kilometer Luftlinie entfernt. Gut zu erkennen auf dem großen Monitor. Ist das hier nun Nachäffen oder schon Kunst, frage ich mich. Und kein Museumswächter weit und breit. Ich nähere mich der Szene. Zwei weitere Besucherinnen hocken hinten an der Wand, sonst niemand. Nun ja, denke ich, dem Kleid Alkmenes, auf meinen Vorschlag hin entworfen nach einer Vorlage der Madam Grès, hatte die Basler Alkmene kaum etwas entgegenzusetzen. Nicht mehr als eine schlechte Kopie, wahrscheinlich aus einer Gardine gefertigt. Halb transparent, die nackte Haut mehr zu ahnen als zu sehen. Soll ich etwas sagen, anmerken, fragen, geht es mir durch den Kopf, doch da wird mir erst klar, dass die beiden Frauen im Hintergrund filmen. Leichtfüßig schweben sie bald schon mit ihren Kameras bewaffnet links und rechts an mir vorbei und kreisen um die Protagonistin herum, offensichtlich bestrebt, die auf dem Monitor zu erkennende, immer noch rauchende Alkmene mit ins Bild zu nehmen. Warum, denke ich beschämt, ja, ich schäme mich plötzlich, weiß ich nichts von der Aktion! Weiß Alkmene davon? Amphitryon? Eine der Kamerafrauen umkrabbelt nun die Alkmenedarstellerin, zoomt aus der Dackelperspektive auf ihr Gesicht, um dann aufzuspringen und ihr die Kamera wie eine Pistole auf die Stirn zu pressen. Die Basler Alkmene zuckt nicht mit der Wimper. Ich mache, endlich Tatkraft gewinnend, mit meinem Smartphone ein Foto mit beiden Alkmenen und den beiden Kamerafrauen und schicke es kommentarlos, während die drei Frauen sich zum Tor von Theben zurückziehen, Alkmene. Ich warte. Kaum zu erkennen im Hintergrund ihr Telefon auf dem Tisch. Gleich wird sie hineingehen, denke ich, doch da passiert etwas Seltsames. Ich traue meinen Augen kaum. Die Zigarette fällt ihr, Alkmene, wie sie da so auf der Terrasse steht, stolz und aufrecht, einfach aus der Hand. Zwischen den Fingern heraus. Sie wirft wütend die Lippen auf, zertritt die halb gerauchte Zigarette drehenden Fußes, marschiert ins Haus, nimmt ihr Smartphone zur Hand und sieht das Foto. Sie selbst und die andere Alkmene. Dann geht sie auch schon mit einem Ruck Richtung Hof ab, wie ferngesteuert. Soll ich sie anrufen, frage ich mich, doch da umhummeln mich plötzlich die beiden jungen Frauen mit ihren Kameras, und ebenso plötzlich steht die Basler Alkmene vor mir. „Cut“, sagt sie und machte mit der linken Hand eine scharfe Bewegung durch die Luft. Zack! Die Kameras werden zu Boden gelegt. „Marie-Louise, Kunststudentin“, sagt sie ernst, „und das sind die Kamerafrauen Luna Zett und Lara Icks.“ – „Arno, Sosias“, sage ich geistesgegenwärtig. „Verstehe“, so Marie-Louise nach ein paar Sekunden, „Sie kamen mir auch gleich so bekannt vor. Gehen Sie mit auf einen Drink?“

Später im Stampfli, sehr betrunken platt auf dem Bett liegend, lausche ich auf die Geräusche der Nacht. Gesichter umwirbeln mich. Die Basler Alkmene: Marie-Louise. Die zwei anderen, etwas jünger, sicher kaum fünfundzwanzig, voller Energie. Zuerst hatten sie alles wissen wollen über Amphitryon Komplex und stellten tausend Fragen, aber als ich dann ansetzte, die Hintergründe zu erklären, hörten sie nicht zu. Stattdessen überschlugen sie sich mit einem Male geradezu, dachte ich, mich erinnernd, mir ausführlich zu erzählen, wie sie mit geliehenen Stempeln und dem geklautem Briefpapier der Direktion sich die Aktion in der Kunsthalle selbst genehmigten. „Sind gespannt auf den Ärger, den das geben wird“, strahlten mich die beiden Kamerafrauen an. Marie-Louise lachte. „Ärger wird’s geben“, sagte sie, „aber nicht wegen der Stempel oder der Briefbögen, nein, nein, das Rauchen im Museum wird’s sein, das wird Ärger bringen.“

Gegenüber Amphitryon erwähnte ich nichts von der studentischen Kunstaktion, wahrscheinlich hatte Alkmene es ihm ohnehin schon gesteckt. Wir trafen nun also weiterhin Tag für Tag mehr oder weniger interessierte Kunstmenschen, kamen aber zu keinem Abschluss. Nicht mal Zahlen standen im Raum, obwohl ich keines der Gespräche störte, ja sogar die ein oder andere passende Floskel einstreute und fleißig Hände schüttelte. Aber es half alles nichts. Amphitryon war am Boden zerstört. Ich sagte noch, womöglich seien wir unserer Zeit voraus, aber auch das tröstete ihn keineswegs. Ich habe das natürlich auch nicht ernst gemeint, und vielleicht spürte er das.

Endlich aber stand, trotz des Desasters, trotz des Nichtverkaufs der Multimediainstallation, schließlich die Finissage an. Schnittchen, freie Getränke, kurzberockte Hostessen auf mittelhohen Hacken mit charmantem Lächeln, ein Kerl von einem Barkeeper, die Bodyguards im Hintergrund für das VIP-Gefühl. Musik vom Band. Alles perfekt, nur einen Käufer für das Projekt gab es nicht. Wochenlange Arbeit lag hinter uns, erreicht worden war nichts. Die Holländer waren zwar anwesend und der Schweizer Russe auch, hatten aber zuvor mitgeteilt, nicht kaufen zu wollen. Ansonsten wie gehabt die Kulturschickeria aus Basel, Zürich und Bern, die Schweiz ist ein kleines Land, die es sich gut gehen ließ, die aber schließlich, nach knapp zwei Stunden, mir nichts dir nichts wie auf Kommando als Ganzes verschwand. Fast so, dachte ich, als seien sie durch die Wände diffundiert. Einfach weg! Der Raum fast leer. Eine der Hostessen hatte sich, ein untrügliches Zeichen, dass der Abend seinem Ende zuging, bei Amphitryon eingehängt und schlich mit ihm durch seine Installation, ein paar ältere Männer quatschten in Mundart mit dem Barkeeper und die Putzkolonne scharrte im Gang zu den Toiletten mit den Hufen. Marie-Louise war gar nicht erst erschienen, was mich wunderte, und ich hatte sie auch telefonisch nicht erreichen können. Das machte mich unruhig. Amphitryon, so sah ich, legte eben den Arm um die Hostess, als mein Mobiltelefon leise Laut gab, die Erinnerungsfunktion, FLUCHT! blinkte es auf dem Display. FLUCHT! Zeit also, mich zur Pension aufzumachen, die im Abstellraum deponierten Koffer zur Hand zu nehmen und zum Bahnhof zu eilen. Morgen früh um sieben würde ich in Berlin sein, dachte ich und machte mich durch den Hinterausgang davon. Es nieselte zum Abschied. Noch einmal versuchte ich Marie-Louise zu erreichen, doch wieder nichts. Ob Amphitryon mich wohl suchen würde oder doch eher mit der Hostess loszöge, fragte ich mich, verlor aber nun keine Zeit mehr mit dummen Fragen, denn vor morgen früh ging kein weiterer Zug. Die Tochter der Frau Klöti-Stampfli hatte die Koffer schon bereitgestellt und schüttelte mir persönlich die Hand, die Mutter lächelte auf uns herab. „Auf ein baldiges Wiedersehen“, sagte sie, „und Grüße!“ „Werde ich ausrichten“, sagte ich, ohne zu wissen, wen sie denn meinen mochte. Sie meinte Marie-Louise, aber das begriff ich erst, als ich sie auf dem Bahnsteig erkannte, wie sie da so auf ihren Koffern hockte. „Ich habe neu gebucht für uns“, sagte sie ohne aufzustehen, „die junge Klöti hat mir gestern dabei geholfen. Zweier-Abteil! Wozu hat man Ersparnisse!“

IV

„Ich bin nicht Sosias!“, rufe ich laut, springe auf und bin mit drei, vier Schritten auf dem Balkon. „Ich bin nicht Sosias!!!“ Die Straßenbahn jault vorbei, ein Wettkampf mit der oben fahrenden U-Bahn, den die Straßenbahn verlieren wird. Die Kreuzung, die Ampel, der Verkehr. Auf dem Gehweg direkt unter mir eine Frau mit schwarz-grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren in einem dunklen Kleid mit weißen Punkten. Die Einkaufstaschen schleifen fast über den Boden. Sie unterquert das Viadukt, dann ist sie weg. Ich höre eine U-Bahn aus der anderen Richtung, klackklack macht es, sie beschleunigt aus der Station heraus. Kurz darauf rast sie an mir vorbei. Kein Kind. Ich gehe zurück ins Zimmer und schließe die Balkontür. Marie-Louise behauptet, vor allem an Regentagen stierte ich stundenlang aus dem Fenster, ohne etwas zu schreiben, keine Zeile. Stimmen kann das nicht, denn am Ende jeden Tages drucke ich die Seiten aus und versenke sie in der Munitionskiste von F. Jung, die er uns hinterlassen hat. Aus dem Zweiten Weltkrieg, denke ich jedes Mal, diese Kiste stammt aus dem Krieg, aus ihr heraus wurde getötet. Nur ich habe den Schlüssel für das schwere Vorhängeschloss, das ich mir nebenan im Werkzeugladen besorgt habe. Sicher, man kann sie aufbrechen, eine ordentliche Brechstange, ein Knippeisen reicht. Aber wer sollte das tun? Außerdem schicke ich jede neue Textversion per Mail an meine Zweitmailadresse, die ich überall auf der Welt abrufen kann. Nur für alle Fälle. Falls ich verschwinden muss. Die Website zu Amphitryon Komplex ist übrigens offline, seit wann weiß ich nicht. Die Direktübertragung des Lebens auf dem Gutshof ist gekappt. Was aber nicht heißt, dass alles zum Erliegen gekommen sein muss, ganz im Gegenteil. Denn wenn etwas mir Unbekanntes hinter all dem steckt, dann ist dieses Unbekannte nun womöglich noch besser verborgen als zuvor. „Wenn etwas dahintersteckt, Arno“, sagt Marie-Louise. Morgen fährt sie nach Bad Wutzenwalde. Sie will da tatsächlich hin. Wir sprechen noch einmal alles durch. Sie legt einen Aktenordner auf meinen Schreibtisch. „Das habe ich gestern auf der Arbeit zusammengestellt, ein paar Anrufe in die Schweiz genügten.“ Ausdrucke, so sehe ich auf den ersten Blick, der Broschüren und Pressemitteilungen zu der Ausstellung in Basel. Dazu Artikel aus Tages- und Wochenzeitungen, Magazinen und von Websites samt vereinzelter Kommentare. In einem zweiten, eingehefteten dünneren Ordner die Abrechnungen der Basler Kunsthalle. Eine Studienfreundin mache dort Praktikum, sagt Marie-Louise. Alles sauber abgeheftet, in Klarsichthüllen. Greifbar. Wer wisse schon, für was so etwas gut sein könne. „Ich werde in Bad Wutzenwalde auf dem Gutshof nicht einfach behaupten können, dass mich das Projekt interessiert, Arno, ohne etwas in der Hand zu haben. Ich werde sagen, ich bereite mit dem Material ein Seminar zum Thema vor. Alkmene wird mich nicht wegschicken können. Es bleibt dabei, morgen fahre ich mit Eduards Auto nach Bad Wutzenwalde.“ Ich sage nichts. Der bronzefarbene alte kleine Honda, Eduard würde mal wieder eine Weile in Prag sein, steht bereits unten vor dem Haus. Mir war nicht wohl bei der Sache. „Ich werde sie an ihre eigene Studentenzeit erinnern“, sagt Marie-Louise zum x-ten Mal, „sie wird wie eine Mutter zu mir sein.“ Ich schüttele den Kopf. „Und denk doch mal darüber nach, was ich ihr biete. Ein Seminar an der UdK zu Amphitryon Komplex. Ein Kapitel in meinem geplanten Buch. All das wird ihr schmeicheln.“ Ich blase die Backen auf. „Du kennst Alkmene nicht!“, sage ich. Dann schweigen wir. Marie-Louise schläft bald ein, während ich am Schreibtisch sitze und U-Bahnen zähle. Hatte ich ihr auch wirklich alle wichtigen Informationen gegeben, frage ich mich ein ums andere Mal. Setze ich sie nicht einer kaum zu beurteilenden Gefahr aus? Und nahm sie die Sache nicht doch zu leicht? Ich hatte den Eindruck, sie hielt meine Vermutungen, etwas anderes als nur Kunst stecke hinter dem Ganzen, tatsächlich für übertrieben. Für Hirngespinste! Andererseits hatte sie sicher recht, ihre Stelle an der Universität würde sie schützen. Kein Zweifel, Alkmene wird sofort ihren Namen googeln. Womöglich aber, fiel mir ein, wird sie Marie-Louise auch direkt fragen, ob sie mich kennt. Sie ohne Umschweife fragen, was sie über Sosias weiß? Arno Scheerbart. Und sie wird ihn ihr zeigen. Als Hologramm. Mich ihr zeigen und ihr dabei direkt ins Gesicht blicken, um zu sehen, ob sie lügt. Mich ansieht wie jemanden, den sie kennt. Liebt. Wenn ich nur wüsste, ob die Hologramme inzwischen überhaupt funktionieren. Von mir, von Alkmene, von uns allen. Ich sehe im fahlen Licht zu Marie-Louise hin. Die Decke ist zur Seite gerutscht. Das Bärchen auf dem hellblauen Schlüpfer blickt mich treuherzig an. Wäre es nicht wirklich besser, überlege ich wieder, wir würden die ganze Sache abblasen? Nicht weiter nachforschen und einfach jeden Verdacht vergessen? Doch was wäre, was ist, hätte ich recht? Zieht man den Kunstfaktor ab, so sind Hologramme eine Form der künstlichen Intelligenz, potentiell jedenfalls. Oder wenigstens die äußere Form davon. Das, was den Menschen erscheint, ihnen gezeigt wird. Oder ist das eine absolut laienhafte Sicht? Ich öffne die Augen. Ich hatte geträumt, am Schreibtisch gesessen und gegrübelt zu haben. In Wirklichkeit liege ich im Bett und Marie-Louise hockt neben mir und sieht mich im fahlen, von außen hereinsickernden Licht mit großen Eulenaugen an. Das träumte ich nun sicher nicht. „Kann schon sein“, sagt sie plötzlich ansatzlos, „dass deine IT-Spezialisten die Kunst nutzen, benutzen für irgendwelche Experimente. Und auch dass ein Autokonzern nicht einfach nur Kultur fördert, sondern ebenfalls handfeste Absichten verfolgt. L’art pour l’art war gestern, so naiv ist heute niemand mehr. Nicht mal Kunststudenten. Aber das macht das alles nicht schon zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit. Arno! Hörst du!“ Ich sage nichts, stehe auf und öffne die Balkontür. Warme Luft wabert herein. „Du hast sicher recht“, sage ich tonlos, dann liegen wir schweigend nebeneinander. Alle paar Minuten wie Karnevalsmusik so schrill die U-Bahn auf ihrem Viadukt. Ab und an betrunkener Lärm vom Gehweg her. Die Betrunkenen früherer Zeiten haben noch Lieder mit Text gegrölt[3], doch das ist vorbei, denke ich, wir leben in Zeiten abnehmender Kultur. Und morgen Abend würde Marie-Louise, so sie denn zum Bleiben aufgefordert wird, auf dem Lande sein. Auf dem Gutshof. Je später sie dort eintrifft, sagt sie, desto eher sei es wahrscheinlich, dass sie nicht wieder in die dunkle Nacht vertrieben wird. Eine kleine Reisetasche steht neben dem Kleiderschrank auf dem Boden, kaum etwas darin, es sollte nicht so aussehen, als ob sie erwartete, dort übernachten zu können. Würde sie im Bungalow schlafen? Im Netz ist übrigens, das habe ich vergessen Marie-Louise zu sagen, aber jetzt schläft sie, keine Spur zu finden von Karl und Max. Mit ihren Projektnamen Jupiter und Mercurius tauchen sie auf, sonst aber nicht. Ich bin sicher, mich an den Nachnamen der beiden richtig zu erinnern. Ein polnischer Name, Brzozowski, Karl und Max Brzozowski. Ich dachte damals, klar, Polen ist ja nur zehn Kilometer entfernt, warum dann nicht ein polnischer Nachname. Doch nun nicht eine einzige Fundstelle im Internet. So als gäbe es die Beiden nicht. Brzozowski & Sohn. Oder erinnere ich mich doch falsch? Möglich. Als ich erwache ist Marie-Louise längst auf den Beinen. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Es dauert eine Sekunde, ein lauter Knall, eine Explosion, der Baum muss wohl in Flammen stehen, die Funken fliegen nur so. Lachend dreht sie sich zu mir um und sieht sofort, dass ich eine Erektion habe. „Männer haben am Morgen Lust, Frauen am Abend“, sagt sie, kommt herein und wirft die Bettdecke über mich. „Man fragt sich, wo trotzdem die vielen Kinder herkommen. Aber gib dir keine Mühe, ich schlafe nur noch mit Alkmene. Ich habe mich verliebt. Wir können Freunde bleiben.“ Ich wache auf. Ein Albtraum. Ich schwitze. Marie-Louise ist längst auf den Beinen. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Ich habe ihr schon tausendmal gesagt, dass sie das sein lassen soll. Nicht auszudenken, sagte ich, einem Fußgänger oder Radfahrer landet die noch glühende Kippe auf dem Kopf oder fällt in die Kapuze. Klar, hatte sie gesagt, oder der Baum explodiert! Sie kommt herein, hockt sich auf mich und hat fast sofort einen Orgasmus. Sie trommelt wie wild mit den Fäusten auf meine Brust und brüllt irgendetwas. Sie würgt mich. Ich kriege keine Luft mehr. Ich weiß, gleich bin ich tot. Dann wache ich wirklich auf. Marie-Louise ist längst auf den Beinen. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Nichts passiert. Sie dreht sich zu mir um, sieht dass ich eine Erektion habe, kommt herein und streichelt mir über den Kopf. Jetzt aber bin ich wirklich wach. „Ich muss los“, sagt Marie-Louise, „zur Uni. Ich fahre dann von da aus direkt nach Bad Wutzenwalde.“ Sie wirft sich ihr Kleid über den Kopf und die Pumps in die Tasche, ich sehe sie enttäuscht an, sie küsst mich, dann ist sie weg. Die Wohnungstür fällt hart ins Schloss. „Marie-Louise“, rufe ich. Sie aber hört mich nicht, der Straßenlärm. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Eine Sekunde später metallisches Geschepper, ein Schrei. Habe ich es ihr nicht tausendmal gesagt, denke ich, halte aber meine Klappe. „Na, endlich wach?“, sagt sie und hockt sich umstandslos auf mich. Jetzt aber wirklich, denke ich, wirklich, wirklich, wirklich.

Als ich eine halbe Stunde später allein bin, denke ich an Bad Wutzenwalde. Prompt springt mir die dortige Telefonzelle, postgelb und mit Münztelefon, vor das geistige Auge. Weder ist sie beschmiert noch sind die Scheiben zertrümmert. Das „Fasse dich kurz!“-Schild fehlt nicht. Es riecht natürlich, so fällt mir ein, nach Zigarettenrauch in ihr. Die Telefonzelle in Bad Wutzenwalde steht unter Denkmalschutz. Die örtlichen Hundebesitzer haben eine Art abendlichen Wachdienst eingerichtet, damit kein jugendlicher Rabauke auf die Idee käme, seinen Hormonüberdruck ausgerechnet an einer solchen Sehenswürdigkeit auszulassen. Manch Hundebesitzer geht öfter als nötig mit seinem Hund Gassi. An die Zelle gepinkelt wird trotzdem nicht, das versteht sich von selbst. Selten aber, dass mal jemand telefoniert. Doch wenn, dann wird der Name Bad Wutzenwalde in die Welt hinausgetragen. Undenkbar nämlich, dass ein Telefonierender nicht erwähnte, er oder sie sei tatsächlich in einer Telefonzelle, und zwar in Bad Wutzenwalde, und wie schwer dieser Hörer in der Hand liege und wie seltsam, inmitten der Welt in einer Zelle zu stehen und von allen beim Telefonieren beobachtet werden zu können. „Ja“, hatte ich zu Marie-Louise kürzlich gesagt, als ich ihr von den örtlichen Gegebenheiten erzählte, „beobachtet schon, aber nicht abgehört! Von dort aus kannst du mich also anrufen. Ein Fremder erregt beim Telefonieren in der Telefonzelle keinen Verdacht. Im Gegenteil, die Leute sind stolz auf das Ding. Denk dir nur, das ist die letzte noch betriebene Telefonzelle in Deutschland!“ Sie wunderte sich. „Sagtest du nicht, es ist vom Gutshaus bis in den Ort eine Viertelstunde stramm zu Fuß. Kann ich denn nicht einfach zu diesem See runtergehen und dich von da aus anrufen?“ Sie stemmte tatsächlich die Hände in die Hüften und sah mich herausfordernd an. „Nein“, sagte ich, „vom See aus erst recht nicht. Karl und Max können sicher mithören, das haben die locker drauf. Abhören ist für die ein Leichtes.“ Marie-Louise lachte. „Das Frollein vom Amt konnte das früher auch. Und der Sicherheitsdienst bei den Nazis und die Stasi in der DDR …“ Ich holte tief Luft. „Aber das gibt es doch alles nicht mehr, jetzt gibt es nur noch Karl und Max. Und Consorten. Der freie Markt machtbesessener Ingenieurswesen.“ Sie lächelte. „Wie du meinst“, sagte sie. „Erzähl einfach, wie sehr du dich in die Telefonzelle verliebt hast, wenn einer von denen mitbekommt, dass du immer von dort aus telefonierst.“ – „Darf man da wenigstens drin rauchen?“ Jetzt musste ich lächeln. „So lange du dich kurz fasst, ist eine Zigarette erlaubt!“

Seltsam, aber ohne den Wachtmeister wäre mir die Telefonzelle nicht einmal aufgefallen. Eines Abends nämlich saßen wir bei klirrender Kälte vor meinem Bungalow, rauchten Zigaretten und tranken Schlehengin. Plötzlich zückte er einen voluminösen Schlüsselbund und hielt mir einen der Schlüssel, schwarz mit dreizackigem Bart, vor die Nase. „Das, mein Sohn“, sagte er, „ist der Schlüssel zur kleinsten Zelle der DDR!“ Ich nickte freundlich und befürchtete das Schlimmste. Zu dieser Zeit war mir die Geschichte um des Wachtmeisters Dichtkunst und seine zeitweilige Abberufung längst bekannt. Vor mir tauchte ein graues Loch auf, in dem man kaum stehen oder liegen konnte, aber da setzte er bereits zu einer Erläuterung an. „Eine Zelle nämlich mit Telefonanschluss, von der aus man die Polizei verständigen konnte. Obgleich lautes Rufen ansonsten ja ausreichte, die Polizeipräsenz war damals ja ungleich höher als heutigentags. Aber gleichviel, es handelt sich bei dieser Zelle in der Tat um eine Telefonzelle. Die seit je her einzige in unserer kleinen Gemeinde. Sie tut auch heute noch ihren Dienst und steht überdies unter Denkmalschutz.“ Er steckte den Schlüsselbund wieder ein. „Ich wusste gar nicht, dass man Telefonzellen abschließen kann“, sagte ich. „Ich selbst war es“, sagte er, meinen Einwurf ignorierend, „der nicht weniger als drei Straftäter, zwei Diebe und einen allseits bekannten Radaubruder, in die Telefonzelle sperrte und diese von außen verschloss.“ Ich nippte am Gin und überlegte krampfhaft, wo denn zum Teufel in Bad Wutzenwalde eine Telefonzelle zu finden ist. Natürlich fiel mir die postgelbe Zelle beim nächsten Mal gleich ins Auge. Sie ist nicht zu übersehen. Eigentlich. Es lässt sich auch wunderbar von ihr aus telefonieren, das muss man sagen, ein ganz anderes Gefühl, als sich mit einem Mobiltelefon in die Ecke zu drucksen oder blindlings durch die Leute durchzumarschieren. Ein Gespräch in ihr hat einfach mehr Würde, mehr Stil. „Und was macht nun“, fuhr der Wachtmeister fort, „ein straffällig gewordener Volksgenosse, der eingeschlossen ist und erkennen muss, dass die Amtsperson, die ihn festsetzte, nichts weiter tut? Ihn also nicht in Gewahrsam verbringt? Keinen Streifenwagen da zu stehen hat?“ Ich zögerte. „Nun? Ich erwähnte es schon.“ Gespannt sah er mich an. „Er ruft die Polizei?“ – „Darauf einen schönen Schlehengin! So ist es!“ Er goss mir nach. „Der Straftäter ruft selbst an und bittet um Inhaftnahme. Was für ein Fortschritt! Eine Belobigung von höherer Stelle, mit der ich, muss ich zugeben, geliebäugelt, ja fest gerechnet hatte, blieb allerdings aus. Anrufbar ist sie auch, die Zelle, nach wie vor. Wenn Sie mich also einmal erreichen wollen, lieber Herr Sosias …“ Er zog einen Zettel mit einer gestempelten Nummer und einer handschriftlichen aus seiner Jackentasche und gab ihn mir. „Dies ist“, er zeigte auf das Gestempelte, „die Nummer der Zelle.“ – „Danke“, sagte ich und steckte den Zettel ein. „Ich schlafe immer bei offenem Fenster und bin im Nu unten“, fügte er hinzu. Ich nickte. „Die andere Nummer ist für den Anschluss in meiner Wohnung. Aber niemand, hören Sie, Herr Sosias, niemand kann diese Nummer anrufen. Es sei denn, diese Person tut dies von einer Polizeidienststelle oder der besagten Telefonzelle aus. Nur so geht’s! Verstehen Sie!“

Ich sprang endlich aus dem Bett. Die Stelle, an der Eduards bronzefarbener Honda gestanden hat, ist leer. Die Schönhauser Allee kaum befahren, ein Lieferwagen, eine Taxe, das war’s auch schon. Zwei Minuten später ein Schub Autos, ein, zwei Motorräder und ein halbes Dutzend elektrischer Motorroller, dann wieder Leere. Nach der Arbeit würde sich Marie-Louise also auf den Weg machen nach Bad Wutzenwalde. Eine Schweizerin im Barnim. Ich begleite sie in Gedanken. Ich hatte ihr genau erklärt, an welcher Stelle sie von der Straße abzubiegen und welcher Weggabelung sie zu folgen hat, der nach links nämlich, rechts ginge es den Weg hinunter zum See, wo aber schon mancher Wagen steckengeblieben ist. Dann müsste sich der Wachtmeister den Geländewagen des Gemüsehändlers leihen, ein ganz modernes, sauteures Ding, und die Karre aus dem Dreck ziehen. Außerdem, gab ich zu bedenken, ist es nicht gut, sich Alkmene von der Seeseite her zu nähern, von hinten gewissermaßen. Sie ist bei allem sehr empfindlich. Ich stelle mir also vor: Marie-Louise fährt mit dem bronzefarbenen Honda an der Gabelung links und dann auf den Hof des Gutshauses, der nach der letzten Kehre plötzlich leer vor ihr liegt. Links das alte Verwaltungsgebäude mit der auffälligen Feuertreppe an der linken Außenwand, rechts das Wohnhaus. Der Kies knirscht unter den schmalen Reifen. Es ist unmöglich, von dieser Seite geräuschlos anzukommen. Die weiß-rot-getigerte Katze auf dem Fenstersims links neben der Haustür bleibt unbeeindruckt. Sie öffnet die Augen, rührt sich aber nicht vom Fleck. Eine Katze ist kein Hund. Wie nun den Wagen parken, das fragt sich Marie-Louise, oh ja, ich kenne sie, sie fragt sich unentwegt solche Sachen. Während die meisten Menschen einfach irgendwie parken und sich so alle Möglichkeiten auf eine willkommene Ankunft von vornherein verbauen können, hat Marie-Louise ein Problem zu lösen. Sie schwitzt, nicht weil ihr zu warm ist, sie trägt eine Bluse und einen kurzen Rock und ist barfuß, sondern weil sie eine diffuse Angst verspürt, seit sie von der Straße abfuhr. Wenn sie Angst hat oder nervös ist, verfällt sie in ihre schweizer Sprechweise und fühlt sich unterlegen, sagt sie. Wie also jetzt parken? Jedes Zögern gäbe der Kies gleich weiter, also muss sie intuitiv in ein, zwei Sekunden richtig entscheiden. Sie lässt den Wagen ausrollen und parkt rechts von der Eingangstür mit der Nase nach vorne zur Hausfront, leicht schräg, im Schatten. War das richtig? Die Pumps liegen auf dem Beifahrersitz, dunkelgelbe, sie greift danach, öffnet die Fahrertür, zieht die Schuhe an und geht, die Wagentür offen lassend, ohne zu zögern auf die Haustür zu. Jetzt erst sieht sie die Katze auf dem Fenstersims und erschrickt. An der Tür keine Klingel. Ich hatte nicht daran gedacht, ihr das zu sagen. Sie klopft, es macht tock, tock, tock ins Innere des Hauses hinein, ein Kopf drinnen dreht sich zur Tür hin, aber nichts geschieht. Keine weitere Bewegung. Marie-Louise wartet, den Zündschlüssel in der Hand. Der Weg dort hinten muss wohl zum Bungalow führen, Arno hat mir, denkt sie, alles genau beschrieben. Sollte sie gleich sagen, trifft sie jemanden, sie sei Dozentin an der Universität der Künste in Berlin und arbeite zum Projekt Amphitryon Komplex? Das wäre wohl das beste. Der Wagen knackt aus dem Motorraum, dem ein leises Tickern folgt. Die Katze gähnt. Du kannst auch, hatte Arno gesagt, erinnert sie sich, um das Haus herumgehen auf die Terrasse. Der Schweiß läuft ihr aus den Achseln die Hüften herab. Noch einmal klopft sie. Doch wieder geschieht nichts, nur ein Kopf dreht sich. Marie-Louise zögert, noch einmal zu klopfen. Sie geht zum Wagen zurück, zieht die Schuhe aus, wirft sie auf den Beifahrersitz, steigt ein, steckt den Zündschlüssel ins Schloss und startet den Motor. Kurze Zeit später stellt sie den Wagen in Bad Wutzenwalde auf einen der properen Parkplätze vor einem kleinen Hotel und schlendert zur Telefonzelle. Barfuß. So lange, denkt sie, Karl und Max nicht Witterung aufgenommen haben, gibt es eigentlich keinen Grund, Arno nicht einfach mit dem Mobiltelefon anzurufen. Trotzdem zieht sie die Tür der Telefonzelle auf. Warme Nikotinluft schlägt ihr entgegen. Das also, denkt sie, ist die berühmte Bad Wutzenwalder Telefonzelle! Nun ja. Zehn Minuten zuvor, das denke nur ich mir jetzt, erscheint Marie-Louise auf dem großen Bildschirm. Dachboden. Götterhimmel. Jupiter und Mercurius, respektive Karl und Max. Der Bildschirm teilt sich in vier Teile. Vier Kameras erfassen Marie-Louise. Automatisches Scannen von Gesicht und Iris. Karl zoomt auf Marie-Louises Füße und die linke Hand, die den Autoschlüssel hält. Dann erfasst er das Nummernschild des Honda. Kurz darauf reckt Max vor seinem Laptop den Daumen hoch. „Marie-Louise Lisst“, sagt er, „Künstlerin aus Basel. Der Wagen gehört einem Eduard Raban, Kulturwissenschaftler aus Berlin.“ Karl gibt einen Flötenton von sich. „Eine Verbindung zu unserem speziellen Freund?“, fragt er. „Ich arbeite dran!“ Diesem Vorgang entgegengesetzt achtet kein Mensch auf Marie-Louise, als sie die Tür der Telefonzelle aufzieht. Unsinnig eigentlich, jetzt zu telefonieren, nur um zu sagen, dass niemand auf dem Hof ist, denkt sie. Münztelefon. Die Luft trocken, dumpf. Fasse dich kurz!, liest sie. Menschen gehen langsam vorbei, niemand unter sechzig, so scheint es. Natürlich weiß sie Arnos Nummer nicht auswendig, auch so ein Verlust an Freiheit, eine Abhängigkeit von Gerätschaften, doch noch bevor sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche ziehen und nachsehen kann, welche Nummer sie zu wählen hat, klingelt das Münztelefon. Sie erschrickt heftig. Ein helles, schrilles Klingeln. Ein Schrillen. Zögerlich nimmt sie den Hörer zur Hand. „Hallo?“, sagt sie. „Sind Sie verwandt oder befreundet mit Herrn Sosias?“, fragt eine sonore Stimme. „Nein, also, ja“, erwidert sie stockend und ärgert sich sogleich, „ich …“ Wild sieht sie sich um, auf dem Platz aber ist jetzt niemand. „Bleiben Sie wo Sie sind, schauen Sie nicht zu meiner Wohnung hoch, ich hole Sie ab und gehe mit Ihnen durch den Ort. Ich lege jetzt auf, behalten Sie den Hörer in der Hand. Bewegen Sie ab und an den Mund und sagen Sie etwas. Egal was. Bleiben Sie ganz ruhig.“ Die Stimme des Mannes hatte zugleich so beruhigend wie unheilverkündend geklungen. Und was sollte das heißen, durch den Ort gehen? Warum? Sie friert plötzlich. Gefangen in einer Zelle, denkt sie und sieht hinüber zum Wagen. Ein paar Schritte nur, Zündschlüssel ins Schloss, starten, wenden und dann links, raus aus dem Kaff hier! Doch da kommt bereits eine korpulente Figur in Uniform leicht hinkend auf die Telefonzelle zu, öffnet umstandslos die Tür, legt lässig zwei Finger der rechten Hand an die Dienstmütze, gibt ihr die Hand und zieht sie heraus. Sie schafft es grad eben noch, den Hörer auf die Gabel zu bringen. „Unter Denkmalschutz“, sagt der Mann mit einem Lächeln, „ein Stück Bad Wutzenwalder Geschichte. Ich selbst war es, der spät am Abend des 9. November 1989, von einem Dienstgang heimkehrend, das Telefon“, er sieht es fast zärtlich an, „klingeln hörte und abnahm. Auf diese Weise kam die inzwischen weltberühmte Übergangsregelung zur Ausreise der DDR-Bürger über die innerdeutsche Grenze bis zu uns nach Bad Wutzenwalde, und zwar bereits vor jeder Meldung in der Presse und im Rundfunk. Ich erzählte es sogleich jedem und allen. Man hielt mich für verrückt und erwog sicher schon Maßnahmen. Hier entlang bitte, Frau …, wie war doch gleich Ihr Name?“

