Ankerlichten – oder: Des Herrn Daubenfußes Rache

Norbert W. Schlinkert

ANKERLICHTEN

oder:

DES HERRN DAUBENFUßES RACHE

Roman

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ERSTES BUCH

SCHWERTE

Es ist sommerlich warm am 24. Oktober des Jahres 1687. Schönwetterwolken ziehen gemächlich ihre Bahn, die Sonne steht hell und strahlend am Himmel, während die Bürger der Stadt Schwerte an der Ruhr sich auf dem Markt vor der Stadtkirche St. Viktor um die wenigen Stände mit Gemüse und grobgewebten Stoffen drängeln. Inmitten des Gewühls hängt der kleine Heinrich mit der einen Hand an der seiner Schwester Emilia und mit der anderen am Rockzipfel der Mutter, die die rechte Hand bettelnd den Menschen entgegenstreckt. Daumen und Zeigefinger stehen steif von der Handfläche ab. Drei Finger fehlen. Warum das so ist, weiß Heinrich nicht. Seine Schwester Emilia sagt, es sei Gottes Wille gewesen. Mehr sagt sie nicht.

Emilia hatte in der offenen Halle des Rathauses gestanden und der Bestrafung der Mutter zugesehen, ihren kleinen Bruder in ein Tuch gehüllt bei sich tragend. Nur der dritte Prediger von St. Viktor, ein kleiner, schmalschulteriger Mann mit melancholischen Gesichtszügen und ganz glatten, schwarzen Haaren, gesellte sich zu ihr und sagte ein paar tröstende Worte. Die Mutter hatte mehrere Tage nacheinander stundenlang am Pranger stehen müssen, weil sie zum zweiten Male unsittlich gehandelt und mit einem französischen Soldaten Unzucht getrieben habe. So jedenfalls lautete die Anklage gegen die Magd Dorothea Holzkötter. Als die Heere Ludwig des XIV. im Jahre 1673 die kleine, nicht einmal tausend Einwohner zählende Stadt brandschatzten, war es ihr noch gelungen, eine Notzucht glaubwürdig zu machen, denn dass die papistischen Teufel zu allem fähig sind, war ausgemachte Sache. Einer der Schichtmeister nahm sie sogar mitsamt ihrer kleinen Tochter als Magd in sein Haus. Als dann jedoch wenige Jahre später die Franzosen wiederum plündernd in Schwerte einfielen, wurde Dorothea erneut schwanger. Sie konnte zwar sowohl die Schwangerschaft als auch die Geburt verheimlichen, doch als Ende des Jahres 1680 der Große Komet am Himmel stand, war sie zum ersten Mal mit dem nur wenige Wochen alten Kind auf dem Markt gesehen worden, kurz vor dem Weihnachtsfest. Dort versetzte ihr die strenggläubige Jungfer Trine Wullenweber statt eines weihnachtlichen Almosens eine Ohrfeige und zeigte sie überdies noch bei der Obrigkeit an. Am selben Tag ertappte man Dorothea bei dem Versuch, ein Brot zu stehlen. Das machte die Sache nicht besser. So nahm der Prozess seinen Lauf, begleitet von Gerüchten und Mutmaßungen aller Art. Ohne den Kometen, so sagten manche, der auch tagsüber deutlich am Himmel zu sehen war und allerlei Ängste auslöste, hätte jene Jungfer womöglich still gebetet statt offen geohrfeigt. Nach einer peinlichen Befragung, die wegen des Gesundheitszustandes Dorotheas vorzeitig abgebrochen wurde, kam es am nächsten Tag zu einem umfassenden Geständnis, denn in ihrer Not folgte Dorothea den Einflüsterungen ihres Peinigers und gestand die zweimalige Unzucht. Der Richtspruch des Schwerter Richters erging im nächsten Frühjahr. Als dann das Urteil kurz darauf höheren Ortes bestätigt worden war, stand der Bestrafung nichts mehr im Wege. Die Verbannung aber, die Dorotheas sicheren Tod bedeutet hätte, wurde ausgesetzt. Der zweite Prediger von St. Viktor, ein massiver, schon älterer und wortgewaltiger Mann, hatte dies erwirkt, so dass es beim Abschneiden dreier Finger der rechten Hand bleiben würde. Dorotheas weinend gestammelte Klage, sie könne nie wieder zu Gott beten, wenn drei Finger fehlten, tat er ab.

„Dann bete, so lange du noch mit gefalteten Händen zu beten vermagst und fortan stille“, sagte er salbungsvoll und verließ die kalte Zelle, um sich zum Mittagstisch zu begeben. Das Urteil bestimmte zudem, Dorothea dürfe sich in Zukunft nur während der Tagesstunden in der Stadt aufhalten, nächtigen aber müsse sie außerhalb der Stadtmauern.

So stand Dorothea an den Tagen vor dem Vollzug der Strafe am Pranger, aufrecht gehalten allein durch Holz und Strick. Das Mitleid der Schwerter, die dieser Tage gerne einen kleinen Umweg über den Markt machten, hielt sich in Grenzen. Die Schichtmeister und die Prediger von St. Viktor konnten aber verhindern, dass die arme Frau noch zusätzlich gequält wurde. Viele hätten es gerne gesehen, wenn ihr die ganze Hand abgeschlagen worden wäre, so wie dies bei Diebstahl gemeinhin üblich ist. Auch der bestellte Abdecker und Scharfrichter Vogt schlug lieber eine ganze Hand ab als nur ein paar Fingerchen. Am liebsten waren ihm Köpfe, eine Vorliebe, die er an all seine Söhne vererbte. In solch einem leider seltenen Falle wäre es zum Kreinberg gegangen, nördlich der Stadt, wo es eine ansehnliche und weitbekannte Richtstätte gab mit einem massiven Holzblock und einem schönen Galgen.

Obwohl es also nur um Finger und, wie üblich, Ohren gehen sollte, war Vogt an jenem Tag höchstselbst in der Stadt erschienen. Ein vierschrötiger Mann mit schwerem Gang, dichtem dunkelblonden Haar und gestutztem Vollbart und ganz in Leder gekleidet. Er hauste mit seiner Familie auf einem Gehöft südlich der Ruhr, mitten im zum Sauerland aufsteigenden Wald. Der Ort war schwer zu erreichen und die Bauern fluchten, wenn sie, was vorkam, die Kadaver von Rindern und Pferden zu ihm zu bringen hatten. Auch die Seifen- und Leimsieder, die dort Knochenmehl und verfaultes Fleisch und Häute aufkauften, beklagten sich bitter, wenn sie den Weg zu machen hatten. Denn Vogt lieferte nicht. Er wartete. Diejenigen aber, die nicht ihres Gewerbes wegen in diesen Wald mussten, mieden die Umgebung des Gehöfts wie die Pest.

Vogt wurde begleitet von seinem Jüngsten, der ebenfalls ganz in Leder gekleidet war und etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Er war zum ersten Mal überhaupt in der Stadt und sollte nun einmal sehen, wie der Vater sein Handwerk auszuüben pflegte. Die anderen Söhne, die alle gerne zur Tat geschritten wären, waren maulend auf dem Hof geblieben. Schwungvoll betrat Vogt nun also um die Mittagsstunde, nachdem in Anwesenheit des Schwerter Richters, dem hochverehrten Johann Christoph Gräving, das Urteil verlesen worden war, das Podest. Alles reckte die Hälse, um nichts zu verpassen. Zwei junge Mädchen fielen in Ohnmacht, bevor auch nur das Werkzeug präsentiert war. Man ließ sie liegen, bis sie sich von selbst wieder aufrappelten. Die Axt, da jedenfalls konnte man Vogt keinen Vorwurf machen, war offensichtlich scharf, und auch sein reichverziertes Messer war geeignet, Haare zu spalten. Vogt wusste natürlich, wie schnell sich die Wut des Volkes gegen ihn richten würde, wenn er es versäumte, sauber zu arbeiten. Das bläute er auch seinen Söhnen ein.

Er sah seinem Sohn tief in die Augen, bevor er zu seiner ersten Amtshandlung schritt und der Magd Dorothea Holzkötter mit einem schnellen Schnitt das linke Ohr abtrennte. Die Verurteilte gab einen erstickten, langgezogenen Laut von sich, der bald zu einem hohen, kaum vernehmbaren Wimmern sich verflüchtigte, das auch nicht wieder anschwoll, als der zweite Schnitt getan war. Alles hielt den Atem an. Vogt nahm zwei Nägel aus der Tasche seines Mantels und nagelte die Ohrmuscheln mit der stumpfen Seite der Axt an das Holz des Prangers. Dann packte des Scharfrichters Sohn, der mit zwei großen Schritten zur Stelle war, ohne weitere Umstände die Frau, zog die instinktiv Widerstrebende nach vorn zu dem Holzklotz, presste den rechten Unterarm der auf die Knie sinkenden Magd mit beiden Händen auf den Klotz, ergriff mit seiner Linken Zeigefinger und Daumen der Hand, zog sie, tagelang hatten Vater und Sohn das geübt, über die Kante, worauf sofort ein einziger gezielter Schlag folgte, mit großer Präzision ausgeführt, der die drei Finger sauber abtrennte. Dorothea schrie auf, sonst aber Totenstille. Eben deswegen schlug Vogt lieber Köpfe ab, dann nämlich entlud sich all die Anspannung mit einem allgemeinen Aufschrei. Die abgehackten Finger warf Vogt den Hunden vor, die die Fingerchen indes nicht bekamen, denn ein ganz Gewiefter, ein noch junger Kaufmann namens Thorbecke, der neuerdings eine Familie zu ernähren hatte, war hinter das Podest geschlichen und sprang nun mit einem Satz auf die drei Finger zu und beförderte sie mir nichts dir nichts in seine Tasche. Die Köter verjagte er mit Tritten. Thorbecke kannte den Aberglauben seiner Zeitgenossen, und nachdem er einige Tage Gerüchte gestreut hatte, verkaufte er die Finger zu einem guten Preis als Talisman an zwei Kaufleute aus Dortmund und an einen Brauereibesitzer aus Unna.

