Norbert W. Schlinkert
Wundrand oder: Eine Kopfsache
Heft I
Fortlaufende Übertragung der am 12.11.2024 begonnenen handschriftlichen Aufzeichnungen in ein Typoskript
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[1] Kennt er die Stirnwunde nur aus Erzählungen, so ist sie doch eine Stirnwunde. Eine eingegrabene Erinnerung in den Kopf. Obgleich der Kopf sich nicht erinnern kann. Oder doch? Die Narbe, die aus der Wunde entstand, steht steil mittig über der Nase. Im Alter ist sie weniger sichtbar als früher, stirnrunzelnd aber noch gut erkennbar. So man es weiß. So man darauf verwiesen wird. Schau mal! Aber ja! Mittig. Eine Wunde war es jedoch nur eine kurze Weile, bald schon trug das Kind eine Narbe. Träger dieser Wunde und dieser Narbe ist ein Kind im Kindergartenalter, das nicht in den Kindergarten hat gehen [2] wollen, der Kinder wegen, die ihm fremd und unheimlich sind. Die Wunde hat das Kind sich selbst zugefügt durch die Kante des in den Türrahmen ragenden Küchenschrankes, des Unterschrankes. Dagegen ist das Kind gelaufen. Sicher hat ein Erwachsener später mit Karacho gesagt, er sei ja mit ganz schön Karacho gegen die Kante gelaufen. Das Kind wurde auf den Armen des Vaters ins Krankenhaus getragen, wo ein Arzt nicht nähte, sondern ein Pflaster aufbrachte, was wiederum den Vater gegen den Arzt und imgrunde gegen alle Ärzte aufbrachte, das Kind aber nicht weiter beeinträchtigte. Sicher hat der Erwachsene, der mit Karacho gesagt hat, ob Mann ob Frau, Onkel oder Tante, mir mit Anerkennung für meine Wildheit über die Haare gestrichen, während mein Vater mit [3] bösen Tieraugen in die Welt starrend sich bereit machte, über die Ärzteschaft als Ganzes zu schimpfen. Herzuziehen. Und wenn dieses Kind einige Jahrzehnte später als erwachsener Mann vor dem Spiegel steht und sich stirnrunzelnd die Stirn ansieht, so entdeckt er nicht nur die Narbe der passgenau zugefügten Wunde, sondern mit der Narbe auch die Harmlosigkeit der Wunde, denn sagt ihm nicht seine Lebenserfahrung, dass die harmlosen Wunden in ihrer Oberflächlichkeit viel eher eine Narbe hinterlassen als tiefere, ernsthafte Wunden, und selbst wenn er mit dieser Erkenntnis falsch läge, so ist ihm heute, als sei das Pflasterauflegen durchaus die einzig richtige Methode gewesen, Endpunkt gewissermaßen einer Fehlerkette, so denkt er heute, von der Planung des Hauses und des Zuschnitts [4] der Räume bis hin zu der Entscheidung, einen eckigen Küchenschrank zu kaufen, der in den Türrahmen ragt. Weil er zu tief ist. Demgegenüber hat das Kind jedes Recht der Welt, mit Karacho durch die zu kleine Wohnung in der Lützowstraße 10 zu sausen, zu jagen, denn ein Kind braucht Auslauf wie ein Hund Auslauf braucht, denn wozu hat es Beine und Augen und Ohren und eine Nase und ein Gehirn, wenn es nicht durch die Welt rennen darf. Und sei es auf die Gefahr hin, gegen eine Spitze Kante zu laufen, die ihm den Schädel spaltet. Und welcher erwachsene Mensch hat denn – bitteschön – keine Narbe, die ihm die Wildheit der Kindheit preist und ins Gedächtnis ruft! [5] Das Pflaster, die Wunde, die Narbe und die felsenfeste Überzeugung des heute Erwachsenen, dass die Mutter gleich dem Arzt auch nur ein Pflaster draufgemacht hätte! Sicher hatte ich Kopfschmerzen, ausgehend von der genau mittig gesetzten Verletzung an genau der Stelle, wo sich das dritte Auge zu befinden hätte, wäre der Mensch mit einem dritten Auge ausgestattet. Ich jedenfalls muss nun in jedem Fall so oder so eine Bedeutung herleiten, und zwar auch, obwohl die Wunde und die Narbe und der