Und dann lässt sich Marie-Louise vom Wachtmeister also den Ort ausbuchstabieren. So nannte er das immer, wenn er jemandem den Ort zeigte, ausbuchstabieren. Das passt zu ihm. „Ich buchstabiere Ihnen Bad Wutzenwalde aus, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen“, sagte er also, „folgen Sie mir!“ Hätte ich Marie-Louise warnen müssen vor des Wachtmeisters Präsenz? Sicher, ich hatte ihr das ein oder andere über ihn erzählt, auch die mitunter langen Gespräche vor meinem Bungalow nicht unerwähnt gelassen, doch das muss ihr womöglich nicht recht im Gedächtnis geblieben oder gar als Hirngespinsterei erschienen sein. Das passiert mir öfter als mir lieb ist: Die Leute glauben mir nicht oder hören mir gar nicht erst richtig zu. Achten nicht auf Details. Nun, jedenfalls läuft das seltsame Paar eine Weile durch Bad Wutzenwalde, Marie-Louise mehr und mehr paralysiert, während der Wachtmeister allen freundlich zunickt, vor der Bäckerei mit der Bäckersfrau ein paar Worte wechselt, jedermanns Hund streichelt und zwischendurch die ein oder andere Bemerkung fallen lässt, dieses Haus hier war zu Ostzeiten … in jener Gasse dort drüben hat sich einmal …, so in der Art, bis sie schließlich wieder an der Telefonzelle anlangen. Es dämmert bereits. „Gut also, das wäre getan“, brummt er, „warten wir nun also noch, bis es zur Gänze dunkel ist, Frau Marie-Louise, dann versuchen wir es vom See her. Der Kies des Hofes ist allzu tückisch. Haben Sie einen Feldstecher dabei?“

An diesem Abend sieht mich Marie-Louise zum ersten Mal in meiner Rolle als Sosias. Im Kostüm gewissermaßen, auch wenn ich keins trug. Den Weg aus dem Ort hinaus zum Gutshof hatten sie schweigend zu Fuß unternommen. An der Weggabelung gingen sie rechts zum See hinunter. Der Mond schien durch Schleierwolken hindurch. Eine Eule flog absolut lautlos über ihre Köpfe hinweg. Am Seeufer liefen sie vorsichtig ein paar hundert Meter parallel zum Hauptgebäude, das, so flüsterte der Wachtmeister Marie-Louise zu, hinter dem Waldstück läge. Schließlich schlichen sie vorsichtig zwischen den Bäumen den Hang hinauf. Die Wiese vor ihnen im fahlen Mondlicht. Position bezogen sie nahe der Schneise (an deren oberen Ende mein Bungalow liegt), von wo aus sie von einem kleinen Hügel mit einer Mulde obenauf, in die man sich wunderbar hineinlegen konnte, so Marie-Louise später mir gegenüber, gute Sicht auf die Rückseite des Hauses hatten. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber tauchte ich auf, einfach so, erzählte Marie-Louise mir mit einem Schaudern, mein Doppelgänger also, der eine Weile rauchend auf der Terrasse stand, und wäre nicht die Katze durch meine Beine hindurchgelaufen, sagte Marie-Louise noch, sie würde mich für real gehalten haben auf die Entfernung. „Überhaupt“, berichtete sie mir später mit glänzenden Augen, „sind dann alle einfach immer durch sich selbst oder andere hindurchgegangen. Der Wachtmeister erzählte mir, dass es am Anfang noch Zusammenstöße gegeben hat, Karl und Max und Alkmene seien einige Male zusammengerasselt, weil sie ihr Gegenüber für ein Hologramm hielten. Perfekt, sagte er, habe das alles aber trotzdem nie gewirkt, das mit den Dingern, Dinger sagte er, denn manchmal sind die Hologramme wohl unscharf oder bewegen sich hackelig oder fallen sogar einfach aus und sind dann plötzlich weg.“ Ich zog scharf die Luft ein. „Aha! Und nur Amphitryon und mich gab es an diesem Abend nicht doppelt?“ „Ja, sonst alles doppelt. Selbst die Katze!“ – „Die Katze?!“ – „Ja.“

V

Dreiviertel Acht. Marie-Louise todmüde. Augendeckel auf Halbmast. Ich hatte sie nicht hereinkommen hören. „Und?“, frage ich. Sie zuckt mit den Schultern. Auf dem Hof sei niemand gewesen, aber den Wachtmeister habe sie kennengelernt, in dessen Datsche sie aber nicht übernachten hätte wollen. Kurz nach Mitternacht sei sie in den Wagen gestiegen, um dann auf einem Autobahnrastplatz bis zur Morgendämmerung mehr schlecht als recht ein wenig zu schlafen. Ich schlage vor, ins Café Schildkrödt in der Wichertstraße zu gehen. Sie nickt müde. Zuletzt war das Café einige Male in den Schlagzeilen, weil Kinder dort nicht erwünscht sind. Ein freundliches Schild informiert über das Ruhebedürfnis Erwachsener. Mobiltelefone sind ebenfalls untersagt. Kürzlich gab es einen Einbruch mit Vandalismus. Die Polizei ermittelte, ohne Erfolg, und nun läuft seit ein paar Tagen der Betrieb wieder. Statt des Hinweises auf nichterwünschte Kinder heißt es nun offiziell Schildkrödt – Café für Erwachsene. Wir drängeln uns an den lebendigen Excel-Tabellen vorbei, die ohne Coffee-to-Go nicht auf der Arbeit erscheinen dürfen. Hinten in der Ecke Eduard, ich erkenne ihn sofort an seiner buckligen Sitzhaltung. Er ist oft der erste Gast. Links und rechts Bücherstapel. Er hackt etwas in seinen Rechner. „Prag?“, rufe ich ihm leise zu, als er kurz aufsieht. „Erst heute Abend, hatte noch zu tun“, sagt er laut. Wir setzen uns ans Fenster. „Und was nun, Arno?“, fragt Marie-Louise. Sie hat knallrote Augen wie ein Zombie. „Ein zweiter Versuch?“, sage ich. „Nicht allein“, erwidert sie, „der Wachtmeister hat da so Andeutungen gemacht.“ Ich winke ab. „Der erzählt viel, wenn der Tag lang ist“, sage ich lächelnd. Seltsam, jetzt war ich es, der das Ganze für nicht so gefährlich erklärte. Wir bestellen Frühstück. Marie-Louise bleibt ernst. Wir schweigen eine Weile. Eduard fragt gestisch, Lenkrad, Daumen wackelnd, ob wir mit dem Auto zufrieden sind, wir nicken, dann starrt er wieder auf seinen Rechner. Ein Buch über Nahtoderfahrung.[4] Er sitzt bereits mehrere Jahre daran, theoretisch, wie er immer wieder sagt, rein theoretisch. Vielleicht, denke ich, sollten wir Eduard in unsere Nachforschungen einweihen. Wir frühstücken lange und sie erzählt die ganze Geschichte und wie der Wachtmeister sich sehr routiniert in die Beobachtungsmulde auf dem Hügel gleiten ließ. Wie ein Walross, sagt sie lächelnd.

Ich mache mir Sorgen. Ohne Zweifel ist sie ziemlich durcheinander, und dies, obwohl sie doch die Installation in Basel kennt und wir alles x-mal durchgesprochen hatten. Womöglich hat sie ihre Kräfte überschätzt. Oder war es der Wachtmeister, der ihr am meisten zugesetzt hat? Sie sagt, sie habe ihn immer wieder, ganz widersinnig natürlich, wie aus Versehen berührt, nur um sicherzugehen, dass er echt ist, aus Fleisch und Blut. „Sicher ist immerhin, dass es Alkmene nicht verwundern kann, wenn sich eine Kunststudentin, noch dazu aus Basel, für das Projekt interessiert“, sage ich, nur um sie ein wenig zu beruhigen. „Es wird am besten sein“, entgegnet sie, „wir greifen die Zwillingsidee auf und ich nehme deinen Bruder mit, den Vernünftigeren von euch beiden.“ Ich nicke, doch noch bevor ich etwas sagen kann, ein Prasseln und Krachen. Kinder, so fünf, sechs Jahre alt, werfen Steine und Sand gegen die Scheiben und laufen daraufhin quiekend zu einem mattgrünen, auf dem Fahrradstreifen stehenden SUV[5], dessen rechte hintere Tür eine dünne junge Frau in einem weißen Hosenanzug aufhält. Als alle drin sind, geht die Frau energisch um den Wagen herum, steigt ein und gibt Vollgas. Dann ist wieder Ruhe. „Wir brauchen einen Plan“, sage ich. Später zuhause mache ich mich noch einmal an die Recherche, auch mit italienischen, französischen und englischen Suchbegriffen. Das Kunstprojekt Amphitryon Komplex schien aber tatsächlich fast sang- und klanglos aus dem Bewusstsein der Kunstszene verschwunden zu sein. Auf der Website der Kunsthalle Basel findet sich ein Text (von mir), ein paar Fotos und Daten, mehr aber nicht, auf der des fördernden Autokonzerns nur allerlei über die Kultur- und Kunstförderung, der übliche Feigenblattaktionismus, nichts aber zu unserem Projekt. Allein die Kübler-Balgbützel Stiftung hat umfangreichere Informationen und zwei Dutzend Fotos auf ihre Seite gestellt, doch kein Verlag kündigt ein Buch an, kein Reiseveranstalter offeriert einen hochpreisigen Besuch des Gutshofes mit anschließender Bootsfahrt und Besichtigung des Schiffshebewerks, oder was auch immer. Nichts. Auf Wikipedia ebenfalls nichts. Die Google-Bildsuche ergibt drei zusätzliche Bilder. Drei! Täuschte ich mich, oder war das Ganze schon sehr früh ein Rohrkrepierer gewesen, und das wahrscheinlich schon zu der Zeit, als ich mir noch die Finger wund schrieb für die Broschüren und Anträge? Oder ist das, frage ich mich, jetzt nicht einfach ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das ganze Projekt nur Tarnung ist? Denn die einzigen, die womöglich von der ganzen Chose profitieren, sind Karl und Max und ihre möglichen Hintermänner und -frauen. Außerdem frage ich mich ja schon länger, wo denn Amphitryon abgeblieben ist. Zuletzt mit ihm gesprochen hatte ich am Abend der Finissage in Basel. Er saß kurz vor Beginn in einem Nebenraum auf einem Hocker, spuckte auf seine Schuhe und polierte sie. „Heute muss es einfach klappen, Arno“, sagte er damals, irrer Blick, wie ein waidwundes Tier, „heute machen wir den Fang und verkaufen den Komplex!“

Was also ging da wirklich vor? Doch noch bevor ich dies alles mit Marie-Louise besprechen konnte, bekam sie noch am selben Tag urplötzlich das Angebot, in Cork zu unterrichten. Ihre Professorin, die jedes Jahr zwei mal nach Irland reiste und dort lehrte, hatte sich bei einem Fahrradunfall in Zürich beide Arme gebrochen. Mit dem Vorderrad in die Straßenbahnschienen, ausgerechnet auf Höhe des Kunsthauses am Pfauen, und zwar beim Anblick des Erweiterungsbaus, über den sie sich schon in der Planungsphase fürchterlich aufgeregt hatte, so Marie-Louise. Sie nahm das Angebot an und flog schon am nächsten Nachmittag nach Irland. „Wir skypen“, rief sie mir noch zu, als sie in Schönefeld mit ihrem Handgepäckkoffer in den Wartebereich verschwand. So schnell kann’s gehen! Mit einem Kloß im Hals fuhr ich zurück, suchte dann lange einen Parkplatz und taperte schließlich missgelaunt die Schönhauser Allee runter. Wie immer lief viel Menschenvolk gewohnheitsmäßig durcheinander. Jeder Einzelne mit seinem eigenen kleinen privaten Glück beschäftigt, der Suche danach, der Pflege des vermeintlich Erreichten, was auch immer. Die Unwissenden![6] Ich ging in die Schönhauser Allee Arcaden und kaufte eine große Süßkartoffel, Zucchini, Paprika, Kohlrabi, Zitronen, ein Sechserpack Bier, ein großes Stück Cheddar und eine Papiertüte mit Werbung drauf. Marie-Louise in Cork, dachte ich die ganze Zeit, bis die Professorin die Arme wieder bewegen kann. In etwa sechs Wochen, so der Plan, kommt sie zurück nach Berlin. Sechs Wochen! Sollte ich etwa allein nach Bad Wutzenwalde, um dort meinen Zwillingsbruder zu mimen? Ich verließ das Einkaufszentrum durch die Drehtür. Unter dem Hochbahnviadukt spielte ein greiser Gitarrist dröhnend die Filmmusik von Dead Man. Neben ihm ein Pulk Menschen, auf Grün wartend, teils armselige Gestalten mit verhärmten Gesichtern, gebeugt, mit hängenden Köpfen und nach unten gerichteten Mundwinkeln, dazwischen die üblichen, selbstbewusst dreinblickenden jungen Grobiane. Und unter ihnen, mitten darin, wie eine Erscheinung, fast hätte ich aufgeschrien, Alkmene! Eine hohe, schwarze Gestalt! Kein Zweifel. In schwarzem Trenchcoat, die Haare streng nach hinten gebunden. Mein Herz wummerte heftig. Ich drehe sofort auf dem Absatz um und laufe über den Bahnsteig der S-Bahn bis zur Greifenhagener Straße und dann nach Hause. Hoffentlich hatte sie mich nicht gesehen, dachte ich. Endlich sitze ich am Schreibtisch und betrachte die Häuserfront gegenüber. Ich beruhige mich langsam. Die U-Bahnen zischen regelmäßig durchs Bild. Glück gehabt, denke ich immer wieder. Glück gehabt!

Marie-Louise in Cork. Plötzlich war sie weg. Natürlich fehlt sie mir. Ich versuche, sie mir vorzustellen. Im Baumwollschlüpfer oder mit einem Shirt bekleidet auf dem Futon. Rauchend auf dem Balkon. Ist sie unten herum nackig, so sagt sie immer irgendwann plötzlich, ohne dass ich auch nur die geringste Andeutung gemacht habe, da müsse eben Luft ran. Aber ich schweife ab. Für sie ist es jedenfalls ein Glück, denke ich, das mit Cork. Eine schöne Möglichkeit, Kontakte zu machen. Auch wenn ich mich fragte, wie man sich denn bei einem Radunfall beide Arme bricht. Man fliegt doch nicht geradeaus über den Lenker! Aber gleichviel, Tatsache ist, Marie-Louise ist fort und ich hatte Alkmene gesehen. In Berlin! Ausgerechnet jetzt. Ich wünschte, es wäre Phantasie gewesen. Gut nur, dass ich nicht dreißig Sekunden später raus bin aus dem Einkaufszentrum. Dann wären wir uns womöglich vor dem Eingang begegnet. Alkmene, wie sie leibt und lebt. Eine hohe, schwarze Gestalt. Sicher hätte sie mir umstands- und ansatzlos die Faust ins Gesicht gerammt. Wer hätte mir schon geholfen? Niemand! Alle gehen davon aus, dass ein Mann, trifft es ihn von einer Frau, genau das verdient hat. Und noch mehr! Würde sonst, so denken alle, eine zarte Frau zu solchen Mitteln greifen? Wie gesagt, Glück gehabt! So sitze ich nun also nachdenkend am Schreibtisch, ohne etwas arbeiten zu können. Das Hochbahnviadukt. Die Häuser gegenüber. Als es dunkel wird lege ich mich aufs Bett und mir einen getragenen Schlüpfer Marie-Louises aufs Gesicht. Eine kurze Weile komme ich mir pervers vor, denke dann aber, dass jeder das machen würde in meiner Lage, oder zumindest jeder Zweite. Der eine legt sich das Höschen aufs Gesicht, der andere nicht. Und schon steht da wieder die Sache mit dem Zwillingsbruder im Raum. So skeptisch ich auch gewesen sein mochte gegenüber der Zwillingsidee, nun schien sie mir auf einmal machbar zu sein. Wirklich machbar! Ich springe auf und stelle mich vor den großen, an der Wand stehenden Spiegel, ein Überbleibsel von F. Jung, und prüfte meine Fähigkeiten zur Metamorphose. Ich kombiniere die unterschiedlichsten Kleidungsstücke, probe verschiedene Körperhaltungen und Arten zu stehen, auf einem Stuhl zu sitzen, auf dem Laptop herumzuhacken, zu lächeln, mich zu kratzen, ja ich zog sogar Marie-Louises Slip an und onanierte auf den Spiegel – das nämlich täte einer der beiden Zwillingsbrüder nie, so sagte ich mir. Nie! Fragt sich nur welcher! Eben das würde ich noch herausbekommen müssen. Und einen Namen musste er natürlich auch bekommen. Klar. Die Zwillingsbruderschaft hatte perfekt zu sitzen, keine Frage! Nach vier, fünf Zigaretten und zwei Bieren, unten herum nackig auf dem Balkon, taufte ich meinen Bruder dann schließlich Robert. Einfach so. „Hallo Robert“, rief ich hineingehend und sah in den Spiegel, auf dem das Sperma langsam antrocknete. „Hallo Arno, Bruderherz“, sagte Robert und lächelte mich zart an. Doch das Gespräch stockte unmittelbar, mir fiel nichts ein, ihm auch nicht, wir hatten uns nichts zu sagen. Immerhin aber, dachte ich, hat der Prozess begonnen. Wir öffneten die dritte Flasche Bier, prosteten uns zu und nahmen einen tiefen Schluck.

Eine weitere Frage war noch zu klären: Sollte ich Eduard nun einweihen oder nicht? Ihm alles von Anfang an erläutern? Denn allein war die Sache womöglich zu gefährlich. Und dann der Wachtmeister! Würde er mich nicht ohnehin durchschauen, wenn ich in Bad Wutzenwalde auftauchte als Robert, dem Zwillingsbruder Arnos? Kurz vor Mitternacht deutscher Zeit meldete sich Marie-Louise per Skype aus Cork. Alles gut. Sie sah toll aus. Im Hintergrund die Couch, auf der sie schlafen würde, darauf ein hellgrauer Flokatiteppich und ein Kissen. Ich sagte ihr nichts davon, dass ich drauf und dran war, ihre Idee mit dem Zwilling nun tatsächlich in die Tat umzusetzen. Stattdessen lenkte ich das Gespräch auf Eduard, den Marie-Louise ja nur sehr flüchtig kannte, und erzählte ihr, wie er vor Jahren nach einem eigentlich glimpflich verlaufenden Autounfall plötzlich ins Koma gefallen war. Tage später. Zusammengebrochen mitten auf der Straße. „Als er nach Wochen im Krankenhaus plötzlich erwachte, war er wie ausgewechselt gewesen. Ein Anderer. Er aber sagte, er sei noch immer der selbe Eduard wie zuvor. Nachwirkungen keine! Dabei konnte jeder sehen, wie getrieben er nun war, in allem. Wie ausgewechselt. Wie gesagt, bis heute.“ Pause. „Okay, erzähl ihm die Sache“, sagte Marie-Louise schließlich, „I have to walk the dog, bis bald,“ worauf sie etwas mir Unverständliches in den Raum rief und der Flokatiteppich in die Höhe schnellte und ihr jaulend in den Rücken sprang. Sie lächelte, winkte mir zu und weg war sie.

Und Robert war auch weg, irgendwie. Mit dem vierten oder fünften Bier kam er zurück. Das wurde mir aber erst in dem Augenblick klar, als ich schwankend und mit verheultem Gesicht vor dem Spiegel stand und mir mit einem Male Sorgen um Arno machte. Um meinen Zwillingsbruder. Ich, der Vernünftigere, Robert, sorgte mich um ihn. Wo mochte der Kerl nur stecken, fragte ich mich, und was hat sein Verschwinden mit diesem Projekt zu tun, Amphitryon Komplex? Sicher bin ich, damit war auf jeden Fall zu rechnen, nicht der Einzige, der nach ihm sucht. Denn womöglich wollte man ihn unschädlich machen! Aber wer? Als ich am Morgen erwachte, war ich wieder Arno. Es reicht nicht, sich zu betrinken und rührselig zu werden. Ich konnte nicht einfach ohne weiteres in eine Rolle hineinschlüpfen, nein, ich musste tatsächlich Robert werden. Für eine Weile. In Wirklichkeit. Eine Metamorphose durchmachen. Ich dachte nach. Ovid widmet sich in seinen Metamorphosen bekanntlich ja nichts anderem als dem Gestaltwandel, während ich aber einen Persönlichkeitswandel im Sinn hatte, nach außen getarnt durch die Zwillingsidee. Wie also vorgehen? Mich äußerlich zu verändern tat nicht not, naturgemäß, das war klar. Eine Tätowierung allerdings, eine kleine Veränderung nur, die wäre nicht schlecht. Um so en passant klar zu machen, ich bin der Andere! Aber so etwas, eine Tätowierung meine ich, braucht eine Weile und darf dann ja auch nicht nagelneu aussehen. Doch ging das überhaupt, eine Tätowierung so stechen lassen, dass sie wie eine uralte wirkte? Außerdem war ich nicht der Typ für so etwas. Ich, Arno. Und das Entfernen hinterließ dann sicher eine Narbe. Oder sollte ich mir einfach einen Bart wachsen lassen, mir irgendwie Geld leihen und ein Motorrad besorgen? Würde sich Alkmene dadurch blenden lassen, würden Karl und Max, die mich ja als lebendes Hologramm erschaffen hatten und alle nur möglichen Bilder und Daten auf dem Rechner horteten, mich nicht gleich erkennen? Mir ins Gesicht lachen und sagen, netter Versuch, Arno! Und stünde ich dann sozusagen neben mir selbst, neben Sosias, also dem Hologramm-Sosias, wäre dann nicht alles noch augenfälliger?

Am Abend lief ich dann vor den Schrank von F. Jung, ein furniertes Ungetüm aus den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts. Genauer gesagt mit Karacho vor die offen stehende Schranktür, die ich im Zwielicht der Wohnung nicht gesehen hatte. Ich erwischte die Außenkante. Mittig mit Nase und Stirn. Ich taumelte zurück und fiel aufs Bett. Vorsichtig betastete ich die lädierte Nasenspitze und die Prellung über der Nasenwurzel. Aber erst als ich vor dem Spiegel stand, mir die Bescherung anzusehen, kam mir die entscheidende Idee. Ich würde mir, überlegte ich, einfach eine schöne alte Wundnarbe auf die Stirn tätowieren lassen! Keinen roten Zacken wie Harry Potter, sondern schön mittig einen geraden Strich. Nicht zu tief gestochen, damit er wieder verschwindet, wenn das alles vorbei sein würde. Konnte ja nicht die Welt kosten. Nur alt und nicht frisch musste die Narbe aussehen. Unbedingt! Und Schuld daran war natürlich Arno, eine Kindheitsgeschichte, die musste es natürlich auch geben. Arno, der aus einem Kantholz und einem Seil ein Pendel hergestellt hatte, in das ich prompt hineinlief. Ich, Robert. Oder Robert rennt als Kind vor die Küchenschrankkante! Ohne Arnos Schuld. Gefällt mir fast noch besser! Weder Alkmene noch Amphitryon hatte ich etwas von meiner Kindheit und Jugend erzählt. Weder etwas Wahres noch Erlogenes. Dass meine Eltern ursprünglich aus dem Böhmischen stammten, weiß also keiner. Oder aus Schlesien. Oder meine Mutter aus Südtirol und mein Vater aus Königsberg. Oder beide aus Westfalen. Oder Pommern. Egal, dachte ich, ich muss mich nur für etwas entscheiden und in Bad Wutzenwalde Robert sein. Das ist eigentlich alles.

Der Tätowierer in einem Studio gleich nebenan, den ich anderntags fragte, meinte mit einem toten Blick aus seinen schwarzen Augen, er sei Künstler, er mache so etwas nicht. Eine Narbe tätowieren! Und dann auch noch, so sagte er, als Temptoo! Wo käme man denn da hin! Da sei die Tür. Statt mich unnötig über den Idioten aufzuregen fuhr ich mit Marie-Louises Rad nach Kreuzberg, wo direkt vor mir in einer wüsten Straße ein Tätowierstudio auftauchte. Als hätte ich’s gewusst. Ich schloss das Rad an eine Straßenlaterne an und betrat schweißüberströmt den kleinen Laden. Schwarze Wände mit dutzenden von gerahmten Fotos, Krake auf Oberarm, Drache auf Busen, Flammen über weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen, ein Anus in Flammen, ein Äffchen auf einem Anker auf Unterarm, Florales auf Wade, ein VW-Bus auf Mannesbrust, Rosen auf Arschbacken, Backstein auf Stirn, chemische Formel auf prallem Bauch, Zappa auf dem Klo auf Bizeps und so weiter. Nach zwei, drei Minuten bewegt sich endlich ein schwarzer Vorhang und es erscheint eine über und über mit züngelnden Flammen tätowierte Tätowiererin im knappen Bikini mit Netzkleid darüber, barfuß. Ich schildere kurz und knapp mein Anliegen, eine Kindheitsnarbe, alt und lange schon verheilt, worauf sie zur Uhr blickt, mich an den Schultern packt, auf den Zahnarztsessel schiebt und gleich die Nadel anlegt. Betäubung ginge auch, wenn ich denn wollte, ich wäre ja an dieser Stelle schon etwas lädiert. „Nein“, sage ich, „Kunst muss wehtun!“ Sie strahlt mich an. „Schön, also genau in die Mitte, da wo die Prellung ist! Ich mach dir eine Kontur mit ein wenig Farbe. Das wird reichen. Hält dann aber auch nur ein paar Wochen, je nachdem. Ist ein Zwanni dafür okay? Und schön stillhalten!“ Mit einer Folie auf der Stirn, einem Merkzettel und der Visitenkarte von Barbara in der Hand trete ich eine halbe Stunde später wieder auf die Straße. In ihrer Kundenkartei, denke ich, steht nun ein Robert Scheerbart. Ich. An Marie-Louise sende ich gleich eine Nachricht. „Die Transformation hat begonnen“, schreibe ich, „Liebe Grüße von Arno & Robert.“ Jetzt weiß sie es. Sie sendet zwei Ausrufezeichen zurück. Ich fahre zurück in den Prenzlauer Berg, kaufe ein und verkrieche mich wieder in unserer Wohnung. Wen, überlege ich, sollte ich noch einweihen? Eduard? Oder sogar den Wachtmeister? Niemanden? Ein paar Tage lang mache ich mir Listen und Notizen. Zu Robert. Welchen Kleidungsstil er pflegt, was er gerne isst und was nicht, welche Zigarettenmarke er bevorzugt. Und so weiter. Und ob ich mich für Sport interessiere oder Philosophie, oder beides, wie mein Verhältnis zu meinem Bruder Arno ist, welchen Beruf ich habe. Nicht so einfach, sich ganz neu als sein eigener Zwilling zu erfinden.

Marie-Louise meldet sich jetzt nur noch mit SMS-Nachrichten. Der Corker Dialekt sei interessant, so langsam höre sie sich ein, schreibt sie. Ende der Woche treffe ich Eduard im Schildkrödt, zufällig wie immer. Er löffelt eine vegane Schildkrötensuppe, neben dem veganen Kinderteller für Erwachsene die Spezialität des kleinen Cafés. Ich nehme einen Kaffee, schwarz und humorlos. „Prag war gut“, sagt er ungefragt. „Fällt dir etwas auf an mir?“, erwidere ich. „Wo ist denn Marie-Louise?“, fragt er zurück. Es ist nie leicht, sich mit Eduard zu unterhalten, am Anfang ist es immer ein Kampf um die Hoheit. Ich erzähle ihm die Sache mit Marie-Louises Einsatz in Irland und dem Malheur ihrer Baseler Professorin in Zürich. Auch er findet es seltsam, sich bei einem Fahrradunfall beide Arme zu brechen. „Ich habe vor einer Weile“, sagt er, „mal einen Kerl im Urban-Krankenhaus kennengelernt, der hatte seinen besten Freund aufgefangen, als der besoffen vom Balkon gefallen ist. Beide Arme in Gips.“ Ich nicke. Eine gute Geschichte. „Jedenfalls ist Marie-Louise jetzt ein paar Wochen weg“, stelle ich noch einmal fest und frage zum zweiten Mal, ob ihm an mir nichts auffallen würde. „Sollte mir denn etwas auffallen?“ – „Schon gut“, sage ich. „Ich hatte einen seltsamen Traum in Prag“, beginnt Eduard plötzlich ernst, „stell dir vor, ich war tot und zugleich angeklagt, mich umgebracht zu haben. Ich träume immer so ein Zeug, wenn ich in Prag bin.“ Ich betaste meine Stirn, grinse und sage, „sei froh, dass du nicht als Käfer aufgewacht bist!“ Er aber geht auf den Scherz nicht ein und schiebt mir mit ernstem Gesicht zwei Blätter zu, beidseitig über und über bedeckt mit seiner seltsamen Handschrift. Die Großbuchstaben schreibt Eduard auf dem Kopf oder spiegelbildlich oder er legt sie quer ins Bild. Mit Rotstift sind einzelne Passagen nummeriert. „Gut, dass wir uns getroffen haben“, sagt er, „du kannst mir helfen. Hier sind die Fakten, die Traumfakten. Aufgeschrieben, so gut es ging.“ Er atmet schwer. „Arno, ich dachte, dass ich tot aufwache! Oder schon tot aufgewacht bin! Ich war total fertig. Mach daraus eine Geschichte! Ich hab’s selbst versucht, wie du siehst, der Anfang ist getan, aber ich kann das nicht selbst zuende schreiben.“ Ich weiß nicht recht, was tun. Eduard ist generell schwer einzuschätzen. Man weiß oft nicht, woran man mit ihm ist. Manchmal flaniert er wie selbstverständlich mit den denkbar schönsten Frauen durch den Kiez, schwatzt auf dem Markt mit dem Gemüsehändler oder rattert auf seinem uralten gelben Hollandrad über das Kopfsteinpflaster, winkend und grüßend, der reinste Sonnenschein. Nicht selten aber schleicht er auch mit gesenktem Kopf und kleinen Schritten durch die Gegend, gierig an einer filterlosen Zigarette saugend, niemanden ansehend, niemanden grüßend. Fragt man ihn etwas, ist er nicht nur wortkarg und kurz angebunden, er ist feindselig. Ich nehme also die Blätter an mich und nicke ihm freundlich zu. „Gut“, sage ich, „mach ich.“ – „Ich gebe dir vierhundert Euro dafür, ich habe gut verdient in Prag. Du weißt schon.“ Ich weiß zwar durchaus nicht, wovon er spricht, nicke aber wieder, trinke meinen Kaffee und verabschiede mich kurz darauf. Da habe ich mir ja etwas Schönes eingebrockt, denke ich, mache mich aber, kaum zuhause, sofort an die Arbeit. Ende der Woche lese ich ihm seine fertige Geschichte im Schildkrödt leise vor, obwohl außer uns so spät ohnehin niemand da ist. Vorne poliert einer versonnen Gläser, das ist alles.