Langsam zerstreute sich die Menge. Einige sprachen überlaut von Gottes Gerechtigkeit, während andere betroffen schwiegen, denn wenn sie sich solch ein Spektakel auch nicht entgehen ließen, am Ende bereuten sie es dann doch. Manch einer brachte die Bilder nie wieder aus seinem Gemüt, nicht die todgeweihte Frau und auch nicht den Scharfrichter, den sie im Traum wiedersahen, ein starker und schwerer Mann mit einer blitzscharfen Axt in den Händen, die nur darauf wartete, niederzusausen.

Der Früh- und Nachmittagsprediger von St. Viktor, als dritter Prediger mehr schlecht als recht entlohnt, ließ indes die in Ohnmacht gesunkene Dorothea zu sich tragen und auf eigene Kosten durch den Medicus versorgen. Zwei Wochen später brachte er Dorothea auf Druck der Obrigkeit, die die Frau außerhalb der Stadtmauern sehen wollte, mit einem Karren, den er mit Hilfe eines Tagelöhners zog, zu einem erst seit kurzem verlassenen Gehöft im Ardeygebirge zwischen Schwerte und Dortmund, fast eine halbe Meile entfernt. Emilia, die inzwischen mit ihrem Bruder wer weiß wo gewesen war, trottete müde hinterher.

Es musste ihnen allen wie ein Wunder dünken, dass die arme Frau die Torturen überlebt hatte und sogar wieder zu Kräften kam. Ihr Verstand allerdings hatte Schaden genommen. Oft saß sie stundenlang vor ihrer Hütte und sah mit blöden Augen ins Nichts, während Emilia im Wald und auf den Feldern Nahrung suchte. Einige Male lief Dorothea den weiten Weg nach Dortmund und bettelte bei Wind und Wetter vor dem Neutor, die verstümmelte Hand fordernd jedem Reisenden hinstreckend. Am 24. Oktober des Jahres 1687 aber ging sie mit den Kindern nach Schwerte, das näher lag. Der im Schatten des Hüsingtores sitzende Torwächter, der zusammen mit dem Schreiber ein Bier trank und Gott einen guten Mann sein ließ, erlaubte ihnen ohne weiteres, die Stadt zu betreten.

„Geh nur“, sagte er und spuckte ihr vor die Füße, „ist Markt heute, ist ohnehin viel falsches Volk da.“

Dann spuckte er noch einmal vielsagend in Richtung der neu erbauten katholischen Marienkapelle, nahm eine tiefen Schluck aus seiner Kanne und rülpste in die selbe Richtung. Damit hatte er seiner Ansicht nach deutlich genug kundgetan, dass er ein aufrechter und rechtgläubiger Lutheraner ist, und selbst wenn niemand es gesehen haben sollte, dachte er, Gott sieht ja doch alles.

Während Dorothea mit den beiden Kindern bettelnd über den Markt geht, ohne zunächst auch nur das kleinste Almosen zu bekommen, geraten in der offenen, ebenerdigen Halle des Rathauses und vor der unweit gelegenen Stadtkirche St. Viktor Einheimische und einige Fremde heftig in Streit. Zu Fuß waren diese, insgesamt etwa zwei Dutzend Männer, am vorherigen Abend hinter einem mit zwei kräftigen Pferden bespannten Wagen in die Stadt eingezogen und hatten bei den Reformierten Quartier gesucht und gefunden. Vereint waren sie dann nach kurzer Nachtruhe in den frühmorgendlichen Gottesdienst der Lutheraner gelaufen und hatten mit Zwischenrufen gestört, auf die der dritte Prediger, wenngleich tiefrot anlaufend, nur mit Schweigen reagierte, worauf die Fremden wieder abzogen. Einige Bürger, die sich aus religiösen Streitigkeiten wohlweislich heraushielten, wunderten sich nun, Stunden später die Szenerie beobachtend, dass noch nicht die Fäuste flogen. Unter den Neugierigen standen auch die beiden jüdischen Familienväter der Stadt, die nur den Kopf schüttelten und sich ihren Teil dachten. Auch Dorothea wurde neugierig, was denn da los sei, wer da so laut spreche, und drängelte sich bis vorne zum Rathaus durch. Wäre sie in der Lage gewesen, die Reden, die an ihre verstümmelten Ohren drangen, nicht nur zu hören, sondern auch zu deuten, so hätte sie mitbekommen, dass es sich um durchreisende Breslauer Calvinisten handelte, die zu Studien bei ihren Glaubensbrüdern in Holland geweilt hatten und nun auf der Rückreise nach Schlesien ihren Glauben in die Städte trugen. Das aber begriff sie überhaupt nicht und hielt die Fremden, trotz des bescheidenen Habits, für reiche Kaufleute.

Dorothea schlich weiter und entdeckte den dritten Prediger vor der offen stehenden Kirchtür, durch die hindurch man die neue Kanzel und den Antwerpener Flügelaltar sehen konnte. Der Prediger hatte, breitbeinig den Weg in die Kirche sperrend, ungeduldig dem lauten Gerede eines der Calvinisten zugehört und erwiderte nun mit gepresster Stimme, die Kinder Gottes seien dazu bestimmt, Gutes zu tun, ansonsten das Wirken Jesu keinen Sinn gehabt hätte.

„Nun, was habt ihr dazu zu sagen, Herr Calvinist!“, setzte er noch mit zusammengekniffenen Äuglein hinzu.

„Tut nur“, rief der Calvinist mit kräftiger Stimme, Dorothea gewahr werdend, „eure guten Taten. Gott hat sein gerechtes Urteil über Euch bereits gefällt. Ihr seid in Eurer Verblendung nicht weniger schuldig als dieses Weib!“

Er blickte Dorothea streng an und wies mit dem Finger auf sie. Schnell tat diese daraufhin einen Schritt auf den Fremden zu und hielt ihm die verstümmelte Hand entgegen, und noch ehe der dritte Prediger eingreifen konnte, nahm der Calvinist die Bettelnde zur Seite und zog sie und den kleinen Heinrich, der den Rockzipfel nicht loslassen wollte, in die Gasse zwischen Kirche und Rathaus. Dorothea hielt noch immer ihre Hand ausgestreckt, doch der seltsame Mensch wollte nicht reagieren. Endlich aber packte er das Handgelenk der ehrlosen Frau mit seiner linken, griff mit der rechten in sein Kleid und beförderte einige Münzen hervor. Dann drückte er ihr laut zählend neun Geldstücke in die Handfläche. Der dritte Prediger sah sofort, dass es nur neun Deut waren, die der armen Frau nicht viel weiterhelfen würden. Auch der Calvinist wusste das natürlich, nahm aber trotzdem eine gewichtige Pose ein und schleuderte dem Lutheraner sein „Sola gratia, nur durch die Gnade Gottes wird der Mensch errettet werden“ entgegen, so als sei dies einem Protestanten, gleich welcher Couleur, gar so fremd. Kaum hatte er das ausgerufen, drehte er sich, Dorothea stehenlassend, auf dem Absatz um und eilte in Richtung Brücktor, gefolgt von seinen Glaubensbrüdern, die sich von ihren Gegnern ohne ein weiteres Wort abwandten. Dorothea starrte derweil auf die neun Münzen in ihrer Handfläche. Wirr und seltsam lächelnd blickte sie umher, doch niemand achtete auf sie, nur der kleine Heinrich blickte sie offenen Mundes von unten an. Der dritte Prediger nahm derweil den seltsamen Abgang innerlich fluchend als Kapitulation seines Gegners. Noch vor Tagesanbruch verließen die Calvinisten, argwöhnisch beobachtet von zwei Ratsherren, die die Abreise zu beglaubigen hatten, die Stadt durch das Ostentor und zogen mit ihrem Wagen in die Berge hinein Richtung Iserlohn.