kleine Unfall das nicht herzugeben scheinen. [6] Gäbe es dazu keine Familiengeschichte, was hätte ich angesichts der Narbe gedacht? Wäre sie mir, wiewohl am Kopf ständig sichtbar, überhaupt ins Bewusstsein geraten, beziehungsweise darin verblieben? Und ist es nicht bezeichnend, dass ich später davon (wieder?) erfahren habe über den Umweg der Ärzte-Beschimpfung, die mein Vater bei jeder Gelegenheit anstimmte? Dabei bin ich ja nicht entstellt durch die Narbe, ganz im Gegenteil, denn sie ist ja immerhin schön mittig. Aber hat sie Potential für eine literarische Erzählung? Gute Frage. Antwort: eher nicht, wenngleich dies schon ausgeführt ist, irgendwo, der aufmerksame Leser wird’s wissen. Eingewoben in eine Textur ist die Narbe jedenfalls gut vorstellbar, auch in Verbindung mit dem „Dritten Auge“, das ja bekanntlich bei einigen Tieren Helligkeit erkennt, mehr aber auch nicht, da es mit Haut überzogen ist. Aber wie sollte solch ein Narbentext aussehen, welche Form soll er haben? Der Inhalt [7] muss wie gewöhnlich von alleine kommen, Stoff ist ja untergründig genug da und außerdem reicht auch wenig Stoff und wenig Inhalt, um einen guten Text zu schreiben – siehe Melancholie von Jon Fosse, der allerdings mit Reduktion und Wiederholung arbeitet, und zwar im besten Sinne rücksichtslos. Interessant übrigens an „Melancholie“ und vor allem auch Heptalogie ist, dass in beiden Romanen Maler malen, die immer etwas, so heißt es, wegmalen müssen, während ich in nicht wenigen meiner Texte quasi feststehende Bilder erschaffen wollte. Der Roman Der Bildermacher ist ja sogar genau darauf ausgerichtet, nur dass ich (damals) literarisch nicht zu einem guten Ergebniss gekommen bin, was sicher Anfängerfehlern geschuldet ist. Das Gleiche gilt für den (verschollenen) Roman bzw. Kurzroman Einsamkeiten (ca. 1993), der sogar noch schlechter war. Und auch die meisten der gemalten Bilder von damals [8] waren ebenso schlecht wie die geschriebenen. Und heute? Malen kann ich gar nicht mehr, Schreiben aber kann ich. Bilder schreiben – wobei es sicher gut ist, handschriftlich vorzugehen, mit Schwung und Pigmenten. Im Handschriftlichen ist auch dem Umstand in gewisser Hinsicht zu entgehen (es sieht eben nicht aus wie gedruckt), dass eine Veröffentlichung auch eines gelungenen Textes sehr unwahrscheinlich ist. Die drei vollen Archivboxen in der Ecke sprechen Bände, und eine weitere Box sollte kein Problem sein, da ist noch Platz nach oben. Es fehlt aber noch der Anfangsfunke für einen neuen Text, worauf dann Zeit vonnöten ist, regelmäßige Zeiten, in denen ich am Text arbeite. Noch sehe ich das nicht, allerdings entdecke ich eben auf dem Rechner einen kaum zwei Wochen alten, aber schon wieder vergessenen Text: Treffen / Zwei / Sich. Drei Seiten, ein Anfang ähnlich wie bei Kein Mensch scheint ertrunken, Tauge / [9] Nichts und Nebelleben. Also Treffen / Zwei / Sich – ich werde auch diesen Text, das Manuskript, irgendwann abtippen (Heft II). Den Untertitel Eine Wüstenei habe ich aber bereits gestrichen, er wird zum Titel des ersten Abschnitts / Bildes. Unwillkürliche Erinnerung: Ring of Kerry, die freundliche Tramperin, die Schlossanlage, der Garten am Meer. Wobei dieses Erlebnis des Herumwanderns dort wie so Vieles in einer Art Dunst erscheint, denke ich daran, doch das sind meist sogar eher gute Erinnerungen, schöne, die aber auf jeden Fall immer auch zusammenhängen mit dem Jungsein als eines Zustandes. Die einzelnen Bilder oder Bilderfolgen sind eher zufällig. Fotografien von meinen Reisen besitze ich allerdings