Sie sind nicht Eduard Raban, hört er eine Stimme sagen. Der Kopf des Richters wirkt klein über der roten Robe. Er sagt es noch einmal, etwas lauter diesmal, so als sei er nicht sicher, ob der Mann ihn verstanden habe. Der Mann sagt nichts. Doch er verweigert keineswegs die Aussage, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Er spürt sein Herz schlagen in dumpfen, wie in Zeitlupe ablaufenden Schlägen: Kawumm, kawumm schien es zu machen. Von der Seite eine weibliche Stimme, die fragt, ob ihm nicht gut sei, ob er ein Glas Wasser wolle. Möchten Sie ein Glas Wasser?, fragt die Frau, ruft aber schon nach dem Saaldiener, der Angeklagte benötige ein Glas Wasser. Man wartet schweigend. Jemand stellt es neben ihn auf die Bank. Im schräg in den Gerichtssaal fallenden Sonnenlicht erkennt er, dass das Wasser nicht ganz sauber ist. Er nimmt einen Schluck, voll Widerwillen, das Wasser ist lauwarm, und stellt das Glas wieder auf die helle Buchenholzbank, die ursprünglich hochglänzend lackiert gewesen war, nun aber dort, wo die Angeklagten saßen, nur noch matt glänzte; die Hosenböden der Beschuldigten hatten den Glanz zum Ermatten gebracht. Auch die Armlehnen waren matt, während unter ihnen, am Rand der Sitzfläche, eine Spur des alten Glanzes erhalten geblieben war. Sind Sie in der Lage, weitere Fragen zu beantworten, hört er den Richter sagen. Der Mann hinter ihm stößt ihn leicht an, sein Verteidiger. Dieser hatte vor der Verhandlung versucht mit ihm zu sprechen, aber er hatte nicht ein Wort sagen können, nicht eine der Fragen hatte er ihm beantwortet, so als sei er plötzlich stumm geworden. Nun gut, hatte sein Verteidiger endlich gesagt, ich erkläre Ihnen die Zusammenhänge und Sie nicken, wenn Sie verstanden haben. Dann waren verschiedene, wichtige Zeichen ausgemacht worden, leichtes Anstoßen, Räuspern oder kurz den Rotz in der Nase hochziehen, die Ja oder Nein oder Ich kann mich nicht erinnern bedeuteten, eben das, was er sagen sollte, wenn der Richter oder der Staatsanwalt etwas fragte, nur wusste er jetzt nicht mehr, welches Zeichen nun im Einzelnen Ja oder Nein oder Ich kann mich nicht erinnern bedeutete. Warum, hört er den Richter jetzt sagen, geben Sie sich als Eduard Raban aus? Ein Ventilator in großer Höhe surrt, seine Füße sind eiskalt und das Wummern in seiner Brust schlägt ihm bis in den Hals, ja es scheint ihm fast, als müsse man sein Herz deutlich sehen, wenn er nur den Mund weit genug öffnete, wie es in den Mundraum drängt, pulsierend, rot schimmernd, immer ein wenig mehr sich hinein- oder vielmehr aus dem Körper sich herausarbeitend, um schließlich den Mundraum völlig auszufüllen. Wir wissen, Sie können nicht Eduard Raban sein, hört er den Richter sagen, bevor ihm schlecht wird. Er bekommt keine Luft, er atmet wie gegen ein Ventil, ein wie auch immer verkehrt herum eingesetztes Ventil. Das Glas mit dem Wasser fällt zu Boden, es dreht sich, auf der Seite liegend, einige Male um sich selbst, bevor es endlich still liegt. Es glotzt ihn an. Er ist zu Boden gesunken. Was nur wollte man von ihm? Er wusste doch selbst, dass er nicht Eduard Raban ist. Natürlich wusste er das. Er hatte es nie behauptet. Wäre ich Raban, dachte er, so läge ich im Leichenschauhaus, kaum zweihundert Meter von diesem Saal entfernt. Das wussten doch alle, oder etwa nicht? Das jedenfalls würde er sagen, wenn man ihn nur ließe, wenn er nur könnte. Ein seltsames Gesicht beugt sich über ihn, weitere drängen herbei, ein Jemand packt ihn unter den Achseln, von hinten, so dass er zwei Fäuste vor seinem Gesicht hat, geballt und zu allem bereit. Ein Anderer hat seine Füße ergriffen, vielmehr seine Fersen, so dass ihn nun diese Beiden, der Jemand, von dem er nur die Fäuste sieht, und der Andere, von dem er nichts sieht, forttragen. Der Ventilator summt noch immer weit oben an der Saaldecke, er bekommt noch immer keine Luft und seine Füße sind noch immer eiskalt. Er hebt ein wenig den Kopf, auch wenn es ihn sehr anstrengt. Der Andere, der ihn an den Fersen trägt und rückwärts geht, fast so als sei er es gewöhnt und mache es regelmäßig, kommt ihm durchaus bekannt vor, doch ist es nicht etwa sein Verteidiger, keineswegs, und auch durchaus nicht der Richter, auf keinen Fall. Er lässt den Kopf wieder in den Nacken sinken. Der Ventilator bewegt sich langsam aus seinem Blickfeld heraus, noch immer schlägt sein Herz dumpf und wie in Zeitlupe, sein Mund steht offen, er erkennt den Türrahmen aus Eiche, die zweiflügelige Tür, die er nur im Anschnitt sehen kann, dann den Flur, die Tonnendecken, die weißen, erleuchteten Kugellampen, in denen tote Insekten den unteren Bereich grau und schmutzig erscheinen lassen. Auch als es eine große und breite Treppe hinuntergeht, er konnte sich nicht erinnern, sie hinaufgegangen zu sein, und er den immer noch rückwärts gehenden Anderen besser sehen kann, will ihm nicht einfallen, wer dieser Andere nur sein könnte. Ein Tropfen fällt auf seine Stirn und läuft ihm die Nase hinab in den Mund. Er ist salzig, er schmeckt es deutlich unter seiner Zunge. Auch der Andere schwitzt jetzt, so scheint es ihm, als sie eben die Eingangstür des Gebäudes durchschreiten und ins Freie treten. Er erkennt einen blauen, tiefen Himmel. Vögel. Keine Wolken. Kies knirscht unter den Schuhen, sie schreiten voran, wie Soldaten, im Gleichschritt, nur dass Soldaten nicht rückwärts marschieren, wie der Andere es tut. Er hört sie keuchen, und er spürt, dass sie sich ansehen und sich gegenseitig Mut machen, nur mit den Augen. Der Jemand hinter ihm fasst jetzt nach, indem er ihn kurz nach oben stößt und die Fäuste neu ballt, was den Anderen aus dem Tritt zu bringen scheint, jedoch nur leicht. Linker Hand jetzt Baumkronen, die Schritte aber nicht mehr zu hören, so als liefen sie auf Gras. Nur ein leichtes Keuchen ist noch zu vernehmen, ein kurzes Hüsteln, ein pfeifendes Atmen, mehr nicht. Auch sie bekommen schlecht Luft, wenngleich nicht in dem Maße, wie er selbst. Der Andere musste nun, nur kurze Zeit später, so schien es, mit der Sohle eine Tür aufgestoßen haben, die in ihren Angeln quietschte, eine Pendeltür, so hörte es sich an. Eine weitere Tür folgte, ein Türrahmen aus Metall, kaltes Licht in einem Raum, von einer weißen Decke ausgehend, ohne dass Lampen oder Leuchten zu sehen wären. Eine Tür fiel ins Schloss und der Jemand, der ihn, um nachzufassen, nochmals leicht nach oben stieß, zog den Rotz in der Nase hoch. Oder war es der Andere, der nicht ein Mal hatte nachfassen müssen? Der Raum war kühl, und irgendwo tropfte sicher ein Wasserhahn, wenn auch nichts zu hören war außer den jetzt schlurfenden Schritten. Er wandte noch einmal alle Kraft auf, den Kopf ein wenig zu heben, im selben Moment aber stießen ihn beide Männer seitlich von sich. Er spürte die harte Unterlage. Er lag wieder, diesmal aber nicht auf dem Boden, wie im Gerichtssaal, er lag höher, auf einer schmalen Pritsche womöglich, über ihm eine weiße Decke, hell, ohne Lampen oder Leuchten. Wenn er jetzt nur den Kopf ein wenig drehen könnte, das musste gelingen, es war deutlich leichter als ihn zu heben, so viel Kraft sollte er noch aufbringen, unbedingt, dann konnte er nochmals einen Blick werfen auf den Anderen und, zum ersten Mal, auf den Jemand. Es gelang ihm. Zwei Gesichter sahen ihn an. Der Jemand, der ihn unter die Achseln gefasst und so getragen hatte, war ohne Zweifel sein Verteidiger. Er schwitzte, der Schweiß rann ihm von der Stirn. Die Ärmel seines Oberhemdes waren aufgekrempelt, die Jacke musste er im Gerichtssaal gelassen haben. Er atmete schwer und blickte ernst auf ihn hinunter. Der Andere aber, mit vor der Brust verschränkten Armen dastehend, wirkte keineswegs ernst, im Gegenteil, er schien zufrieden und lächelte. Wer nur mochte er sein? Nach einer Weile schließlich nickten beide sich wortlos zu und schoben die Lade, auf der er lag, mit leichtem Schwung in die Tiefe der Wand. Ein Klicken noch, dann umschloss ihn kalte Dunkelheit, tiefe Stille und eisige Kälte. Wer aber war der Andere, den er nun zwar gesehen, dennoch aber nicht erkannt hatte? Diese Frage stellte er sich unentwegt, auch noch als die Dunkelheit ohne Übergang einer blendenden Helle wich, und als die Stimme des Mannes, dessen Kopf über der Robe so klein wirkte, sagte, dass er nicht Eduard Raban sein könne, begriff er, so als erinnere er sich endlich, ja, natürlich, ich bin nicht Eduard Raban! Aber es ist zu spät, für immer, dachte er, es sei denn, er sagte es, sprach aus, dass er nicht Eduard Raban sei, selbstverständlich nicht, dass er mitnichten dieser Mann sein könne, der im Leichenschauhaus läge, kaum zweihundert Meter entfernt, und an dessen Tod er Schuld zu tragen angeklagt sei, auch wenn er nicht wisse, warum. Das alles Entscheidende aber war nun, er wusste es jetzt, er wusste es schon immer, es tatsächlich zu sagen, der Welt zu bestätigen, dass sie im Recht sei, dass er es jetzt und hiermit zugäbe, nicht der Genannte sein zu können. Der Richter wiederholte die Frage, doch noch bevor er antworten konnte, fragte ihn eine andere Stimme, ob ihm nicht gut sei und ob er ein Glas Wasser wolle. Das Sonnenlicht schien hell in den Saal und in großer Höhe surrte der Ventilator. Alles wartete schweigend. Als er das Wasser endlich bekam, erkannte er, dass es nicht ganz sauber war. Es schwebte etwas zwischen Grund und Oberfläche, ohne dass er zu erkennen vermochte, was es ist. Trotzdem führte er das Glas an die Lippen und trank.

„Ende der Geschichte“, sage ich. Keine Reaktion. Schließlich aber nickt Eduard mir mit zusammengepressten Lippen ernst und bedeutungsvoll zu, nimmt die Blätter zur Hand, steckt sie umständlich in seine wie immer übervolle Aktentasche, zählt mir acht 50-Euro-Scheine auf den Tisch, flüstert mir ins Ohr, ich hätte ihm das Leben gerettet, echt wahr, und geht in übertrieben aufrechter Haltung hinaus. Meine Narbe aber hat er wieder nicht bemerkt. Später sitze ich lange im Dunkeln am Schreibtisch, schwitze und starre hinaus in die schwarzgelbe Nacht. Marie-Louises Schlüpfer habe ich gewaschen. Er liegt auf ihrem Kopfkissen. Eine U-Bahn dröhnt vorbei Richtung Pankow, in ihr nur wenige Gestalten. Ich knipse die Schreibtischlampe an, suche den mit meinen Notizen übersäten ersten Ausdruck von Eduards Geschichte heraus und lese alles samt aller Kritzeleien noch einmal durch. Ich lege die acht Fünfzig-Euro-Scheine daneben. So viel Geld, denke ich, und erst da wird mir klar, dass Eduard die Geschichte für sein Buch über Nahtoderfahrung benötigt! Klar! Aber warum hat er mir das nicht gesagt? Ich knipse die Lampe wieder aus und starre hinaus, eine U-Bahn in Richtung Alexanderplatz, sehr voll. Dann wieder Leere. „Ich muss mich weiten“, sage ich plötzlich laut, ohne zuvor gedacht zu haben, „ich muss Robert sein, ohne Arno aufzugeben. Arno sein mit Robert.“ Weiter komme ich an diesem Abend nicht. Anderntags aber greife ich mir die Unterlagen zur Causa Amphitryon Komplex und knalle sie auf den Schreibtisch, dass es wackelt! Die Broschüren, der Katalog, dazu viele erst kürzlich kreuz und quer mit Ideen und Argumenten vollgeschriebene Blätter. Angst spricht daraus, denke ich jetzt. Angst vor dem Gedanken der Rückkehr nach Bad Wutzenwalde. Da ganz real als Robert zu erscheinen auf der Suche nach Arno. Wobei Robert im Moment viel eher noch Schimäre ist denn Mensch. Und überhaupt war alles noch andersherum, so wurde mir klar, genau entgegengesetzt. Arno suchte nach Robert, statt Robert nach Arno. Und erst wenn Robert gefunden ist, kann ich mich auf den Weg machen. Als Robert!

Was hatte, fiel mir ein, der Wachtmeister zu Marie-Louise gesagt? Die Hologramme funktionierten nicht richtig? Genau so erging es mir mit Robert, er funktionierte noch nicht, er drohte sozusagen jeden Augenblick wieder auseinanderzufallen, unscharf zu werden, zu verschwinden. Wie also beginnen? Zu allem Anfang musste ich den Wachtmeister anrufen! Als Robert! Den Zettel, den er mir einmal gegeben hatte mit der Nummer für die Telefonzelle vor seinem Haus, hatte ich im Portemonnaie. „Die einzige Möglichkeit, mich telefonisch zu kontaktieren“, hatte er mir noch mehrmals gesagt, er sah mich dann immer sehr ernst an und fuhr fort, in seiner Wohnung benötige er kein Telefon, auch wenn er, wie ich ja wisse, eines besäße, das aber heutigentags ausschließlich von der Telefonzelle aus zu erreichen sei. Naja, und notfalls von einer Polizeidienststelle. Er habe das so schalten lassen. Mobilgeräte lehne er, wie alle wüssten, ganz und gar ab, er sei kein Maschinenmensch. So weit, so klar, ich erinnerte mich, alles schön und gut, aber wie sollte ich erklären, die Nummer zu kennen und auch noch zu wissen, wen ich erreichen würde? Hatte Arno mir davon berichtet? Ja, natürlich, wie sollte es anders sein. Aber warum hatte Arno mich niemals erwähnt, seinen Zwillingsbruder Robert? Zwillinge sind gemeinhin sehr eng miteinander. So auch wir, hoffe ich.

Mit all diesen Gedanken sitze ich nun tagelang frierend oder schweißgebadet am Schreibtisch, verschicke Nachrichten gen Irland und denke nach über Eduards seltsamen Traum. In erster Linie aber mache ich mir weiterhin Gedanken, wie Robert zu erschaffen ist. Hatte ich mich nicht schon immer mal verändern wollen? Und war jetzt nicht die Gelegenheit dazu? In einem Film gäbe es einfach einen Schnitt. Schon stünde der neue Mensch, der neuerschaffene Zwilling vor der Tür des Gutshauses und klopfte, verbunden und verknüpft mit einer aufmunternden oder unheilverkündenden Musik. Doch bevor das im wirklichen Leben geschehen kann, muss ich meine Lage eindeutig bestimmen. „Was bin ich, wer bin ich jetzt?“, überlege ich laut. „Imgrunde ein Fremder, ganz gleich wo“, beantworte ich mir die Frage zögernd selbst. Nicht etwa, dass ich, bevor ich für drei Jahre auf den Gutshof übersiedelte, in dem von mir frequentierten Berlin – Mitte und Prenzlauer Berg, auch Kreuzberg und Friedrichshain – Hinz und Kunz, Krethi und Plethi, Stan und Ollie, Tünnes und Schäl, Pat und Patachon, Susi und Susanne und Maria und Magdalena gekannt hätte. Keineswegs! So einer bin ich nicht. Aber dass ich nun außer Eduard überhaupt niemanden mehr traf und kannte, das war seltsam. Manchmal starrten mich Leute an, die mir bekannt vorkamen, aber das waren Menschen, die es in jeder Stadt gibt, typische Vertreter bestimmter Milieus, deren individuelle Eigenartigkeit das allgemeine übliche Maß nicht zu überschreiten vermag. Niemand kannte mich, ich kannten niemanden. So sah es aus. Mein früheres Leben etwas weiter südlich im Prenzlauer Berg, auf der Barnimkante, war verloren, vergangen und vergessen. Überhaupt war alles jetzt anders. Die schrägen Vögel, die Künstler und Lebenskünstler, die Enthusiasten – wo waren die, fragte ich mich, alle hin? Um die Ecke gebracht? In die Vororte vertrieben? Tot? Geisteskrank? Zum Feind übergelaufen? Oder erkannte ich sie einfach nicht mehr wieder? Und sie mich nicht? Auch möglich! Drei Jahre als Sosias hatten einen neuen Menschen aus mir gemacht. So sah es aus. Ich war schon ein Anderer! Warum also nicht einen weiteren neuen Menschen kreieren: meinen Zwillingsbruder. Ich musste, dachte ich, Robert gleichsam gebären! Robert Scheerbart. Sagte ich schon, ich hieße Scheerbart? Arno Scheerbart. Ich sagte es! Jetzt erinnere ich mich. Nun also Robert!

Später am Tag zog ich aus einem Buch eine unbeschriebene Postkarte[7] heraus, die als Lesezeichen dort steckte. Und da war sie plötzlich : die Idee : Postkarte an mich. Robert : Von Arno ! Ich schrieb also an Robert Scheerbart, c/o F. Jung und so weiter. Write yourself a postcard if there’s something left to say. Liebe Grüße, dein Bruder Arno. Im Spätkauf dann ein paar Bier für den Abend besorgt, eine Briefmarke gekauft, Postkarte in den Kasten. Fertig. Ich atmete auf, der erste Schritt war getan. Wieder oben in der Wohnung schaltete ich den Boiler der Pumpdusche an. In zwanzig Minuten fünf Minuten warmes Wasser. Aber war das nicht grundfalsch, dachte ich plötzlich. Ich schaltete den Boiler wieder aus. Denn eines war ja wohl klar, Robert ist aus anderem Holz geschnitzt. Er duscht kalt. Seit je her, von Kindesbeinen an. Fußballspielen, exzessives Radfahren, Motorradfahren, alleine durch fremde Länder trampen, durchgeknallte Freundinnen. So ist Robert. Einzig gemein hatten wir das Schreiben, auch wenn Arno immer der realistischen, Robert der expressionistisch-phantastischen Schreibe zuneigte. Das hat seine Ursache ganz sicher in der jeweiligen Lektüre, die einem jungen Menschen anfangs ja eher zufällig in die Hände gerät. Während Arno also realistische, ja politische Literatur bevorzugte und Manés Sperber ebenso las wie Anna Seghers, Alfred Andersch, Simone de Beauvoir, Albert Camus und Alexander Kluge, so zog Robert phantastische Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Howard P. Lovecraft, Witold Gombrowicz, Flann O’Brien und später dann Alban Nikolai Herbst oder auch expressionistische wie Franz Jung, Katarina Botsky, Peter Baum, Klabund und Alfred Döblin den realistischen vor. Robert war sogar strikt der Ansicht, der Nachname Scheerbart (nicht verwandt und nicht verschwägert mit dem bekannten Autor Paul Scheerbart) verpflichte sie beide geradezu, den Realismus in der Literatur zwar zur Kenntnis zu nehmen, ihm aber keinesfalls strikt zu folgen oder gar zu huldigen. Ich weiß noch, unsere Mutter sagte einmal, von mir oder eurem Vater habt ihr das nicht, das mit dem Schreiben, wahrscheinlich seid ihr im Krankenhaus vertauscht worden. Robert lachte darüber, er verstand den doppelbödigen Witz, während Arno schwer gekränkt war. Ich erinnere mich.

Die Narbe juckte bald wieder, das tat sie öfter, und ich fror wie ein Schneider. An’s Kaltduschen musste ich mich definitiv noch gewöhnen. Heute jedenfalls würde ich als Robert ausgehen. Im Treppenhaus traf ich Goofy, der zwar grüßte, sich aber an der Wand entlang an mir vorbeischob und dann so schnell wie möglich die Treppe hinaufpolterte. Ich hörte ihn panisch den Schlüssel ins Türschloss stochern. Meine Laune hob sich und ich stromerte eine Weile grinsend im Helmholtzkiez herum. Wie gehabt und wie an jedem nur halbwegs warmen Tag war viel Volk an den Café- und Restauranttischen zu finden, essend, trinkend und redend, so als gäbe es kein Morgen. Schließlich eine Bar an einer Kreuzung. Draußen an wackligen Tischen ein paar Gestalten. Drinnen niemand, nur der Barkeeper, ein Mitdreißiger, Fünf-Tage-Bart und weit aufgeknöpftes Hemd, ein Frauentyp, so denke ich sofort. Tresen über Eck. An beiden Seiten die Terrassentüren geöffnet und ganz zur Seite geschoben. Alles offen. Die Straßenbahn Richtung Weißensee donnerte vorbei. Ich dachte an die mit schwerem Tuch verhängten Gasthausfenster früherer Zeiten, Butzenscheiben, das Kind, das ich gewesen bin, der scharfe Geruch nach Schnaps, Zwiebeln, Zigaretten und Männerschweiß. Der kleine Arno, der sich an den Vater presste. Über ihm all die trinkenden und rauchenden Männer am Tresen. Ich weiß noch, denen wuchsen die Haare aus der Nase. Und den Ohren. Robert drüben bei der Mutter in der Frauenecke. So hieß das, Frauenecke. Likör auf dem Tisch, rot oder weiß und klebrig, auch Eierlikör, an dem Robert nippen durfte. Im Sommer die bunten Blusen, Achselhaare und Parfümgeruch. Süß und schwer und sauer. Ich erinnere mich, so oder so. „Hallo! Ein schönes Bier bitte!“ – „Schönes Bier hamwa nich’, nur auf Flasche, in der Flasche meine ich, böhmisch oder norddeutsch.“ – „Norddeutsch.“ Ich schob meinen Hintern auf einen Barhocker. Blick auf die Kreuzung. Ich, Robert, suche also Arno! Doch dass er, dachte ich angestrengt, nun einfach da draußen vorbeilaufen oder aus der Straßenbahn steigen würde, ist natürlich nicht zu erwarten. Das war mir klar. Jemand, der nicht mal per Telefon zu erreichen ist, tauchte nicht einfach so auf. Ich nahm einen Schluck, kramte meine Zigaretten raus und zündete mir eine an. Der Barkeeper schob mir einen Aschenbecher hin. Welche Informationen, fragte ich mich, besaß ich denn als Robert? Über Arno. Die Eltern machten sich Sorgen. Deswegen war ich nach Berlin gereist und hatte mich in eine kleine Wohnung eingemietet, als möblierter Herr sozusagen. Seit gut einem Jahr keine Spur von ihm. Wie vom Erdboden verschluckt. Wo er die drei Jahre zuvor gewesen war und was er getrieben hatte, war allerdings kein Geheimnis und auch recht leicht zu recherchieren gewesen. Nicht im Detail, aber genau genug. Zum Glück hatte Arno einmal, bei einem unserer seltenen Telefonate, das Schlagwort Amphitryon Komplex fallen lassen. „Endlich mal eine Möglichkeit, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, Bruderherz“, hatte er gesagt, „meine 30-Stunden-Stelle ist gekündigt und die Wohnung auch, die war ja ohnehin ein Loch, ist nicht schade drum.“ Ich erinnere mich. Ich hatte ihm Glück gewünscht. Seitdem aber nichts mehr, von Postkarten zu unserem Geburtstag mal abgesehen. Die Eltern immerhin hat er noch angerufen. Bis vor einem Jahr. Dinge, an die man sich erinnert. Erinnern muss. „Noch ein Bier?“ – „Ja“, sage ich, „schöne Idee!“ Wortlos stellt mir der Barkeeper die Flasche vor die Nase, ohne die leere wegzuräumen. „Du blutest!“, sagt plötzlich eine weibliche Stimme. „Was?“ Ich benötige eine Sekunde, um zu mir zu kommen. Die Tätowierung! Vorsichtig taste ich meine Stirn ab. Tatsächlich! „Eine alte Narbe aus der Kindheit“, sage ich, „mein Bruder Arno hat mir die verpasst. Oder ich bin vor den Küchenschrank gelaufen. Kann auch sein. Es gibt zwei Versionen, ich kann mich an keine erinnern.“ Die Frau sieht mich an und der Barkeeper nähert sich neugierig. Noch ist wenig los in der Bar. Draußen ein älterer Weißhaariger mit Schnäuzer, Joint in der Hand, einen schwarzen Flokatihund auf dem Schoß, drinnen die Frau und ich. „Bluten kostet hier extra“, sagt der Barkeeper, stellt das Glas zurück ins Regal und stemmte die Hände in die Hüften, „Pflaster auch.“ Mir bricht der kalte Schweiß aus. „Miriam“, sagt die Frau mit einem Seitenblick auf den Barkeeper und streckt mir straff ihre Hand entgegen, „meine Mutter hat mal als Statistin bei einer Oper mit dem Titel Mirjam auf der Bühne gestanden und dort meinen Vater kennengelernt. Daher der Name. Und falls ich dir irgendwie bekannt vorkomme, ich habe mal in einem Film mitgespielt, der auf der Berlinale lief. Lange her.“ – „Nackt mitgespielt“, wirft der Barkeeper ein, der sich als Björn vorstellt. „Robert!“, sage ich, wische das Blut an der Hose ab, ergreife beide Hände und schüttele sie kurz und knapp. Ein Anderer werden, denke ich. Nicht zweimal in den selben Strom steigen. Dann irgendwie ein Riss, die Zimmerdecke gähnt mich an, kaum bin ich aufgewacht. Das Gelb der U-Bahn, die Sonne. So einfach ist das alles nicht, denke ich, das mit Robert, das mit dem Werden, beileibe nicht, aber ich würde dranbleiben. So einfach gebe ich nicht auf. Diese Miriam übrigens stell ich mir ganz dünn und konturlos vor, nicht dürr, aber dünn. Überhaupt: Ich stelle mir etwas vor, und dann gehe ich hinein in die Vorstellung. So werde ich es machen. Ich betrete die Bühne, um mir mich vorzustellen als Robert und dann in die Rolle hineinzuschlüpfen, als sei sie ein alter Schuh. Sobald ich die Bühne betrete, bin ich Robert! Ich muss das schon gestern Abend in der Bar gedacht haben. Meine Bühne! Miriam hatte mich, so erinnere ich mich vage, ein paar Leuten vorgestellt und wir tranken und quatschten, das heißt, ich hörte eher zu und dachte mir meinen Teil. Die Frage ist nur, das überlegte ich jetzt, wie ich Robert werden kann, ohne Arno zu verlieren. Das heißt, verlieren konnte ich ihn schon, wenn ich ihn nur wiederfand! Ich lachte und sprang auf, taumelte, knickte weg, hielt mich aber im letzten Moment am Schreibtisch fest. Die meisten Unfälle passieren zuhause. Einiges vertilgt gestern, sagte ich mir, holte tief Luft und zog mich bolzengerade in die Höhe. „Ich muss wissen, was hinter dem Projekt Amphitryon Komplex steckt, hol mich der Teufel“, rief ich laut. Dann leise: „Sosias bin ich ja immerhin auch geworden, dort oben auf dem Gutshof. Also kann ich auch Robert werden. Nicht nur Götter können das!“ – „Kannst du bitte mal aufhören, mit dir selbst zu quatschen, Sweetheart!“ Ich starre zum Bett hin. Ist das Miriam? So nach und nach, in kleinen, ruckartigen Denkschritten, erinnere ich mich. Miriam. Verlegen wirkt sie jedenfalls kein Stück. Sie bleibt einfach nackt, während ich mich nach und nach, wie nebenbei, anziehe. Erinnern kann ich mich an nichts. Kein gutes Zeichen. Beim Pinkeln merke ich aber, kein Zweifel, mein Schwanz riecht deutlich nach Geschlechtsverkehr. Seltsam, denke ich. Als ich wieder ins Zimmer trete, ist Miriam angezogen und drückt mir einen Zettel mit ihrer Adresse und Telefonnummer in die Hand. „Für dann mal“, sagt sie. „Dann?“ – „Ciao!“

Ein paar Tage später telefoniere ich mit Marie-Louise, so gegen Abend. Sie warnt mich eindringlich, alleine nach Bad Wutzenwalde zu fahren, selbst wenn ich nun Robert sei. „Ich werde mit dem Wachtmeister die Lage erkunden“, sage ich, so ruhig und überzeugt wie möglich, „mach dir keine Sorgen!“ Im Hintergrund Stimmengewirr und Fetzen von Musik. In einem Pub sei sie, sagt Marie-Louise. Ich sage, „ich rufe den Wachtmeister an und stelle mich als Robert vor, den Text schreibe ich mir vorher auf, damit …“ Ein Trompetenstoß ist zu hören, wie eine Fanfare. „Ich muss Schluss machen, Arno, die Band legt gleich los!“ Kurz noch eine Fiddel im Hintergrund, dann tutet es. Na toll. Ich sehe hinaus. Zwei U-Bahnen treffen sich genau vor meinem Fenster, passieren sich und ziehen ein Loch, ein langes und immer länger werdendes, bevor die nächsten Bahnen es an anderer Stelle wieder ineinander schieben, sich passieren, dann ein Loch ziehen und so weiter. Also beides, Löcher ziehen und Zusammenschieben. Komischer Gedanke. Ich werde noch verrückt hier!

Ich sollte Pläne schmieden. Und vor allem die Gefahren abschätzen. Würde etwa Alkmene meinen Ausweis sehen wollen, so fiel mir ein. Das war ihr durchaus zuzutrauen. Selbst wenn ich überzeugend lüge, den hätte ich nicht dabei und so weiter, wäre sie misstrauisch, und dann ist die Show vorbei. Ich schreibe also erst einmal den Text für das Telefonat mit dem Wachtmeister, das würde mich beruhigen, dachte ich. Als ich damit fertig war, probte ich den Anruf. Mannomann, war ich aufgeregt! Von wegen sich beruhigen. Ich lasse es also in Gedanken klingeln. Mein Herz pocht wie wild. Die postgelbe Telefonzelle. Der Wachtmeister, stelle ich mir vor, in Hosenträgern, ohne Jacke, aber mit Dienstmütze, geht gemessenen, leicht unrunden Schrittes auf die Zelle zu, öffnet die Tür und nimmt den Hörer zur Hand. „Wer spricht?“, sagt er. „Guten Tag“, sage ich, „hier spricht Robert Scheerbart, der …“ – „Herr Robert! Der Zwillingsbruder des Herrn Sosias! Frau Marie-Louise hat mir bereits vom Zwillingsbruder erzählt. Robert also!“ Ich schlucke. Warum zum Teufel hat sie mir das nicht gesagt! Oder hat sie? „Ja“, sage ich, „dann wissen Sie, dass wir Arno …“ – „Herrn Sosias!“ – „Ja … suchen. Wir suchen Arno. Sosias. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“ „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Herr Robert. Kommen Sie nach Bad Wutzenwalde, betreten Sie die Telefonzelle und rufen Sie mich an. Ich hole sie ab. Haben Sie meine Nummer?“

Eine Woche später, einem Freitag, etwas diesig aber leidlich warm, mache ich mich auf den Weg. Als Robert. Ich hatte tagelang geübt. Ich schließe den Wagen auf und setzte mich hinter das Steuer. Eduards alter Honda hat alles, was ein Auto braucht. Er riecht etwas moderig und es quietscht an allen Ecken und Enden. Auf der B 2 Richtung Eberswalde nimmt die Karre dann jede Linkskurve mit einem hohen, zitternden Ton, in Rechtskurven klappert es, Steigungen aber werden klaglos im dritten Gang bewältigt. Die Fenster sind runtergekurbelt und ich genieße den Geruch von Wald und Erde. Motorradfahrer überholen, ein Sportwagen schießt vorbei. Einmal ein Trecker mit einem Zirkuswagen im Schlepptau, hinter dem ich eine Weile festhänge. Je näher ich dem Ziel komme, desto nervöser werde ich. Am Morgen hatte ich noch vor dem Spiegel gestanden und den Robert gegeben, die Postkarte, die ich an mich selbst gesandt habe, in der Hand. Dass Miriam mich als Robert kannte, half auch ein wenig. Sie hat so gar nichts von Marie-Louise, dachte ich immer wieder, so vom Typ her. Schwarze Mireille-Matthieu-Frisur, Platten auflegen, Swing, Blues und Rock’n’Roll, das ist ihr Ding, asiatische Kampfsportarten und späte Besuche in ihren Lieblingsbars. Und plötzlich erinnerte ich mich, mit einem Male war die Erinnerung da an diese erste Nacht mit ihr. Oder täuschte ich mich, log ich mir selbst in die Tasche, erinnerte ich mich eigentlich nur an die zweite? Vorgestern. Oder vorvorgestern. Wieder betrunken. Und nehme also nur an, dass die erste Nacht ähnlich verlaufen sein musste? Sex, einfach so, ohne Worte? Als dann endlich das alte Schiffshebewerk imposant vor mir auftaucht, schlägt mir das Herz bis in den Hals. „Mein Gott, Robert“, sage ich laut, „reiß dich zusammen!“ Die Narbe juckt, wie zur Antwort, der Honda klappert vor sich hin.

Bad Wutzenwalde! Vor Knocke wieder mal eine Schlange. Ich parke. Die Telefonzelle leer. Natürlich. Münzen hatte ich in der Hosentasche. Ich schloss den Wagen ab, analog sozusagen, mit dem Schlüssel, wie früher, und schlenderte über den kleinen Platz. Rechter Hand im ersten Obergeschoss musste der Wachtmeister wohnen. Vielleicht beobachtete er mich bereits. Ich zog die Tür der Zelle auf. Geruch nach Tabak, Metall und Plaste. Ich wartete zwei, drei Minuten, warf dann die Münzen ein, nahm den Zettel aus der Tasche und wählte die Nummer. Nach wenigen Sekunden bereits die Stimme des Wachtmeisters, unverkennbar, mit einer gewissen Dienstlichkeit. „Bleiben Sie wo Sie sind, schauen Sie nicht zu mir hoch, ich hole Sie ab und gehe mit Ihnen durch den Ort. Ich lege jetzt auf, behalten Sie den Hörer in der Hand. Bewegen Sie ab und an den Mund und sagen Sie etwas. Egal was. Bleiben Sie ganz ruhig.“ Klack. Ich sagte ein paar Mal leise mein neues Mantra auf, „ich bin Robert Scheerbart und auf der Suche nach meinem Zwillingsbruder Arno, ich bin Robert Scheerbart …“, da sah ich auch schon den Wachtmeister auf die Telefonzelle zugehen. Amtlich gemessenen Schrittes, leicht unrund, in Uniform, die Mütze ein wenig schief und die Zigarette hinter dem rechten Ohr. Ich atmete tief durch und hängte den Hörer ein, im selben Moment öffnet er die Tür und legt lässig, mit einem angedeuteten Lächeln, die Hand zum Gruße an die Mütze. „Herr Robert“, sagt er, „kommen Sie, ich buchstabiere Ihnen Bad Wutzenwalde aus, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen. Kommen Sie schon, nur keine Müdigkeit vortäuschen!“ Und so lernte ich Bad Wutzenwalde neu kennen, als Robert. Ich hatte das Gefühl, dass jeder, dem wir begegneten, meine Narbe auf der Stirn anstarrte. Auch die Bäckersfrau, bei der wir uns mit Proviant, Gebäck und zwei kleinen Flaschen Wasser versorgten, sah mir direkt zwischen die Augen. Erkannte sie mich? Und der Wachtmeister? Hatte er mich schon durchschaut? Das fragte ich mich fortwährend. In jedem Fall stellte er mich allen Leuten, die uns über den Weg liefen, als Herrn Robert vor, der werte Bruder, Zwillingsbruder des Herrn Sosias. Fragen? Keine! Später standen wir eine Weile schweigend an der alten Oder, auf der drei, vier Ruderboote zu sehen waren, und rauchten. „Wissen Sie, Herr Robert“, sagte der Wachtmeister plötzlich, „Ihre Narbe da auf der Stirn, die blutet, und das macht Sie den Leuten in Bad Wutzenwalde ein wenig suspekt. Zum Glück ist niemand hier religiös.“ Ich sah ihn entsetzt an. Und tatsächlich, er hatte recht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Ich kann damit leben, Herr Robert“, sagte er endlich und legte mir seine rechte Hand auf die linke Schulter, „keine Sorge.“ „Womit leben?“, fragte ich. „Mit den Narben natürlich“, erwiderte er mit ernstem Gesichtsausdruck, „mit den Narben.

VI

Ich bin ganz bei mir. Den Tisch habe ich ohne mit der Wimper zu zucken gleich am ersten Morgen ans Fenster gerückt. Einen Ausblick gewähren die blinden Scheiben allerdings nicht. Nur Schemen sind zu erkennen. Und des Nachts heulen die Wölfe. Ich schreibe also wieder und versuche, Klarheit in diese Geschichte hineinzubringen. Mit Verwirrung ist niemandem geholfen, auch mir nicht. Ich befinde mich in der Datsche des Wachtmeisters in (oder bei) Bad Wutzenwalde, nachdem ich mich in Berlin in Robert verwandelt habe. Den Zwillingsbruder Arnos, Robert. Ich. Mich. Das war einfacher, als ich gedacht hatte. Ich habe zwei Mal als Robert mit Miriam geschlafen. Arno hingegen hätte den Schwanz eingekniffen, da bin ich sicher. Gewissensbisse hätte er gehabt. Die Datsche des Wachtmeisters befindet sich in einer locker gestreuten Siedlung mehr oder weniger großer Häuschen, die meisten aus Holz. Kaum Zäune, kein Vereinsheim, keine Verbotsschilder. Überhaupt keine Schilder. Des Wachtmeisters Datsche, eher klein, aber in gutem Zustand, liegt oben am Hang. Über dem Ganzen. Man hat einen schönen, weiten Blick, vor allem vom Flachdach aus. Man kann einfach hinaufklettern, eine Leiter steht bereit. Hügel und Wälder und der See. Herrlich! Still ist es hier. Manchmal leise das Geräusch eines Handrasenmähers. Die Entfernung zum Gutshof ist die selbe wie nach Bad Wutzenwalde, Luftlinie zwei Kilometer. Schätze ich. Vielleicht auch zweieinhalb. Ein Dreieck also, der Ort, der Gutshof, die Datsche. Das Gelände ist hügelig.