Am frühen Morgen, nur Stunden nach der Abreise der Breslauer, fand der Kaufmann Thorbecke, der oft zeitig auf den Beinen war, um ein paar Minuten des Tages für sich zu haben, den dritten Prediger ohne Bewusstsein, stark blutend und mit zerschlagenen Knochen, auf dem Friedhof hinter der Kirche. Die Angelegenheit sorgte für einiges Aufsehen. Die Schichtmeister trafen sich umgehend und berieten, was zu tun sei. Die Tore wurden bis zum Abend verschlossen gehalten, denn man suchte den Täter auch unter den Einheimischen, selbst wenn viele die Breslauer Calvinisten verdächtigten. Anhaltspunkte fanden sich jedoch nicht, niemand hatte etwas bemerkt. Der Prediger selbst konnte sich an nichts erinnern.

SIEBENHUFEN

Johann Bernd der Ältere, Kohlgärtner seines Zeichens, legt das linke Ohr an die Tür seines kleinen armseligen Hauses in Siebenhufen, einer der Vorstädte Breslaus. Er ist eben zurück aus der Stadt an diesem letzten Märztag des Jahres 1676. Über Nacht hatte es noch einmal strengen Frost gegeben, als wolle der Winter einen letzten Gruß senden. So steht er da und friert wie ein Schneider, betrunken wie er ist. Die Hebamme musste wohl, überlegte er, seiner Frau inzwischen Bier oder Branntwein eingeflößt haben, denn Elisabeth, die alle Elisa nennen, fluchte nur noch leise vor sich hin. Manchmal klapperte etwas dort drinnen, ab und an ein Jaulen wie von einem Köter, dem man in die Seite tritt, dann wieder nichts oder nur seinen Namen, Johann. Was hat sie mich nicht verflucht in den letzten Monaten, dachte er. Nicht etwa Gott oder die Kirche oder Jesus Christus hatte sie mit Flüchen belegt, nein, sie verflucht, denkt Johann, immer nur mich. Weil ich sie durch meine Wollust in diesen Zustand gebracht habe. Er lachte bitter auf.

„Dabei ist es doch Gottes Wille, Kinder in die Welt zu setzen“, murmelte er vor sich hin, während er um die Ecke geht zum Pinkeln, denn dass ein Mann auch im fünfzigsten Lebensjahr den Wunsch in den Eingeweiden spürt, mit seiner noch jungen Frau ein Kind, einen Sohn, zu zeugen, darin konnte er beileibe nichts Falsches sehen.

„So hat Gott uns erschaffen“, lallt er, die Hosen wieder zubindend und entschlossen zurückstampfend, „oder etwa nicht!“

Vollkommene Stille ist eingetreten. Nichts mehr ist aus dem Innern zu hören. Er legt das Ohr wieder an die Tür, zuckt aber sogleich zurück.

„Verflucht sei der Hund von einem Schreiner, der Papistenbock“, bölkt Johann los und zieht einen kleinfingerlangen Splitter aus seinem Ohrläppchen. Jammernd läuft er ein paar Schritte, gerät auf eine zugefrorene Pfütze und gleitet aus.

„Zum Teufel“, schreit er und versucht sogleich, wieder auf die Beine zu kommen, schlägt aber wieder hin. Betrunken ist er, in dieser Schenke war er gewesen, die ein junger Kerl aus dem Welschland betreibt. Doch wohin hätte er sonst gehen sollen! Er dreht sich, kommt auf die Knie, auf die Füße, steht, die Arme wie kaputte Windmühlenflügel in die Luft werfend, dann rutscht er mit beiden Füßen gleichzeitig weg und knallt auf den Hinterkopf. Benommen bleibt er liegen. Ein Sausen in seinem Schädel, Sterne sieht er und kein Mensch in der Nähe, ihm zu helfen. Naja, denkt er also, wenn ich schon nicht wieder auf die Beine komme, müde wie ich bin, warum nicht ausruhen, bis die Frau das Balg geboren hat? Ja konnte denn nicht jeden Augenblick die Tür aufgehen und es käme statt einer Schlampampe von Hebamme ein würdiger Herr heraus, ihm seinen Sohn zu bringen!

„Nicht so eine Schlampampe“, begann er laut zu singen, „so schmutzig Weib, wohnt in den Winkeln und stiehlt Männern die Zeit! Kämmt nicht die Haare, voll Flecken das Kleid, halte dich ferne, sonst tut es dir leid! Ha!“

Ich hätte Dichter werden sollen, denkt er und sieht blinzelnd in Richtung Tür, und tatsächlich steht da plötzlich wie aus dem Boden geschossen ein Mann, der etwas in den Armen hält und ihn mit wohltönender Stimme anspricht.

„Es ist dir ein Sohn geboren worden“, sagt der Mann, „ein prächtiges Kind, wie ich es mir prächtiger nicht wünschen kann.“

Und der fremde Herr legt ihm das Kind, eingewickelt in eine golddurchwirkte Decke, in den Arm, ein schönes Kind, ja, das sieht der stolze Vater sofort. Es lächelt ihn an. Auch der würdige Herr lächelt, nein, er lacht sogar, lacht schallend, und seine Augen blitzen geradezu. Und sind da nicht deutlich Hörner auf seinem Kopf zu erkennen! Das Lachen schwillt weiter an, auch das Kind scheint zu lachen. Und hat nicht auch das Kind, sein Kind, sein Sohn, Hörner, Teufelshörner, Satanszacken? Es lacht, hell und schrill, der alte Johann will sich die Ohren zuhalten, doch er hat ja das Kind in den Armen. Endlich aber hält das Balg inne. Besorgt sieht es ihn an.

„Vater, Vater, wie ist dir?“, sagt es schließlich.

Ihm treten Tränen in die Augen. Sein Sohn spricht mit ihm, nennt ihn Vater, liebster Vater.

„Ich habe einen Sohn“, ruft er, „ich habe einen Sohn! Einen Königssohn!“

Endlich gelingt es Elisabeth und Johann, den Vater hochzuheben und ihn in das Haus eines Nachbarn zu bringen. Die Wunde am Kopf muss versorgt werden, aus der nun immer mehr Blut austritt und in einem stetigen Rinnsal dem Vater, der leise vor sich hin jammert, in den Kragen läuft. Von der anderen Seite der Gasse her ist gedämpft ein Schreien zu hören.

„Bleib hier“, sagt Johann zu seiner Schwester, „der Vater braucht uns, er ist durchfroren und blutet.“

Elisabeth nickt und murmelt ein Gebet wider den Teufel, der im Vater wütet und der auch der Mutter zusetzt. Die Geschwister sehen sich wissenden Blickes an, sagen aber nichts. Schließlich finden sich im Haus ein paar saubere Lappen, die sie dem Vater um den Kopf binden. Dann will er wieder hinaus und verlangt Schnaps, den er bekommt.

„Zum Teufel“, schreit er, als er in die dämmerige Gasse tritt, „will denn die Brut nicht hinein in die Welt! Will sie nicht?“

Bereits am gestrigen Tage war mit der Niederkunft gerechnet worden. Die Wehen hatten eingesetzt, ebbten dann jedoch wieder ab. Man legte die Schwangere zu Bett und versuchte sie zu beruhigen, doch je weiter die Nacht voranschritt, desto mehr litt sie Schmerzen. Selbst die Fußfesseln schwollen an und ebenso die Handgelenke, die Ohren, die Augen, der Kiefer, alles tat ihr empfindlich weh, ja der ganze Körper wurde überschwemmt von Wellen des Schmerzes. Sie erbrach das Wenige, was sie zu essen vermochte, selbst das Bier kotzte sie gleich wieder aus. Die Hebamme, eine trotz ihrer jungen Jahre recht erfahrene Frau, die ihren Mann kurz zuvor im Krieg verloren hatte und selbst schwanger war, tat ihr Bestes. Sie fuhrwerkte schwitzend und vor sich hinmurmelnd hin und her, stellte Elisa immer wieder auf und versuchte mit Reiben und Streicheln, mit Heben und Ziehen die Geburt einzuleiten.

„Das Kind lebt“, ruft sie unentwegt, „es bewegt sich!“

Schließlich aber sagt Elisabeth selbst, sie werde sich nicht eher wieder zu Bett legen, bis das Kind heraus sei. Mit vereinten Kräften stellt man die Schwangere aufrecht an einen Pfosten. Die Hebamme befühlt den prallen Bauch, horcht mit dem Rohr, drückt Elisabeth sorgsam in die Hocke und greift mit zusammengeschobenen Fingern tief in die Vulva hinein.

„Hoffen wir auf Gott“, sagt sie.