ebensowenig wie Tagebuchaufzeichnungen (mit einer frühen Ausnahme), so dass allein etwa die damals benutzten Straßenkarten Erinnerungen auslösen, unscharfe und damit nachzuschärfende. Hier und da taucht [10] trotzdem ein Foto auf, etwa eines auf einem Wochenticket für den öffentlichen Nahverkehr in Dublin, Juli 1990, langes lockiges Haar, gesunde Bräune, kesser Schnäuzer, ein 26 Jahre alter Jüngling, allein in Irland unterwegs und sich seiner Welt und Jugend gewiss. Passend zu all diesen Gedanken habe ich heute Jean Amérys Essay Über das Altern zuende gelesen – es gibt, gab, also doch deutschsprachige Autoren, die die hohe Kunst des Essays beherrschen! Ein eindrücklicher Text, untergründig verschmitzt und dabei den Finger auf jede Wunde legend, fast nichts auslassend und dabei immer auch wie beiläufig mit literarischen Elementen arbeitend, etwa indem er die Figur „A“ vielfältig in Erscheinung treten lässt. Interessant auch, wie Améry die Jugendzeit so en passant links liegen lässt, über die halt nicht viel zu sagen ist, außer dass sie eine [11] Offenheit, eine Zukunft in sich trägt, die unermesslich scheint, allerdings so oder so im Altern sich erschöpfen wird oder im Suizid ihr Ende findet – wie dies im (folgenden) Essay Amérys, Hand an sich legen, beschrieben ist, das ich nun folgerichtig lese. Imgrunde geht Améry hier vor wie im ersten Essay, denn er versucht durch nicht, allzu scharf und sezierend zu denken, um das Thema eben nicht vorzeitig abzuhanden wie ein beliebig anderes, dem allein mit Wissen beizukommen wäre. Bei Thema Suizid weiß man eben, das betont A immer wieder, nicht viel und vor allem weiß man das Eigentliche nicht, etwa wo die „Reise“ denn hingeht, wie der Absprung sich ausgestaltet. Gespannt bin ich (lesend befinde ich mich etwa auf S. 13 des Essays), ob Améry die Frage erörtert, wie es zu erklären ist, dass der zum Freitod Entschlossene keine Neugierde mehr verspürt, oder warum er den Hinterbleibenden seinen Suizid zumutet. Interessant auch, dass ich das Essay ausgerechnet im November lese, [12] dem Totenmonat: Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Die Thematik passt jedenfalls sehr gut ins düstere Geschehen, aber nicht etwa, weil Thematik und Stimmung mir eine große Düsternis erzeugten, sondern ganz im Gegenteil, sie erzeugen viel eher hoffnungsfrohe Aussicht auf baldige Wiedererhellung, denn erstens interessiert [13] mich das Thema intellektuell und nicht persönlich, während es zweitens ja ab Januar wieder aufwärts gehen wird mit dem Tageslicht. Plötzlicher Gedanke: wie nur habe ich es all die Jahre geschafft, mir die Umwelt, wo immer möglich, schönzusehen, schönzureden, vielleicht sogar schönzumachen? Schon als Kind habe ich hässliche, lieblose Orte gemieden, als Jugendlicher gelitten unter dem banalen Schulgebäude der Realschule II, auf die ich abgeschoben worden bin, so es also naheliegt anzunehmen, ich hätte in Ablehnung der lieblosen und hässlichen Umwelt wo ich nur konnte das Schöne gesucht. Soweit nachvollziehbar, soweit normal. Die ständige Neugestaltung meines Zimmers spricht sogar für das Moment des Schönmachens, und zwar als eines in dem Sinne, dass es nicht ausreichte, einen schönen Gegenstand zu haben, nein, er musste schön sein im schönen Ganzen. Unbegreiflich war mir [14] immer schon die absolute Abwesenheit ästhetischen (Form-)Willens bei vielen meiner Mitmenschen, denen Praktikabilität höchstes Gut zu sein schien. Nicht mal den Grundsatz „form follows function“ wollte oder konnte man beherzigen. Da half nur Flucht – wobei ich