Am zweiten Abend sitzt ein Fuchs auf dem Dach und schaut in die Ferne, Richtung Sonnenuntergang. Der Wachtmeister nennt mich nun also Herr Robert. Mit einem gewissen Unterton, so kommt es mir jedenfalls vor. Aber ich kann mich täuschen. Ich gehe hinaus und setze mich auf die etwas altersschwache Bank. Die Sonne scheint blass wie durch verdünnte Milch. Ich rauche und erinnere mich an gestern, der Wachtmeister sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz des alten Honda. Ich ziemlich aufgeregt. Nicht aus der Rolle fallen, dachte ich, nicht aus Robert fallen! Wir sind auf dem Weg zur Datsche, wo ich übernachten soll. Stockfinster ist’s. „Ich helfe gern, Ihren Herrn Bruder ausfindig zu machen, Herr Robert“, sagt der Wachtmeister, „kenn’ ihn ja gut, nette Gespräche gehabt.“ Ich überlege, ob ich ihn gleich mal auf Amphitryon ansprechen sollte, im selben Augenblick aber boxt er mir schmerzhaft gegen den Oberarm und sagt, ich müsse da links abbiegen. Ich erkenne nichts, für mich ist da nur Dunkelheit. „Da, dort, hier, los!“, schreit er und macht Anstalten, mir ins Lenkrad zu greifen. Ich steuere den Wagen also mit mulmigem Gefühl ins Dunkel, es kracht, wir werden ordentlich durchgeschüttelt. Ich schalte in den zweiten Gang und gebe Gas. Nach allem, was ich im Scheinwerferlicht erkennen kann, holpern wir bergauf mitten über eine Wiese auf einen Waldrand, oder nein, auf eine Reihe Obstbäume zu. Testete er mich, wie ich auf Stress reagiere und ob ich wirklich Robert bin? Zuzutrauen wäre ihm das, denke ich, direkt gefolgt von dem Gedanken, dass ich, Robert, den Wachtmeister ja kürzlich erst kennengelernt hatte und an nichts, absolut nichts denken sollte, was ich nicht wissen durfte. „Wir sind da“, sagt er, „meine Datsche!“ – „Gut“, sage ich und ziehe die Handbremse. In ein paar Metern Entfernung im Scheinwerferlicht drei, vier Apfelbäume. Ich drehe den Zündschlüssel. Der Motor dieselt etwas nach, schüttelt sich ein paar Mal und erstirbt. (Eduard hatte etwas gesagt von Ventile einstellen lassen, wäre schön, wenn ihr das machen könntet. Der gute Eduard!) Stille also. Scheinwerfer aus. Fast sofort über uns die Sterne, Milchstraße mit allem Zipp und Zapp. Das Ende der Welt, Mittelpunkt des Universums, denke ich. „Zigarette?“, fragt der Wachtmeister, zieht die seine vom Ohr und hält mir mit der anderen Hand eine zerknüllte Packung hin. „Danke“, sage ich und wische mir mit dem Handrücken über die Stirn. Ich konnte machen, was ich wollte, ich blutete aus der Tätowierung heraus. Zwei, drei Blutstropfen, die mir dann irgendwann über die Nase liefen oder die ich mit einer fahrigen, halb unbewussten Handbewegung wegwischte, weil es juckte. Mit einem Pflaster drauf war es noch schlimmer, dann brannte mir gleich die ganze Stirn und ich bekam Pickel. Klar, ich hatte mir schließlich in eine Verletzung hinein eine Tätowierung stechen lassen.

Am dritten Tag meines Datschen-Aufenthalts, wir saßen so gegen Mittag auf der wackeligen Bank und blickten auf Wald und Tal, fragt mich der Wachtmeister, was es denn auf sich habe mit der Narbe. Worst case! Blitzartig aber steht die Geschichte vor mir, zumindest die Stichworte: Westkindheit, Hagen in Westfalen, Lützowstraße 10, der Resopalküchenschrank, zu tief für die schmale Küche, so dass er in den Türrahmen ragt, das Kind mit Karacho punktgenau und stirnmittig dagegen. Keine Ahnung, ob das alles so genau stimmte, aber es kam mir so vor. „Es war einfach so, Herr Wachtmeister“[8], schließe ich die kleine Erzählung, „dass mir die winzige Wohnung nicht genug Auslauf bot. Das Wohnzimmer, ich weiß noch, der Ölofen in der Ecke, kleines Badezimmer mit Badewanne, Schlafzimmer der Eltern, die Küche, ich frage mich glatt, wo ich denn geschlafen habe. Wohnungsnot damals noch, Herr Wachtmeister, Warten auf eine größere Bleibe.“ – „Wo schlief denn Ihr Bruder, der Herr Sosias, also der Herr Arno?“ – „W…wir“, stottere ich, denn wie konnte ich nur meinen Zwillingsbruder vergessen, „haben sicher in einem Bett geschlafen, aber ich kann mich nicht erinnern. Hat Arno Ihnen denn nichts erzählt, Herr Wachtmeister?“ Ich atme auf. Eben noch die Kurve gekriegt! „Nein“, sagt er knapp, „hat er nicht. Hat gar nichts erzählt, der Herr Sosias. Haben über ganz andere Dinge gesprochen.“ Der Wachtmeister zuppelt eine Zigarette zwischen Ohr und Mütze hervor und zündet sie an. Ich winke ab, als er Anstalten macht, die Packung aus der Seitentasche zu nehmen. Hatte Marie-Louise den Wachtmeister nicht immer wieder, fällt mir ein, wie aus Versehen berührt, nur um sicher zu gehen, dass er echt ist, aus Fleisch und Blut? Das hat sie erzählt, auch wenn es nicht stimmen musste. Sie hat sicher übertrieben. Ich habe solche Zweifel natürlich nicht, ich sehe und rieche den Zigarettenrauch, außerdem biegt sich die Bank doch bedenklich durch unter unser beider Gewicht. Beweis genug. Nur nicht verrückt machen lassen. Es gibt Grenzen des technisch Machbaren. „Mein Vater hat mich dann auf den Armen ins Krankenhaus getragen, kaum einer hatte damals Telefon, aber da haben die nur ein Pflaster drauf gemacht, statt es zu nähen. Deshalb die Narbe. Immer noch.“ – „Bei uns hatten zu der Zeit nur die von der Staatssicherheit Telefon“, erwidert er. Eine Weile sagen wir nichts. „Nun, Herr Robert“, fährt er schließlich fort, kaum mehr als den Filter der Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, den Rest an Glut vorsichtig absaugend, „wie ich Ihrer Frau Marie-Louise schon sagte …“ Ich unterbreche ihn. „Marie-Louise ist nicht meine Frau, Herr Wachtmeister, und auch nicht die meines Bruders. So weit ich weiß.“ Wie dumm, denke ich und spüre eine leichte Hitze in mir aufsteigen. Warum nur hatten wir das alles nicht genau genug abgesprochen. Aber wer konnte auch ahnen, dass Marie-Louise direkt mal vom Wachtmeister vereinnahmt wird? Also keine Beziehung. Weder zu Arno noch zu mir. Merken! „Nun gut, Herr Robert, wie auch immer, jedenfalls spielen sich seltsame Dinge ab auf dem Gutshof. Und dies nicht erst, seit Ihr Bruder verschwunden ist, wie übrigens auch der Herr Amphitryon nicht wieder aufgetaucht ist. Nun, wir, Frau Marie-Louise und ich, lagen jedenfalls flach auf Beobachtungsstation, aber das wissen Sie ja …“ – „Nein!“ –„Aber Sie sind“, er räuspert sich ausgiebig, „im Bilde über das Kunstprojekt, an dem Ihr Bruder mitwirkte?“ – „Ich habe recherchiert“, erkläre ich trocken, „und auch Marie-Louise, mit der ich telefonierte, hat mir einige Informationen …“ – „Nun also“, unterbricht er mich, „wir lagen auf Beobachtungsstation und konnten Katz und Mensch unter die Lupe nehmen. Die Herren Sosias und Amphitryon in einfacher Hologramm-Ausführung, die Frau Alkmene, die Herren Jupiter und Mercurius und die Katze doppelt, jeweils eine lebensechte Ausführung und eine als Luftspiegelung. Alles hier notiert, fein säuberlich.“ Er trommelt mit den Fingern auf der Brusttasche seiner Uniformjacke herum, die er trotz der spätsommerlichen Wärme trägt, und zückt ein schwarzes, an den Kanten blechbeschlagenes Notizbuch. Ich wundere mich, denn ich hatte nie ein solches Notizbuch bei ihm gesehen. Seitenweise Einträge, mit Bleistift in einer kritzeligen Beamtenschrift. Ein Lageplan vervollständigte das Ganze. „Frau Marie-Louise und ich lagen hier auf der Lauer, sehen Sie, Herr Robert“, er tippt auf die Zeichnung, „genau hier. Einer der ganz wenigen Plätze, die weder vom Dach des Verwaltungsgebäudes aus eingesehen werden können noch im Bereich der Kameras liegen. Strategisch günstig. Hinter uns das Waldstück, hier die Schneise zwischen Bungalow und See. Heute Abend werde ich Ihnen alles zeigen.“ Er klappt das Büchlein wieder zu. „Ah, da kommt der Mechaniker“, ruft er, „den Wagen abzuholen. Ventile und Dichtungen und was sonst noch so zu machen ist. Aber keine Sorge, Herr Robert, Kosten entstehen nicht, ich habe noch einiges gut bei den Herren Mechanikern hier am Ort.“

Später wieder der Fuchs auf dem Dach. Er sieht mich kurz an. Ein Mensch, muss er wohl denken, wie langweilig. Ich schreibe Marie-Louise eine Nachricht nach Cork, dass der Wachtmeister und ich uns auf Beobachtungsposten begeben würden. Good luck, schreibt sie zurück. Dann rufe ich die Telefonzelle an, ich will genau wissen, wann es heute Abend losgeht und wo wir uns treffen. Der Fuchs gähnt und zeigt mir sein Vampirgebiss. „Ich hole Sie ab, keine Sorge“, raunt der Wachtmeister und hängt gleich wieder ein, bevor ich etwas sagen kann. Ich spüre deutlich mein Herz wummern. Ja, ich habe Angst. Ich muss es zugeben. Vor allem vor Alkmene habe ich Angst. Sicher, an diesem Abend geht es nur ums Beobachten. Aber eines Tages musste ich ihr gegenübertreten, keine Frage, und zwar als der Zwillingsbruder Arnos. Was hatte sie einmal zu mir gesagt, respektive zu Arno? Das Doppelgängertum sei doch schließlich mein Ding, ebenso wie die Wiedergängerei und auch die Wiederholung des Immergleichen. Da war es nun ja nur folgerichtig, als Zwillingsbruder, als eine Art Doppelgänger hier aufzutauchen. Und wenn ich herausbekommen wollte, was in Wirklichkeit auf dem Gutshof geschieht, was es mit dem Projekt Amphitryon Komplex nun tatsächlich auf sich hat, so blieb mir ja auch nichts anderes übrig, als in die Offensive zu gehen. Die Konfrontation zu suchen. Mich der Lage zu stellen. Neugierig zu bleiben. Ich gehe in der Datsche auf und ab, von dem kleinen Tisch am Fenster zur Klotür, von der Klotür zur Eingangstür, von der Eingangstür zur Küchenecke, von der Küchenecke zur Schlafcouch und von der Schlafcouch zum Tisch und so weiter und so weiter. Zwei, drei Schritte, eine Wendung, Schritte, Wendung. Ich bleibe abrupt stehen, als der Wachtmeister, ohne zu klopfen, aber es ist ja seine Datsche, plötzlich vor mir steht. Fast wäre ich vornüber gefallen. Er begrüßt mich zackig mit einem Kopfnicken. „Es dämmert, aufgehender Mond, schleierartige Bewölkung, der Fuchs sitzt nicht mehr auf dem Dach, unsere Pläne sind gemacht und harren der Ausführung. Einen Schlehengin zur Beruhigung?“ Ich trinke einen Schluck. Eine halbe Stunde später machen wir uns auf den Weg. Der Wachtmeister humpelt vor mir den Waldweg entlang und spricht über seinen Feldstecher, den er unnachahmlich nennt, ohne aber zu erklären warum. „Unnachahmlich“, ruft er, „Herr Robert, unnachahmlich! Nun aber sollten wir uns Schweigen auferlegen. Wir wählen den Weg unten am See entlang, dort aber ist nicht selten Frau Alkmene zu finden, vor allem wenn das Ruderboot auf dem Wasser ist.“ – „Das Ruderboot?“ – „Nun aber leise“, flüstert er, ohne auf meine Frage einzugehen. Natürlich wusste ich das mit dem Ruderboot, das oft in der Mitte des Sees zu sehen ist, aber ich musste ja schließlich den Unwissenden spielen. Leicht geduckt schleichen wir kurz darauf am Rande des Waldstücks entlang. In der Ferne über dem See ein, zwei Lichter im Dunst, weit weg. Mein Herz bollert. Es ist nicht zu vermeiden, auf trockene Äste zu treten, und jedes Mal dreht sich der Wachtmeister zu mir um, vage schält sich sein Gesicht aus dem Dunkeln, Zeigefinger auf den Lippen, weit aufgerissene Augen, das Kinn böse in meine Richtung gereckt. Er knurrt wie ein Hund, worauf er weiterschleicht und ebenso viel Lärm macht wie ich. Ich ärgere mich. Dann ein Zischlaut, der Wachtmeister bleibt stehen, prompt stoße ich gegen ihn. „Dort!“, flüstert er. Tatsächlich, Alkmene! Eine hohe weiße Gestalt am Ufer des Sees, am kleinen Sandstrand. Kaum zu erkennen. Ich bekomme schlecht Luft. „Pssst“, zischt mein Begleiter, „und sehen Sie da, das Ruderboot!“ Ich sehe nichts, es ist zu dunkel. Für mich ist da kein Ruderboot, nur Alkmene, ganz unbeweglich. „Was tun?“, flüstere ich dem Wachtmeister ins Ohr. „Warten“, sagt er, „warten“, und lässt sich sofort mit einiger Wucht lautstark ins Unterholz plumpsen, mich mitziehend. Alkmene rührt sich nicht. „Alter Militärtrick“, flüstert er, „nicht leise Krach machen, sondern laut Krach machen. Wie ein Bär, ganz natürlich.“ – „Okay“, flüstere ich. Meine Stimme zittert. „Einen Schlehengin? Herr Robert!“ Nichts geschieht. Alkmene ist vage als Silhouette zu erspähen. Die Glut ihrer Zigarette. Ab und an schwappt eine winzige Welle ans Ufer, kaum zu hören. Kein Ruderboot, nirgends. Der Wachtmeister neben mir sitzt völlig still. Ich wusste nur zu gut, Alkmene verbrachte nicht selten eine Stunde oder mehr hier unten. Das kann ja heiter werden, denke ich, doch da wendet sie sich plötzlich um und geht langsam Richtung Haus, quer durch das kleine Waldstück, ein Trampelpfad, drei, vier Meter von uns entfernt. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. „Kommen Sie“, flüstert der Wachtmeister kurz darauf, „aufrücken, Beobachtungsposten einnehmen.“ Einige Minuten später erreichen wir in nahezu völliger Dunkelheit, in der der Wachtmeister sich aber erstaunlich sicher bewegt, den kleinen Hügel, der obenauf die Senke aufweist. Die Stelle, an der er mit Marie-Louise gelegen hat. War mir zu meiner Zeit hier nie aufgefallen. Das schwach beleuchtete Gutshaus in etwa dreißig Metern Entfernung. Wir nehmen unsere Position ein. Ich bekomme noch immer schlecht Luft, denn schließlich würde ich, so nehme ich an, nun zum ersten Mal überhaupt mein eigenes funktionierendes Hologramm zu sehen bekommen. Mir ist denkbar mulmig zumute. Bisher allerdings war da nichts, stellte ich enttäuscht fest, nur jetzt wieder Alkmene auf der Terrasse, rauchend. Nichts sonst. Der Wohnraum fahl beleuchtet. „Wir warten“, sagt der Wachtmeister. Und dann lag ich, das war das Nächste, was ich mitbekam, auf dem Rücken. Die Schlafcouch? Ich hustete und öffnete die Augen. Eine Decke aus einfachen Holzlatten. Ich richtete mich mühsam halb auf, der Tisch, die blinden Fenster, natürlich, dachte ich, ich bin in der Datsche. Ich werde das doch wohl nicht geträumt haben, schoss es mir durch den Kopf, Alkmene am See, auf der Terrasse, der Wachtmeister und ich auf Beobachtungsposten? Ich setze mich aufrecht und drehe den Kopf. Da steht der Fuchs mit einer weißen Schürze am Herd und rührt in einem großen Topf. „Herr Robert“, ruft der Wachtmeister, „so wachen Sie doch auf!“ – „Gibt es Suppe?“, frage ich. „Es gibt gleich etwas hinter die Löffel, Herr Robert! Kommen Sie doch zu sich!“ Wie sich herausstellt, ich konnte mich an nichts erinnern und vertraue ganz den Schilderungen meines Begleiters, bin ich auf unserem Beobachtungsposten im selben Moment in Ohnmacht gesunken, als mit einem Ruck alle Hologramme auf einmal erschienen. So der Wachtmeister. „Verstehen Sie“, sagt er, „Herr Sosias tauchte an der selben Stelle auf, wo Frau Alkmene stand, die echte, und das ist wohl zu viel für Sie gewesen, da Ihren Bruder so plötzlich zu sehen, in Frau Alkmene sozusagen.“ Ich erwidere nichts. Ich hatte keine Erfahrung mit Ohnmachten. Einmal war ich beim Augenarzt nach der Verabreichung von Tropfen fast weggesackt, da ist alles. Und nun so etwas. Es riecht aber wirklich nach Suppe. Jemand steht am Herd und rührt in einem großen Topf. „Zum Glück“, sagt der Wachtmeister, der meine Überraschung erkennt, „hat die Bäckersfrau heute Abend eine Lieferung von Brot und Gebäck auf dem Gutshof abzuliefern gehabt. Ich erkannte gleich ihren Wagen am Geräusch, kurz vor dem Abbiegen von der Straße auf den Zufahrtsweg. Ihre Art, den zweiten Gang reinzuknallen, dazu dieses Singen, das zerschlissene Differential, ganz typisch für einen Mercedes 190.“ – „Aber sonst ein gutes Auto“, kommt es vom Herd, „die Hinterachse ist mal ausgetauscht worden, ja, und es gab auch einmal ein Problem mit den Nockenwellen, aber ansonsten alles tippitoppi.“ Ich lächele unsicher. Der Fuchs? Die Bäckersfrau? „Es blieb mir“, fährt der Wachtmeister fort, „nichts anderes übrig, als Sie ohnmächtig dort liegen zu lassen, in stabiler Seitenlage natürlich, und die Bäckersfrau auf ihrem Rückweg vom Gutshaus abzufangen. An der Weggabelung zum See hin. Was bin ich gelaufen, das können Sie mir glauben, Herr Robert. Und dann haben wir Sie, wir zwei alten Leute, bis zum Auto getragen, auf die Rückbank verfrachtet und hierher gebracht. Nicht wahr?“ – „So war es. Doch vor den Doppelgängern“, sagt die Bäckersfrau lächelnd, immer noch rührend, „diesen Hologrammen, müssen Sie keine Furcht haben, Ihr Bruder hatte sicher auch keine. Der Wachtmeister sagt, er ist verschwunden? Ein netter junger Mann ist das. Etwas Sauerrahm in die Suppe? Sie mögen doch Suppe?“

Kurz darauf sitzen wir alle drei an dem kleinen Tisch mit der Wachstuchdecke. Ich lobe die Köchin, der Wachtmeister nickt heftig und tätschelt der Bäckersfrau den Unterarm. Ich bin immer noch verwirrt. In Ohnmacht gefallen? Beziehungsweise, ich lag ja bereits, ohnmächtig geworden. Beim Anblick der Hologramme? Ich kann mich tatsächlich an nichts erinnern. An absolut nichts. Das letzte Bild ist jenes mit der rauchenden Alkmene auf der Terrasse. Der Wachtmeister räuspert sich. Ich blicke auf. Hatte ich etwa vor mich hin gemurmelt? Zwei Augenpaare sehen mich interessiert an. Dann verstehe ich. Der Blutstropfen! Der ewige Blutstropfen. Jeder nimmt noch einen Schlag Suppe. Wir essen schweigend. Der Wachtmeister, fällt mir auf, hat die Eigenart, den Löffel fast bis in den Schlund zu stecken und ihn dann mit Gewalt, gegen den Widerstand der Mundmuskulatur, wieder herauszuziehen. Ich, also Arno, hatte ihn bisher immer nur trinken oder rauchen gesehen. Nie essen. Die Bäckersfrau hingegen schlürft die Suppe kokett quer vom Löffel. Alles sehr seltsam, denke ich, aber was soll’s, jetzt stecke ich, wir alle stecken mitten in der Geschichte. Und zwar weil ich wissen will, was das alles zu bedeuten hat, was dahinter steckt, hinter all diesem Aufwand, hinter dieser ganzen Kunstangelegenheit! Diesem Kunstgedöns! Immerhin sind Fördergelder geflossen. Die sogenannte Privatwirtschaft hat was springen lassen. Und das nicht zu knapp. Hochkomplexe Technik ist installiert worden, sicher sind summa summarum hunderte, was sage ich, tausende von Arbeitsstunden dabei draufgegangen. Und für was? Steht da nicht die alte Frage im Raum, die immer zu stellen ist, nämlich wer denn einen Nutzen hat von all dem! Wie im Krimi. Oder in der Politik. Selbst Marie-Louise sagt, niemand mehr glaube an die reine Zwecklosigkeit der Kunst, nicht einmal die Kunststudenten. Was ist dagegen der gute Immanuel Kant doch für ein Naivling gewesen mit seiner Ansicht zur Kunst, nein, zum Schönen, zum Schönen als einem interesselosen Wohlgefallen. Einerseits. Während er ja andererseits durchaus schlaue Gedanken hatte, ewigen Frieden zu stiften zum Beispiel auf der Grundlage von Vernunft und Gerechtigkeit, was allerdings leider auch naiv ist, nimmt man es genau. Hegel war ihm da ja durchaus gefolgt, und die Junghegelianer sowieso, wenn ich mich recht erinnere, wobei schon auffällt, möchte ich meinen, wie abfällig die Begriffe Vernunft und Gerechtigkeit mitweilen benutzt werden, heutigentags, eine Abkehr von der Idee der Vernunft scheint sich zu vollziehen, hin zu einer Politik des Stärkeren, einem primitiven … „Herr Robert! Hören Sie zu? Die Bäckersfrau fragt Sie etwas.“ Sagt der Wachtmeister etwa Bäckersfrau zur Bäckersfrau? Fällt mir das jetzt erst auf? Und ja, ich erinnere mich, in Bad Wutzenwalde ist das eine stehende Redewendung: Die Bäckersfrau sagt, die Bäckersfrau meint, die Bäckersfrau ist der Ansicht.“ – „Entschuldigung!“ – „Würden Sie“, sagt sie charmant lächelnd, „am morgigen Abend mit mir auf Beobachtungsposten gehen? Der Wachtmeister ist verhindert.“ – „Aber ja“, erwidere ich. „Und dass Sie mir nicht in Ohnmacht fallen, Herr Robert, hören Sie!“ Wenig später ruckelt der weiße Mercedes 190 mit den beiden Insassen den Hügel hinab, durchfährt die kleine Senke, biegt mit durchdrehenden Rädern rechts ab und verschwindet in der Dunkelheit. Jetzt wusste ich auch, was der Wachtmeister mit diesem Singen meint, das seiner Ansicht nach vom zerschlissenen Differential herrührt. Ich gehe hinein und lege mich wieder auf die Couch. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich muss wohl bei der Frage angelangt sein, wem das Ganze nützlich ist. Zumindest stellt sie sich. Das gute alte Cui bono.[9] Arnos Vermutung, hinter dem Treiben von Karl und Max respektive Jupiter und Mercurius müsse so etwas stecken wie ein groß angelegter Testbetrieb, bei dem die sinnvolle Verbindung von Hologramm und künstlicher Intelligenz das Ziel sei, ist allerdings womöglich weit hergeholt. Realitätsfern. Und ich, Robert, denke naturgemäß ganz ähnliche Gedanken wie Arno. Weil wir Zwillinge sind. Eineiig und ein Herz und eine Seele. Beide haben wir zum Beispiel zeitgleich die Beobachtung gemacht, dass sich die meisten Menschen beim Begriff Roboter feste Materie vorstellen, die im Idealfall wie ein menschlicher Körper auszusehen hat und am besten noch schwitzt und riecht und, wenn notwendig, rund um die Uhr schlechte Witze macht. Aber ist denn nicht, dachte ich zumindest, der offensichtlich gewollten Vermenschlichung der künstlichen Intelligenz am besten gedient, wenn alle Nachteile des Körperlichen getilgt und zugleich diese Wesen wie reale Menschen zu handeln in der Lage sind. Natürlich kann ein Hologramm eine echte Teekanne nicht von A nach B tragen, aber durchaus materiellen Hilfsrobotern, sozusagen Dreifüßen oder goldenen Mägden[10], dafür den Befehl erteilen. Warum den Menschen immer eins zu eins ersetzen wollen! Geht es denn nicht um Systeme, vielfältige Einheiten, in denen Aufgaben ganz natürlich gelöst werden, ohne sich ausgerechnet für jeden Programmpunkt den Menschen als Vorbild zu nehmen? Kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten ist schließlich derart unspezifisch veranlagt, wenn auch manche sagen, der Daumen unterscheide den Menschen vom Tier. Der Daumen mache die Pfote zum Multitool. Schön und gut, dachte ich, aber trotzdem muss der Mensch der Zukunft die Kanne nicht selbst tragen. Ja er gibt nicht einmal zwingend selbst den Befehl dazu, würde ich sagen – weil nämlich alle verfügbaren Daten, in diesem Falle der Teewunsch, schon im Zentral-, im Allrechner angekommen und bereits weitergegeben worden sind, bevor der Mensch den Wunsch überhaupt realisiert hat. Das ist laienhaft gedacht, klar, aber so wird es laufen: Das Hologramm spricht, kaum dass man Tee will, mit angenehmer Stimme zum Roboter, „bitte den Tee und die Haferkekse ins Arbeitszimmer.“ Und was spräche dagegen, dem Hologramm die Gestalt eines berühmten Schauspielers zu geben, wenn man das denn partout möchte, oder die der Mutter, des Vaters, die einer Comicfigur. Einige implantierte Sensoren dürften bei der ganzen Chose völlig ausreichend sein, dem Menschen jeden Wunsch ablesen zu können, ja womöglich klingelt der attraktive, menschengleiche Sexroboter, mit allen Wünschen bereits programmiert, fünf Minuten nachdem so ein ganz bestimmtes Kribbeln eine Person befallen hat.

Nun gut, denke ich, genug gedacht. Ich gehe aufs Klo, Marke Datsche-Eigenbau, und betrachte mich im fleckigen Spiegel über dem Waschbecken. Die Narbe etwas angeschwollen, im Augenblick aber kein Blut zu sehen. Eine alte, echte Narbe, dem Anschein nach. Die aber hoffentlich, wie von Barbara versprochen, wieder verschwinden würde. Lange sehe ich mich an. Ob ich die Narbe würde nachstechen lassen müssen, wenn sie zu früh verblasste? Und ob ein Nachstechen nicht etwa die Gefahr erhöhte, sie permanent zu machen? Was tun, wie vorgehen? Plötzlich aber dreht sich mir alles. Ich packe mit beiden Händen das Waschbecken. Wo kommt denn das so plötzlich her! Minuten später am Tisch, zu dem ich sicherheitshalber gekrochen bin, vor meinen Aufzeichnungen sitzend, wird mir klar, dass mein Körper etwas begriffen hatte, was der Verstand noch außerstande gewesen war zu akzeptieren: Dass nämlich mit einer echten Narbe auf der Stirn, wenn die Tätowierung nicht wieder verschwinden würde, Arno unauffindbar bleiben würde. Für immer! Ist eine Tätowierung auch nur um ein Winziges zu tief gestochen, sind die Pigmente in eine zu tiefe Hautschicht eingedrungen, so bleibt sie. Barbara hatte mir das während des Stechens erklärt und zugleich behauptet, sie könne das mit den nichtpermanenten Tattoos sehr gut, als Einzige in dem Laden. Und die Nachfrage sei ja auch gestiegen, denn vor allem Alleinstehende nähmen oft ihren gesamten Jahresurlaub im Winter und verschwänden ins Warme, und die hätten einen starken Bedarf an coolen Tattoos, die sie aber bei der normalen Arbeit nicht haben dürfen. Polizisten, Soldaten, Zollbeamte. Auch eine Staatsanwältin sei Kundin. Das lasse doch tief blicken!

Mit Einbruch der Dunkelheit, so habe ich es mit der Bäckersfrau verabredet, würden wir uns an der Abzweigung zum See hin treffen. Vorsicht aber sei vonnöten, denn nicht nur Alkmene könne am See oder im Wald herumstromern, sondern auch Karl und Max. Sobald der Fuchs auf dem Dach steht, mache ich mich auf den Weg. Prompt läuft mir unten auf der Straße Herr Knocke von Fernseh-Knocke über den Weg, der mit seinem Spitz spazieren geht. Mist, denke ich, mit der Spitzfindigkeit von Hunden hatte ich nicht gerechnet. Arno mochte keine Hunde, da würde es wohl besser sein, wenn ich, Robert, sie mag. Ich knuddele also den Hund, der freudig an mir hochspringt, trete dann entschlossen auf Knocke zu und schüttele ihm die Hand. „Robert Scheerbart“, sage ich, zu laut und zu deutlich, aber was soll’s, das kann passieren, „ich bin der Bruder von Arno, den Sie ja vielleicht kennen.“ – „Ah, der Herr Zwillingsbruder! Der Wachtmeister erzählte mir kürzlich von Ihnen.“ Eine Pause entsteht. „Sie wollen …?“ – „Ja, ich kann meinen Bruder nicht erreichen, ich dachte, womöglich ist er in Bad Wutzenwalde.“ Knocke lächelt, während der Hund im Unterholz verschwindet. „Sie wissen ja“, fahre ich fort, „diese Künstler, diese Schriftsteller verbarrikadieren sich oft geradezu, reagieren auf keinen Anruf und so weiter. Um große Werke zu schaffen.“ Ich lache Zustimmung heischend. Herr Knocke sieht mich ernst an und schweigt. Der Hund kommt zurück und guckt von unten knopfäugig von einem zum anderen, immer hin und her. „Na und“, scheint er zu sagen, „und was nun?“ – „Große Werke“, sage ich noch einmal und laufe rot an, „aber finden muss ich ihn, Familienangelegenheiten, wissen Sie, also wenn Sie …“ – „Aber ja“, sagt er beflissentlich, „übrigens Knocke mein Name, Fernsehfachgeschäft, Postfiliale, sicher sehen wir uns mal. Auf Wiedersehen, der Hund muss noch mal und es wird ja bald dunkel.“ – „Sicher“, sage ich, „auf Wiedersehn!“ Im selben Augenblick fällt ein Blutstropfen von meiner Nasespitze zwischen meine Füße, aber da ist Herr Knocke mit seinem Spitz schon auf dem Weg in den Wald. Zwanzig Minuten später treffe ich an der Weggabelung ein. Auf ein Neues also! Im Westen, so kann ich durch die Bäume erkennen, ein schmaler Streifen Licht über dem See. Unter dem Blätterdach ist es bereits ziemlich finster. Keine Bäckersfrau weit und breit. Ich warte. Schleiche ein wenig herum. Alkmene ist nicht am Seeufer, auch sonst niemand. Man kann schon den Herbst riechen, denke ich. Dann ein Rascheln. Mein Herz wummert ein paar Mal unregelmäßig. Die Bäckersfrau. Knickerbocker, Kniestrümpfe, Wanderschuhe, ein Spazierstock und, natürlich, ein Feldstecher. „Die Luft ist rein, Herr Robert“, sagt sie statt einer Begrüßung, „kommen Sie!“ Wir laufen längs durch das Waldstück, beide leicht gebückt wie die Indianer, die Bäckersfrau vor mir mit bestechender Trittsicherheit. Manchmal knackt ein Ast, aber das ist ja normal in einem Wald, dass mal ein Ast knackt, auf den man tritt, denke ich ärgerlich. Endlich erreichen wir die Stelle auf dem kleinen Hügel mit Senke obenauf. Das Gutshaus, so stelle ich enttäuscht fest, liegt finster da. Nichts zu sehen, nichts zu hören, die großen, bis zum Boden reichenden Fenster, die ganze Fensterfront ganz und gar schwarz, während das Dach mit seinen roten Ziegeln und den drei Dachgauben wie aus sich heraus schwach leuchtet. Die Bäckersfrau nimmt ihren Feldstecher zur Hand. „Sehen Sie da und dort die roten Pünktchen blinken? Die Internetübertragung ist zwar eingestellt worden, die Kameras aber wurden nicht entfernt. Wir lagen übrigens genau hier, Herr Robert, der Wachtmeister und ich, als alles getestet wurde, nächtelang.“ Sie atmet ein paar Mal tief ein und aus. „Das hätten Sie mal sehen sollen“, fährt sie schließlich fort, „Grizzlybären liefen herum, eine Monsterwelle raste durch das Wohnzimmer, ein Wal strandete auf der Terrasse und so weiter. Faszinierend, auch wenn es keinen Sinn macht. Der Wachtmeister allerdings …“ In eben diesem Augenblick plötzlich gleißendes Licht. Einen Moment lang erkenne ich, völlig geblendet, gar nichts und reibe mir die Augen. Ich ducke mich tiefer in die Senke. Und dann sehe ich es! „Ganz ruhig“, flüstert die Bäckersfrau mir ins Ohr und tätschelt mir den Rücken, „atmen Sie tief durch!“ Ich atme. „Das ist“, flötet sie leise vor sich hin, „alles nur Show, Herr Robert! Nur Hologramme!“ Tatsächlich ist mir schwindelig. Hellerleuchtet der Wohnraum, in ihm Alkmene und Amphitryon, beide auf und ab gehend. An der Wand im Hintergrund stehend Karl und Max in ihrer Rolle als Jupiter und Mercurius. Vorne quert die Katze mit dem Näschen nach oben die Szenerie, und dann, ich schreie auf, erkenne ich mich. Also Arno! Sosias! „Leise! Das ist nur ein …“ – „Ich weiß, ein Hologramm“, keuche ich. Das Ich! Mein Ich! Der Ich! Arno tritt derweil auf Alkmene zu und bewegt den Mund. Alkmene fuchtelt mit den Armen herum. Ich folge ihr in die Sofaecke. Und tatsächlich, ich kann mich, wie ich da so in der Mulde liege, an die Szene erinnern, die sich da vor unseren Augen abspielt. Es ging um meinen Essay, den ich endlich online stellen wollte. Ich weiß noch, ich drohte ihr mit irgendetwas. Wie lange war das jetzt her, fragte ich mich. Und dann mit einem Male alles aus. Schwärze. Auf der Netzhaut kurz noch die Szenerie und tanzende Pünktchen. Wieder reibe ich mir die Augen. Die Bäckersfrau guckt ungerührt durch ihren Feldstecher. Das Deckenlicht wird eingeschaltet und vom Flur her kommt Alkmene, ohne Zweifel die echte, mit großen Schritten in den Wohnraum hinein, öffnet die Terrassentür und tritt hinaus. Ihr folgt jemand. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich da nicht in Ohnmacht gefallen bin, denn die Frau, die hinter ihr ins Freie tritt, eine Zigarette in der Hand, sie anzündend und einen tiefen Zug nehmend, ist niemand anderes als Marie-Louise. Meine Marie-Louise!