Da stand Elisa nun an einen Pfosten gelehnt mitten in der Stube, während ihr besoffener Mann in der Dunkelheit vor dem Haus wartete und lauschte, ob denn nicht endlich das Kind heraus sei. Am frühen Morgen schon hatte er bei Eiseskälte, stocknüchtern noch, hier gestanden, sechs oder sieben Nachbarinnen drinnen in seinem Haus, aus dem er selbst ausgesperrt war. Erschöpft und geistesabwesend kamen sie heraus, um Wasser zu holen oder ein wenig Luft zu schnappen. Ein Schwall Wärme quoll aus der Türöffnung, ein scharfer Geruch nach Schweiß und Kotze. Alle sahen ihn böse an und sagten kein Wort. Und da war er eben nach Breslau in eine Schenke gelaufen, statt in der Kälte zu warten. Es ist nicht meine Schuld, hatte er gedacht, dass eine Frau unter Schmerzen gebären muss, es ist der alte Adam, der die Sünde in die Welt gebracht hat. Keine ihrer Geburten aber war so schwer verlaufen. Niemals waren die Schmerzen so stark gewesen. Und je länger eine Geburt andauerte, das wusste er, desto mehr schwoll das Gerede in Siebenhufen an, das Kind sei womöglich vom Teufel besessen, eine Nottaufe nötig, die die Hebamme vornehmen müsse, wenn es tot zur Welt käme oder gar schon, bevor der kleine Leichnam aus der Frau herausgezogen wurde. So redeten die Leute, das hatte er selbst oft gehört. Aber auch seine eigene, innere Stimme war jetzt schrill und böse, denn wie sollte er wissen, was es zu bedeuten hatte, dass seine Frau nicht niederkam.

Er konnte sich gut an die Nacht erinnern, in der er das Kind zeugte. Tagsüber hatte es Streit gegeben, wie so oft, es ging um Johann, der Kretschmar werden wollte mit seinen bald sechzehn Jahren. Die Mutter sagte, ein Säufer in der Familie sei genug, sie erlaube es nicht, dass ihr Sohn sein Leben im Wirtshaus zubringe. Am Ende hatte man sich wieder vertragen und ein Gebet gesprochen. Als aber alles bereits schlief und schnarchte, nicht nur seine Frau, sondern auch der Sohn und die vier Töchter, da erstanden in ihm Gedanken, die seine Wollust steigerten. Er betete, es möge nicht nur die Schwüle der Luft sein oder eine Versuchung des Teufels, die sein Glied aufrichtete und pulsieren ließ. Aber nachdem er leise noch ein weiteres, langes Gebet wider den Teufel und die Wollust verrichtet hatte, die sich dadurch aber noch zu steigern schien, schlich er im grauen Zwielicht in die Kammer und holte das Beischlaflaken. Seit drei Jahren war es nicht benutzt worden. Sich das Hemd über den Kopf ziehend weckte er seine Frau und bedeutete ihr, sie möge sich bereithalten.

„Glaube mir, liebe Frau“, flüsterte er, „Gott der Herr gab mir einen Fingerzeig.“

Er half ihr das Hemd auszuziehen und legte das Laken über sie, so dass unten die Füße herausragten und oben der Kopf. Dann suchte er die kleine Öffnung, führte sein Glied hindurch und drängte hinein. Doch er bemerkte den Schmerz, den er ihr bereitete, löste sich und schlich wie ein Satyr, nur mit seiner Männlichkeit bewaffnet, durch das wie mit angehaltenem Atem verharrende Haus. Er suchte eine Weile tapsend an der Feuerstelle herum und fand endlich den Krug mit Schmalz, schlich zurück und reichte das Gefäß seiner Frau. Es ist, dachte er des Morgens beim Erwachen, wirklich viel Wollust in mir gewesen, und mochte es am Schmalz gelegen haben oder daran, dass er kein junger Mann mehr ist, es wollte zu keinem Ende kommen. Er fuhr ein und aus, wieder und wieder, er geriet in Schweiß, kaum noch spürte er sein Glied. Er glühte am ganzen Leib. Aber auch Elisabeth geriet in Hitze, strampelte das Laken von sich und starrte ihn im Dämmerlicht an wie ein waidwundes Tier. Schmerzhaft gruben sich ihre Fingernägel in seinen Rücken. Die Geschwister indes lagen lange schon wach und lauschten erregt und ängstlich. Elisa war bald nur noch ein einziges langgezogenes, auf- und abschwellendes leises Jammern, sie vermochte sich nicht zu wehren gegen das Zittern und Wogen in ihrem Leib, gegen das Aufbranden all der Glut, und erst als sie wie besinnungslos auf ihn einschlug, mit den Fäusten auf seinen Hintern und Rücken, entlud er endlich, japsend und kehlig, als täte er seinen letzten Atemzug auf Erden.

Hatte nicht der Teufel feixend an ihrer Bettstatt gestanden in dieser Nacht und sich die Hände gerieben, dass ihm so unverhofft zwei Seelen geschenkt werden, oder gar drei? Das Laken verbrannte Elisabeth am nächsten Tag vor aller Augen. An den Abenden lief sie in die katholische Kirche vor dem Nicolai-Tor, die Siebenhufener waren ungeachtet ihrer Religion in die nächstgelegene Kirche eingepfarrt worden, um inbrünstig zu beten. Bald aber ging sie jeden Morgen bis zum Schweidnitzer Tor, um dort in St. Salvator, der Kirche für die Kräuterdorfer südlich der Stadt, mit dem Prediger zu sprechen, der ihr zuhörte und Trost zusprach.

Das alles fiel ihm wieder ein, als er mit seinem dicken Verband um den Kopf vor der Tür seines Hauses stand und lauschte. Nichts war zu hören. Der Gedanke, seine Frau könnte tot sein, tauchte plötzlich wie aus einem Hinterhalt in ihm auf. Das war, Gott möge ihm verzeihen, schon oft sein Wunsch gewesen. Der Zank hatte in letzter Zeit überhand genommen, und wenn sie einmal damit aufhörte, ihn zu beschimpfen wegen seines unrechten Glaubens oder weil er mal ein Gläschen Schnaps trank oder seine Zeit mit Kartenspiel verbracht hatte, dann prügelte sie stattdessen heulend auf ihn ein, ohne ein Wort zu sagen. Er würde sie begraben, dachte er, in ihrem sechsunddreißigsten Lebensjahr. Aber das Kind, das Kind sollte leben, wenn es denn einen Gott gibt.

Die Wunde unter dem Verband begann empfindlich zu schmerzen. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, man sah die Hand vor Augen nicht. Manchmal erschien am ein oder anderen Ende der Gasse ein schwaches Licht, ein Nachbar kam zu ihm mit einer Ampel in der Hand, um ihm Mut zuzusprechen.

„Gott wird’s schon richten“, sagten die meisten, aber es hörte sich nicht sehr überzeugt an. Sein Sohn und die vier Mädchen waren wohl, nach allem was er mitbekam, zum Dom jenseits der Oder gelaufen, um zu beten, aber da es eine katholische Kirche ist, überlegte er, wird es nicht helfen können. Doch vielleicht war das Unsinn, wer begriff schon die Unterschiede. Er nahm noch einen tiefen Schluck aus dem Krug und setzte sich auf die Türschwelle. Ja, ein Gebet, das die Frau zum Teufel schickte, ihm aber das Kind ließ, das bräuchte er! Dann sackte er langsam in sich zusammen und nickte weg.

Johann schreckte hoch. Eine der Nachbarinnen trat aus der Tür. Sie verschwand im Haus gegenüber und kam mit einem Eimer heißen Wassers zurück. Mühsam rappelte er sich hoch und öffnete die Tür. So trat Johann über die Schwelle und tat unwillkürlich drei, vier Schritte hinein, gebückt und hin und her wankend wie auf Deck eines Schiffes im tollsten Sturm. Die Augen zusammengekniffen und den Kopf vorgereckt versuchte er im diffusen Schein zweier Laternen, die von der niedrigen Decke hingen, etwas zu erkennen. Nach und nach schälten sich ihm die Frauen aus dem gelbbraunen Licht heraus, die Schwangere in ihrer Mitte, die breitbeinig auf den Fersen stand und mit nach hinten gelegtem Oberkörper auf und ab bebte, während die Hebamme zwischen ihren Beinen auf dem Boden hockte und mit beiden Händen rhythmisch auf die Oberschenkel der Gebärenden einhieb. Der Leib, an dem ein altes Nachthemd klebte, als sei es graue und zerschlissene Haut, war angeschwollen, das Haupt der Frau krebsrot, das Haar wirr und verklebt. Voller Angst wollte Johann, als er sie so sah, das Weite suchen und den Teufel nicht sehen, den sie gebären musste, doch er konnte den Blick nicht wenden, so sehr er sich auch entsetzte. Da hob Elisabeth den Kopf. Etliche Minuten schienen zu vergehen, während das seltsame Wesen in ihr sie weiter zucken und beben ließ und die Frauen sie hielten, schweißgebadet auch sie. Böse war Elisabeths Blick, nie wieder würde ein Mensch ihn so ansehen, das wusste Johann, und plötzlich kam mit einem Male ein Laut aus ihrer Kehle, leise erst, brüchig, knatternd, dann schrie sie, schrie, wie sie nie geschrien hatte, ja es brüllte aus ihr heraus, wie der Verderber selbst schrie und schrie sie, und dann endlich, endlich, griff die Hebamme energisch zu und hatte den Kopf des Kindes in Händen. Nun ging alles sehr schnell. Johann sah es mit Entsetzen, das Kind, rot, über und über mit Schleim bedeckt. Die Abnabelung. Der Schrei. Odem des Lebens.

„Ein Sohn, es ist ein Knabe“, das hörte Johann noch jemanden sagen, dann fällt er einfach um und schlägt mit dem Kopf gegen einen Pfosten.