mir schon die Frage stellen muss, ob ich mir nicht all die Jahre vieles schöngeredet habe, um nun, da die Fähigkeit dazu abzunehmen scheint, wieder da zu landen, von wo aus ich losstiefelte, nämlich in der pragmatisch angelegten Realität, der nichs Schönes innewohnt. Aber wer weiß, womöglich ist das Ganze einfach nur eine typische Erscheinung des Älterwerdens, so dass mir nichts anderes mehr übrigbleibt, als so oft wie möglich in meinem Lieblingswald zu spazieren, um so dem Schönen nicht ganz verlustig zu gehen. [15] Nicht schön erscheint mir die Vorstellung, mich dereinst an meine Jugendzeit erinnern zu müssen, während Aktuelles aus dem Blick gerät. Am besten ist es sicher, auf keinen Fall mit der – eigenen – Arbeit aufzuhören, ansonsten der Geist eben Selbstmord begehen könnte, gewissermaßen. Eine Methode wäre sicher auch, Vergangenes literarisch weiterhin zu bearbeiten, wie im Tauge / Nichts und Nebelleben, wenngleich es dann eben auch schön wäre, die Texte zu veröffentlichen, so sie gelungen sind. Ob ich mich ansonsten noch einmal für ein Romanprojekt begeistern kann, ist absolut offen, besonders wegen der notwendigen besonderen Form, die sich nicht theoretisch erarbeiten lässt und sich also nur im Schreibprozess selbst [16] entwickeln kann. Im Moment sehe ich keinerlei Ansatz, auch inhaltlich nicht. In Heft II entwickelt sich immerhin zurzeit (handschriftlich) die Episoden-Erzählung Treffen / Zwei / Sich, deren Einzelerzählungen oft mit „Ich spreche mit Ihnen“ beginnen. Imgrunde spricht immer nur einer, die Reaktion des Anderen, des anderen Ichs, ist stets imaginiert. Anders als in Kein Mensch scheint ertrunken, Tauge / Nichts und Nebelleben soll aber hier nicht die absurde Situation im Vordergrund stehen, sondern der Versuch ernsthafter Konversation, die allerdings keine Entsprechung [17] hat in einem realistischen Erzählstrang, also keinen Sinn macht und zu nichts führt. In Heft III hingegen scheint sich unter dem Titel Das Haus / Die Straße eine Erzählung zu entwickeln, in der der Ich-Erzähler allein in einem alten Haus wohnt, das an einer staubigen Allee liegt. Leichte und unaufgeregte Gedankengänge bilden sich aus aufgrund vieler kleiner Beobachtungen und Annahmen. Aufpassen muss ich, dass ich nichts erkläre, denn auch der Ich-Erzähler hat keine Intention, das zu tun, etwa ob es elektrischen Strom im Haus gibt, von wo und wie er seine Lebensmittel bezieht und so weiter. Einzig richtig ist es, wenn der Erzähler solche Dinge beiläufig erwähnt, so als sei es die normalste Sache der Welt. Am besten also, wenn er gelegentlich „protokollartig“ erwähnt, die Soundso sei dagewesen und habe frisches Gemüse vorbeigebracht. Das dürfte über[18]haupt die beste Erzählweise sein, dass nämlich der Ich-Erzähler bei seiner Binnenerzählung bleibt und damit zugleich Widersprüche konfliktfrei einbaut. Kern seiner Erzählung ist also immer das Alleinsein und -wirtschaften in diesem alten Haus an der staubigen Landstraße. [19] Der Vorteil des Mit-der-Hand-Schreibens, das ich jahrelang ein wenig vernachlässigt habe, ist, dass mir kein Empfänger, sprich: kein Leser vor dem geistigen Augen erscheint. Das Original bleibt original, eine Abschrift in den Rechner hinein wird dann schon eine Übertragung sein – wenn ich es denn überhaupt abtippe, was ich so an Erzähltem zustande bringe. Imgrunde hängt nun alles davon ab, ob ich Nebelleben veröffentlichen kann, ob es in der Parasitenpresse herauskommen wird. Wir werden sehen. Wenn es nicht klappen sollte, wird womöglich der Text Jeder Pfirsich im Herbst 