VII

Sobald eine Idee vage aufscheint, rumort es in mir. Ein Zugriff jedoch ist lange noch unmöglich. Da ist nichts Benenn- oder Greifbares. Der Kopf aber geht schwanger. Mehr als einem lieb sein kann. Es schwirren Begriffe und Entitäten herum. Schattenhaft. Eines Tages aber, man ist längst schon an dieses unabhängig vom Willen sich vollziehende Tun gewöhnt und beachtet es kaum noch, stößt ein gewisses Etwas hinzu. So scheint mir. Ein von außen Heran-, von außen Hineingetragenes. Oder aber ein von innen Hinzugefügtes, aus einem Urgrund heraus. Oder müssen alle Zutaten, ob von außen oder innen, hinzugefügt sein, um zu einem Ergebnis zu kommen, eine Idee zu gebären? Doch gleichviel, da steht sie steht plötzlich und blickt einem tief in die Augen. Die Idee. „Meintest du etwa mich“, scheint sie zu sagen, „gut. Hier bin ich!“ Von diesem Augenblick an muss jeder Versuch, sich ihrer wieder zu entledigen, scheitern.

So entstand die Idee mit diesen vermaledeiten Hologrammen. Alkmene, Amphitryon und ich hatten sie gleichzeitig, fast als seien unsere Gehirne miteinander verschaltet gewesen. Hätte ich bloß zuvor die Klappe gehalten! Alles für mich behalten. Denn es müssen wohl all meiner Reden über Wieder- und Doppelgänger gewesen sein, die sich zu einer Idee in gleich mehreren Köpfen verdichteten. Eine Idee, plötzlich ganz und gar da. Lebensfähig geworden. Wirkmächtig durch die Umsetzung in eine andere Sphäre! Ich glaube, die Beiden wussten selbst nicht, auf was sie sich da einließen. Ich wusste es auch nicht. Wir waren naiv, die Idee hatte die Herrschaft über uns übernommen. Das Doppelgängertum! Wie schlicht es doch gedacht ist, das sage ich seit eh und je, einem Menschen nur ein einziges, konstantes Ich zuzubilligen. Und selbst ein eigenständig handelndes zweites Ich ist ja noch immer nur eines von vielen möglichen! Man denke nur an diese Geschichte, die ich, respektive Arno, viele Jahre später nach den Traumnotizen Eduard Rabans schrieb. Ich erst machte diese konkrete Doppelgängergeschichte daraus. Aber natürlich hat so ein Traum einen Grund, eine Grundlage im wirklichen Sein. Nicht von ungefähr heißt es ja, jemand sei außer sich, sei nicht recht bei sich, sei nicht er oder sie selbst. Bei Eduard jedenfalls gibt es offensichtlich mindestens zwei Seinsweisen, die des offenherzigen Eduards und die des verkapselten. Und da komme mir keiner mit irgendwelchen Krankheitsbildern! Oder man bedenke nur Goethes Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Die eine will sich von der andern trennen. Aber was genau ist dann ein Hologramm? Einfach ein 3D-Avatar! Ein schlichtes Abbild ohne eigentliches Sein? Kein Doppelgänger also? Darüber dachte ich viel nach. Von Amphitryon wusste ich, er hatte sich offensichtlich einiges angelesen, dass man für echte Hologramme Displays benötige, deren Pixel ein Fünfhundertstel bis zu einem Tausendstel Millimeter groß sind, was der Größe der Wellenlänge von Licht entspricht. Naja, dachte ich, wenn es nur das ist, dann ist ja alles auf dieser Welt nur Licht und Luft.

All diese Überlegungen fielen mir wieder ein auf dem Weg vom Gutshof zur Backstube, den die Bäckersfrau und ich schweigend zurücklegten. Jetzt trinken wir Schnaps und Schlehengin und verzehren Huckelkuchen. Der Wachtmeister hat sich zu uns gesellt. Kaum sind die Gläser gefüllt, klärt er mich in aller Sachlichkeit darüber auf, dass Marie-Louise seit ein paar Tagen im Bungalow wohne und täglich lange Interviews mit Alkmene, Jupiter und Mercurius führe. Die Bäckersfrau nickt dazu und lächelt. Mir liegt manche Frage auf der Zunge, zuerst natürlich die, warum mir davon nichts gesagt worden ist. Allerdings habe ich weiterhin ernsthaft damit zu kämpfen auseinanderzuhalten, was ich als Robert denn wissen konnte und was nicht. Ich entscheide mich sicherheitshalber dafür, nichts zu wissen, nichts zu sagen und vor allem nichts zu fragen. „Frau Marie-Louise ist ja bereits kürzlich einmal auf dem Gutshof gewesen, Herr Robert“, sagt auf einmal die Bäckersfrau ganz unvermittelt, „ohne jemanden anzutreffen.“ – „Sie war“, ergänzt der Wachtmeister, „davon gehen wir fest aus, auf Geheiß des Herrn Sosias, also Herrn Arnos hier.“ – „So dass der Herr Arno vor kurzem wohl noch vorhanden gewesen sein muss“, so die Bäckersfrau. Vorhanden, denke ich, wieso vorhanden? „Wir werden Frau Marie-Louise einfach bei Gelegenheit zu fragen haben, nicht wahr?“, sagt der Wachtmeister, „oder den Herrn Sosias selbst.“ – „Jedenfalls war sie dann plötzlich wieder hier“, ruft die Bäckersfrau in den Raum hinein, „in Irland sei sie gewesen, zwischenzeitlich.“ – „Die Bäckersfrau hat Frau Marie-Louise dann mit dem Wagen mitgenommen“, sagt der Wachtmeister, „und sie der Frau Alkmene und den Herren Jupiter und Mercurius vorgestellt. Dass sie auf dem Gutshof Interviews führen will hat sie gleich gesagt und alles erklärt.“ – „Die Interviews sind für ihre Abschlussarbeit“, sagt jetzt die Bäckersfrau, setzt sich sehr aufrecht hin und kippt einen Schnaps hinter. „Hat sie uns alles erzählt“, sagt jetzt wieder der Wachtmeister und drückt ebenfalls den Rücken durch, trinkt aber nichts. Ich sitze nur da. In meinem Kopf rattert es. Wer hatte wem was erzählt, frage ich mich? Und warum überhaupt ist Marie-Louise nicht mehr in Irland? Ich lächele unsicher. „Ich kenne die Frau nur von einem Foto“, sage ich schließlich und werde rot, „ich weiß nicht, vielleicht ist sie ja doch die Freundin meines Bruders.“ Ich werde noch röter. „Schweizerin ist sie“, sagt der Wachtmeister mit Nachdruck, „das auf jeden Fall.“ –  „Und so hübsch“, sagt die Bäckersfrau lächelnd. „Gebildet und charmant dazu“, ergänzt der Wachtmeister. „Voll Leidenschaft und Hingabe“, murmelt die Bäckersfrau nachdenklich, „und …“ – „Mutig“, ruft der Wachtmeister, „und …“ – „Schön“, so die Bäckersfrau mit Nachdruck, „eine schöne Frau, und …“ – „… und sicher froh“, beendet der Wachtmeister den Satz, „dass sie ihren Freund jetzt wieder bei sich in der Nähe haben kann!“ – „Ja“, lacht die Bäckersfrau nach einem kurzen Moment absoluter Stille los und spuckt Kuchenkrümel auf meinen Bauch, „zumindest den einen von den beiden!“ Der Wachtmeister lacht nicht, sieht mich aber bedeutsam an, legt die Stirn in Falten und steht langsam auf. „Das Spiel ist aus, Freundchen“, erklärt er in dienstlichem Ton, „gestehen Sie, Herr … Herr Arnobertosias!“ Kurze Stille, und dann lacht auch er. Der ganze mächtige Leib des Wachtmeisters bebt. Schließlich legt er mir eine Hand auf die Schulter. „Einen Schlehengin? Herr Robert!“ Ich sitze da wie gelähmt. Des Wachtmeisters Gelächter verebbt langsam. Ich hatte ihn niemals zuvor lachen sehen. Die Bäckersfrau kichert still in sich hinein. Vom Hof her, so scheint mir, ist leise das Gebimmel einer Fahrradklingel zu hören. Sicher das Hollandrad des Wachtmeisters mit seinen acht Gängen und Freilauf. Alles, alles jubiliert! Ich aber schäme mich meines tumben Versuchs, ein Anderer zu werden, mein eigener Zwillingsbruder zu sein. Komischerweise fällt mir ausgerechnet jetzt, da ich so verwirrt in der Bäckersstube sitze, Die Feuerzangenbowle ein, der Lieblingsfilm meiner Eltern, doch da macht Heinz Rühmann ja aus sich nur sein jüngeres Ich, das er in gewisser Weise einmal hätte gewesen sein können, während ich ja aus dem Nichts heraus Robert zu sein versuchte und ihn, den nie zuvor Vorhandenen, unvermittelt zu verkörpern trachtete. Ach Gottchen, wie blöd muss man sein! Der Wachtmeister macht ein fragendes Gesicht. „Ja, bitte“, sage ich tonlos. „Wollen Sie nichts sagen?“ – „Nein“, erwidere ich, „was soll ich dazu noch sagen?“ Ich versinke in mir. Der Wachtmeister gießt mir nach. Ich sitze nur da. Den Kopf in den Händen. Mit Sausen in den Ohren. Endlich räuspert sich der Wachtmeister und sieht mich ernst an, auch die Bäckersfrau hat sich wieder im Griff. Man bemüht sich nun redlich, mir alles ernsthaft zu erklären, vor allem warum Alkmene, Jupiter, Mercurius und, sollte er wieder auftauchen, Amphitryon durchaus glauben sollen, der Zwillingsbruder Arnos, Robert nämlich, sei auf der Suche nach ihm, also mir, Arno. Auch im Ort solle man das ruhig glauben, denn nur so bestünde die Möglichkeit, die ganze Geschichte hinter dem Amphitryon Komplex aufzudecken. „The whole story, wie der Amerikaner sagt, the big picture, alles, was mit dem Gutshof zu tun hat“, sagt der Wachtmeister kehlig, klemmt die Daumen in die Achselhöhlen und legt sein Doppelkinn auf die Brust. „Frau Marie-Louise ist natürlich auf unserer Seite“, sagt die Bäckersfrau, „sie weiß genau, was sie tut.“ Ich nicke und kippe den Schlehengin hinter. Ich bin völlig verwirrt.

Zwei Stunden später liege ich wohlig betrunken in der Datsche auf der Schlafcouch. Ich starre auf die tanzenden Holzlatten der Zimmerdecke und weiß absolut nicht, ob ich mich ärgern oder mich freuen soll. Marie-Louise anzurufen wäre ein zu großes Risiko, das ist mir klar. Ich selbst hatte ihr ja eingeschärft, das Mobiltelefon nicht zu benutzen, weil die Götter, weil Jupiter und Mercurius, es womöglich abhören. Oder waren das die Wahnphantasien eines technisch völlig Unbedarften? Hockte ich da wie das Kaninchen vor der Schlange, die am Ende nur eine Blindschleiche ist? Der ganze Abend lief noch einmal vor mir ab, vor allem auch das Gespräch, nachdem sich die Bäckersfrau und der Wachtmeister als Genossen geoutet hatten. Als wahrhaft Wissende. Zuletzt noch kam die Rede darauf, schon morgen ein großes Treffen in des Wachtmeisters Wohnung stattfinden zu lassen, sozusagen in aller Öffentlichkeit. „Das soll“, so hatte die Bäckersfrau gesagt, „ruhig jeder mitbekommen. Wo kann man ein Buch am besten verstecken, Herr Robert?“ Ich sehe mich mit den Achseln zucken, wieder und wieder. Ich konnte gar nicht mehr damit aufhören. Was sollte denn das jetzt! „Nun?!“ – „Ich weiß es nicht!“ Sie lächelte nachsichtig. „In einem Bücherregal unter Büchern natürlich, Herr Robert! Und wo verstecken wir also den Herrn Arno am besten? Na? Im Herrn Robert! Na also, sehen Sie, jetzt haben Sie’s kapiert.“

Ich wache mit einem Schrei auf. Es klopft. Ich springe auf und tapere zur Tür. Es muss wohl früh am Morgen sein, jedenfalls ist es blendend hell da draußen. Ein junger Automechaniker in blauer Latzhose steht im Gegenlicht, drückt mir wortlos den Zündschlüssel von Eduards Wagen in die Hand, weist mit dem Kopf hinter sich, wo der alte bronzefarbene Honda blitzblankgeputzt steht, dreht sich um, geht zum Wagen, nimmt aus dem offen stehenden Kofferraum ein orangefarbenes Klapprad heraus, knallt den Kofferraum zu, hantiert am Rad herum, setzt sich schließlich drauf und lässt sich den Berg hinunterrollen. „Danke!“, rufe ich ihm hinterher.

Ich mache mir einen Kaffee. In was für eine Geschichte bin ich da nur hineingeraten! Oder vielmehr, was habe ich selbst da für eine Geschichte ins Leben gerufen? Womöglich ist das alles ja wirklich nur ein misslungenes Kunstprojekt! Ohne etwas dahinter! Ohne Resonanz, ohne Wirkung. Ein klarer Fall von kannste vergessen. Von denen gibt es ja wer weiß wie viele … ein innerer Zirkel, der sich interessiert zeigt oder das wenigstens vorgibt, wenn man Glück hat Gelder von irgendwoher, Stipendien, Preise, und das war es dann auch schon. War es das? Ich nehme mein Mobiltelefon zur Hand und rufe die Telefonzelle an. „Herr Robert!“, meldet sich die Stimme des Wachtmeisters, „Herr Robert! Kaufen Sie für das große Treffen bei der Bäckersfrau Gebäck für vier Personen und kommen Sie um 16 Uhr 30 zu mir zum Kaffee.“ Ich stiefele zeitig los. Die Bäckersfrau bedient mich wie jeden anderen Kunden. Ich nehme sechs Hörnchen und vier Bienenstich. Sollte reichen. Herr Knocke und der Gemüsehändler stehen hinter mir. Beide nickten mir zu, als ich mich umdrehe. „Bis später dann, Herr Robert“, sagt die Bäckersfrau noch, weder zu laut noch zu leise. Ich nehme also mein Gebäckpaket und mache mich auf den Weg zum Wachtmeister. Sagte ich schon, dass Marie-Louise neuerdings hellblonde Haare hat? Sie muss sie sich in Cork gefärbt haben. Sie steht mit dem Rücken am offenen Fenster der Wachtmeisterwohnung im ersten Stock. Unübersehbar. Ich schreite an der Telefonzelle vorbei und klingele. (Anstelle des Nachnamens steht da, ich glaub es nicht, tatsächlich Wachtmeister.) Marie-Louise öffnet, streicht mir mit dem Zeigefinger über die Stirnnarbe, lächelt, sagt aber nichts. „Kommen Sie herein, Herr Robert“, dröhnt stattdessen der tiefe Bass des Wachtmeisters, „ah, der Kuchen. Kaffee kommt gleich.“ Ich sehe mich um. Die Wände des Wohnzimmers bestehen aus nichts anderem als aus Bücherregalen, prall gefüllt. Vieles aus dem Aufbau-Verlag, siebziger und achtziger Jahre. Hier und da neue Bücher, Lexika. Ich war überrascht, denn lesend konnte ich mir den Wachtmeister überhaupt nicht vorstellen. In der Mitte des Raumes ein runder, niedriger Tisch, so eine Art Küchentisch mit abgesägten Beinen, um ihn herum fünf Cocktailsessel mit etwas zerschlissenem Stoff, mattblau, mattgelb, mattrot, mattgrün und mattgrau. Auf einem Regal über der Heizung dutzende Notizbücher mit blechbeschlagenen Kanten. Kurz darauf trifft die Bäckersfrau ein, sie muss wohl einen Schlüssel haben, auch sie mit einem Gebäckpaket, größer noch als meins. Wir plaudern. Natürlich hatte ich verstanden, dass dieses Treffen in erster Linie der Installation Roberts, so würde ich das mal nennen, dienen sollte. „Sie hätten natürlich auch Sosias beziehungsweise Herr Arno bleiben können“, sagt der Wachtmeister plötzlich ansatzlos. Ich stutze. „Aber dann wäre ich gegen meinen Willen zurückgekommen“, gebe ich zu bedenken, „ich als Arno bin ja dem Gutshof und Bad Wutzenwalde entflohen!“ – „Wir freuen uns ja, den Herrn Robert kennenzulernen“, mischt sich die Bäckersfrau schelmisch ein. „Und außerdem“, sagt Marie-Louise, „hätte Alkmene sicher Vorbehalte gegen mich, wenn ich hier als die Freundin Arnos aufträte. Mit Robert, in den ich mich in Berlin verliebt habe, ist das ein ganz anderes Ding.“ Sie lächelt, weicht aber meinem Blick aus. Meine Narbe juckt. „Stimmt wohl“, sage ich, „Alkmene hätte dich, als Arnos Freundin, sicher nicht einquartiert.“ – „Die erste Nacht im Bungalow war übrigens seltsam. Ich war sicher, irgendjemand schleicht ums Haus herum. Ich lag auf dem Bett, angezogen, und rechnete jeden Augenblick damit, dass dieser Jemand durch das geschlossene Fenster hereinspringt.“ – „Vielleicht war es nur der Fuchs“, sagt der Wachtmeister und nimmt sich ein Stück Bienenstich. „Und so ein Zischen habe ich auch gehört.“ – „Dann waren es die Eulen!“, sagt die Bäckersfrau und stopft sich ein Hörnchen in den Mund.

Marie-Louise liest uns ihre Interview-Abschriften vor. Es überrascht mich, dass Alkmene gegenüber Marie-Louise unumwunden zugibt, das Projekt Amphitryon Komplex sei teilweise gescheitert. „Wie wirkte sie denn, als sie ihr Scheitern zugab?“, frage ich. „Ich würde sagen gefasst.“ Der Wachtmeister nimmt sich ein weiteres Stück Kuchen. „So stellt sich die Frage, was sie plant.“ – „Was die ganze Bande plant!“, sagt die Bäckersfrau. „Ich denke weiterhin“, mische ich mich ein und merke gleich, wie ich rot werde, „dass Jupiter und Mercurius das Ganze als eine Versuchsanordnung ansehen, bei der sie testen können, inwieweit sich künstliche Intelligenz und Robotertechnik verbinden lässt mit der Hologramm-Technik.“ Ich erläutere, wie man die Erscheinungsform einer menschlichen Welt erhalten könne, selbst wenn überhaupt keine echten Menschen mehr an einem Ort notwendig seien. Sondern nur noch Hologramme und Roboter. Und dass das dann zwar alle wüssten, es aber eben trotzdem menschlich wirke. Nach und nach fände eine Konditionierung statt, die den einzelnen Menschen dieser schönen neuen Welt völlig ausliefere. „Roboter selbst können ja auch menschlich wirken“, ruft die Bäckersfrau kauend. Ich nicke. „Womöglich geht es um viel Geld und Frau Alkmenes Enthusiasmus ist nur benutzt worden, eine Testreihe in der realen Welt durchzuführen“, sagt der Wachtmeister ernst. „Es geht um die Durchsetzung der künstlichen Intelligenz, also darum, Macht zu gewinnen über die Menschen“, sage ich, „um so aus unserer Demokratie eine Scheindemokratie zu machen! Die Weltregierung säße dann im Silicon Valley und bestünde aus machtgeilen Nerds und Spießern!“ Pause. Wir hatten unser Pulver verschossen. „Mutig müssen wir nunmehr sein!“, sagt der Wachtmeister dann aber schließlich und steht auf. Auch wir erheben uns. Er schenkt Schlehengin ein. Wortlos klackern die Gläser aneinander. Das große Treffen war beendet.

Marie-Louise und ich verlassen gemeinsam die Wohnung und spazieren Richtung Gutshof. Ich schleiche mich von hinten von der Straße und durch das kleine Wäldchen heran. Mein Bungalow! Ich klettere, während Marie-Louise die Vordertür nimmt, durch das rückwärtige Fenster hinein und sehe mich um. Das Bett, der Küchentisch, die paar Stühle, die Kommode. Nichts hatte Alkmene geändert, ja ich bezweifelte sogar, dass sie das Haus überhaupt betreten hatte. „Alles gut?“, fragt Marie-Louise. Sie steht nackt in der Badezimmertür, nimmt Anlauf und springt ins Bett. Ich folge. Stunden später wache ich allein auf. In meinen Klamotten ein Zettel: Bin drüben im Gutshaus, komm doch nach. SIE weiß nun bescheid über Robert und seine Suche nach Arno. Zerreiß den Zettel und spül ihn ins Klo. M-L. Mein erster Gedanke war, Marie-Louise müsse verrückt geworden sein. Alkmene einfach so mit Robert zu kommen! Was da nicht alles schieflaufen kann! In meinem Kopf rumort es. In Filmen sehen die Dinge immer so zielstrebig aus, aber wenn man selbst drinsteckt in einer Geschichte, ist man nicht selten komplett orientierungslos. Ich spüle den zerrissenen Zettel ins Klo und gehe rüber. Ich muss unbedingt, schärfe ich mir ein, zum ersten Mal hier sein. Marie-Louise öffnet mir die Tür auf mein leises Klopfen hin. Alkmene, die selbe hohe, weiße Gestalt wie immer, kommt aus dem Hintergrund auf mich zugeschritten. Sie trägt ihr antik anmutendes Kleid und ist barfuß. „Guten Tag“, sagt sie. Aufmerksam betrachtet sie mich. Marie-Louise tritt einen Schritt zurück, ich bemerke es. „Guten Tag“. – „Marie-Louise hat es Ihnen wahrscheinlich schon gesagt. Ihr Bruder ist am Tag der Finissage in Basel einfach verschwunden. Nicht etwa, dass wir uns wirkliche Sorgen gemacht haben! Auch mein Mann, Amphitryon, verschwand am selben Tag, nachdem er mit einer der Hostessen Sex hatte. Man berichtete mir davon. In einem Büro der Kunsthalle. Es gibt Aufnahmen der Überwachungskameras. Wenn Sie wollen, können wir uns das mal ansehen. Wissen Sie, er war schon immer ein Schmierenkomödiant, der gute Amphitryon, selbst wenn er die Eroberung junger Frauen gut beherrscht, keine Frage!“ Sie lächelt zweideutig. Typisch für sie, mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich lasse mir nichts anmerken. „Einen Tee, Herr Scheerbart, oder darf ich Sie Robert nennen? Vielleicht eher einen Whisky? Für Tee ist es ja zu spät. Ich könnte jetzt jedenfalls einen gebrauchen. Marie-Louise? Sie auch!“ Natürlich, denke ich, als wir in der Sitzecke Platz nehmen, weiß Alkmene, dass ich nicht Robert bin! Dass es keinen Robert gibt und Arno vor ihr sitzt. Stirnnarbe hin oder her. Ich hoffe fast, die Narbe begänne zu bluten.

Alkmene berichtet nun ausführlich vom Komplex, sie sagt immer nur Komplex, und lässt kaum etwas Wichtiges aus, weder das Konzept betreffend noch die Technik noch den Einfluss der, so nannte sie sie tatsächlich, Herren Karl und Max Brzozowski. Ich habe große Mühe, interessiert zu wirken, denn es sind ja oft meine Worte, die sie da benutzt, ganze Textblöcke scheint sie auswendig zu wissen. „Sosias“, sagt sie dann endlich nach einer kleinen Pause, „also Ihr Bruder Arno, hat jedenfalls hervorragende Arbeit geleistet, das muss ich sagen.“ Ich nicke und versuche gleichgültig zu gucken. „Allerdings“, fährt sie fort, „hat die Freundschaft doch sehr gelitten im Laufe der drei Jahre. Am Ende waren wir uns spinnefeind. Auch das muss ich sagen, bedauerlicherweise.“ Ich schlucke. „Aber natürlich“, sagt sie lächelnd und mir eine Hand auf das Knie legend, „werde ich Sie bei Ihrer Suche bestmöglich unterstützen. Verlassen Sie sich darauf!“ – „Vielen Dank“, sage ich steif. „Aber ich bitte Sie! Und nun zeige ich Ihnen mal die Aufnahmen der Überwachungskamera der Kunsthalle Basel. Keine Angst, die Hostess ist sehr hübsch! Ah, da sind die Beiden ja! Darf ich vorstellen. Karl, Max, respektive Jupiter und Mercurius. Das ist Robert, er ist auf der Suche nach seinem Bruder Arno, also Sosias! Setzt euch doch!“ Hände werden geschüttelt. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Alkmene betätigt die Fernbedienung. „Bitte achten Sie“, sagt sie, „auf die Hand meines Mannes, die permanent auf der linken Hüfte der jungen Frau liegt oder sie zumindest leicht berührt. Da nämlich ist in diesem Augenblick ohne Zweifel die erogene Zone der Frau, bevor es zur Sache geht. Das Geheimnis der Verführung – spüre, wo der Körper des Anderen die Berührung herbeisehnt. Amphitryon hat dafür ein Händchen, wortwörtlich. Das muss man ihm lassen. Der Akt ist dagegen grob zu nennen“, sie spult ein wenig vor, „das geht nun vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden so.“ Hat die Hostess daran wirklich Spaß gehabt, denke ich, während ich zusehe, wie Amphitryons blanker Hintern auf und ab wippt. Verspürt sie wirklich sexuelle Lust? Schlecht zu sagen. „Die kurze Nacht des Amphitryon“, sagt Alkmene, „worauf sich dann all seine Spuren verloren haben, bis heute.“ Sie lächelt dumpf. Karl und Max verabschieden sich, während Alkmene mir und Marie-Louise Whisky nachgießt. „Und nun zu Ihnen, Robert. Erzählen Sie mal.“

VIII

Glauben Sie nicht, lieber Arno Scheerbart, oder wer Sie sonst sein mögen, Robert Scheerbart meinethalben, dass es durchaus berechtigt ist zu sagen, je mehr Handlung ein solcher Bericht beinhaltet, desto weniger Tiefsinn wird er haben können? Ich (keine Angst, ich antworte mir selber) halte dagegen, ganz im Gegenteil sei doch außerordentlich viel Sinn im Spiel, da alle Personen, von Marie-Louise bis zum (sagen wir ruhig) Fuchs, eigenständig denkende Wesen sind, denen es nicht um das Handeln als solches zu tun ist, sondern allein um die Sache, um ihre Sache, der sie ständig denkerisch im Rahmen ihrer Möglichkeiten obliegen. Das sich nun daraus ergebende Geschehen als Ganzes entsteht somit folgerichtig durch die Verknüpfung all dieser unterschiedlichsten Denkfäden, so dass sich ein mehr oder weniger stabiles Netz ausbildet oder, wie manche sagen, eine Textur. Die Handlung ist somit das Ergebnis unablässigen Zusammenknotens der unterschiedlichsten Fäden. Kaum ist ein Knoten ausgeführt, kaum eine neue Verbindung hergestellt, so tauchen bereits neue Denkfäden auf, dutzende neuer Fäden, die mit dem zu verbinden sind, was schon geknüpft ist, so dass nach und nach ein Knüpfwerk entsteht, dessen Sinn innerhalb des durch Denkfäden entstandenen Musters lesend zu erspüren ist. Verstehen Sie?

Ein Nachtrag zum großen Treffen: Wenn es die DDR gegeben hat, dann hat es auch den Wachtmeister gegeben! Den gibt es immer noch. Und der arme Kerl kann jetzt gar nicht mehr anders, als mich in seine Dienste zu nehmen. Eine kugelrunde Null, ich! Der Wachtmeister sagt sogar, er sei froh und er hätte es sich nicht besser ausdenken können, dass ich nun Robert bin. Über die Null lacht er. Auch die Bäckersfrau ist, wie sich herausstellt, begeistert. „Sie gefallen mir als Robert“, das hatte sie beim großen Treffen zum Abschied noch gesagt, „sogar besser. Sie haben mehr, wie sagt man doch gleich in Westdeutschland, mehr, mehr … Schmackes!“ Fast wäre ich, als Arno, ein wenig beleidigt gewesen. Oder schlimmer noch, eifersüchtig.

Zum Stand der Dinge: Die Datsche[11] ist mein neues Zuhause und der Wachtmeister ist mir in all meiner Einsamkeit der einzige Freund geblieben! Die Bäckersfrau die einzige Freundin! Wie ich mich freue, wenn ich den alten Mercedes 190 den Weg heraufknarzen höre! In der Backstube backen sie, auch wenn es keiner zugibt, von allem immer ein bisschen mehr, um mich mit den so entstehenden Resten durchzufüttern. Um nicht dick zu werden fahre ich, wann immer das Wetter es zulässt, Rennrad. Der Wachtmeister, wer sonst, hat es mir besorgt, fast neu aus einer kreisstädtischen Asservatenkammer, es habe als Fluchtfahrzeug gedient. Die passende Kleidung aus Plaste (Polyamid, Elastan, Polyester), Klickschuhe und einen schnittigen Helm habe ich mir im Internet bestellt. Der Postbote kannte den Weg. So ist alles eingerichtet. Auch der Fuchs sitzt noch immer zu jedem Sonnenuntergang auf dem Datschendach. Er begrüßt mich träge gähnend, wenn ich klatschnassgeschwitzt bei schon tiefstehender Sonne von meinen Rennradtouren zurückkomme. Natürlich hätte ich auch die Wahl gehabt, einen auf Arno Schmidt zu machen und mich mit billigem deutschen Schnaps totzusaufen. Oder mit Wodka oder Whisky. Aber das lehne ich ab, das ist so altherrenhaftes Getue. Übrigens weiß nur Marie-Louise, dass ich alles auf-, ja gleichsam mitschreibe, um einen Roman daraus zu machen. Muss ja auch nicht jeder alles wissen. Ah, es klopft (schreibe ich mal), da ist sie ja, die Bäckerfrau mit dem in rosafarbenes Papier eingepackten Backwerk. Sie ist wie eine Mutter zu mir. Letztens hat sie vergessen die Handbremse anzuziehen, beim 190er-Mercedes zieht man, und den Gang hatte sie auch nicht eingelegt. Sie stand wie heute mit dem rosa Gebäckberg strahlend vor der Tür, während ich an ihr vorbeisehend dem Wagen nachsah. Zum Glück rollte er rückwärts passgenau gegen einen Apfelbaum, der das gut überlebt hat, und die Äpfel wären ja ohnehin irgendwann runtergefallen. (Später machte sich eine Horde halbverhungerter, brandenburgischer Frutarier über das Obst her. Ich ließ sie gewähren.) Auch der Wagen hat kaum Schaden genommen, nur dass er eben jetzt ein bisschen mehr klappert. Den Honda hat jetzt übrigens Marie-Louise. Sie sagt, Eduard käme auch bald, ihn abzuholen. Für’s Protokoll: Das mit dem Beobachten des Gutshauses habe ich aufgegeben. Marie-Louise ist ja vor Ort, wie man so sagt. Außerdem hat der Wachtmeister so etwas wie eine Kameraüberwachung in Arbeit. Es gäbe einen teilweise hohlen, ziemlich alten Baum, der aber noch zur Hälfte voll im Saft stehe. Eine Eiche. Kaum nämlich habe damals das Totenglöcklein der Staatssicherheit geschlagen, so erzählte er vor ein paar Tagen, der Fuchs auf dem Dach blickte blinzelnd gen Abendsonne, wir tranken polnischen Wodka, sei auch schon die im Baum installierte, übrigens aus dem Westen importiere Kamera entfernt worden. Sie steckte in einem Vogelhäuschen an der toten Seite. Die Bäckersfrau, die in jungen Jahren Fotografin gelernt habe, würde sich in Sachen Neuinstallation um alles Technische kümmern. Praktischerweise gäbe es ein dreihundert Meter langes unterirdisches Rohr längs der Schneise, in das man das Kabel für die Kamera verlegen könne, ich wüsste schon, für die sichere Datenübertragung. „Aha“, sagte ich. „Für die Stromversorgung will die Bäckersfrau Akkus in Kombination mit Solarzellen. Alles so klein wie nur möglich und sowohl wasserdicht als auch käferresistent. Und bestenfalls nicht zu orten für Jupiter und Mercurius.“ – „Eben das“, sagt die Bäckersfrau jetzt (Obacht: wir sind in meiner Datsche, die Bäckersfrau nimmt vorsichtig das Papier vom Backwerk, während ich Kaffee mache), „das Orten durch diese Kerle da oben, ist der unsichere Faktor der ganzen, schönen Angelegenheit. Man muss die technische Überlegenheit der beiden Hanseln nämlich durchaus anerkennen.“ Sie nickt eine Weile mit geschürzten Lippen vor sich hin wie ein Wackeldackel, und dann ist endlich auch der Kaffee fertig.

An Regentagen gehe ich im Wald spazieren. Das Rennrad bleibt fest angeschlossen in der Datsche. Der Fuchs folgt mir in gebührendem Abstand, ich sehe es im Augenwinkel. Manchmal schießt er plötzlich ins Unterholz. Seine rotbraunes Fell kommt gut zur Geltung in der mattnass dunkelgrün schimmernden Kathedrale des Waldes. Ein Eichhörnchen, das mir ebenso folgt, manchmal springt es in großer Höhe von Baum zu Baum, schon eile ich mit ausgebreiteten Armen hinzu, es zu retten, aber natürlicherweise fällt es nicht, ist eine Spur röter als der Fuchs. Ich wünschte, ich hätte rotflammendes Haar, aber das wäre dann ja wohl doch ein wenig übertrieben. Ich habe viel Zeit nachzudenken. Nicht nur beim Rennradfahren, konzentriert, mit Druck auf den Pedalen und zugleich entspannt, sondern auch beim gemäßigten Wandern denke ich tief in mich hinein, ja das Wandern vor allem lässt nichts anderes zu als Denken. Wandern ist Denken. Ich denke mich also in einen Gedanken hinein, spiralförmig, und ebenso aus diesem Gedanken wieder heraus, wieder hinein, wieder heraus, naja, und so weiter. Ich spreche, zische, puste und flöte vor mich hin, fletsche die Zähne, balle die Fäuste, ziehe die Augenbrauen zusammen (womöglich blutet die Narbe deswegen!), umrunde mit der Zunge die Zähne, schnippse mit den Fingern, ziehe mir an den Ohrläppchen, trommele mit in die Achselhöhlen eingehängten Daumen und spitzen Fingern eine Melodie auf der Brust, und so weiter und so weiter. So sehr bin ich versunken, wandere ich, dass ich letztens in die hiesige Försterin hineinrannte, die mit geschultertem Gewehr und zwei Hasen, links und rechts an den Hinterläufen gepackt, um die Ecke kam, hinter einem mächtigen Baum hervor, einer Buche. Rabumms machte es. Ich dachte sofort, und daran erkennt alle Welt auf dem Lande sogleich den Städter (wenn er so dumm ist das kundzutun), die will mich doch sicher kennenlernen und hat nur darauf gewartet, mich umzurennen. Lagen wir also alle vier auf dem weichen Waldboden, die Försterin und ich auf dem Rücken, die beiden Hasen tot wie sie waren auf der Seite. Das Gaumenzäpfchen der Försterin war trotz des trüben Lichts gut zu erkennen, kein Wunder, denn sie hatte den Mund aufgerissen und gab ein leises Ahhhhhhh! von sich. Das Gewehr! Wir rappelten uns hoch. Über dem Kopf der Försterin erschien neugierig das Eichhörnchen und sah mich mit Knopfaugen an. Der Fuchs hielt sich bedeckt.