Nach dieser Begebenheit musste Johann, wann immer in der Vorstadt Siebenhufen eine Geburt anstand, einige Scherze über sich ergehen lassen, ja man schickte ihn sogar mit ein paar gesammelten Münzen in die Stadt, damit er sich seine gute Gesundheit nicht ruinierte durch den Anblick eines Neugeborenen. Dass auch die edlen Spender ihn dabei begleiteten, versteht sich von selbst, so dass bald ein schöner Brauch daraus entstand.

Die ersten Monate, die der kleine Adam auf der Welt verbrachte, tat er nichts anderes als zu schreien. Es sei denn, er hing an der Brust einer der jungen Frauen in Siebenhufen. Elisa hatte keine Milch. Bei der Taufe, die zum Unwillen der Mutter in einer katholischen Kirche stattfand, brüllte er herzzerreißend, doch wenigstens dies konnte sie auf den lieblosen Erz-Priester schieben, der zudem ein schlechter Redner war wie alle Papisten, und der sich auch ganz bestimmt keine sonderliche Mühe gab, Lutheraner zu beeindrucken. Mit der Zeit aber wurde der kleine Adam ein wenig ruhiger und zum Liebling all der Nachbarinnen, die selbst noch keine Kinder hatten oder deren Sprösslinge aus dem Gröbsten heraus waren. Elisa aber veränderte sich nach der Geburt zusehends. Sie wurde strenger und strenger mit sich und anderen und lehnte alle Mitteldinge, selbst harmlose Spiele, immer vehementer ab, während ihr Mann oft das Weite suchte und sich betrank. Was Wunder also, dass die Fetzen flogen. So übernahmen die Geschwister die Betreuung des Kleinen, besonders Johann und Elisabeth, die zweitjüngste Tochter, hatten einen Narren gefressen an ihrem kleinen Bruder.

Ein warmer Sommertag. Adam war nun fast schon anderthalb Jahre alt. Johann hatte früh am Morgen hinter dem Haus eine kleine Mulde gegraben, sie mit Tonerde und einem Wachstuch ausgekleidet und Wasser hineingefüllt. Die Sonne erwärmte es, und als es lauwarm war, setzte Elisabeth Adam hinein, drückte ihm ein Holzschiffchen zum Spielen in die Hand und legte sich wieder zu dem Nachbarsjungen unter den Baum. Mutter und Vater waren fortgegangen, und das sollte schließlich ausgenutzt werden. Johann, der immer noch Kretschmar in Breslau werden wollte und oft heimlich in einer Schenke aushalf, saß derweil in aller Ruhe vor dem Haus im Schatten, um das Gewehr des Vaters, das dieser vor drei Jahren, als Kriegsgefahr herrschte, bekommen und schließlich behalten hatte, zu putzen und zu ölen. Er wusste natürlich, dass die Schwester hinter dem Haus mit dem Nachbarsjungen Dinge treiben mochte, die die Mutter nicht würde durchgehen lassen. Er sollte, das hatte sie ihm streng befohlen, ein scharfes Auge auf die Beiden haben und jede Annäherung und jede Form von Albernheit unterbinden. Doch eine Weile sollten sie ruhig machen, was sie wollten. Er überlegte, wie er sich einen Spaß daraus machen würde, mit dem Gewehr aufzutauchen, wenn beide sich befingerten, denn das würden sie sicherlich tun. Natürlich, die Schwester war hübsch geworden, überall taten sich mit einem Male Rundungen hervor, doch zeigen mochte sie davon nun nichts mehr. Das aber lag wohl kaum daran, dass die Mutter strenger in allem Weltlichen war als jemals zuvor. Noch vor wenigen Monaten hatte das Schwesterchen ihren hübschen Hintern stets freigiebig hergezeigt, wenn die Eltern fort waren und er sie darum bat. Natürlich, er hatte die Anfechtung erkannt und bereut, der Teufel hockt eben in jedem Loch, wie es hieß, doch heute wollte er auf jeden Fall die Gelegenheit nutzen und einen Blick erhaschen. Zum Schlimmsten aber durfte es nicht kommen, das wusste er wohl, denn das würde die Mutter weder ihm noch der Schwester jemals verzeihen.

Johann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war noch nicht zufrieden mit seiner Putzarbeit. Elisabeth hörte er quieken. Wahrscheinlich versuchten sie, sich gegenseitig zu fangen, Elisabeth ließ sich kitzeln, entkam wieder, wurde abermals gefangen und so weiter. Der Nachbarsjunge, der den massiven Schädel seines Vaters und die kleinen blauen Äuglein geerbt hatte, würde natürlich nicht aufhören, nach ihr zu haschen. Man sah ihm jedes Mal die Erregung an, wenn er in die Nähe der kleinen Schwester kam. Auch er selbst, Johann, war ja schon länger hinter jedem Rock her, und in der Schenke, in der er aushalf, machten ihm die Bedienerinnen schöne Augen und manch eine hatte ihn schon mal hier und da getätschelt. Dass der alte Kretschmar und seine Frau sich vor Lachen bogen, wenn er, puterrot im Gesicht, nicht wusste, was sagen, störte ihn nicht, nicht sehr jedenfalls. Wieder hörte er die kleine Schwester quieken, und langsam würde er wohl mal nachsehen müssen, bevor das kleine Luder sich nahm, was sie wollte. Schade nur, dass er das Gewehr nicht laden konnte, Feuerstein war wohl im Haus, aber kein Zündkraut.

Johann rieb noch ein paar Stellen blank, da konnte er sehr penibel sein, stand schließlich auf und ging, das Gewehr im Anschlag, ums Haus herum. Vorsichtig schielte er um die Ecke, doch niemand war zu sehen. Auch in den Gärten der Nachbarn kein Mensch. Es war einfach zu warm. Johann spitzte die Ohren. Irgendwo in der Nähe mussten die Beiden doch sein. Die Stille war verdächtig, das auf jeden Fall. Kein Lüftchen ging, nicht einmal das Holzschiffchen drüben in der Bademulde bewegte sich. Vielleicht sollte er rufen. Verdammt, dachte er, warum habe ich nicht früher Acht gegeben. Natürlich hatte die Mutter recht mit ihrem Misstrauen gegen Elisabeth. Auch er hatte ja bemerkt, dass ihre Ausdünstungen schon längst die einer Frau sind. Womöglich, überlegte er, sind sie zum Fluss gelaufen, da konnte er lange suchen. Irgendetwas aber musste er tun. Vielleicht, fiel ihm ein, waren sie im Stall, dann aber wären die Tiere unruhig. Er stellte das Gewehr gegen die Hauswand und überlegte, was zu tun sei. Das Holzschiffchen hatte ein wenig Schlagseite, es war schlecht geschnitzt. Wo war eigentlich Adam, wollte Elisabeth ihn nicht in der Mulde baden? Und da sah er den kleinen Körper, leblos, mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen. Warum nur hatte er ihn nicht früher gesehen, das fragte er sich später immer wieder. Der Teufel musste ihm die Sicht genommen haben mit all den brünstigen Gedanken. Er riss das Kind hoch.

„Adam“, schrie er, „Adam!“

Der Kopf hing nach hinten, der Leib des kleinen Wesens war schlaff und bleiern. Tot, schoss es Johann durch den Kopf, tot! Er stand bewegungslos. Das Kind hielt er auf Armeslänge und starrte es an. Er betete wirr und ohne Sinn, zitternd in der Gluthitze, allein, völlig allein mit seinem kleinen, toten Bruder. Das erste, was er endlich wahrnahm, war ein Rascheln, und weit hinten, in einem der anderen Gärten, konnte er Elisabeth erkennen, Hand in Hand mit dem Nachbarsjungen. Er sah, wie sie zu laufen begann. Der Junge blieb zurück. Johann hörte seine Schwester rufen und schreien, aber sie kam nicht näher, sie lief, er sah sie stürzen, er konnte ihr verzerrtes Gesicht erkennen, doch sie war noch immer nicht bei ihm. Dann plötzlich ein Geräusch, ein Glucksen, das sich wiederholte und wiederholte, und als die Schwester ihm den kleinen Bruder aus den Händen nahm, lebte er. Seit diesem Tag hatten Johann und Elisabeth ein Geheimnis, und nicht einmal Adam erzählten sie später davon, denn es war, als seien ihre Zungen wie gelähmt, wann immer sie es versuchten. Noch auf ihrem Sterbebett, Jahrzehnte später, erwiderte Elisabeth Johanns Händedruck und nickte ihm zu. Sie dachten beide das Selbe. Der kleine Adam war wundersam gerettet worden.