2025 meine letzte kleine Veröffentlichung, und zwar im Jahrbuch Literatur in Westfalen. Der Text sei, so Arnold Maxwill, schon gesetzt, die Druckfahnen kommen im Sommer. Vielleicht aber sollte ich trotz allem versuchen, wieder Mut zu fassen, die Texte, die [20] ich schreibe, auf meiner Website veröffentlichen, sie ausdrucken, in die Archivboxen tun und so weiter. Ob die Boxen dann in einem Archiv landen oder im Feuer, auf dem Müll, in der Spree oder der Havel oder im Meer, wird man sehen (oder auch nicht). Auch ohne danach zu suchen habe ich in den Zeiten des Studiums oft Spuren von (literarischen) Werken gefunden, hinter denen natürlich je ein ganzes Leben steckt, das aber trotzdem der Nachwelt völlig unbekannt ist. Während die Berühmtheiten von den Forschern und teils auch von den Lesern geradezu aufgefressen werden (Kafka natürlich, immer wieder Kafka), liegen die Unbekannten wie mumifizierte Mäuschen in Archiven und stecken resonanzbefreit in Listen. Gelegentlich werden Texte wieder ausgegraben, Emmy Hennings etwa oder Sophie Mereau, Kontexte werden erarbeitet und Lebensgeschichten erschlossen. Das allermeiste aber wird eingelagert, Veröffentlichtes in der Nationalbibliothek oder in Marbach, anderes kommt vielleicht in ein Archiv, also in Kisten [21] und Boxen. Dort bleibt es bis zum jüngsten Tag, und man weiß garnicht so recht, ob das nicht sogar besser ist als eine Verwendung und (Fehl-)Deutung in der Zukunft. So die Situation. Wie daraus nun, so die Frage, Motivation schöpfen zum Weiterschreiben? Das ist die Frage! Aber kann man Motivation überhaupt schöpfen? Und wenn ja womit und woraus? Die Antwort allerdings ist klar, sie hat zu tun mit dem Trieb zur Schöpfung (aus dem Nichts, wie es im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus heißt), dem Trieb zum Kunsttreiben. Der Paradefall der intrinsischen Motivation, die in jeder Zeit ihre Opfer fordert, wenn man das mal so sagen will. [Naja. Lange Rede, kurzer Sinn.] Das Handschriftliche (Heft II und III) am (vorläufigen) Ende zusammenfassen unter dem Titel Trockene Texte? Immer im Wechsel, einmal ein Absatz aus II, dann aus III u.s.w.? [22] Soeben zufällig gelesen, auf Wikipedia, dass Peter Handke einst für den Vorlass seiner Notizbücher, Handschriften und Materialien immense Summen eingestrichen hat – so zeigt sich die vielbeschworene Schere, die immer weiter auseinandergeht und zwischen Arm und Reich eine immer größere Distanz schafft, auch im Bereich des Kulturellen / der Kunst. Aber muss die Schere, einmal vollends geöffnet, nicht dereinst auch wieder zusammenfahren? Um was zu zerschneiden? Das schon Zerschnittene nochmals? Oder das auch oft beschworene Tischtuch? Immerhin ist so die (schlecht oder unbezahlte) Arbeit für Literaturwissenschaftler und Germanisten auf Jahrzehnte gesichert – ist ja auch was wert. Der Titel für die Texte aus Heft II und III könnte auch lauten Trockene Texte / Abgelenkte Geschichten oder so ähnlich, oder auch Abgelängte im Sinne von verkürzt. Mal sehen, erst mal weiterschreiben. In jedem [23] Fall hat es keinen Sinn, es noch einmal mit herkömmlichen Langtexten zu veruchen, es gibt die paar misslungenen und die beiden gelungenen, Ankerlichten und Scheerbart / Hologramm, damit soll es gut sein, selbst wenn die beiden besagten Romane es nur in die Archivbox geschafft haben beziehungsweise auf meine Website. Ich bin geneigt zu sagen, und zwar dauernd: jetzt, da es vorbei ist … Aber was, was ist vorbei? Die Kneipe, die ich gelegentlich besuche, ist frequentiert von alten Männern und