„Scheerbart“, sagte ich, „Robert Scheerbart.“ Sie räusperte sich, zog die Bluse unter der Armeejacke stramm, streifte sich den rechten Handschuh ab und gab mir kräftig die Hand. „Ich bin die hiesige Försterin“, sagte sie und wies mit einem Nicken auf die beiden toten Hasen, zog den Handschuh wieder über, nahm die Hasen auf und blickte mich eindringlich an. Das Eichhörnchen legte den Kopf schief. „Ich kenne Ihren Zwillingsbruder, Herr Scheerbart. Arno. Ich höre, er ist verschwunden?“ Ich bin völlig überrumpelt. Ich sehe die Frau zum ersten Mal! Sie lügt. Warum? „Kommen Sie doch einmal vorbei, das Försterinnenhaus ist dort“, sie wies vage mit dem kleinen Fingerchen durch eine Schneise hindurch, so als meine sie, es läge hinter den sieben Bergen, „ihr Bruder kam immer gerne.“ Sie lügt! Und wie! Sie stapfte davon, das Eichhörnchen flitzte den Stamm hoch, und auch der Fuchs war sicher noch irgendwo in der Nähe. Seltsam, dachte ich, schüttelte mich und machte mich auf den Weg, den sie mir gewiesen hatte, die Schneise entlang. Ein Försterinnenhaus dürfte ja wohl nicht zu übersehen sein. Später aß ich dann Hasenbraten, und zwar zum allerersten Mal. Dazu geröstete Kartoffeln aus dem eigenen Garten, der, mit einem kräftigen Eisengitter geschützt, hinter dem Försterinnenhaus liegt. Ein Ort zum Wohlfühlen, so tief im Wald und so heimelig. Man muss sich geradezu näherkommen. Und wer kann es mir übelnehmen? Marie-Louise ist nah und doch so fern, und außerdem handelt es sich in Sachen Försterin um eine völlig andere Performance. Marie-Louise ist zart, mit kleinen Brüsten und feinen Bewegungen, kein Haar ist unterhalb ihres Kopfes zu finden, selbst ihr Anus ist vollkommen haarfrei, alles ist glatt und fein und butterweich gepflegt. Nur ihre Füße, die sind dreckig, immer. Aus Prinzip. Die Försterin aber ist ganz das Gegenteil Marie-Louises, nämlich von kräftigem Wuchs, stämmig und mit großen Brüsten und einem mächtigen Hintern, Vagina und Anus sind nur zu erahnen unter dem schwarzen Wildwuchs. Außerdem geht sie durchaus anders vor, denn kaum erkannte sie mich, wie ich da auf ihrer Schwelle saß und wartete, eilte sie auf mich zu, zog mich ins Haus, schleuderte den Hasen (den anderen musste sie wohl irgendjemandem gegeben haben) in die Ecke, riss sich geradezu die Kleider vom Leib und fiel über mich her. Ich dachte, sie tötet mich, aber ich dachte auch, das ist es wert! Als wir endlich beide schwer atmend aufeinander lagen, sie bäuchlings unter mir, beschloss ich, ihr das einfach mal wider besseren Wissens zu glauben, dass nämlich auch Arno schon im Försterinnenhaus gewesen war. Natürlich wusste ich am besten, dass Arno zu so etwas gar nicht fähig ist, er wäre glatt in Ohnmacht gefallen, der Arme. Da unterscheiden wir uns doch ziemlich, Zwilling hin oder her. Gönnen tue ich es ihm trotzdem. Wir trieben es dann noch mal wie die Wildschweine, und dann, dann gab es wie gesagt den ersten Hasenbraten meines Lebens. Als ich später, von Fuchs und Eichhörnchen begleitet, an meiner Datsche anlangte, dämmerte es bereits. Ich roch wie ein Eber, und ich weiß nicht, was der Fuchs jetzt von mir denkt. Ich hoffe nur Gutes. Jedenfalls nahm er ohne zu zögern sogleich seinen Platz auf dem Dach ein, der Sonne gegenüber, von der aber kaum noch ein Widerschein die Welt der wachtmeisterischen Datsche erhellte. Minuten später schon war es stockfinster, der Fuchs sprang vom Dach und verschwand.

Ich duschte und wusch mir gründlich den Försterinnenschweiß aus allen Ritzen, denn nun musste ich mich wieder, das war mir nur allzu klar, auf die Hauptsache konzentrieren. Für Nebensächlichkeiten war kein Platz. Aber war ich nicht eigentlich zur Untätigkeit verdammt! Denn während alle anderen ihre Aufgaben haben, sitze ich in der Datsche und rede mit dem Fuchs. Durch die Decke. Oder ich gehe hinaus und füttere das Eichhörnchen mit Nüssen. Ansonsten schreibe ich. Und warte. Auf eine Idee, eine Eingebung. Nicht etwa, dass mir Material fehlte, das nicht, aber es ist schwierig zu entscheiden, was denn nun der Erwähnung bedarf. Das Wie und Was zu gestalten, dazu brauche ich Ideen, und zwar solche, die mich weiterbringen, die mich verstehen lassen, um was es geht. Der Abend zum Beispiel, an dem Marie-Louise mich Alkmene vorstellte, hat sich mir tief eingeprägt. Emotional. Aber was davon berichten, im Einzelnen? Das ist die Frage. Was wäre näher auszuführen? Dass Alkmene die ruchlose Künstlerin spielte und uns das Video mit Amphitryon und der Hostess vorführte, dürfte jedenfalls eher als banal zu gelten haben, denke ich. Zum Glück ist die Qualität des Videos denkbar schlecht, schwarz-weiß und krisselig, auch wenn der Sex auf dem Sofa als solcher gut erkennbar ist als ein rhythmisches Beackern. Alkmene sah gelangweilt zu, rauchte und sagte nichts. Die Beine mit den Pumps wackelten in der Luft, dazwischen der nackte, weiße Arsch Amphitryons. Neunmalkluge werden jetzt natürlich prompt sagen, jeder Text werde ja am Ende noch einmal überarbeitet, dann könne ich ja endgültig entscheiden, was hinein käme und was nicht. Ja, schon, sicher, hätte ich zu erwidern, allerdings befürchte ich, dass es womöglich nicht dazu kommen wird, noch einmal am Text zu arbeiten. Ich kann mich glücklich schätzen, denke ich, wenn ich es noch schaffe, das Manuskript an Eduard zu schicken. Klar, es auf dem Rechner zu haben ist vorteilhaft, und natürlich sende ich wie gehabt die jeweilige Fassung bei jeder Gelegenheit an meine Zweitmailadresse, zu der Eduard Zugang haben wird, sobald er den Briefumschlag öffnet. Auch alle sonst noch notwendigen Passwörter, Adressen und so weiter sind hinterlegt. Ich traue Eduard durchaus, ich habe oft mit ihm gesprochen. Gespräche, ernst und eindringlich, an die ich mich allerdings Stunden später meist nicht mehr genau entsinnen konnte. Nur daran, dass sie stattgefunden haben. Der Stimmung des Gesprächs nachzuspüren aber war immer möglich gewesen, und darauf kommt es ja an. Für Eduard Raban steht handschriftlich auf dem Umschlag, persönlich, nur im Falle meines Todes zu öffnen. Arno Scheerbart. Eine Sache zwischen Eduard und mir. Niemand sonst weiß davon. Eduard hat den Umschlag, ich wusste gar nicht, dass er so organisiert ist, sofort ohne Umschweife in seinem Bankschließfach deponiert und seinen Notar darüber in Kenntnis gesetzt. Ich war ganz baff, er aber sagte nur, das habe er schon immer so gehalten, Bankschließfach und Notar gehöre zu seiner Grundausstattung in Deutschland. Der gute Eduard!

Anderntags. Ich steige aufs Dach der Datsche und prüfe per Daumen das Wetter. Internet habe ich hier nicht, ich kann aber nach Feierabend in die Backstube kommen. Für heute stelle ich däumlings spätsommerliche zwanzig Grad fest, kein Regen in Sicht und noch vier Stunden bis Sonnenuntergang. Ich gehe nicht in den Wald (obwohl es mich juckt) und befreie sogleich das Rennrad von seinen Ketten, steige in meine Radhose, ziehe das Trikot über und den Helm auf, die Klickschuhe an, und schon lasse ich mich locker den holprigen Abhang hinunterrollen. Anfangs fuhr ich mir oft die Muskeln sauer, nun aber habe ich ein Gespür für die genau richtige Übersetzung, das genau richtige Tempo, die richtige Trittfrequenz. Am Wegesrand hier und da frisch herausgeputzte junge wie ältere Frauen, die ich lässig grüße und deren Duft ich mit mir forttrage, dem Band der Straße folgend. Mein Rad, die Straße, der Wald. Was kostet die Welt! Volle Konzentration. Der Kopf frei zu denken, was immer er will. Wenn der eine Teil des Gehirns präzise aufpasst, kann der andere Teil sich mit anderen Dingen beschäftigen. So einfach ist das, und so erscheint der Wachtmeister grad jetzt, einer Tagträumerei gleich, vor meinem geistigen Auge. Er beobachtet mit seinem Feldstecher das Ruderboot, von dem aus Tauchgänge stattfinden. Ich sehe mich neben ihm stehen, klein wie ein Kind. „Sind das Wissenschaftler“, frage ich mit heller Stimme, er antwortet nicht, aber die Bäckersfrau steht hinter uns und sagt, „die wohnen da unten, mein Sohn, unter dem See“, worauf ich mich umdrehe und sie anstarre. Ich schrecke hoch. Ich muss wohl, noch in den Fahrradklamotten, eingedöst sein und geträumt haben, wenn auch der Wachtmeister tatsächlich nicht selten das Boot in der Mitte des Sees ins Visier nimmt. Eines Tages sagte er, so erinnere ich mich mit einem Male, wir saßen vor meinem Bungalow, all diese Taucher trügen exakt die gleichen Tauchanzüge, bis ins kleinste Detail seien die gleich, aber trotzdem könne er die Kerle unterscheiden, er sei ja nicht blöd, ein junger Kerl bewege sich nun mal ganz anders als ein alter Sack. „Vielleicht sollten wir auch mal tauchen gehen“, fügte er am Ende noch hinzu, erinnere ich mich, worauf ich nickte, ohne zu wissen, ob er das ernst meinte.

Als ich am selben Abend, frisch geduscht, etwas nachschwitzend und den Laptop unter dem Arm, die Backstube durch den Hintereingang betrete, steht da Herr Knocke und streicht sich übers Kinn. Der Spitz springt an meinen Beinen hoch. Im letzten Moment fällt mir ein, wie sehr ich Hunde mag. Knocke sieht mich an, grüßt aber nicht. In der Hand hat er ein kleines, postgelbes Paket. „Ich kann nicht länger warten“, sagt er plötzlich, drückt mir das Paket in die Hand, ruft „komm, Spitz!“, der Hund guckt mich irritiert an, ich tue nichts, heißt der Hund etwa Spitz, frage ich mich, und da kommt auch schon die Bäckersfrau, kaum ist Knocke raus, lachend mit Marie-Louise um die Ecke. Marie-Louise küsst mich auf den Mund und die Bäckersfrau nimmt mir im selben Augenblick das Paket aus der Hand. „Die Kamera“, flüstert die Bäckersfrau, „und die Akkus und die Solarzellchen, narrensicheres Zeug. Super. Nur das mit der Funkstrecke macht mir noch Sorgen.“ – „Ich dachte“, sage ich, „wir verlegen ein Kabel durch das Rohr.“ – „Nur wenn’s nicht anders geht. Können Sie klettern, Herr Robert?“, fragt mich die Bäckersfrau. „Nein!“, sage ich deutlich. – „Ich muss mal telefonieren“, sagt sie und verschwindet um die Ecke, „das mit der Funkstrecke klären.“ Ich setze mich zu Marie-Louise. „Heute ist übrigens eines der Hologramme ausgebüxt“, sagt sie, „ausgerechnet Amphitryon, aber wir haben es wieder eingefangen.“ – „Was!“ Sie lacht. Ich finde das nicht lustig. Sie ist ganz in blassgelb gekleidet, ein sommerlicher Leinenanzug. Und barfuß. Die Bäckersfrau kommt zurück. „Funkstrecke geht nicht“, sagt sie ärgerlich, „eine Schnapsidee meinerseits. Bei dreißig Meter Reichweite zahlen wir schon ein paar hundert Euro nur für Sender und Empfänger. Also doch Kabel.“ Sie geht wieder. „Max läuft auch gerne barfuß, wusstest du das?“ – „Wie?“ – „Und die Hologramme können jetzt auch auf der Wiese ihr Spiel spielen, Karl und Max haben das so eingerichtet. Jetzt im Ernst. War viel Arbeit. Neue Technik. Sie sagen, sie wollen noch was Vernünftiges machen, bevor es nach Amerika geht. Ein Riesenauftrag für einen Vergnügungspark, sagen sie. Ich habe sie schon telefonieren hören mit Kalifornien, alles great and wonderful.“ Ich denke mir meinen Teil.

Zwei Tage später das nächste große Treffen, wieder in des Wachtmeisters Wohnung. Wie sich herausstellt bin ich eine viertel Stunde zu früh da. „Setzen Sie sich, Herr Robert. Kaffee?“ Erst jetzt bemerke ich so eine Art Hundekorb in der Ecke, aus dem ein braunes Köpfchen mit treudoofen Augen ragt, die sich schüchtern wieder abwenden, als ich hinstarre. „Ist das Ihr Hund, Herr Wachtmeister?“, frage ich vorsichtig. „Der kleine Kerl da“, kommt es aus der Küche, „nein, nein, Herr Robert, den haben wir ausgeliehen von der hiesigen Försterin.“ – „Ah“, sage ich. Ich hatte da keinen Hund gesehen. Schon aber durchläuft mich ein wilder Schauer. Der Wachtmeister tut hereinkommend so, als hätte er es nicht bemerkt, stellt einen Becher vor mich hin und gießt ein. „Wie heißt er denn?“ – „Es ist eine Sie, genau genommen, und sie heißt Teckel.“ – „Ah“, sage ich wieder, stehe auf und streichele Teckel, die sich ganz steif macht dabei. „Sie hat eine wichtige Aufgabe, mit der sie uns einen großen Gefallen tun wird. Ich glaube sie ist ganz froh, mal aus dem Zwinger herauszukommen und was anderes zu sehen als immer nur Wald, Wald, Wald.“ – „Ja“, sage ich, „kann man nachvollziehen.“ – „Ein Jagdhund hat in der Wohnung nichts verloren, sagte mir die Försterin. Ich musste ihr versprechen, Teckel unten im Hof anzubinden. Also kein Wort!“ Er zwinkert mir zu und lässt sich in einen Sessel fallen. „Warum ich Sie noch sprechen wollte, Herr Robert! Ein Mitarbeiter des Bad Wutzenwalder Anzeigers erwartet uns, nach dem großen Treffen. Es geht um Ihre Suche nach Sosias, respektive Herrn Arno. Ich hoffe, Sie sind einverstanden, es dient unserer Sache. Ein kleiner Artikel. So wissen nur wir Vier weiterhin von den wahren Hintergründen, während alle anderen nur etwas zu wissen glauben. Was sagen Sie dazu?“ Ich zögere. „Gut“, ruft der Wachtmeister, „bestens!“ Kurz darauf höre ich den Schlüssel im Schloss, die Bäckersfrau und Marie-Louise. Die Bäckersfrau knuddelt lange den Hund und setzt sich schließlich zu uns. „Es ist, wie ja bereits alle wissen, ein Kameraproblem aufgetreten“, sagt sie, den Hund auf dem Schoß, „das mit der Funkstrecke hat sich erledigt. Wir werden auf die eher altmodische Lösung zurückgreifen müssen.“ – „Und unsere Teckeldame wird uns dabei helfen“, wirft der Wachtmeister ein und dem Hund zugleich ein kleines Stück Kuchen zu, das aber an der Hundeschnauze abprallt und zu Boden fällt. Teckel guckt ungläubig. „Das zum Thema Jagdhund“, sagt Marie-Louise mit seltsamer Stimme, „die Försterin hat uns doch eindeutig aufgetragen, den Hund in keiner Weise zu verwöhnen. Und auch nicht zu kraulen!“ – „Och“, sagt die Bäckersfrau und rubbelt den ganzen Hundekopf zwischen ihren Händen, „ein bisschen Liebe hat noch keinem geschadet, nicht wahr, meine Süße!“ Ich räuspere mich, so laut ich kann. „Wie“, werfe ich ein, „soll uns der Hund denn helfen?“ Der Wachtmeister räuspert sich seinerseits. „Nun“, sagt er, „ich habe ein schönes Potpourri aus verschiedenen Leckereien zusammengestellt und einen batteriebetriebenen Ventilator besorgt. Der Hund wird das Kabel durch die Röhre zur halbhohlen Eiche transportieren, immer dem Geruch nach. Ein Halsband, an dem das Kabel zu befestigen ist, ist auch schon besorgt. Die Zugänge zu der Röhre habe ich letzte Nacht probeweise freigelegt.“ Ich staune, sage aber nichts. „Alkmene“, sagt Marie-Louise, „fährt von Sonnabend auf Sonntag nach Polen, erst zu einer Galerie in Posen und dann zu einer Kunstmesse in Danzig. Das ist die Möglichkeit, die Kamera zu installieren. Karl und Max bleiben natürlich eine Gefahr.“ Ich hebe die Hand und werfe ein, es gäbe doch sicher weit modernere Lösungen. Die Bäckersfrau holt tief Luft. „Eine IP-Kamera, Herr Robert“, sagt sie, „ja, sicher, aber dafür bräuchten wir WLAN, einen Router und am besten noch einen Stromanschluss. Alles nicht machbar, so dass wir also auf alte Technik zurückgreifen müssen, Akku, Kabel, Zeitschaltuhr und so weiter.“ Ich sehe betreten zu Boden. „Die Daten“, mischt sich der Wachtmeister mit kompetenter Miene ein, „werden per Kabel in eine wasser- und mottendichte Kiste mit einem Rechner geleitet. Ein Risiko, nur ein paar hundert Meter vom Gutshaus entfernt, aber kein größeres, als in dreißig Metern Entfernung mit einem Feldstecher auf diesem Hügelchen zu liegen. Wussten Sie eigentlich“, der Wachtmeister wendet sich direkt an mich, als ob es speziell mich beträfe, „dass im Krieg vier von zehn Spähern aufgrund einer Lichtreflexion des Feldstechers respektive des Glases entdeckt und beschossen werden. Plötzlich blitzt es im Wald auf und Alkmene weiß Bescheid!“ – „Aber sie schießt nicht!“, sagt Marie-Louise empört. Alle lachen, außer Marie-Louise. Eine Stunde später ist der Plan gemacht. „Am Sonnabendabend“, so der Wachtmeister, „um neun Uhr an besagter Eiche!“ Dann gibt es noch einen Schlehengin, worauf Marie-Louise und die Bäckersfrau schwatzend verschwinden, während der Wachtmeister und ich uns auf den Weg zum Wutzenwalder Anzeiger machen, der in einem kleinen Ladenlokal gegenüber von Knocke untergebracht ist, direkt neben der Fleischerei. Ist mir nie aufgefallen. Dort erwartet uns ein windiges Männchen. Gesichtshaut wie Käserinde, zum Pferdeschwanz gebundenes schütteres graues Haar, fahles Grinsen. Es stellt sich heraus, dass ein rührseliger Aufruf geplant ist, so in der Art von verzweifelter Zwilling sucht seinen Bruder. Der Möchtegernjournalist, der zugleich für die Fotos zuständig ist, fordert mich auf, tieftraurig, besorgt und zugleich hoffnungsvoll in die Kamera zu blicken. Dann gibt der Wachtmeister die notwendigen Auskünfte. Ich nicke ernst, sage aber kein Wort.

Am Sonnabend bin ich als Erster an der Eiche und warte, das dunkle Gutshaus fest im Blick, eine ganze Weile, bis die Bäckersfrau in Knickerbockern und Rucksack, den Hund auf dem Arm, endlich auftaucht. Sie scheint ganz entspannt zu sein. Der Wachtmeister kommt Minuten später die Schneise vom Bungalow herunter. Marie-Louise, so höre ich, sei sicherheitshalber im Haus und warne uns, wenn Jupiter und Mercurius ihren Himmel verlassen. „Kommen Sie, Herr Robert“, ruft der Wachtmeister, „machen wir uns an die Arbeit.“ Zu meiner Überraschung findet sich direkt neben der Eiche unter einem Dornbusch eine Metallplatte, bedeckt mit einer Schicht lockerer Erde. Wir ziehen die Platte zur Seite. Im fahlen Licht der Taschenlampe ist die Röhre gut zu erkennen ist, orange, ausgerechnet orange ist sie und misst etwa fünfundzwanzig Zentimeter im Durchmesser. Ich staune. „Sind Sie sicher“, frage ich, „dass die Röhre frei ist?“ – „Notfalls ziehen wir Teckel am Kabel wieder raus, keine Sorge.“ Und schon legt die Bäckersfrau Teckel das Halsband an und stiefelt ab in Richtung See. Das Bereitstellen des Hundefutters, garniert mit ein paar Würsten, und das Ausrichten des akkubetriebenen Ventilators ist schnell vollzogen. „Nun heißt es warten, Herr Robert, ob unsere Teckeldame der Aufgabe gewachsen ist!“ Die Taschenlampe wird ausgeknipst. Im selben Augenblick, ich bemerke es im Augenwinkel, geht hinter uns im Gutshaus das Licht im Wohnraum an. Ich zucke zusammen und werfe mich auf die Erde. Der Wachtmeister bleibt einfach stehen. „Frau Marie-Louise hat wie verabredet das Licht angemacht, Herr Robert“, sagt er, „wenn die Herren Götter über den Kies auf das Haus zugehen, macht sie es aus.“ Ich rappele mich hoch, sage aber nichts und atme tief durch. Der Ventilator summt leise, die Baumkronen über uns knarzen ein wenig, sonst ist nichts zu hören. Wie lange braucht ein Hund mit einem Kabel am Halsband für die dreihundert Meter, frage ich mich. Ob sich Teckel überhaupt hineintraut? Eine Röhre ist kein Fuchsbau! Der Wachtmeister muss wohl ähnliche Gedanken haben, denn er legt die mit einem Taschentuch abgedimmte Taschenlampe direkt vor die Öffnung. Das Licht am Ende des Tunnels gewissermaßen. Wir warten. Ist da nicht ein Geräusch zu hören? Ein Schnüffeln. Ein Tapsen. Und tatsächlich, wie aus dem Nichts schnellt ein Fuchs aus der Röhre heraus, schnappte sich zwei der Würste und verschwindet im Unterholz. Der Wachtmeister murmelt etwas Unverständliches. „Wie sind denn die Kabel ursprünglich verlegt worden?“, frage ich. „Das Rohr ist mit den Kabeln verlegt worden, die damaligen Hausbewohner wurden an dem Tag nach Berlin bestellt. Gewusst haben sie es trotzdem“, erwidert er trocken. „Aha!“ Wir warten. Teckel kommt nicht. „Sie wird sich doch nicht verlaufen haben“, versuche ich einen Scherz. „Malen Sie den Teufel bloß nicht an die Wand, Herr Robert!“, erwidert der Wachtmeister ernst. Endlich aber hören wir ein Hecheln, der Wachtmeister nimmt die Taschenlampe zur Hand, und da erscheint sie auch schon, unsere Teckel. Ein wenig gehetzt sieht sie aus, finde ich. Wir befreien sie sogleich vom Kabel. Um das Hundefutter kümmert sie sich aber kein bisschen, selbst nicht, als ich sie direkt davorsetze. Der Wachtmeister zuckt mit Schultern, schließt die Klappe und schiebt mit dem Fuß Erde darüber. „In der Morgendämmerung installieren wir die Kamera dann oben im Baum. Halten Sie sich bereit, wir treffen uns um fünf Uhr.“ Noch bevor ich protestieren kann, ich bin doch hier nicht der Hansel vom Dienst, taucht plötzlich die Bäckersfrau aus der Dunkelheit auf. „Alles gut?“, fragt sie. „Alles tippitoppi, wie manch Zeitgenosse gerne sagt“, sagt der Wachtmeister und klopft mir auf die Schulter. „Wie gesagt, fünf Uhr hier an unserem Baum, Herr Robert. Sie dürfen hinaufklettern!“

Bald sind alle in der Dunkelheit verschwunden. Ich gehe die Schneise hoch, über der jetzt die Sterne blinken. Marie-Louise erwartet mich bereits im Bungalow, die Vorhänge zugezogen, das Licht gedämpft, Tee steht bereit und eine Flasche Whisky. Ich gehe ins Badezimmer und dusche. Hatte ich nicht deutlich gesagt, ich könne nicht klettern, fällt mir ein. Kaum war ich im Wohnzimmer, umfängt mich Marie-Louise. „Trink was“, sagt sie und meint den Whisky. „Fünf Uhr!“, sage ich, worauf sie lächelt, mir eingießt und sich sogleich an mich hängt. Wir trinken. Ich sehe mich schon vom Baum stürzen und tot daliegen. Andererseits bin ich früher gerne in Bäume geklettert, wohingegen ich nie auf die Idee käme, einen Berg ausgerechnet an seiner steilsten Stelle bezwingen zu wollen. Eine gewisse Höhenangst habe ich ohnehin, es ist dieses Sich-selbst-Sehen als Toter im Abgrund, was mir zu schaffen macht. Um zehn vor fünf klingelt ihr Telefon. Die Bäckersfrau. Ich musste wohl grad eben eingenickt sein. Ich bin wie erschlagen. Warum muss denn ich auf den Baum, frage ich mich, warum nicht Marie-Louise?

Kurz darauf stapfen wir in die klamme Kälte hinaus. Der Baum wirkt abweisend. Klettere bloß nicht auf mich drauf, scheint er sagen zu wollen. Ich friere wie ein Schneider. Der Wachtmeister ist nicht da, aber die Bäckersfrau kommt bald schon angewatschelt, eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Tüte mit Gebäck in der Hand. Die gute Seele! Marie-Louise, so stellt sich heraus, muss mit hinauf. Die Bäckersfrau zeigt uns mittels einer Skizze, wo das Vogelhäuschen zu finden ist, das Loch müsste wohl ein wenig größer gebohrt werden, sagt sie, das Kameraobjektiv sei ziemlich groß, ein Handbohrer finde sich in der Werkzeugtasche. Nun gut, denke ich, gehen wir es an. Beim ersten Versuch komme ich vor Schwäche nicht mal auf den ersten Ast. Ich trinke einen weiteren Kaffee und esse ein weiteres Stück Kuchen. Dann klappt es, die Bäckersfrau schiebt meinen Hintern hinauf und Marie-Louise klettert mir nach, die Kamera im Rucksack. „Alles klar?“ Ich nicke. Fünf Minuten später hocken wir dann in bestimmt zehn Meter Höhe, eine Sekunde, so denke ich ständig, von meinem eigenen, plötzlichen Tod entfernt. Eine Sekunde! Zwei vielleicht. Knirschend bohre ich das Loch größer, während Marie-Louise das Dach des Vogelhäuschens mit Holzschutzfarbe einstreicht, manche Leute denken eben an alles, dann die Kamera hineinsetzt, sie mit zwei Schrauben fixiert und auf das Gutshaus ausrichtet. Auf das Dach schraubt sie die Solarzellen, eine Platte von zehn mal zehn Zentimetern, und führt das kleine Kabel von hinten ins Häuschen hinein. Alles läuft glatt. Ich mache tausend Kreuze, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Zwanzig Minuten später liegen wir wieder im Bett. Ich schlafe sofort ein. Nicht mal ein Gewitter weckt mich vollständig. Es rappelt nur und donnert kapital an den Rändern meines Bewusstseins, das ist alles. Aber da kommt Marie-Louise auch schon patschnass herein, rüttelt mich wach und starrt mit offenem Mund und aufgerissenen Augen ins Leere. „Unser Baum, der Blitz“, zischt sie. Was soll ich dazu sagen! Ich glaube nicht an höhere Mächte, doch der Meteorit, der mich dereinst erschlagen wird, das weiß ich, ist bereits unterwegs. Wenn er unterwegs ist, denn das ist er erst dann gewesen, wenn er mich getroffen haben wird. Es geht wahrscheinlich um wenige Meter, denke ich mir, ob ich also etwa links oder rechts herum einer Pfütze ausweiche. So etwas in der Art. Der Mensch ist beweglich. Daraus folgt, dass das mit dem Blitz und dem Baum demnach hat so sein sollen, denn ein Baum macht keine Bögen. Es lief genau darauf zu! Ich sehe mir die Bescherung am Abend im Schutz der Dämmerung an. Der Wachtmeister ist wieder nicht da, nur die Bäckersfrau in gelbem Friesennerz. Sie schüttelt, die Fäuste in die Hüften gestemmt, ausdauernd den Kopf.„Sehen wir es als ein Zeichen, als einen Hinweis von ganz oben“, sagt sie schließlich.Der dreihundert Meter entfernte Computer in seiner wasser-, motten- und käfersicheren Kiste, so stellen wir später fest, ist ebenfalls zerstört. Er tut keinen Mucks mehr, obwohl er heil aussieht. Die Eiche allerdings ist wirklich und wahrhaftig in zwei Hälften gespalten, wie mit einem riesigen Samuraischwert durchtrennt, quer durch den toten und den lebendigen Teil hindurch bis zum Boden. Das frische Holz, noch regennass, riecht nach Lagerfeuer.

In der Nacht ein weiteres Gewitter, dem Dauerregen folgt. Die reinste Sintflut. Der Wachtmeister kommt aber trotzdem anderntags mit seinem Hollandrad zu mir hinaufgeradelt und steht plötzlich in schwarzglänzender Regenbekleidung mit Teckel an der Leine vor der Tür, das heißt, eigentlich platzt er einfach herein. „Bringen Sie den Hund zurück, Herr Robert“, sagt er statt einer Begrüßung. Mühsam schält er sich aus Jacke und Regenhose und wirft sie in die Ecke. Teckel schüttelt sich und blickt mich ernst an. „Einen Wodka?“ Der Wachtmeister sieht unglücklich aus. „Herr Robert“, sagt er schließlich, „nichts ist beschämender als eine Niederlage solchen Ausmaßes!“ Ich stelle die Flasche auf den Tisch und hole die Gläser. „Der Baum?“, sage ich vorsichtig. „Der Blitz!“, sagt er, „der Blitz!“ und schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Sie meinen“, sage ich, „Jupiter hat diesen Blitz geschickt?“ Er sieht mich verständnislos an. „Papperlapapp! Jupiter!“ Ich gieße ein, wir kippen es hinter, ich gieße nach. „Das mit dem Blitz, Herr Robert, ist einfach ein billiger, romanhafter Einfall des Schicksals, uns zu beschämen. Doch wir lassen uns nicht unterkriegen! Nicht kleinkriegen! Ganz im Gegenteil, das Geschehen muss unser Tun beschleunigen, auf dass etwas Gutes daraus erwächst. Punktum.“ Er legt den Kopf in den Nacken und kippt den Wodka hinter. „Vorsehung ist das gewesen, wenn Sie mich fragen, Vorsehung!“ – „Fatum!“, sage ich. „Wussten Sie“, fährt er fort, „dass es ein Forschungslabor unter dem See gibt, dessen Ursprünge in den 30er-Jahren liegen? Ich hab das Ihrem Bruder nie erzählt, Sie wissen schon, mit diesen Dingen soll man nicht spaßen. Allerdings hätte er es erfahren können, es gibt Bücher, in denen das erwähnt wird. Zwei Bücher genauer gesagt, eines von 1938, in dem der Fortschritt gefeiert wird, ein Nazibuch, und ein westdeutsches von 1972, in dem die Gefahren thematisiert sind, die vom Warschauer Pakt ausgehen. Auch Propaganda, wenn Sie mich fragen. Kein gutes Buch. Ein rechtslastiger Journalist hat es geschrieben. Keiner hat es ernst genommen. Finden sich beide in der Staatsbibliothek in Berlin.“ – „Ich hatte keine Ahnung, aber …“ – „Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass unser See hier künstlich angelegt worden ist? Vorher war da nichts weiter als ein großer Teich, das sieht man auf alten Karten. Die Umfassungsmauer aus Beton ist doch an vielen Stellen noch gut zu sehen, und dann die Reste der Pumpwerke. Nie darauf geachtet? Und was glauben Sie, warum hier sommers wie winters Tauchgänge stattfinden?“ Der Wachtmeister gießt sich ein und trinkt. Ich kann mir nicht helfen, aber ist das noch der selbe Wachtmeister? Woher plötzlich dieser Drang, sich klar auszudrücken? Statt es wie sonst bei blümianten Andeutungen zu belassen. Sollte das daher rühren, dass ich nun gleichsam ein Anderer bin? „Weiß denn Alkmene davon?“ – „Das, mein lieber Herr Robert, ist der Casus Knacksus, genau das will ich herausbekommen! Unter anderem. Von dem Boot und den Tauchgängen weiß sie, keine Frage, aber ob diese Kunstsache, Amphitryon Komplex, etwas mit den Forschungen zu tun hat, die dort unten mutmaßlich stattfinden? Wir wissen es nicht! Die wesentliche Frage ist natürlich, ob die Herren Karl und Max Brzozowski darin verstrickt sind! Und ob das Kunstprojekt also nur die Oberfläche einer viel weitergehenden Angelegenheit ist! Das sind die Fragen, mein Lieber!“ Ich bin baff. Absolut baff. Platt. Auch Teckel guckt skeptisch auf den Wachtmeister, der einen weiteren Wodka hinterkippt, dann abrupt aufsteht, sich missmutig die Regenkleidung überzieht und mit einem Nicken zur Tür hinaus ist. „Ach ja“, ruft er, sich aufs Rad schwingend, „heute noch. Der Hund! Die Försterin besteht darauf!“ Teckel guckt mich an, als wolle sie sagen, „bitte bring mich nicht zurück, nicht in den Zwinger!“ Aber was sollte ich machen. Zunächst aber setze ich mich an den Rechner und mache mir Notizen. Unglaublich, denke ich, dieser Wachtmeister! Und meine Vermutung ist ja nun mal tatsächlich eine ganz ähnliche, die selbe sogar, zumindest was den Amphitryon Komplex angeht als Feigenblatt für  IT-Forschung, oder so etwas in der Art. Ich weiß, das ist und bleibt schwammig, aber man wird sich doch wohl noch auf sein Gespür verlassen dürfen, seine Intuition! Andererseits, wenn da schon in den dreißiger Jahren geforscht wurde, dann doch sicher auch zu DDR-Zeiten! Hätte ich das gewusst, wäre ich ja erst recht misstrauisch geworden, und das sicher auch zu einem viel früheren Zeitpunkt. Oder hatte ich permanent etwas Wichtiges übersehen, Anspielungen überhört? Winke mit dem Zaunpfahl nicht beachtet? Hätte ich es also erfahren, hätte es wissen können?