Adam nahm, sobald er laufen konnte, jede Gelegenheit wahr, Siebenhufen zu erkunden. Er kannte bald alle Gärten und Häuser, die auf der westlichen Seite der Gasse lagen, die zu überqueren er sich lange nicht traute. Doch je älter er wurde, desto mutiger wagte er sich vor. Die hohen Mauern Breslaus aber verbargen für ihn eine andere Welt, die er sich nicht einmal vorstellen konnte, und wenn er einmal in Richtung Stadtmauer tappste, verließ ihn allzu schnell der Mut, worauf er, wie von der Tarantel gestochen, zurücklief. Eines Tages aber trottete er einfach hinter einer von einem Ausflug heimkehrenden Bürgersfamilie samt Gästen her, die gemächlichen Schrittes und in einer fremden Sprache sich angeregt unterhaltend durch die Vorstadt kam. Kein Torwächter achtete auf ihn, und dann war er mit einem Male mitten im Trubel. Er bestaunte diese ihm fremde Welt, sich ängstlich an die Wände drückend, besah die Häuser, die bis in den Himmel wuchsen, sah eine Weile den Kaufleuten an der Großen Stadtwaage zu und ging dann mit kleinen Schritten weiter, hin und her, geriet in die Weißgerbergasse und die Büttnerstraße, wo ihm eine alte Frau einen Apfel schenkte, bis er schließlich zur Elisabeth-Kirche gelangte. Dort aber bekam er es richtig mit der Angst zu tun, als aus dem Schulhaus des Elisabeth-Gymnasiums dutzende Schüler herausliefen. Die Knaben strömten wie Wasser um ihn herum und waren schnell wieder verschwunden. Kurz darauf griff plötzlich eine blinde Bettlerin mit ganz weißen Augen, die am Kirchenportal vor sich hin jammerte und der er sich vorsichtig genähert hatte, nach ihm und betastete seinen Leib, worauf ein Mann mit einem gewaltigen Bauch hinzueilte und die Frau in einer Sprache beschimpfte, die Adam nicht verstand. Er lief davon und verirrte sich in den Gassen, lief immer weiter und weiter und bemerkte nicht einmal, wie er drei Mal die Grüne-Baum-Brücke über der Ohle überquerte. Jetzt hatte er wirklich Angst. Wenn er doch wenigstens zu einem Stadttor käme, dann würde er wieder nach Hause laufen können, dachte er. Doch nur Häuser, Wagen, Menschen, Gedränge. Bis es dann einem Kaufmann, der ihn weinend vor der Dorotheen-Kirche fand, gelungen war, ihm seinen Namen zu entlocken, war es fast dunkel geworden.

„Wie heißt denn der kleine Mann“, fragte der Kaufmann immer wieder, „wo kommst Du fort?“

Er sprach einen eigentümlichen Dialekt, ganz spitz und ganz hell. Erst mit Hilfe einer Magd der Herberge, in der der Kaufmann nächtigte, gelang es endlich, ihm zu entlocken, wo er wohnte.

„Du bist also“, sagte die Magd, eine noch junge, proppere Person, „Adam aus Siebenhufen. Fortgelaufen bist du, deine Eltern ängstigen sich zu Tode. Sag einmal, schämst du dich nicht?“

Sie werde ihn morgen früh mit dem ersten Sonnenstrahl nach Siebenhufen bringen, der Kaufmann solle ihr aufschreiben, was geschehen sei, damit sie selbst nicht beschuldigt würde. Adam musste also bei der Magd schlafen, die ihn immer wieder fest an sich drückte und schwer atmete und jammerte, ihn auch ganz nass auf den Mund küsste und wie wild streichelte.

„Mein Adam“, murmelte sie immer wieder, „mein kleiner Adam, behalten möcht ich dich!“

Am anderen Morgen in aller Frühe brachte der Kaufmann selbst den Jungen nach Siebenhufen zurück. Er fand die Familie in heller Aufregung. Der betrunkene Vater dankte dem Fremden unter Tränen, die Mutter aber prügelte auf Adam ein, bis die Mädchen und Johann sie fortzogen, worauf auch sie in Tränen ausbrach. Der Kaufmann stahl sich davon und dachte sich seinen Teil. An die Strafe, die Adam erleiden musste, erinnerte er sich sein Lebtag. Tagelang durfte niemand ein Wort an ihn richten, und niemand tat es, nicht einmal sein Bruder Johann. Man stellte ihm sein Essen hin, steckte ihn in seine Kleider, setzte ihn in eine Ecke, alles ohne ein Wort, selbst nicht, wenn er noch so unglücklich dreinblickte. So verfiel Adam darauf, mit Gott sprechen zu wollen, so wie die Mutter es oft tat, doch der wollte ihm vom Himmel aus auch nicht antworteten. Weil ja niemand mit ihm sprechen durfte. Auch Gott nicht!

So lag Adam tatenlos und unglücklich, wie ein Kind nur sein kann, am dritten Tag des Schweigens spät am Abend auf seinem Lager, als plötzlich Jesus ihn leise ansprach.

„Pst“, sagte er, „wir wollen ein wenig miteinander reden, aber sage es niemandem, hörst du, das ist unser Geheimnis.“

Adam sah auf, rieb sich die Augen, und da stand das Jesuskind, nicht größer als er selbst, neben seiner Schlafstelle und setzte sich lächelnd zu ihm. So sprachen sie flüsternd die halbe Nacht miteinander, bis Adam endlich einschlief. Am Morgen darauf sprach die Mutter ihn an, wie sie es gewöhnlich tat. Der Bann war gebrochen.

Späterhin behauptete Adam immer wieder, er könne sehr weit zurückdenken, selbst bis in sein drittes Lebensjahr, sich an diese Bestrafung und andere einschneidende Ereignisse also erinnern. Die kruden Erzählungen seines Bruders Johann, die dieser gerne und oft zum Besten gab, taten ein übriges. Eine Anekdote, an die sich Adam selbst gut erinnerte, gerade weil sie ihm sein Leben lang peinlich war, stach aus diesen Erzählungen hervor. Adam muss damals wohl etwa sechs Jahre alt gewesen sein. Es war ein kühler Tag im Frühherbst, er half Möhren und Krautköpfe auf die Radeber, die Schubkarre zu laden, worauf Johann die Fuhre zum Lagerschuppen brachte, wo die Schwestern und die Mutter alles abwogen und verpackten, wie es bestellt worden war. Als Johann aber, nach der dritten oder vierten Fuhre mit der leeren Karre zurückkommt, ist Adam nicht zu finden.

„Adam?“, ruft Johann.

Keine Antwort. Wo konnte das kleine Aas nur stecken? Am Abend wollte er in Breslau einem Kretschmar beim Bierausschenken helfen, da musste er zeitig aufbrechen und konnte sich keinen Verzug erlauben. Denn auch wenn die Mutter es nicht gerne sah, Kohlgärtner wollte er partout nicht bleiben.

„Adam“, rief er noch mal, „wo steckst du kleine Kröte?“

Vielleicht war er hinüber zur Mutter gelaufen, doch das war unwahrscheinlich. Mehr als eine Ohrfeige würde er dort nicht ernten können. Johann sah hinter jeden Strauch. Nichts. Schließlich aber entdeckte er ihn hinter einer Hecke, auf dem Boden hockend, unter ihm ein ansehnlicher Haufen und daneben ein Kohlblatt, mit dem er sich den Hintern abgewischt hatte. Adam bemerkte den Bruder nicht, er war still in Gedanken versunken und murmelte, mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht, irgendetwas vor sich hin.

„Adam“, sagte Johann laut und bestimmt, aber es dauerte, bis der Kleine endlich mit den Augendeckeln klimperte, den Bruder erkannte und sich die Hosen hochzog.

„Hast du auch gut achtgegeben“, fragte Johann kurz darauf wie nebenbei, „dass keine Schnecke auf dem Blatt saß, mit dem du dich abgewischt hast?“

Adam sah verständnislos zu seinem Bruder auf. Natürlich hatte er nicht darauf geachtet.

„Es wäre nämlich nicht zum ersten Mal passiert“, setzte Johann wieder an, „dass so eine possierliche Schnecke in so ein Loch aus purer Neugierde hineinkriecht, und weil es nicht wieder hinauskommen kann, kriecht es durch alle Gedärme bis hinauf in den Kopf.“

Daraufhin klopfte er dem Kleinen dreimal gegen das Oberstübchen, als Zeichen dafür, dass das nicht ernst gemeint sei. Adam jedoch verspürte im selben Augenblick die Schnecke in sich. Sie war in seinem Bauch, ohne jeden Zweifel!

„Jetzt komm“, rief Johann, der sich wieder an die Arbeit machte, „wir haben noch viel zu tun.“

Doch er kam die nächste halbe Stunde nicht zum Arbeiten. Er musste Adam trösten, dem nur schwer begreiflich zu machen war, dass keine Schnecke durch ihn hindurchkroch. Zum Kretschmar kam Johann zu spät und er bekam nicht den Lohn, den er sich erhofft hatte.

„Und alles nur wegen einer neugierigen Schnecke, die unserem Kleinen in den Hintern gekrochen ist“, so schloss Johann immer seine kleine Erzählung, worauf alles in Lachen ausbrach.