mittelalten Frauen, eine ästhetische Katastrophe, der nicht zu entgehen ist. Sehe ich mir meine Texte an, die nicht veröffentlichten, so spüre ich, wie dringend ich sie vernichten wollen würde, obwohl Jahre an Arbeit darin stecken. Sehe ich mir mein Leben an … ach lassen wir das, ist doch alles in allem deutlich mehr gut als schlecht. Also wirklich! Zu jammern kein Grund! [24] Jetzt also tatsächlich meinen Roman Scheerbart / Hologramm als Online-Roman auf meine Website gestellt, also quasi, wie auch Ankerlichten, durch die Hintertür veröffentlicht. Resonanz wird’s nicht geben, denke ich, obwohl: zu Ankerlichten gab es eine Kommentarstrecke (bei Falschannahmen, Hinzufügungen und am Ende immer der selbe Mist [7. April 2023]). Natürlich ist eine Veröffentlichung, die von Scheerbart / Hologramm ebenso wie die von Ankerlichten, auf der eigenen Website keine wirkliche solche, wenn auch die Anzahl der Leser betreffend eine durchaus höhere Zahl anzunehmen ist als im Falle einer Veröffentlichung im Kleinstverlag. Behaupte ich mal so. [25] Imgrunde ist es ganz gleich, was ich nun literarisch noch schreibe (zustande bringe), ich bin da ganz frei, denn veröffentlichen werde ich es nicht (können), so steht zu befürchten. Abtippen und ausdrucken kann ich es, ich kann es in eine Archivbox hineintun, ich kann es auf meine Website setzen – und das war es auch schon. Dass etwa von Peter Handke jeder Schmierzettel und jede Notiz zwischen zwei Buchdeckel gepackt wird, ist allerdings nur folgerichtig, denn das bürgerliche Lesepublikum hat Bedarf und Geld und die Verlage benötigen dringend letzteres. Dass Handke allerdings 500.000 € für Handschriften und Materialien aus zwei Jahrzehnten bekam [2007], mutet ein wenig obszön an, und auch danach hat er in diesem Bereich, ohne dass genaue Beträge bekannt sind, ordentlich abgesahnt. Nun ja, Handke hatte von Anfang an die Chuzpe, sich radikal zu vermarkten, ganz ähnlich wie Thomas Bernhard; dass die sich gegenseitig nicht leiden konnten, passt da gut ins Bild der Männerliteratur dieser Zeit Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts. Ein [26] paar wenige gute Bücher immerhin werden bleiben, von Bernhard die Autobiographischen Schriften und Auslöschung, von Handke Mein Jahr in der Niemandsbucht. Wie das eben so ist. Das Bleiben der Schriften – okay, dann bleiben sie meinetwegen, wenngleich die Frage erlaubt sein muss: Wo? Wo bleiben sie? Die Archivkeller sind tief. Texte, die nicht in den Köpfen bleiben, bleiben in den Kellern. Besser als nix, aber nicht schön. [27] Warum liest ein Mensch? Konkreter: warum sollte jemand meine Texte lesen? Neugierde / Suche nach Was, nach Wem / Lust / Anregung / Wissensdurst? Wenn ich versuche, einen gewissen Abstand zu finden zu meinen Texten, ein eigentlich unmögliches Unterfangen, so finde ich in vielen der eher kürzeren Texte einen Drang, einen Drall zum Absurden, ein bewusstes Hinstellen von Gewissheiten als Zweifelhaftigkeiten, als Fragwürdigkeiten. Stringent realistisch ist imgrunde nur Ankerlichten, alles andere ist von einer gewissen Zwielichtigkeit durchdrungen oder von wechselnder Beleuchtung geprägt, wie auch immer. [28] Zwielicht ist immer nur eine kleine Weile als übersättigtes Licht in der Luft, ist besonders im Wald fast mit Händen greifbar, erzeugt (mir) ein Flimmern vor den Augen, einen Druck um die Augen herum und eine Art Einkapselung des Kehlkopfes – so würde ich es kurz beschreiben wollen. Die matte Dunkelheit beendet schließlich jedes Zwielicht, nur ein Summen bleibt zurück, das langsam