„Wuff!“ Ich hole ein paar Essensreste aus dem Kühlschrank und stelle sie Teckel in einer Schüssel hin. „Wuffwuff!“ Es stellt sich heraus, dass ich mich getäuscht habe in Bezug auf Teckels Absichten. Sie will doch zurück in den Zwinger. Ich nehme meine Jacke vom Haken, ziehe die Stiefel an und nehme Teckel an die Leine. Der Regen hat ein wenig nachgelassen. Wir gehen zügig. Die Wege im Wald sind noch verhältnismäßig trocken. Hier und da grüßen Schirmpilze. Ich lasse den Hund von der Leine und schreite stramm aus Richtung Försterinnenhaus. Teckel bleibt brav an meiner Seite. „Brav, Teckel“, sage ich. Durchs Blätterdach sind inzwischen wieder tiefschwarze Wolken zu erkennen. Es wird bereits deutlich dunkler. Ich kenne die Wege im Wald, aber kannte ich sie auch gut genug, um mich unter erschwerten Bedingungen nicht zu verlaufen? Das ist die Frage. Doch der Hund, sage ich mir, würde den Weg zum Försterinnenhaus schon finden. „Nicht wahr, Teckel!“ – „Wuff.“ Ein langes Grollen ist zu hören. Also wieder ein Gewitter. Über uns knarzen die Baumkronen wild auf. Ein Sturmböe. Lange konnte es nicht mehr dauern. Und dann ist der Hund weg! Ganz plötzlich. Hat sie etwa Witterung aufgenommen? „Teckel“, rufe ich, „Teckel, bei Fuß!“ Nichts. Nur Grollen, Donnern, ein Blitz, feiner Regen, gefiltert durch das Blätterdach. Aber wo ist Teckel geblieben? Die Försterin würde mich vierteilen, wenn ich den Hund nicht wohlbehalten zurückbrächte. Alle Knochen bräche sie mir! „Teckel!“, rufe ich noch einmal lauter, „komm her!“ Vielleicht ist sie ja, versuche ich mich zu beruhigen, vorausgelaufen und schon bei der Försterin. Es donnert und grollt. Es würde hier ja wohl keine Wildfallen geben, wo der Hund hineingeraten könnte? Nicht auszudenken, ich fände Teckel mit halb abgerissenem Kopf in so einer Falle, wie man sie aus Filmen kennt, die so ein fieser Trapper gelegt hat, so einer mit Biberhut und Schnapsfahne. „Teckel!“, rufe ich. Ich laufe weiter in die Richtung, in der das Försterinnenhaus liegen muss. Ein paar dicke Regentropfen treffen mich. Schwüle, schwülstige Luft kommt mir entgegen und hüllt mich ein. Dann endlich höre ich Teckel wie wild kläffen, ganz plötzlich, irgendwo rechts von mir, im Unterholz, entfernt zwar, aber deutlich. „Teckel“, rufe ich, „komm her!“ Ich stakse los, kreuze einen Waldweg, dringe wieder ins Unterholz ein, es knackt und knirscht, ich stolpere, knicke um, Zweige schlagen mir ins Gesicht, und da sehe ich sie endlich, oben auf einem kleinen Wall, ein kleiner, hüpfender schwarzer Körper jenseits eines Baches oder einer länglichen Pfütze. Ich patsche hindurch, Wasser dringt in meine Stiefel. Der Hang ist steiler als gedacht, ich rutsche aus. Völlig außer Atem halte ich inne. „Teckel!“, rufe ich. Doch sie bellt, jetzt keine zwei Meter entfernt über mir, einfach weiter wie wild einen Baum an, so scheint es. Oder eher jemanden hinter dem Baum? Wer konnte das sein? Mein Herz bollert. Teckel bellt, ohne Unterlass. Schwer zu sagen, ob angriffslustig oder ängstlich. Wie sollte ich das wissen, ich habe nie einen Hund gehabt. Ich versuche es noch einmal, doch ich komme diesen verdammten Hügel nicht hinauf! Wie verhext ist es. Schließlich rutsche ich mit beiden Füßen zugleich weg, versuche mich zu fangen und lande mit dem Hintern im Wasser. Ich beschließe, einen Bogen zu gehen, um mich von hinten der Szenerie zu nähern. Blitze durchzucken Himmel und Wald. Ein Platzregen geht nieder. Ich wende mich nach rechts, hier ist es etwas flacher, erklimme einen Hang im ersten Anlauf und stakse weiter in Richtung des Bellens. Blitze, Donnern. Der Regen lässt nach. Wie lange würde ein Hund bellen, bevor er angreift oder sich zurückzieht? Zieht ein Hund sich überhaupt zurück? Knurrend? Fiepend, den Schwanz eingekniffen? Was für ein Theater, denke ich, was für ein Theater! „Teckel“, rufe ich wütend, „komm her, du Mistvieh!“ Ich zwänge mich durch eine Reihe junger Bäume und Büsche. Teckel muss nun unmittelbar vor mir sein. Wieder ein Blitz, kurz darauf ein schwerer Donner, noch ein Blitz, und dann sehe ich ihn! Regungslos, unbestimmt irgendwo hinblickend, eine dunkle Statue. Kaum zu erkennen im Zwielicht, eindeutig aber Amphitryon! Kaum zwanzig Meter entfernt. Ich hole tief Luft und gehe mit kleinen Schritten auf Teckel, die ich mehr ahne als sehe, und die Erscheinung zu, die immer noch wie versonnen in die Ferne blickt und nun langsam die Hände in die Hosentaschen schiebt. Keine Statue also. „Amphitryon?“, rufe ich laut. Und dann, plötzlich, alles wie ausgeknipst! Ein Donnern grollt melodramatisch. Teckel hört abrupt auf zu bellen. Als sei nichts gewesen. Sie trottet zu mir hin, streift, wie eine Katze das tun würde, meine Beine, trippelt an mir vorbei und läuft dann einfach immer weiter, quer durchs Unterholz bis zum nächsten Weg, absolut zielsicher. Ich habe Mühe, ihr zu folgen. Amphitryon, denke ich die ganze Zeit, Amphitryon? War er es selbst gewesen? Oder sein Hologramm? Sein Geist?

„Wuff!“, macht Teckel vor der Tür des Försterinnenhauses. Ich verberge mich hinter einem Baum. Die Lust auf eine Begegnung, die ich mir, bevor Teckel verschwand, so schön auszumalen begonnen hatte, ist mir nun absolut vergangen. Die Försterin, in schweren Stiefeln und Tarnkleidung, öffnet, gibt ihrer Hündin einen Klapps, sieht sich um, lässt sie hinein und schließt die Tür. Und ich stehe da wie blöde hinter einem Baum, mitten im Wald, klatschnass und frierend. Ich weiß nicht recht wie, aber ich finde den Weg zur Straße. Das Gewitter ist jetzt genau über mir. Donner und Blitz sind eins. Es regnet in dicken Tropfen, heftige Windböen treiben das Wasser über den Asphalt. Natürlich weiß ich, dass ich mich mit geschlossenen Knien in den Graben hocken muss, aber ich gehe einfach weiter. Soll mich doch der verdammte Blitz treffen! Amphitryon, denke ich wieder, oder sein Hologramm! Sein Wiedergänger! Doppelgänger! Hatte Marie-Louise nicht diesen blöden Scherz gemacht, Amphitryons Hologramm sei ausgebrochen? Aber erstens konnte das nicht sein, das war unmöglich, und zweitens würde doch der Hund kein Hologramm anbellen. Oder? In der Datsche angekommen ziehe ich mich aus, rubbele mir bibbernd mit einem Handtuch die Haut von den Knochen, trinke einen Wodka nach dem anderen und lege mich dann hin. Was für ein Tag, was für ein Tag!

Kaum aber bin ich eingeschlafen, rüttelt mich die Bäckersfrau wach. Sie habe die Reste der Kamera aus dem Vogelhäuschen herausgenommen und das Kabel aus der Röhre gezogen. Es sei sonst schließlich nur eine Frage der Zeit, bis Alkmene und diese Götter das entdecken. Ungehalten stellt sie Gebäck und die Thermoskanne auf den Tisch. „Es gab eine Meinungsverschiedenheit mit dem Wachtmeister“, sagt sie, „er will aufs Ganze gehen.“ Ich setze mich auf. „Wissen Sie, er war schon immer ein Draufgänger. In so einem kleinen Ort kann das fatal sein, heute ebenso wie … früher. Und die Protagonisten der Gegenseite sind ja auch immer noch da, die Alten, wie wir sie schon damals nannten, Knocke vor allem und in seinem Schlepptau der Gemüsehändler Senior.“ Ich reiße die Augen auf. „Knocke?“ Die Bäckersfrau lächelt bitter. „Ein ganz Strammer! Hatte zwar nie irgendwelche Parteiämter inne, wusste aber immer alles ganz genau. Den Bau des Bungalows hat er durchgesetzt, zusammen mit dem Gemüsehändler. Das Schlagen der Schneise, dann der Aushub und der Bau des Tunnels zum See hin, das ist alles auf seinem Mist gewachsen. Manche sagen, er sei in der Waldsiedlung ein und aus gegangen.“ Mir schwirrt der Kopf. Ein Tunnel? Unter der Schneise? Von einem Tunnel hatte der Wachtmeister nichts gesagt! Zitternd gieße ich Kaffee ein. „Sie kennen ja das Gedicht des Wachtmeisters. Das war seine Art, mit der ganzen Angelegenheit umzugehen. Beim Schlagen der Schneise ist es passiert. Sein Freund Heinrich wurde von einem Baum erschlagen, den Wachtmeister trafen noch die äußeren Äste der Krone. Er stürzte und sägte sich mit der Kettensäge in den Fuß.“ Sie nimmt einen Schluck. „Er hat oft Andeutungen gemacht.“ – „Er spricht nicht gerne darüber. Versuchen Sie erst gar nicht, von ihm die ganze Geschichte zu erfahren! Kuchen?“ Ich nicke. „Kennen Sie denn die ganze Geschichte?“, frage ich. Sie legt mir ein Stück Bienenstich auf den Teller. „Ich habe als junge Frau das Gedicht des Wachtmeisters ja immerhin gestickt! Damit es nicht verloren geht. Es ist voller Anspielungen, denen ich damals nachgegangen bin, als der Wachtmeister auf Abberufung war.“ Dieses Wort, denke ich: Abberufung! „Wir hatten alle Mühe, den Wachtmeister wieder nach Bad Wutzenwalde zurückzuholen. Letztlich half ausgerechnet Knocke ganz entscheidend, und der lässt ihn das bis heute spüren. Aber nun genug davon! Ein Schweineöhrchen?“

Von einem Moment zum anderen, gerade eben war der Mercedes mit der Bäckersfrau aus meinem Blickfeld verschwunden, nur das zerschlissene Differential ist noch zu hören, ich stehe in der Tür der Datsche und sehe hinaus in den Regen, habe ich Sehnsucht nach Berlin. Heimweh sozusagen. Drei Jahre lang war ich, als Sosias, meist froh, auf dem Lande zu sein, selbst noch als sich die Spannungen immer weiter verschärften. Ich hatte ja meine Ruhe im Bungalow. Nun aber, als Robert, wollte ich zurück in die Stadt. Was sollte ich noch hier! All diese Vermutungen, was nicht alles hinter Amphitryon Komplex stecken könnte, kamen mir abgeschmackt vor. Ausgerechnet jetzt, wo es konkret wurde. Wo sich meine Vermutungen zu bestätigen schienen, nur eben anders, echter, relevanter, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ja, was hatte ich mir denn überhaupt vorgestellt? Ich habe nur die Pferde scheu gemacht, denke ich, ohne den kleinsten Schimmer zu haben, was wirklich Sache ist. Zum Trottel habe ich mich gemacht. Absolut. Ich rufe Eduard an. Er ist, wie sich herausstellt, wieder für ein paar Wochen in Berlin. Ich sage ihm, ich bräuchte zwei Bücher, die ein Forschungslabor unter dem Wutzenwaldersee erwähnten oder beschrieben, eines von 1938, eines von 1972, beide mutmaßlich in der Staatsbibliothek. „Der See, das Labor“, sagt er. „Marie-Louise hat mir davon erzählt. Spannende Sache das, Robert.“ Ich schlucke. „Marie-Louise hat dir wohl einiges, wenn nicht alles erzählt, wie es scheint?“, erwidere ich trocken. „Wir telefonieren regelmäßig. Die Bücher bringe ich mit, wenn ich den Wagen abhole. Ciao!“ Ich lasse mich aufs Sofa fallen. „Es machen alle, was sie wollen“, sage ich leise vor mich hin, „selbst der Hund! Und der Fuchs! Der Wachtmeister! Marie-Louise! Eduard! Die Bäckersfrau! Alle! Ich bin der Volltrottel vom Dienst, mit einem Wort: der Romancier!“

IX

Meine Stirnnarbe blutet noch immer. Gelegentlich. Ich befürchte weiterhin, sie werde zur Unzeit verblassen. Der Artikel im Bad Wutzenwalder Anzeiger ist erschienen. Die Überschrift lautet: „Mitarbeiter des Bad Wutzenwalders Multimediaprojekts verschwunden. Zwillingsbruder auf der Suche.“ Mit Foto, ich starre bunt verpixelt in die Kamera. Der Text: „Robert Scheerbart (Foto) ist auf der Suche nach seinem Zwillingsbruder Arno, Mitarbeiter des bekannten Multimediaprojekts Amphitryon Komplex (der Bad Wutzenwalder Anzeiger berichtete). Arno Scheerbart war von einer beruflichen Reise nach Basel nicht wie vereinbart nach Bad Wutzenwalde zurückgekehrt. Dennoch geht Robert Scheerbart davon aus, dass es sich nur um ein Missverständnis handelt. Etwaige Hinweise bitte an den Bad Wutzenwalder Anzeiger!“ So weit der Text. Es war natürlich nie die Rede davon gewesen, Hinweise an die Zeitung zu schicken. Aber gleichviel, es kommen ja ohnehin keine. Wichtig ist nur, dass eben alle wissen, was Sache ist, vermeintlich jedenfalls. Der da, der wie Arno aussieht, ist Robert und wohnt in der Datsche des Wachtmeisters. Operation geglückt!

Langsam wird es herbstlich und der Wachtmeister weiht mich in die Kunst ein, den Dauerbrandofen eben genau dazu zu bringen, dauerhaft Wärme zu spenden. Holz ist ausreichend vorhanden. Marie-Louise wird nach Berlin zurückkehren, die Universität der Künste hat mit einem Zweijahresvertrag gewinkt, direkt nach ihrem Abschluss. Sie hat ihren Kram gepackt, sich von Alkmene, Karl und Max verabschiedet und ist dann bei mir in der Datsche aufgetaucht. Schon als sie aus dem Auto steigt, sehe ich ihr an, dass sie abgeschlossen hat mit unserer Sache. Mit uns. Mit mir. Überrascht bin ich nicht. Marie-Louise gehört zu den Menschen, die etwas lernen, um es konsequent anzuwenden. Um sich damit durchzusetzen. Sie hat, im Gegensatz zu mir, nicht mit Zweifeln zu kämpfen. Ich schalte auf Gleichmut und habe plötzlich, so empfinde ich es, ein ganz flaches Gesicht. „Ich mach uns Kaffee“, sage ich. Kuchen ist noch ausreichend da, eine süße Zutat zur Bitternis, die in mir aufsteigt. Marie-Louise sitzt mir gegenüber im Schneidersitz auf dem Stuhl. Kurzes Röckchen. Ein feines Höschen. Das rosa Geschlecht scheint ein wenig durch. Doch nichts regt sich bei mir. Ich bin nun ganz und gar flach, zweidimensional, und Marie-Louise sitzt einfach so da, ohne besondere Absicht. Sie kaut versonnen den Kuchen. „Eduard holt mich ab, er kommt mit dem Zug“, sagt Marie-Louise. „Gut“, sage ich, so als sei ich im Bilde und das Kommen Eduards überdies die natürlichste Sache der Welt. „Ich mach nochmal Kaffee“, streue ich in unser Schweigen ein. Kurz darauf klopft es. Eduard, braunrote karierte Mütze mit Ohrenklappen, Wanderschuh und Knickerbocker, dazu einen Wanderstock mit Schlaufe. „Die drei Seiten zum Thema Labor unter dem Wutzenwaldersee habe ich dir kopiert“, sagt er, „gibt aber auch was dazu im Internet.“ Marie-Louise reicht ihm einen Becher Kaffee. „Ah“, sage ich, „danke, darauf bin ich gar nicht gekommen.“ – „Bei Wikipedia und bei so einer Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte. Ist ganz interessant.“ Seltsam eigentlich, denke ich, ist doch immer die erste Idee, im Internet zu suchen, heutigentags. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Eine Stunde später setzt sich Eduard ans Steuer seines Honda. Marie-Louise küsst mich auf den Mund. In diesem Augenblick weiß ich sicher, dass Eduard meine Stelle einnehmen wird. Er allerdings ist noch völlig ahnungslos, das kann ich deutlich erkennen. Der Arme! „Ich komme nach“, sage ich, „wenn ich in Bad Wutzenwalde alles geklärt habe.“ – „Okay“, sagen beide unisono. Ich werde den Teufel tun und winken, denke ich, winke dann aber doch, wie automatisch. Ich gehe hinein und schreibe auf, wie Marie-Louise aus meinem Leben verschwunden ist.

Gegen Abend des selben Tages brennt es auf dem Gutshof. Ich sehe die Rauchsäule, kurz darauf Feuerwehrsirenen. Ich laufe los. Die Bäckersfrau kommt mir entgegen, völlig außer Atem. „Der Dachboden des Verwaltungsgebäudes brennt“, ruft sie. „Ah!“, sage ich. Irgendwie bin ich erleichtert. Ich stelle mir vor, wie die Flammen aus den Dachfenstern schlagen. „Und Karl und Max?“, frage ich lapidar. Sie zuckt mit den Schultern. „Werden sich doch wohl über die Feuertreppe gerettet haben, gesehen haben wir sie nicht.“ – „Gehen wir hin?“ – „Nein!“ In der Backstube essen wir Kuchen und warten auf den Wachtmeister, der bald auftauchen muss. Es ist aber schon völlig dunkel, als er endlich angeradelt kommt. Die Zerstörung sei eine vollkommene, berichtet er, das ganze Gebäude sei nun einsturzgefährdet und müsse abgerissen werden. Die Feuerwehr habe eine Drohne über den ausgebrannten Dachstuhl fliegen lassen, Leichen seien auf den Bildern nicht zu sehen gewesen. „Karl und Max sind also verschwunden?“, frage ich tonlos. „Offensichtlich. Ebenso wie die Hologramme wahrscheinlich für immer verschwunden sind. Die ganze Technik ist nur noch Klump. Frau Alkmene hat wohl keine Ahnung, wo ihre Götter Sicherheitskopien haben könnten. Fragt man sie etwas, so sagt sie immer nur Ach!“ – „Armes Ding!“, sagt die Bäckersfrau. „Am Ende also“, sage ich, „ein ganz und gar misslungenes Kunstprojekt! Viel Aufwand, wenig Ertrag!“ Der Wachtmeister nimmt sich ein Stück Kuchen. „So sieht es aus, Herr Robert. Frau Alkmene ist auch sogleich abgereist, und zwar gegen meine ausdrückliche Anordnung, denn so lange die Brandursache nicht geklärt ist, ist sie verdächtig. Ich habe das an das zuständige Bundespolizeirevier weitergegeben.“ – „Wohin ist sie abgereist“, frage ich. – „Nach Italien. Sie hat wohl schon gepackt gehabt. In Sarsina nämlich ist ein deutscher Künstler von einem eifersüchtigen Ehemann angeschossen worden. Laut der örtlichen Polizei, so habe ich erfahren, ist der Mann in Bad Wutzenwalde gemeldet. Unwahrscheinlich, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Nun ja, ein Unglück kommt selten allein.“

Ich blase alle Luft aus den Lungen. „Uff“, sage ich. Doch was hieß angeschossen? Das konnte vergleichsweise harmlos sein, aber auch lebensgefährlich. Ich versuchte mir die Szene vorzustellen, doch ich sehe vor meinem geistigen Auge nur ein Büro und eine Couch, wie in Basel, aus Sicht der Kamera und schwarz-weiß. Nur dass eben jemand hereinkommt, „figlio di puttana“ brüllt und den aufspringenden Amphitryon niederschießt. Hilflos, in heruntergelassener Hose und mit einer veritablen Erektion steht er da, die Arme abwehrend und zugleich beschwichtigend ausgestreckt, während die Frau flehentlich halbnackt auf ihren Gatten zukriecht und sich an seine Beine hängt, seinen Namen ruft (Francesco wahrscheinlich), dann nach der Pistole greift, worauf sich ein Schuss löst und Amphitryon trifft, nämlich a) zwischen die Augen, b) ins Herz, c) in den Bauch, d) in die Genitalien, e) in den Oberschenkel, f) in den Fuß. Tot könnte er in fast allen Variationen sein, in den Fällen a und b sogar sicher. Der Ehemann wird sagen, er habe nicht schießen wollen, der Schuss habe sich gelöst, als seine Frau nach der Waffe griff. Freispruch wahrscheinlich und natürlich Aussöhnung der Ehepartner. Ich frage, ob Näheres bekannt ist, doch der Wachtmeister hält sich bedeckt. Weiteres Nachfragen sinnlos. „Einen Schlehengin, Herr Robert?“

Später gehe ich zurück zur Datsche und dann ganz in Gedanken vorwärts aufs Klo, statt wie sonst meistens, der Enge wegen, rückwärts. Ich renne mit dem Kopf heftig gegen die Türkannte. Und töte damit, wie mir sofort klar ist, Arno! Diese Narbe nämlich, passgenau in die tätowierte platziert, die ja wiederum in die frühere Verletzung hineingestochen war, würde nie wieder verschwinden! Ich sehe nur noch verschwommen. Kotzübel ist mir. Was tun? So ruhig wie möglich ein- und ausatmen. Mich auf den Boden legen. Da liege ich also. Es blitzt. Ich höre metallene Geräusche. Ein Schwertkampf. Nach einer Weile stehe ich vorsichtig auf, nehme hockend eine Dusche und lege mich dann auf die Schlafcouch. „Morgen bin ich wie neu“, sage ich laut, wie um mir Mut zu machen.

Der Wachtmeister weckt mich, es ist hell, es scheint früher Morgen zu sein. „Ich dachte, es interessiert sie“, ruft er, mitten im Raum stehend, die Hände in die Hüften gestemmt, „das Verwaltungsgebäude wird bereits heute abgerissen, der Statiker hat nicht eine Sekunde gezögert. Der Bagger mit der Abrissbirne ist schon unterwegs. Kommen Sie!“ Er rüttelt mich an der Schulter, und erst in diesem Augenblick sieht er die Wunde. „Aha“, sagt er, „das haben Sie ja fein hinbekommen, Herr Robert! Nun gut, dann zuerst zum Herrn Doktor. Ich hoffe, wir verpassen die Sause deswegen nicht. Können Sie mit dem Rennrad fahren?“ Der Wachtmeister fährt die ganze Zeit neben mir, zur Sicherheit, und wir kommen heil an. „Nähen oder klammern?“ fragt mich der Doktor, ein Pensionär mit Nietzscheschnäuzer, nachdem er die Wunde gesäubert hat. „Nähen“, sage ich. „Beeil Dich, Michail“, drängt der Wachtmeister, „die Chose beginnt gleich!“ Und Michail beeilt sich, so dass wir rechtzeitig ankommen. Ich schwitze. Der Baggerführer setzt eben die Abrissbirne in Bewegung. Zwei Bauarbeiter, drei Feuerwehrleute im Spritzenwagen und vier THW-Mitarbeiter sind anwesend. Der alte Herr Knocke ist auch da, ohne Hund. Er nickt uns zu. Dann geht es los, und nach nicht mal zehn Minuten liegt das Gebäude danieder. Zehn Minuten! Der Baggerführer lässt die Kugel noch ein paar Dutzend mal von oben auf die Trümmer krachen. „Das ging schnell“, sagt Herr Knocke. „Ja“, erwidert der Wachtmeister, „manches geht schnell, anderes währt dafür umso länger.“ Knocke strafft sich. „Es wird eine Untersuchung geben, Wachtmeister. Sachverständige waren da, Brandstiftung ist nicht auszuschließen. Guten Abend, die Herren!“

Während die Feuerwehr die Trümmer benässt, die Arbeiter im Sprühnebel den Bauzaun aufbauen und die THW-Menschen an freigelegten Stromkabeln irgendwelche Sicherheitsmanschetten anlegen, schlendern der Wachtmeister und ich, die Räder schiebend, den Zufahrtsweg entlang zur Straße. „Wie ich höre, hat Sie die Bäckersfrau in Kenntnis gesetzt in Sachen Schneise und Tunnel. Nun denn, dann wissen Sie ja jetzt so einiges, scheint mir.“ – „Und mir scheint, ich bekomme alles nur häppchenweise serviert“, protestiere ich in scharfem Ton, fast zu meiner eigenen Überraschung. Es war mir so rausgerutscht. „Nun, Herr Robert“, sagt der Wachtmeister und stoppt abrupt, „Sie vergessen offensichtlich, dass Sie mit Frau Alkmene, diesen Brzozowskis und dem Herrn Amphitryon eine Gruppe bildeten, die uns, der Bäckersfrau und mir, zunächst als eine geschlossene Einheit erscheinen musste. Wer hätte garantieren können, dass Sie nicht, von uns ins Vertrauen gezogen, alles brühwarm Frau Alkmene und Consorten erzählen! Warum hätten wir Ihnen, Sosias, mehr trauen sollen als den anderen!“ Ich sage nichts. Der Wachtmeister blickt mich ernst an, keine Spur mehr der liebenswerten Kauzigkeit, an die ich mich gewöhnt hatte. „Dazu kam noch, dass Sie ausgerechnet im Bungalow wohnten und nicht im Gutshaus. Wir hätten durchaus nicht gezögert, nach dem Tunneleingang zu suchen, der, das wussten wir natürlich schon immer, sich unter dem Fußboden im Bungalow befindet.“ – „So weit ich jetzt weiß“, werfe ich kühl ein, „ist das Labor unter dem See durchaus kein Geheimnis, und auch die Forschung nach der Wende …“ – „Dem Abverkauf der DDR!“ – „ … ist nie ein Geheimnis gewesen. Wahrscheinlich war ich der Einzige, der von nichts wusste!“ Der Wachtmeister grinst. „Ihr Freund Amphitryon ist auch ganz ahnungslos gewesen, das können Sie mir glauben. Der hatte immer ganz andere Dinge im Kopf.“ – „Ihre Besuche bei mir waren also von Anfang an darauf angelegt zu testen, ob Sie mich sozusagen ins Boot holen können?“ Wir setzen uns wieder in Bewegung. „Zu Anfang ging es“, brummt er, „eher um banale Informationen. Als wir allerdings bemerkten, dass Sie skeptisch wurden gegenüber dem Projekt, ja, da haben wir in Erwägung gezogen, Sie miteinzubeziehen.“ Ich bin also, denke ich, den Wachtmeister scharf von der Seite fixierend, nur Mittel zum Zweck gewesen! Nichts weiter! „Ihre Idee, als Robert hier aufzutauchen, hat uns dann aber überzeugt, also beruhigen Sie sich“, höre ich den Wachtmeister sagen. Wir schweigen eine Weile. „So steht der Sache jetzt ja nichts mehr im Wege“, sage ich schließlich, „alle sind weg und der Bungalow leer. Nicht mal die Hologramme scheint es noch zu geben!“ Mir fällt Amphitryon ein, den ich im Wald gesehen hatte, sage aber nichts. „Ja, Herr Robert, die Zentrale, der Himmel ist zerstört, durch einen wie auch immer ausgelösten Brand. Gearbeitet aber, das können Sie mir glauben, hat da oben schon lange niemand mehr.“ Ich brauche eine Weile um zu begreifen, was der Wachtmeister da sagt. „Wollen Sie andeuten, dass Karl und Max …“ – „Andeuten will ich nichts, Herr Robert“, erwidert er scharf, „ich will herausbekommen, was da unten geschieht, unter dem See!“ Ich bleibe stehen. „Gut“, sage ich. „Rufen Sie mich morgen früh an, Herr Robert“, sagt der Wachtmeister, „es geht los!“ Dann schwingt er sich grußlos in den Sattel und radelt davon.

Ich mache mich auf den Weg zur Datsche. Ich habe so über einiges nachzudenken, scheint mir. Wie verabredet rufe ich am nächsten Vormittag die Telefonzelle an. Der Wachtmeister meldet sich. „Wir müssen jetzt handeln, Herr Robert“, sagt er eindringlich, „heute Abend um halb zehn in der Backstube!“ – „Gut“, sage ich kehlig und schlucke hart, „handeln wir.“ Ich werfe das Telefon auf die Couch und setze mich an den Rechner, alles aufzuschreiben, denn wer weiß, was am Ende von mir noch übrig bleiben wird. Am späten Nachmittag kommt die Bäckersfrau mit Erbsensuppe und Kuchen bei mir vorbei. Ein paar Tage lang hatte sie sich nicht blicken lassen. Skeptisch betrachtet sie meine Stirn. „Hat der alte Doktor dann doch noch mal Hand angelegt“, meint sie und fährt mit dem Zeigefinger über die Fäden. Ich zucke zurück. „Naja, nicht schön, aber selten.“ Ich lächele verzagt. „Um halb zehn dann also, Herr Robert. Hoffentlich wissen Sie, auf was wir uns da einlassen.“ –  „Kommen Sie denn mit?“ – „Aber ja! Natürlich!“