NACH BRESLAU

Die aus Schwerte in Richtung Südosten abreisenden Calvinisten führten, ohne dass sie es ahnten, eine seltsame Fracht mit sich. Nur Dorothea wusste davon, denn sie hatte ihre dreizehnjährige Tochter auf dem Wagen der Breslauer versteckt. Sie war den Fremden bei deren Abgang gefolgt und noch eine ganze Weile bettelnd um sie herumgestrichen, ohne dass ihr jemand auch nur die geringste Beachtung schenkte. Alle waren sehr damit beschäftigt, so schnell wie möglich die Weiterreise vorzubereiten. Man war allgemein der Ansicht, in dieser verstockten Stadt nichts ausrichten zu können. Außerdem befürchteten sie einen baldigen Wintereinbruch in den Bergen, die nicht zu umgehen waren, es sei denn, man wählte den Weg über Paderborn, doch eben dort war ihnen auf dem Hinweg Prügel angedroht und schließlich der Wagen angezündet worden.

Als alles aufgebunden und verstaut war, nur die Pferde würden in wenigen Stunden noch anzuschirren sein, gingen die Breslauer zu ihrem Quartier. Dorothea, die sich zusammen mit den Kindern auf dem Friedhof hinter der Kirche versteckt hatte, hörte das Geschlurfe der Schritte. Sie weckte die neben dem kleinen Heinrich schlafende Emilia, nahm die Schlaftrunkene fest bei der Hand und schlich sich in der Dunkelheit vorsichtig bis zu dem Wagen der Fremden, der auf einem kleinen Hof stand. Niemand schien Wache zu halten. Sie drückte ihre Tochter zu Boden und hieß sie flüsternd, dort sitzen zu bleiben, dann tastete sie den Wagen ab, so als befühle sie ein ungeheures Tier, das jeden Augenblick zum Leben erwachen könne, fand endlich einen Verschlussriemen, öffnete ihn und griff hinein. Wachstuch lag obenauf, dann fühlte sie Decken oder Mäntel und darunter Gerätschaften, einen Topf, Radspeichen, Werkzeug, eine kleine Kiste und was sonst noch auf einem solchen Wagen zu finden ist. Behutsam schob sie alles ein wenig auseinander, hielt eine Weile inne, zog und drückte weiter, hielt wieder inne, bis sie endlich einen kleinen Hohlraum geschaffen hatte, in dem Emilia Platz finden würde.

„Komm, Emilia, komm, komm“, stieß sie flüsternd hervor, „komm!“ Sie packte ihre Tochter wie ein Karnickel am Nacken und schob sie auf den Wagen. Emilia ließ alles still mit sich geschehen. Wie oft hatte sie nicht schon davon geträumt, zusammen mit dem kleinen Bruder das Weite zu suchen und die Mutter in der armseligen Hütte zurückzulassen. Auch jetzt überlegte sie, wie sie es anstellen könnte, ihren Bruder zu holen, doch die Mutter hatte den Riemen wieder fest verzurrt.

Was die Männer wohl mit ihr tun werden, wenn sie sie entdeckten, fragte sie sich. Wegjagen, ganz sicher würden sie sie wegjagen. Dann aber würde sie zurück nach Schwerte gehen und Heinrich holen. Wenn sie den Weg fände. Oder sollte sie versuchen, bei ihnen zu bleiben, als Magd vielleicht. Die Mutter war auch Magd gewesen, beim Schichtmeister, daran konnte sie sich erinnern. Sie hatten in einem Verschlag neben dem Stall gelebt und jeden Tag zu essen gehabt.

Sie erwachte, als sie die Pferde schnauben hörte und die Stimmen der Männer. Es ging los. Ein Disput am Stadttor, Flüche und Verwünschungen. Der Wagen schaukelte hin und her und musste aus einem Schlammloch befreit werden. Lange ging es mit Hauruck vor und zurück. Endlich aber war die Ruhr überquert auf knarzender Brücke und der ansteigende Weg trocken. Der Zug der schlesischen Calvinisten war bereits mehr als eine Meile von Schwerte entfernt und schon tief in den Bergen, als einer der Männer Emilia entdeckte. Wortlos starrten sie alle das ängstlich zusammengekauerte Wesen an und beschlossen nach nur kurzer Beratschlagung, sie nach Breslau mitzunehmen. Gott war, daran glaubten sie unwiderruflich, weder ihnen noch diesem Mädchen Barmherzigkeit schuldig. Es lag nicht in ihrer Macht, über des Allmächtigen Gerechtigkeit zu befinden. Sie gaben ihr ein wenig zu essen und ließen es zu, dass sie fortging, wenn sie sich in Städten oder Dörfern aufhielten, fragten aber nicht einmal nach ihrem Namen und kümmerten sich auch sonst nicht um sie. Wenn einer der Männer sie eine Weile ins Auge fasste, zog sie sich auf den Wagen zurück, wo sie schlafen durfte. Der dritte Prediger hatte ihr einmal erzählt, böse Männer trieben Unzucht und übten Gewalt, wenn eine Frau ungeschützt sei, und so war sie vorsichtig. Doch nichts geschah, nichts Gutes und nichts Böses.

Nach gut fünf Wochen erreichten sie bei bereits winterlichem Wetter Schlesien, überquerten die Neiße und quälten sich von Görlitz aus bei Schneeregen und Kälte noch einmal ganze zehn Tage bis Breslau, um schließlich erschöpft und müde durch das Nicolai-Tor in die innere Stadt zu gelangen. Niemand nahm Notiz von der Gruppe, auch nicht, als sie auf der Kreuzung der Nicolai- und der Reuschestraße wegen Emilia in Streit gerieten. Während die einen sie zum Waisenhaus bringen wollten, sprachen sich die anderen dafür aus, das Mädchen einfach sich selbst zu überlassen. Schließlich aber nahm einer der Männer, der nach einem bösen Sturz in Holland noch immer das linke Bein leicht nachzog, Emilia entschlossen und ohne auf seine Glaubensbrüder zu achten bei der Hand und ging mit ihr wieder zum Tor hinaus. Er wandte sich resolut nach links. Er hatte eine Idee, die die vielen Streitgespräche mit den Lutheranern krönen würde. Er wollte, so sein Einfall, einem ihrer hiesigen Gegner das Balg aus Westfalen andrehen und die Gerüchteküche in Gang setzen. Was genau er in die Welt setzen sollte, wusste er zwar noch nicht, und am Ende würde ihm womöglich nichts einfallen, doch die Gelegenheit war günstig, keine Frage.

Durch den Dreck patschend und allerlei zwielichtigem Volk begegnend erreichten sie die Schweidnitzer Vorstadt und standen bald auch schon vor dem Haus des Morgenpredigers von St. Salvator, Andreas Acoluth. Schwer atmend sah der Calvinist sich um. Niemand achtete auf ihn und das Mädchen, nicht der Hufschmied gegenüber und auch keine der Mägde, die allein oder in kleinen Gruppen mit leeren Körben in Richtung Schweidnitzer-Tor gingen. Er klopfte laut und vernehmlich gegen die Tür und verbarg sich schnell hinter einem gegenüber abgestellten Fuhrwerk, während Emilia auf die Tür starrte und vor Angst fast verging. Schritte waren zu hören. Die Acoluthin selbst, die alte Mutter des Predigers, öffnete die Tür und blickte unfreundlich und ein wenig überrascht auf das Mädchen, das steif und ängstlich schauend vor ihr stand.

„Wer bist Du?“, fragte sie.

„Emilia“, sagte Emilia.

Der strenge Herr Prediger, der zu ergründen suchte, wer sie sei und warum sie ausgerechnet bei ihm geklopft hatte, bekam nach einer Weile immerhin heraus, dass sie aus dem fernen Schwerte kam. Er ahnte, dass seine Gegner damit etwas zu tun haben mussten.

„Was nur soll ich mit Dir tun?“, sagte er immer wieder zu Emilia, und als sie schließlich zu weinen begann, aus Müdigkeit und Verzweiflung, übergab er sie einer jungen Magd, die sich um sie kümmern sollte.

So also geriet Emilia Holzkötter aus Schwerte in Westfalen, Tochter einer ehrlosen Frau und eines dahergelaufenen französischen Soldaten, nach Breslau. Sie wurde in der kleinen Dachkammer der Magd, die von allen Tete genannt wurde, einquartiert, denn sonst war kein Platz in dem nicht eben weitläufigen Haus. Sie musste im Haushalt helfen und Gänge besorgen für den Prediger und die Acoluthin. War man unzufrieden mit ihr, so stieß man sie oder gab ihr Ohrfeigen. Besonders die Acoluthin, die wenige Wochen nach Emilias Erscheinen einen Schlagfluss erlitt und halbgelähmt immerfort im Sessel saß, schimpfte unaufhörlich, zuerst lallend und leise, dann, nach einer leichten Erholung, wieder mit lauter Stimme. Einzig und allein Tete und ein im Haus lebender Gymnasiast, der aber bald schon zum Studium nach Wittenberg abreiste, waren gut zu ihr. In ruhigen Minuten erzählte sie manchmal stockend und ohne die rechten Worte zu finden von ihrem kleinen Bruder Heinrich, verlor aber kein Wort über die Mutter, nicht weil sie sich ihrer schämte, sondern weil sie für die Erinnerung an sie überhaupt keine Worte hatte.