ausklingt und schließlich vergessen ist, so wie das Zwielicht selbst. Was in der Musik möglich ist, nämlich mit Tönen überpersönliche Welten zu kreieren, ist in der Literatur nahezu unmöglich; zu arbeiten aber ist an diesem Nahezu immer. In der Musik ist es der Klang, in der Literatur der Nachklang, der wirkt. Seitdem ich in einem Interview gelesen habe, dass Jon Fosse die Musik Arvo Pärts hört, füge ich die Lektüre der Texte Fosses [29] und das Hören der Musik Arvo Pärts in einen einzigen Resonanzraum ein, was klanglich und auch inhaltlich Sinn macht, wobei natürlich nicht das eine als das Gegenstück des anderen erscheint – vielmehr ergibt sich eine Symbiose, weil beiden Werken religiöse Narrative und religiöse Texte und religiöse „Bodenständigkeiten“ zugrunde liegen, ein Runterbrechen auf das Menschliche in jeder Hinsicht, ein Bestehen auch auf dem Einfachen, dem Direkten, dem Nichtintellektuellen. Geburt, Liebe, Tod. Womöglich sollte ich in meinem Schreiben nunmehr auch eben diese, nun ja, Themen einfließen lassen, so wie ich zuvor all die Jahre die absurden Momente des Seins hab wirken lassen, inklusive Tod selbstverständlich, wenngleich ich auch in dem neuen Text Treffen / Zwei / Sich dem Absurden durchaus Raum gebe. Ich kann nicht anders, denke ich, ich muss über das Absurde zum Poetischen gelangen, das In-sich-Poetische ist mir versperrt, versperrt sich mir, wie auch immer. Jon Fosse kommt oft über [30] das Alltägliche und das sich daraus schöpfende Leiden zum Poetischen, zu poetischen Momenten, bei mir ist es eben das Absurde, das Nicht- oder Falschverstehen der Welt, des Lebens, während sich die Welt und das Leben weiterbewegt, das Ich, jedes Ich mitreißend, es mitnehmend, mal grob, mal sanft. Ja: nicht nur will ich mit meinen Texten Bilder „malen“, es sollen poetische Momente erschaffen sein (schreibe ich, während wir, Ute und ich, im Bienenwagen sitzen, der Ofen vor sich hin bollert und da draußen ein Schneesturm sich zu entwickeln scheint). Schönheit soll entstehen – etwa so, wie in dem Film American Beauty die im Wind tanzende, wirbelnde Tüte Schönheit erschafft oder das Schlussbild des im Tode lächelnden Lester Burnham inmitten seines aus dem Kopf austretenden Blutes. Nicht etwa, dass Schönheit immer geschaffen sein muss, aber sie muss erscheinen innerhalb eines Prozesses, der unerkennbar sein kann. Letzteres [31] gilt besonders für das (mein) Schreiben, denn oft ist der Text nunmal schlauer als sein Autor, beziehungsweise diesem voraus. Beim Schreiben von Ankerlichten ist mir das nicht passiert, weil das, wie Daniel Ketteler einmal sagte, ein Roman ist (wäre) für den großen Markt, für einen Publikumsverlag und damit letztlich für das Publikum, während alle anderen Texte diese poetischen Momente aus sich heraus, aus dem Absurden heraus haben (wieder mit der Ausnahme eines weiteren Romans, nämlich Scheerbart / Hologramm, ein Roman, für den allerdings kein Publikum existiert). Ob allerdings der Leser bei Stadt, Angst, Schweigen das Ende eher als poetisch empfindet oder doch als eine Absurdität? Die Todesangst des einen Menschen erlöst sich ja im Tod des anderen Menschen und tritt gleichsam stellvertretend als Tod in das Leben ein und relativiert es – so könnte man meinen. Die Fortsetzung der Geschichte aber findet im Kopf des Lesers statt, allein dort, wobei sich [32] mir die Frage stellt, ob ich selbst als Leser meiner Geschichte etwa in der Art Leser bin, wie ein Leser Leser ist, der einen Text zum zweiten Mal liest und damit das Ende schon kennt. Ist in solchem Falle