Schweigend löffeln wir die Suppe. Was nur, überlege ich, hatte ich überhaupt drei Jahre lang hier gemacht, als Arno? Warum habe ich nie gefragt, was das Ruderboot auf dem See zu suchen hat und wer da taucht? Und warum überhaupt getaucht wird in so einem popeligen See, zu welchem Zweck? Wahrscheinlich wäre sogar jeder in Bad Wutzenwalde bereit gewesen, mir alles mögliche zu erzählen, von jetzt, von damals, alles. Warum also fragte ich nicht? Die einfache, gleichwohl richtige Antwort ist, dass ich kein Interesse hatte und annahm, in so einem Kaff gäbe es nichts von Bedeutung. Außer unserem Projekt natürlich. Wie hochnäsig! Die Bäckersfrau verabschiedet sich. Ich lege mich noch etwas hin und versuche zu schlafen. Um kurz nach neun mache ich mich dann auf den Weg. Dunkel ist’s, kein Mond, nirgends. Der Wachtmeister und die Bäckersfrau sitzen bereits im Auto, ich steige grußlos hinten ein. Es geht los. Kurz darauf schon lenkt die Bäckersfrau den Mercedes langsam über den Anfahrtsweg, dann streichen die Autoscheinwerfer über die Trümmer des alten Verwaltungsgebäudes. Die Feuertreppe am Boden. Obskur anzusehen. Baustellenzaun drumherum. Warnschilder, Eltern haften für ihre Kinder. Der Kies auf dem Hof durchfurcht von schweren Reifenspuren. Wir parken vor dem Gutshaus. Die Katze auf dem Fenstersims, die Augen leuchten kurz und bösartig auf. Im Haus alles dunkel. Wir gehen langsam zum Bungalow, der Wachtmeister gibt das Tempo vor, der Strahl seiner Taschenlampe pendelt über den Weg. Dann zieht er seinen voluminösen Schlüsselbund aus der Tasche und schließt den Bungalow auf. Wundert mich überhaupt nicht. Wir machen Licht, die Vorhänge sind zugezogen. Vor der Küchenzeile liegt schweres Werkzeug, Spitzhacke, Vorschlaghammer, ein großer Bohrhammer, ein Trennjäger, eine Spannsäge, ein Spaten, eine Schaufel, dazu in einer Kiste Ohrschützer, Schutzbrillen und zwei weitere, große Taschenlampen. „Ich war so frei“, sagt der Wachtmeister, „alles schon einmal vorzubereiten.“ – „Gut“, sage ich und nicke mit dem Kopf. „Jaja“, sagt die Bäckersfrau. „Niemand weiß genau, wo der Eingang ist“, fährt der Wachtmeister fort und sieht mich eindringlich an, „außer Knocke. Und der wird den Teufel tun, uns das zu sagen. Der Fußboden ist außerdem Anfang 1990 neu gemacht worden.“ – „Westkacheln“, sagt die Bäckersfrau, schnappt sich ohne weitere Bemerkung den Vorschlaghammer und stiefelt nach hinten. „Der Eingang ist hier, genau hier“, ruft sie, „darauf verwette ich meine Pension. Die Verlängerung der Schneise ins Haus hinein. Fast zu einfach.“ Ein Vorschlaghammer, so auch dieser, verweilt, bevor er seine Wirkung tut, einen kleinen Augenblick in schönster Ruhe am höchsten Punkt, dann geht es brutal nach unten. Die Bäckersfrau schlägt zu. Krachend entsteht ein Riss. Des Wachtmeisters Augen blitzen, er greift zur Spitzhacke, und bevor ich auch nur einen Handschlag hätte tun können, sind die Beiden schon dabei, mit Wucht den Boden zu zerstören. Meinen Boden, in meinem Bungalow! Ich beginne, die Trümmer wegzuräumen, Zement, Erde und Kies kommen zum Vorschein. An eine Schubkarre hat niemand gedacht. Ich schaufele alles einfach zur Seite. Wachtmeister und Bäckersfrau arbeiten jetzt im selben Rhythmus, sie wühlen sich geradezu ein. Wortlos. Das Loch wird größer und größer, der Berg an Schutt auch. Und was ist, denke ich, wenn der Eingang unter dem Schuttberg ist? Schon der Gedanke macht mich schwitzen. „Die Schüppe!“, ruft die Bäckersfrau mir plötzlich zu. Es hatte ein dumpfes Geräusch gegeben, da musste ein Hohlraum sein. Und tatsächlich, bald schon wird, nachdem eine Schicht Schalbretter knirschend entfernt worden ist, eine in den Boden eingelassene doppelflügelige Stahltür sichtbar, mattdunkelgrün lackiert. „Der Tunnel!“, ruft der Wachtmeister und strahlt die Bäckersfrau an. „Wenn denn nicht alles verschüttet ist“, sage ich. Ich ernte einen bösen Blick von Beiden. Der Wachtmeister zieht an der Türklinke. „Nicht mal abgeschlossen!“, ruft er. Wir ziehen mit vereinten Kräften an den Türflügeln gegen einigen Widerstand, es knirscht ordentlich in den Scharnieren, dann endlich ist es geschafft. Eine Treppe aus Backstein kommt zum Vorschein. Kalte, feuchte Luft dringt uns entgegen, ein moderiger Hauch. Ich habe Angst, ganz unmittelbar. Der Wachtmeister und die Bäckersfrau beschließen, ich werde nicht gefragt, am nächsten Tag weiterzumachen. So treten wir kurz nach Mitternacht aus dem Bungalow ins Freie. Leichter Regen. Ich bin hellwach. Der Wachtmeister schließt ab, nickt uns zu und nimmt den Weg durch die Büsche zur Straße hin. Ich gehe mit der Bäckersfrau zum Wagen. Wir setzen uns hinein. „Damit wir uns recht verstehen, Herr Robert, es wird ernst!“ Ich ziehe die Kopien zum Unterseelabor aus der Tasche. „Hier“, sage ich und reiche sie der Bäckersfrau. Sie wirft nur einen kurzen Blick darauf. „Aus den Büchern, in denen das Labor beschrieben ist? Kenn ich. Die Nazis haben Strahlenexperimente gemacht, wird da jedenfalls behauptet. Woher aber dieser Journalist aus dem Westen die Informationen hatte, dass dort unten auch zu DDR-Zeiten geforscht wurde, ist mir ein Rätsel.“ – „Es gab ja, wie Sie wissen, Überläufer, Doppelagenten. Wie auch immer, geglaubt hat’s keiner im Westen, wie es aussieht. Nicht mal mitbekommen.“ – „Tatsache aber ist, Herr Robert, die Schneise ist geschlagen und der Bungalow gebaut worden, um einen geheimen, vor allem aber besseren Zugang zum Labor zu bekommen als den damaligen über die Unterwasserschleuse. Ende der 70er-Jahre hat es einen Unfall gegeben. Der einzige Sohn Knockes kam ums Leben und mit ihm ein Parteibonze. Irgendetwas mit der Schleuse war nicht in Ordnung, die beiden Männer sind ertrunken, die diensthabenden Ingenieure mussten zwei Wochen im Labor bleiben, bis alles repariert war und sie rausgeholt werden konnten. Einer der Ingenieure, ein junger Kerl aus Dresden, ist später tot aufgefunden worden. Herzinfarkt hieß es, aber alle wussten, dass es Selbstmord war. Die Idee, einen Tunnel zu bauen, lag nahe. Kennen Sie die Bilder vom Bau der ersten Berliner U-Bahnen? Man hat einfach den Boden ausgehoben und dann einen Deckel draufgemacht, schon war die Röhre fertig. Vom Bungalow aus bis zum Ufer ist man genau so verfahren. Vom Labor bis kurz vor das Seeufer aber gab es bereits einen Tunnel, den hatten die Nazis gebaut, dann aber nicht mehr fertigstellen können. Bis sich dann die DDR, irgendein Zentralinstitut für Strahlenforschung, der Sache annahm. Wie gesagt, erst nach den tragischen Ereignissen.“ – „Aber das alles lief doch nicht im Geheimen ab, oder?“, frage ich. Sie lacht. „Doch, es lief im Geheimen ab. Keiner sprach darüber. Jeder aber wusste bescheid. Der ganze Ort, jeder Einzelne, wurde eingeschworen, nicht darüber zu reden. Es gab Hausbesuche. Eine Familie, deren Sohn Theologie studierte, wurde umgesiedelt. Ein paar kritische Geister blieben natürlich trotzdem noch. Der Wachtmeister und sein bester Freund Heinrich sprachen sogar demonstrativ offen über die Tunnelangelegenheit, als einzige, ich glaube, sie hatten auf irgendeine Weise Spaß daran. Das Ende vom Lied war, dass sie zum Schlagen der Schneise verpflichtet wurden. Und das mit dem Baum war kein Zufall, Herr Robert, ein Baum fällt nicht plötzlich zur falschen Seite hin, und fast hätte es ja auch den Wachtmeister erwischt.“ – „Das Gedicht ist also alles andere als witzig gemeint?“, warf ich ein. „Wir haben den Wachtmeister, als er aus Bautzen zurück war, wieder aufgepäppelt. Knocke, ausgerechnet Knocke, hat ihn wieder als Abschnittsbevollmächtigten eingesetzt. Sozusagen kraft seines Amtes, das er nie offiziell innehatte. Eine Art Begnadigung. Verstehen Sie jetzt, warum der Wachtmeister unbedingt wissen will, was da unter dem See vor sich geht? Offiziell, das ist ja durchaus kein Geheimnis, forschte da nach der Wende bis Mitte der 90er-Jahre ein Konsortium internationaler Unternehmen, das Bundesforschungsministerium war involviert. Die Frage ist eben nur, was da jetzt geschieht. Wenn da etwas geschieht.“ – „Und warum ist der Tunnel außer Betrieb?“ – „Die Schleuse des Labors ist erneuert worden, 1990 schon. Vorbild waren die Systeme der modernsten U-Boote, es gab Berichte in den Tageszeitungen. Ist natürlich innovativer als ein alter, feuchter Nazi- und Stasitunnel! Alles musste neu sein! Und außerdem konnte niemand einfach so rein, man muss tauchen und die Schleuse bedienen können, und wahrscheinlich gibt es auch noch weitere Sicherheitsvorkehrungen, Iriserkennung oder so etwas.“ – „Also gibt es gar kein Geheimnis?“ – „Im Wikipediaeintrag zum Unterseelabor[12] steht, es sei seit 1994 nicht mehr in Betrieb, werde aber instandgehalten als Zeugnis der Wissenschaftsgeschichte. Besichtigungen nur für Leute mit Tauchschein. Also kein Geheimnis, könnte man denken. Wir werden sehen. Ich bring Sie nach Hause.“

Lange noch liege ich wach und starre auf die Holzlatten der Deckenverkleidung. Ich brauche eine Weile mir einzugestehen, dass ich doch irgendwie enttäuscht bin. Womöglich würde sich nun alles als banal erweisen, als eine einzige, große Banalität. Selbst wenn die Bäckersfrau behauptet, es werde ernst. Und das ist es ja auch, für sie, dachte ich, und natürlich auch für den Wachtmeister. Aber darüber hinaus? Ein Labor, eine Art Museum unter einem künstlich angelegten See in Brandenburg – das war’s dann auch, objektiv betrachtet. Sicher, es gab die tragischen Geschichten aus der DDR-Zeit, doch was ging mich das an? Und an eine Verbindung zum Amphitryon-Komplex glaubte ich nun selbst nicht mehr. Meine Phantasie ist wohl einfach mit mir durchgegangen! Das kommt davon, wenn man zu lange alleine ist, man wird kauzig und spinnert. Natürlich frage ich mich trotzdem, was der Wachtmeister zu tun beabsichtigt. Wollte er in das Labor eindringen, um zu sehen, für was, oder eher warum sein bester Freund Heinrich gestorben ist? Warum er ermordet wurde? Wenn es denn so war! Genaueres dazu werde ich aber kaum erfahren. Was also, denke ich, sind meine Überlegungen, meine schriftlichen Darlegungen, überhaupt wert? Der Welt geben, was der Welt ist – so oder so ähnlich hatte ich das formuliert, weil ich dachte, hinter der Kunst stecke verborgen etwas Wichtiges, Gefährliches. Welch kindliche, ja kindische Vorstellung! Sicher, Karl und Max sind fort, aber womöglich ist ihr Vertrag tatsächlich ausgelaufen und der Brand durch einen Kurzschluss ausgelöst worden. Eine knabbernde Maus. Und Amphitryon? In Italien von einem eifersüchtigen Ehemann niedergeschossen! Verbrechen aus Leidenschaft, so sagte man früher. Die Bilder der Überwachungskamera in Basel standen mir wieder vor Augen. Wie aus einem schlechten Film. Das Beackern der weiblichen Furche mittels des männlichen Glieds zwecks Ablegung des Samens! Ich lache auf. „Was für eine Farce, das Ganze“, sage ich laut, „oder nein – was für eine Arabeske!“

Ich erwache fröstelnd im ersten Morgenlicht. Es findet sich ein Rest Erbsensuppe, die ich warm mache. Dazu trinke ich Kaffee und esse Kuchen. Schließlich der Mercedes und die Bäckersfrau. So beginnt der Tag. Der Wachtmeister ist schon im Bungalow. Auf dem Boden ein Vogelbauer, eine Art aufgeschnittener Rucksack, darin hinter einem Netz ein quietschgelber Kanarienvogel. „Lolo“, ruft der Kanarienvogel. Wir ziehen die Flügel der Stahltür auf. Wieder diese kalte, feuchte, modrige Luft. Als wenn etwas ausgehaucht würde, denke ich. Der Wachtmeister hängt mir den Vogelbauer an die Schulter, „Kruru“ macht der Vogel, und drückt mir den Bohrhammer in die Hand. „Ein Akkubohrhammer mit Meißelfunktion, ausgeliehen von der hiesigen Bauwirtschaft. Ich nehme den Vorschlaghammer.“ – „Gut“, sage ich, aber nichts ist gut. „Am Übergang zum Nazitunnel ist eine Backsteinmauer eingezogen worden, das wissen wir sicher“, sagt die Bäckersfrau, „der Maurer ist der selbe, der im Gutshaus das Fenster zugemauert hat. Er hat’s nicht zugegeben, aber auch nicht geleugnet.“ Sie nimmt den Trennjäger zur Hand, die Schutzbrillen und die Ohrschützer. „Wollen wir los!“, ruft sie. „Ich will mir noch einmal den See von oben ansehen“, sage ich und laufe hinaus. „Lülü“, macht der Kanarienvogel. Und da liegt er, der See. Vielleicht, fällt mir ein, ist ja das Ruderboot zu sehen und wir müssen die Aktion abblasen, aber ich werde enttäuscht. Die Schneise, der See. Blassblaugrau schimmert das Wasser. Sicher sind Enten unterwegs, auch wenn ich keine entdecken kann. Die Bäume, teils schon mit welkem Laub, rauschen leise im Wind. Die Sonne ist hinter Wolken versteckt. Wer weiß, denke ich melodramatisch, ist eben dies das letzte schöne Bild, das ich sehe. „Kommen Sie?“, ruft die Bäckersfrau. Vorsichtig steigen wir die Treppe hinunter, der Wachtmeister leuchtet. Unten angekommen schalte ich meine eigene Taschenlampe an. Zu meiner Überraschung liegt ein sauberer Tunnel vor uns, eine gewölbte, graue Betondecke, auf Wände aus Backstein gesetzt. Sicher keine übliche Bauweise, denke ich. Auch der Boden besteht aus Backstein. Es geht leicht bergab. Kälter und kälter wird es. Nach fünf Minuten bemerkt der Wachtmeister, ein paar Meter nur noch und wir hätten Wasser über uns. Unwillkürlich richte ich den Lichtstrahl nach oben. Zwei, drei Minuten später, vielleicht war’s aber auch nur eine, stehen wir dann vor einer massiven Backsteinmauer. „Nun ja, die Grenze zwischen Stasi- und Nazitunnel, da müssen wir dann wohl durch“, sagt der Wachtmeister. Die Bäckersfrau und ich nicken. „Herr Robert, meißeln sie hier, hier und hier mal ein schönes Loch!“, er klopft mit der Faust drei Mal gegen die Wand, „die Bäckersfrau und ich warten. Setzen Sie die Ohrschützer und die Brille auf.“ – „Und wenn hinter der Wand Wasser ist?“, sage ich. „Dann nehmen wir alle unsere Beine in die Hände und laufen in die Richtung!“ Er lenkt den Strahl seiner Taschenlampe Richtung Bungalow, plötzlich bester Laune. „Gut“, sage ich, drücke der Bäckersfrau den Vogelbauer in die Hand, setzte die Ohrschützer und die Schutzbrille auf und lege los, jeweils genau an der Stelle, auf die der Wachtmeister leuchtet. Es dauerte eine Weile, dann platzt endlich ein großes Stück Backstein weg und ein paar Minuten später bin ich durch. Kein Wasser! Bald schon habe ich drei Löcher gemeißelt. Ich schwitzte wie ein Schwein und der Bohrhammer in meiner Hand riecht nach Kabelbrand. „Gut, Herr Robert“, ruft der Wachtmeister, „wenn ich nun dürfte!“ War das nun die reine Wut, frage ich mich, oder einfach die beste Methode, die Wand einzureißen? Der Vorschlaghammer scheint zunächst allerdings überhaupt keine Wirkung zu haben, schließlich aber kracht ein großes Stück Mauerwerk in den Nazitunnel hinein. Der Wachtmeister springt zurück. „Einen Sturz einzubauen wäre das Beste“, sagt er und leuchtet das Mauerwerk oberhalb des Loches ab, „aber ich denke mal, wir riskieren es einfach.“ Mit ein paar Hammerschlägen ist das Loch schnell vergrößert. Wir leuchten mit unseren Taschenlampen den Raum, den Tunnel dahinter aus. Der Nazitunnel! „Zum Labor sind’s noch fünfhundert Meter“, ruft der Wachtmeister und steigt durch das Loch. Wir folgen ihm. Im Strahl der Taschenlampe Backsteinwände, eine Backsteintonnendecke und ein Backsteinboden. Alles in bestem Zustand, wie es scheint. Trotzdem bin ich darauf gefasst, im Lichtstrahl Skelette vorzufinden. Aber nichts. Der Tunnel ist vollkommen leer. Der Kanarienvogel, den ich wieder geschultert habe, macht „Tüdelüt“. Rechter Hand dann plötzlich, ich sage plötzlich, weil wir alle drei mit einem Ruck stehenbleiben, ein Durchgang, ein kleiner, nur mannshoher, etwa ein Meter breiter Tunnel, der, so stellen wir fest, leicht bergauf verläuft und nach vielleicht vierzig Metern nach rechts abzuknicken scheint. Selbst der Wachtmeister sagt nichts, so baff ist er. Natürlich, überlege ich, das alles ist gebaut worden, bevor der See darüber entstand, da wird man an alles gedacht haben. „Da war eine Tür davor“, sagt der Wachtmeister, „die Bandunterteile sind noch zu sehen und in der Stahlzarge noch die Aussparung für den Riegel. Ein Notausgang. Klar.“ –„Also hätten damals die Ingenieure nach dem Unfall mit der Schleuse diesen Ausgang nehmen können“, sage ich, „und auch hineingekommen ins Labor wäre man so?“ – „Ich hab’s ihm erzählt. Ist ja kein Geheimnis!“, sagt die Bäckersfrau mit einem Blick zum Wachtmeister, der noch einmal in den Gang hineinleuchtet, aber nichts sagt. Irgendwelche Geheimnisse bleiben ja immer, denke ich, weil sie mit ins Grab genommen werden. So einfach ist das. Wahrscheinlich war alles verriegelt und verrammelt damals, oder der kleine Tunnel führt nicht mehr bis zur Oberfläche, weil er eingestürzt ist. Aber ich habe keine Zeit, über derartiges nachzudenken, denn kurz darauf stehen wir vor einer massiven Stahltür. Mattgrau. Der Wachtmeister leuchtet die Tür ab. „Wir setzen den Trennjäger hier an“, sagt er. „Womöglich ist die Tür offen“, ruft die Bäckersfrau, schiebt uns beide zur Seite, drückt die Klinke nach unten und zieht die Tür auf. Der Wachtmeister atmet tief ein, ich pfeifend aus. „Voilà“, ruft die Bäckersfrau lachend, aber ihre Stimme vibriert. „Tüdelü, tüdelü“, macht der Kanarienvogel. Vor uns nun also, durch eine Art Notlicht grünlich beleuchtet, das Labor! Ich, oder eher meine Eingeweide, erinnern sich mit einem Male an die Abenteuer der Kindheit. Wenn man in verbotene Räume eindringt, das Arbeitszimmer des Großvaters, das Nähzimmer der Großmutter oder die gute Stube der Tante mit den abgedeckten Sesseln. Kurzum, es grummelt in mir. Da stehen wir also, auf der Schwelle des Labors! Wir legen das Werkzeug auf den Boden. „Wie heißt der Vogel eigentlich?“, frage ich flüsternd. „Stan“, sagt die Bäckersfrau. „Gut“, sage ich erleichtert. Wir stehen eine ganze Weile in der Tür. Es ist, finde ich, am Wachtmeister, den ersten Schritt zu tun. Auch die Bäckersfrau macht keinerlei Anstalten. Das Labor selbst, kaum größer als vielleicht vierhundert Quadratmeter, liegt einfach nur da. An der hinteren Wand eine grünschimmernde marmorne Schalttafel, sicher ein Überbleibsel der Erstausstattung. Davor moderne Labortische mit Computerbildschirmen älterer Machart. An der Wand links drei mannshohe Kabinen aus Glas. Rechts eine Metalltreppe, die zu einer langen Plattform führt, an deren Ende eine schwere Tür mit Bullauge zu sehen ist. Ein Teil des Schleusensystems. Was aber in drei Teufels Namen wollten wir hier! Dann endlich tut der Wachtmeister einen Schritt. Wir folgen. Vorsichtig gehen wir auf die Schalttafel zu. Würde, überlege ich, der Wachtmeister nun zu einer Erklärung ansetzen? Sich wie ein Museumsführer vor die marmorne Schaltstafel stellen und alles erläutern, was es auf sich hat mit dem Labor, was hier zu Ostzeiten erforscht wurde? Würde er seines Freundes Heinrich gedenken? Doch nichts dergleichen geschieht. Der Wachtmeister schleicht nur leicht humpelnd und wie paralysiert durch den Raum, lässt seinen Blick schweifen, berührt aber nichts. Es ist totenstill, nicht mal Stan gibt einen Ton von sich. Ein Museumslabor, wir sind in ein Museumslabor eingebrochen, denke ich. Irgendwann würden wir einfach zurückgehen und oben im Bungalow stehen. Der Einbruch wird natürlich früher oder später bemerkt werden. Wie, überlege ich, sich dann rechtfertigen? Oder würden alle schweigen? Wie gehabt schweigen? Aus alter Gewohnheit? Auch Knocke? Die Bäckersfrau steht vor der Schalttafel, der Wachtmeister an der Treppe zur Tür mit dem Bullauge, ich an einem der Tische mit den altmodischen Bildschirmen nahe der Tür zum Nazitunnel, als mit einem Mal Licht aufflammt. Grell, sehr grell. Ich zucke heftig zusammen. Unwillkürlich schließe ich die Augen, öffne sie wieder, blinzele, und dann erkenne ich, was geschehen ist. An der Schalttafel steht Alkmene neben der wie zu einer Salzsäule erstarrten Bäckersfrau, Amphitryon an einem der Labortische, er sieht zum Wachtmeister hin, während die Katze auf einem metallenen Apparat vor sich hin döst. Ich tue ein paar Schritte, Stan machte „krü, krü“, vielleicht wegen der Katze, denke ich. Und dann sehe ich ihn, Sosias, also Arno, meinen Zwillingsbruder, mich sehe ich, wie ich auf einem der Hocker am Tisch vor einem Bildschirm sitze und angestrengt etwas auf einer Tastatur tippe. Alkemene setzt sich derweil mit einem Ruck in Bewegung und geht auf und ab, stumm gestikulierend. Die Blicke des Wachtmeisters und der Bäckersfrau folgen ihr, hin und her, her und hin. Ich will sagen, will rufen, das sind doch nur diese Hologramme, ein Automatismus, eine Museumsvorführung, das wissen Sie doch! Keine Angst! Doch ich sage nichts. Der Wachtmeister drückt sich weiterhin an die Wand, während Amphitryon auf einen Schaltpult, den ich bisher nicht bemerkt hatte, zugeht, unschlüssig davor stehenbleibt, ungelenk von einem Bein auf das andere tretend, bis er endlich auf einen roten Alarmknopf drückt, der sich aber nicht bewegt. Auch die Tasten der Tastatur, vor der Sosias sitzt, bewegen sich nicht, weil das einfach alles nur, denke ich wieder, diese verdammten Hologramme sind. Nichts weiter! Der Wachtmeister und die Bäckersfrau aber stehen immer noch starr an der Wand. Ich muss etwas tun, denke ich, durch die Hologramme hindurchgehen, sie entlarven als das, was sie sind: Luftspiegelungen! Ich nähere mich Sosias, mir selbst, und sehe über seine Schulter auf den Bildschirm, auf dem ein Text entsteht. Ich lese:

Manchmal begegnen sich die U-Bahnen genau vor meiner Nase. Die Richtung Alexanderplatz und die nach Pankow. Urplötzlich tauchen sie auf, passieren sich in schnellem Takt, ein Starren, dann das Hochbahnviadukt wieder leer und der Häuser gegenüber blinde Scheiben. Oft warte ich auf nichts anderes als auf diese exakte, mittige Begegnung der Bahnen in meinem kleinen Ausschnitt der Welt. Nie geschah es zwei Mal nacheinander in all der Zeit, nicht passgenau. Ich sehe hinaus. Ich warte. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich bringe nichts zustande, ich schreibe nichts auf von all dem, was mir im Kopf schwirrt. Denn wo ansetzen, frage ich mich, während alle paar Minuten eine Bahn vorbeidonnert, wen denn nun was und vor allem wie erzählen lassen?

Ich schreie auf, während Arno ungerührt weiterschreibt, klar, denke ich, ein Hologramm, aber der Text ist doch meiner, den ich in Berlin geschrieben habe! Mein Text, mein Bericht, mein Roman! Ich taumele ein paar Schritte rückwärts gegen einen der Tische. Wie konnte das sein? Der Wachtmeister und die Bäckersfrau stehen derweil noch immer wie eingefroren, ich muss etwas sagen, den Bann brechen, wir müssen hier raus. „Wir müssen …“, rufe ich, doch weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment steht Arno auf und sieht zur Treppe hin, auch Alkmene und Amphitryon blicken in die Richtung. Selbst die Katze. Ich folge ihrem Blick. Die Tür, denke ich, die Tür mit dem Bullauge, und da öffnet sie sich auch schon mit einem schwappenden Geräusch. Karl und Max treten auf die Plattform. Schwarz gekleidet wie immer, schwarze Vollbärte, schwarzes Haar. Eine Inszenierung, denke ich, eine Museumsaufführung, automatisch erzeugt, wir müssen sie irgendwie ausgelöst haben, eine Lichtschranke, was weiß ich, denke ich, aber da höre ich schon die schweren Schritte oben auf der Plattform. Schritte! Echte Schritte! „Was zum Teufel …“ rufe ich, „kommen Sie, raus hier, schnell!“ Ich drehe mich um und laufe, ohne noch an irgendetwas zu denken, ohne mich umzudrehen, die Taschenlampe anknipsend, in den Nazitunnel hinein. Nur weg hier! Der Rucksack mit dem Vogel hüpft auf meinem Rücken. Warum ich aber den kleinen Tunnel nehme statt den Weg zum Bungalow, weiß ich nicht. Es hätte mein Verderben sein können, eine Falle, aus der ich nicht wieder herausgekommen wäre. Ich laufe also hinein. Das kurze Stück geradeaus, rechts abgebogen, Stufen, ein kurzes, ebenes Stück, dann wieder Stufen, eine Wendeltreppe aus Metall, ich haste hinauf, schließlich über mir eine Metallplatte im Lichtkegel der Taschenlampe. Ich drücke dagegen, mit Schulter und Kopf gegen die Bodenplatte. Sie geht auf! Ich klettere hindurch. Licht! Luft! Ich stehe in einem dieser Pumphäuschen, einem dieser halb verfallenen Häuschen, die ich nie recht beachtet habe. Ich keuche. Was nun? Waren da Geräusche zu hören? Schritte? Der Wachtmeister, die Bäckersfrau? Karl und Max? Ich warte nicht.

Völlig außer Atem schaffe ich es zur Datsche und werfe Rechner, Geldbörse, Schlüssel und Telefon in den Rucksack, schnalle ihn mir vor den Bauch, den Vogelbauer auf den Rücken. Dann schließe ich mein Rennrad auf, ziehe die Klickschuhe an und fahre los. Einfach los. Achtzig Kilometer bis Berlin, denke ich. Bloß weg hier! Kurz überlege ich, zur Försterin zu fahren. Aber nein! Zu gefährlich! An der ersten Tankstelle decke ich mich mit Riegeln und Getränken ein. An einem Gemüsestand in Eberswalde bekomme ich eine Möhre und frisches Wasser für Stan. Ich bin wieder unter Menschen, denke ich. Ich, Robert. Ich, Arno. Beide. Aber noch bin ich nicht in Sicherheit! Weiter geht’s, weg nur von Bad Wutzenwalde, dem See und dem Labor unter ihm, weg aus meinem alten Leben, aus Arnos altem Leben. Mein Telefon werfe ich an einer Kreuzung auf einen Baustellen-LKW, um nicht geortet werden zu können. Ich fahre Umwege, Landstraße um Landstraße, bis in den Abend hinein, schlafe hinter einem Bushaltestellenhäuschen und wache durchfroren mit dem ersten Licht auf. Zu Miriam sollte ich gehen, fällt mir ein. „Nicht wahr, Stan“, sage ich, „zu Miriam, sie hat mir ihre Adresse gegeben.“ „Tüdelü“, macht der Vogel, und dann fahre ich und fahre, immer weiter Richtung Berlin, eine Geschichte im Kopf, die geschrieben sein will, die niemand mir glauben wird, natürlich nicht, die aber doch genau so und nicht anders geschehen ist.

So und nicht anders!

 

Epilog

Den Schreibtisch habe ich ohne mit der Wimper zu zucken ans Fenster gerückt. Gegenüber die Brandmauer. Niemand kann mich sehen. Ein Spatz, abenteuerlich an den groben Backsteinen hängend, fährt mit seinem Schnabel in eine Fuge, erwischt ein Insekt und vertilgt es. Fressen und gefressen werden. Ich bin in Miriams Wohnung. Sie liebt Stan. Mit mir spielt sie nur. Den Vogel aber liebt sie. Niemand weiß, dass ich hier bin, außer Miriam. Ich vertraue ihr keineswegs, auch wenn sie nicht das Geringste zu tun hat mit all dem Geschehen in Bad Wutzenwalde. Sie steht jetzt auf dem Balkon und raucht, das sehe ich, wenn ich mich umdrehe, durch den langen Flur hindurch. Sie ist nervös, sie geht zu einem Casting. Deshalb das kurze, aber hochgeschlossene blaue Kleid, die Strumpfhosen und die weißen Hackenschuhe. Sie schnippt die Zigarette gekonnt in den Hof, marschiert in den Flur, packt ihre Handtasche und verschwindet zur Tür hinaus. Weg ist sie. Ich schreibe meine Geschichte. Kurz darauf klingelt es an der Wohnungstür, als ich eben den letzten Punkt setze. Ich hole tief Luft, stehe auf, gehe zur Tür und sehe durch den Spion. Der Wachtmeister! Wie er leibt und lebt. Überrascht bin ich nicht. „Tüdüh, tüdüh“, kommt es aus der Küche. Ich öffne die Tür. „Herr Sosias“, grüßt der Wachtmeister jovial und legt die Hand an die Mütze. „Wachtmeister“, sage ich knapp und trete zur Seite. „Schöne Grüße sind auszurichten von der Bäckersfrau!“ – „Vielen Dank“, sage ich. Er tritt ein. „Einen Schlehengin, Herr Sosias, Herr Robert, Herr Arno?“ Wir gehen auf den Balkon. Mit den Gläsern in der Hand stehen wir voreinander. „Ich habe“, sage ich, „soeben meinen Bericht abgeschlossen. Er wird Scheerbart / Hologramm heißen.“ – „Gut“, sagt der Wachtmeister und nickt mir zu, „darauf einen Schlehengin!“

 

***

 

„Sie machen mir nichts mehr vor“, fauchte der Dichter.
„Sie machen mir nichts mehr nach“, zischte der Erfinder.
Mit roten Köpfen gingen sie auseinander.
Klabund: Die Zwei

*****

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Fußnoten:

[1] In Robert Walsers Roman Jakob von Gunten von 1909 heißt es ganz zu Beginn: „Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein. Ich werde als alter Mann junge, selbstbewußte, schlecht erzogene Grobiane bedienen müssen, oder ich werde betteln, oder ich werde zugrunde gehen.“

[2] Ernst Bloch prägte den Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dies sei, so schreibt er in einem Aufsatz, ein besonderes Kennzeichen der Moderne, denn auf der einen Seite gäbe es signifikanten Fortschritt, etwa im technischen Bereich, während auf der anderen Seite zugleich Modernitätsverweigerung und Rückwärtsgewandtheit zu konstatieren sei. Hermann Broch übrigens lässt in seinem Roman 1888 – Pasenow oder die Romantik (der erste Roman der Trilogie Die Schlafwandler, 1931/32) den Kaufmann Eduard v. Bertrand über eben diesen Umstand sinnieren: „Joachim [v. Pasenow] und Ruzena schienen ihm Wesen, die nur mit einem kleinen Stück ihres Seins in die Zeit, die sie lebten, in das Alter, das sie besaßen, hineinreichten und das größere Stück war irgendwo anders, vielleicht auf einem andern Stern oder in einer andern Zeit oder auch nur bloß in der Kindheit. Bertrand fiel es auf, daß überhaupt so viele Menschen verschiedener Zeitalter zugleich miteinander lebten, und sogar gleichaltrig waren: deshalb wohl ihrer aller Haltlosigkeit und die Schwierigkeit, sich miteinander rational zu verständigen; merkwürdig nur, daß es trotzdem so etwas wie eine menschliche Gemeinschaft und überzeitliche Verständigung gibt.“ Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Frankfurt am Main 1994 (st 2363). S.90.

[3] Leonard Cohen, Bird on the Wire: Like a bird on the wire / like a drunk in (some old) midnight choir / I have tried in my way to be free / like a worm on the hook / like a knight from some old-fashioned book / I have saved all my ribbons for thee // and if I have been unkind / I hope that you will just let it go by / and if I have been untrue / I hope you know it was never to you // like a baby, stillborn / like a beast with his horn / I have torn everyone who reached out for me / but I swear by this song / and by all that I have done wrong / I will make it all up to thee // I saw a beggar leaning on his wooden crutch / he said to me „you must not ask for so much“ / and the pretty woman leaning in her darkened door / she cried to me „hey, why not ask for more?“ // oh like a bird on the wire / like a drunk in a midnight choir / I have tried in my way to be free.

[4] Das Buch Eduard Rabans, das darf an dieser Stelle verraten werden, trägt den Titel: Nahtoderfahrung als literarisches Phänomen. Studien zu Edgar Allan Poe, Franz Werfel und Samuel Beckett.

[5] Das Nummerschild habe ich mir gemerkt, falls es jemanden interessiert. Es lautet: Y – 119 144.

[6] „Schreiben heißt, das Glück suchen. (…) Ich hatte es verloren, doch da ich die Geheimnisse der Wörter kannte, unterhielt ich zwischen ihm und mir das Band der Schrift.“ George Bataille: Der Kleine.

[7] Sie zeigt eine Fotografie von Arno Schmidt: Wolken über der Heide. Hinten aufgedruckt: „Kopfweiden am Creek, Säbelbüschel über den Wirrköpfen, harrten immer des Startdonners : es klaffte in der Luft !“

[8] Arno hat den Wachtmeister nie mit „Herr Wachtmeister“ angesprochen, sondern immer nur knapp und fast militärisch mit „Wachtmeister“, so dass ich schon glaubte, Punkte gut gemacht zu haben.

[9] Siehe dazu: Marcus Tullius Cicero: Pro Sex. Roscio Amerino / Für Sextus Roscius aus Ameria. Cicero stellt die Frage nach dem Wem nutzt es, wem zum Vorteil? in der besagten Verteidigungsrede für den des Mordes angeklagten Sextus Roscius und erreicht einen Freispruch.

[10] Die wohl ersten Roboter in der Literatur finden sich in Homers Ilias; 18. Gesang ab Zeile 369 (Dreifüße) und ab Zeile 417 (goldene Mägde). Es heißt dort (in der Übersetzung von Roland Hampe): Und zu Hephaistos’ Haus die silberfüßige Thetis / Kam, dem ewigen, strahlenden, sehr bei den Göttern berühmten / Erzenen, welches er selber gebaut mit hinkendem Fuße. / Schwitzend fand sie ihn dort um die Blasebälge herumgehen, / Eifrig am Werk, denn Dreifüße schuf er, zwanzig im ganzen, / Rings um die Wand sie zu stellen im wohlerbauten Gemache. / Goldene Räder befestigte jedem er unten am Boden, / daß sie von selber liefen hinein in die Götter Versammlung, / Um dann wieder nach Haus zu kehren, ein Wunder zu schauen. / Diese waren so weit vollendet, und nur noch die Ohren / Fehlten, die kunstvollen; diese bereitend schlug er die Bänder. (…) Humpelnd ging er zur Türe hinaus, und goldene Mägde / Stützten den Herrn von unten; sie glichen lebendigen Mädchen. / Denn sie haben Verstand im Innern und haben auch Stimme / Und auch die Kraft und lernten von ewigen Göttern die Werke.

[11] Befinde ich mich, um das doch mal zu erwähnen, alleine in der Datsche, so blase ich die Backen auf, murmele vor mich hin, spiele mit meinem Gemächt, gehe lachend rückwärts aufs Klo und so weiter. Doch sobald auch nur ein einziger Mensch auftaucht, benehme ich mich wie ein Idiot, also wie alle anderen. Meist aber schreibe ich unauffällig vor mich hin, doch anstatt einen Bericht für eine Kommission zu verfassen, Sie wissen schon, für die Affen den Affen machen, wähle ich die Romanform, die doch niemand überhaupt mehr ernst zu nehmen in der Lage oder bereit ist. Schon ein Franz Kafka dürfte mit seiner Erzählung Ein Bericht für eine Akademie nichts anderes im Sinn gehabt haben, als dem Bildungsbürger den eigenen Affen durch Augen und Ohren unbemerkt in den Schädel zurückzuverpflanzen. Ich schreibe also, siehe oben, einen Text, den ich als Autor sicherlich nur mit Gewalt werde durchsetzen können gegen Menschen, die von Literatur nicht die geringste Ahnung haben. Und eben diese Ahnungslosigkeit führt, um dies kurz mal anzusprechen, leider ganz offensichtlich dazu, dass in großer Zahl als Roman verkleidete Memoiren, als Roman verkleidete Bekenntnisse zu einer Lebensweise, einer Sport- oder sexuellen Spielart und als Roman verkleidete Berichte über Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, berühmte Forscher, erlittene Krankheiten oder das Älterwerden auf den Markt geraten. Alles nach Schema F und leichtverständlich, kurz gesagt Texte für die perfekt konditionierte, in Unmündigkeit gehaltene klein-, mittel, und großbürgerliche Leserschaft. Will ein Autor (m, w, d) einen von dieser Linie abweichenden Text veröffentlichen, so tauchen bis zu den Zähnen bewaffnete Verlags-Programmleiter auf, die Texte, die nicht flott und fernsehgerecht verfilmbar sind, schon gar nicht mehr in Erwägung ziehen und die nach der täglich auf ihrer Arbeitsstelle (Danke!) verrichteten Arbeit mit ihren SUVs durch die Gegend brettern und wo sie nur können Fußgänger und Zweiradfahrer erschrecken, gefährden und überfahren. So weit die Realität. (Doch ich schreibe mich ja um Kopf und Kragen! Und noch dazu in einer Fußnote!)

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Unterseelabor_Bad Wutzenwalde.

 

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