des Mehrmalslesens nicht jeder Leser auch Mitautor? So wie ich als Leser meiner eigenen Geschichte in höherem Maße Leser werden kann als ich Autor bin? Ich selbst entferne Bücher, meist Romane, aus meiner Bibliothek, wenn ich weiß, dass ich das Buch nicht ein zweites Mal lesen kann. So bleiben von manchen Autoren nur wenige Bücher übrig, von denen ich nicht selten fast alle Bücher besaß, Hermann Hesse etwa oder Thomas Bernhard oder Fjodor Dostojewskij usw. Dahingegen ich die drei berühmten Romane Wolfgang Koeppens, Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, schon drei Mal gelesen habe und ein jedes Mal mit, wie man so sagt, Gewinn. Wahrscheinlich ist es die jeweilige Form eines Werkes, die ein Wiederlesen [33] befördert, erheischt, denn den Inhalt vergisst man schließlich weitgehend – zumindest geht das mir so. Kaufe ich also neue Bücher, muss ich immer auch die Bibliothek durchforsten, ob etwas wegkann. Verkauft oder verschenkt werden kann. Ein Buch, so Jean Paul, das es nicht wert ist, zwei Mal gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, ein Mal gelesen zu werden. Beherzigt man diese Einsicht, verdichtet sich eine Bibliothek immerzu in ihrer Qualität und wird so auch immer lebendiger und strahlt immer mehr etwas aus: Leselust, Gedankentiefe, Lebenslust und Lebensleid, ja imgrunde wird eine solche Bibliothek zu einem Wesen, mit dem Austausch zu pflegen anregend und beglückend ist. Wie eindimensional muss ein Leben ohne Bücher und ohne Bibliothek sein, sage ich, während andere sich ein Leben ohne ausgedehnte Reisen nicht vorstellen wollen oder eines ohne Kinder, ohne eigene Firma und so weiter. Bei mir sind es eben die Bücher und die (zumeist) erzählenden Texte, die mich mit dem „Wesen der Welt“ [34] verbinden, auf spezielle und nicht immer zur Welt passende Weise zwar, dafür aber auf Dauer und ja auch lange schon, seit rund 45 Jahren nämlich, und dies eben auch von Anfang an als Schreibender, auch wenn die ersten guten, „brauchbaren“ Geschichten erst Ende der 80er Jahre entstanden und auch vieles nicht gelungen ist. Ein Teil des Gelungenen ist nun ja immerhin in meine Bibliothek eingepflegt, anderes befindet sich auf meiner Website und in den kürzlich angelegten Archivboxen, auf dass es überdauere oder eben auch nicht. Während nämlich Alban (Nikolai Herbst) viel Wert darauf legt, dass die Nachwelt seine teils neu herausgegebenen, überarbeiteten Texte entdeckt und liest, will sich bei mir diese „Hoffnung“ nicht einstellen – ich ordne meine Texte, drucke sie aus, dann gehts in die Box, und mehr kann ich nicht tun und mehr ist dazu auch nicht zu sagen. Punktum. Womöglich hat es viel zu tun mit meiner eigenen Schreibe, wenn ich in Texten immer intensiver Abfolgen vielschichtiger Bilder sehe. Mir ist, als sei das früher nicht so gewesen, vor zwanzig oder dreißig [35] Jahren. Bilderabfolgen entstehen, vielfach verzwickt, verzweigt und verschachtelt, so jetzt beim Lesen von S. Corinna Billes Dunkle Wälder, aus deren gekonnt einfacher Darstellung mir Welten entstehen, die ich in jungen Jahren hätte suchen müssen, um sie zu finden. Nun springen sie nur so herbei, ganz ausgefüllt mit Gesichtsausdrücken, Geräuschen, Gerüchen, Wind, Hitze, Kälte, mit Worten, halben und ganzen Sätzen und den Gemütszuständen aller Beteiligten. Aus dem Sich-Vorstellen von Etwas, von Abläufen, entsteht nun Vielschichtigeres, gleichsam nicht mehr grob Gemaltes, sondern in Lasurtechnik ausgeführtes. Das Gelesene wird mir somit reicher – ein weiterer Grund, gute Texte nochmals zu lesen.