AUF DEM HOF

Das Messer hatte Heinrich eines Tages auf dem Schwerter Marktplatz gefunden. Es ist sein einziger Besitz. Oft schnitzt er mit kindlicher Sorgfalt kleine Figuren. Von der Mutter war ihm umständlich und unter Verwendung von Bibelstellen erklärt worden, seine Schwester sei mit den guten Herren gegangen, die ihr die neun Geldstücke gegeben hatten. Doch der kleine Heinrich begriff nicht, um welche Männer es sich handelte. Er konnte sich nicht erinnern. Emilia aber war plötzlich fort gewesen, das begriff er, nur eben nicht, warum sie fort war. Er musste nun allein in den Wald, um Beeren und Wurzeln zu suchen, so viel Angst er auch haben mochte. Weinte er, so schlug die Mutter ihn mit der linken, der heilen Hand, doch waren diese Schläge ungenau und weichlich. Auf die Idee, statt der rechten für alle Verrichtungen die linke Hand zu benutzen und so geschickter zu machen, kam sie nicht.

Da der dritte Prediger krank zu Bett lag, kümmerte sich niemand um Heinrich und seine Mutter, die bald kaum noch in der Lage war, den Weg nach Schwerte oder gar nach Dortmund zu bewältigen. Stattdessen setzte sie sich an die nahe Straße und bettelte die wenigen Handelsreisenden an oder schickte Heinrich zu den Bauern.

„Da ist ja der kleine Daubenfüßer“, sagten manche spöttisch und oft auch ärgerlich, wenn er wie aus dem Nichts von hinterwärts auftauchte und sie erschreckte. Sie gaben ihm ein wenig zu essen, für die Mutter jedoch gaben sie ihm nichts.

Den ersten Winter nach dem Verschwinden Emilias überlebte Dorothea, im folgenden jedoch fand sie im Wald den Tod. Eines Abends war sie ohne ein Wort durch die Schneeverwehungen in den Wald gestapft und nicht mehr zurückgekommen. Heinrich, der voller Angst und frierend die ganze Nacht gewartet hatte und bei jedem Geräusch aufgeschreckt war, fand seine Mutter am Morgen mitten auf einem zugefrorenen Tümpel. Er betrachtete sie lange. Die Augen weit aufgerissen zu den kahlen Baumkronen hin, die Lippen und Teile der Wangen weggefressen, so lag sie auf dem stumpfen, am Rande mit Schnee bedeckten Eis. Überall waren einzelne Blutspuren, doch die Tiere des Waldes, die die Mutter fressen mussten, waren fort. Heinrich verspürte keine Angst. Es war hell und ruhig im Wald. Dort lag die Mutter. Sie war tot. Er war allein.

Er stapfte zurück zur Hütte, nahm die neun Geldstücke aus dem Versteck neben der Feuerstelle und machte sich auf den Weg. Der Schnee war an vielen Stellen sehr tief und er kam mit seinen kurzen Beinen nur schlecht vorwärts. Oben auf dem Krainberg, gute drei Stunden war er bereits unterwegs, hockte er sich für einen Moment unter den Galgen, der lange nicht benutzt worden war. Das zugeschneite Ruhrtal lag vor ihm, er konnte das dunkle Band des sich durch die Sumpfwiesen schlängelnden Flusses erkennen und den schiefen, ganz und gar schwarz sich abhebenden schiefen Turm von St. Viktor. Von hier aus war es zu allen Bauernhöfen, die er kannte, etwa gleich weit. Heinrich ging in Gedanken die Wege und versuchte, sich die Bauern ins Gedächtnis zu rufen, die gut zu ihm gewesen waren. Oder sollte er zum dritten Prediger gehen, der aber eine Weile schon sich nicht mehr hatte blicken lassen? Wenn er nur wüsste, wo Emilia ist, so würde er so lange gehen, bis er sie gefunden hätte! Es begann wieder zu schneien, bald schon war nichts mehr zu sehen außer dem Gewirre und Geworre der Schneeflocken.

Ein Knecht, der den frierenden und völlig erschöpften Jungen neben der Scheune stehen sah, nahm ihn mit ins Haus, wo die Bauersleute und das Gesinde auf der Tenne zusammensaßen. Niemand achtete auf die Hereinkommenden, denn alles blickte wie gebannt zu einem Mann, der auf einem Hocker vor der Feuerstelle saß und etwas aus einem Buch vorlas. Er formte mit dunkler Stimme langsam Worte, die für Heinrich keinen Sinn ergaben. Nachdem nun der Vorleser nach einer Weile geendet hatte, sah er in die Runde der still Dasitzenden und entdeckte zu seiner nicht geringen Überraschung Heinrich, der mit dem Knecht noch an der Tür stand.

„Du bist der, den manche spöttisch Daubenfüßer oder auch Herrn Daubenfuß nennen“, sagte der Mann endlich mit einem Lächeln in die Stille hinein, „ich habe dich schon einmal gesehen.“

Heinrich nickte, am ganzen Körper zitternd. Ein alter Knecht holte ihn kurzerhand zum Feuer und half ihm aus den nassen Kleidern. Er wurde in eine Decke gehüllt und man bereitete ihm ein Lager nicht weit von der Feuerstelle. Niemand richtete eine Frage an ihn, und noch während im Halbdunkel die Bauersleute leise mit dem Vorleser redeten, wurde er müder und müder. Einige gezischte Worte wie „Franzosenbrut“ und „Teufelsbalg“ hörte er noch heraus, bevor er endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Man ließ Heinrich in den ersten Wochen all die Arbeiten auf dem Hof verrichten, die ein etwa sieben- oder achtjähriges, nicht sehr kräftiges Kind tun konnte. Er war dafür zuständig, dass der Brunnen nicht einfror, und so sah man ihn Tag und Nacht mit einem Stecken in der Tiefe herumstochern. Eines Tages aber, als endlich Tauwetter eingesetzt hatte, überall tröpfelte und gurgelte es, sandte man ihn frühmorgens mit einem Brief, den der Fremde, der noch immer auf dem Hof weilte, für den Bauern geschrieben hatte, nach Schwerte hinüber. Der Bauer hatte Angst, das zugelaufene Kind einer Hure ohne Wissen und Erlaubnis des Rates zu behalten. Dem Grafen von Hohen-Limburg, Friedrich Moritz zu Bentheim-Tecklenburg, von dem der Bauer das Land gepachtet hatte, würde der Fremde es bei einem geplanten Besuch in dessen Haus persönlich mitteilen. So war es verabredet. Insgeheim hoffte der Bauer, man würde den kleinen Heinrich abholen und in ein Waisenhaus stecken, denn so ein Balg aß mehr als es einbrachte.

Heinrich trottete los. Seine schlechten Schuhe waren schon nach wenigen Schritten durchnässt, der Weg war schlammig, doch er beschloss trotzdem, nicht direkt nach Schwerte zu gehen, sondern einen großen Umweg zu machen. Die Hütte, die er nach gut drei Stunden erreichte, war inzwischen zusammengebrochen, und als er zu dem Tümpel im Wald kam, war von der Leiche der Mutter nichts mehr zu sehen. Nur die kahlen Äste der Bäume spiegelten sich im trüben, toten Wasser, in dem noch einige Eisbrocken schwammen. Er warf einen Stein hinein, dann noch einen und noch einen, und als er keine Steine mehr fand, verließ er den Wald und ging hinunter in die Stadt. Er wollte, das hatte er sich fest vorgenommen, den dritten Prediger fragen, wo Emilia hingegangen ist.

Den Brief legte er, als auf sein schüchternes Klopfen niemand öffnete, vor die Tür des Rathauses. Dann ging er hinüber zur Kirche und fand den dritten Prediger lesend in der Sacristei.

„Heinrich“, rief er überrascht und legte die Broschüre zur Seite, „bist du allein? Wo ist Emilia?“

Heinrich schwieg.

„Deine Mutter ist also tot“, sagte der Prediger nach einer Weile, „und die Teufel werden, daran habe ich keine Zweifel, deine Schwester nach Breslau mitgenommen haben!“

Heinrich warf, statt zu antworten, einen Blick auf die Krücke, die neben dem Prediger gegen die Wand gelehnt stand, drehte sich auf dem Hacken herum und ging grußlos zur Tür hinaus. Der Prediger sah ihm erstaunt hinterher, tat aber nichts und vertiefte sich wieder in den Bericht, der vor einer neuen und zunehmend um sich greifenden religiösen Bewegung warnte, dem Pietismus, dem streng zu begegnen sei. Derweil lief Heinrich alle Wege ab, die er kannte, doch niemand in der Stadt beachtete ihn, niemand sah ihn an, es war, als wäre er unsichtbar, als ginge er wie ein Geist durch die Welt, der Geist eines kleinen Jungen, dem nichts anderes übrigblieb, als weiterzuleben und an seine Schwester zu denken, die jetzt, das immerhin wusste er nun, in Breslau bei den Teufeln ist, wo immer das auch sein mochte. Breslau! Das durfte er nicht vergessen.

Andreas Alberti, ein gebildeter Lutheraner, ein Schreib- und Rechenmeister, der selbst beim Adel hoch angesehen ist, war noch immer auf dem Bauernhof. Er hatte endlich, auf seinen dringlichen Wunsch hin, eine eigene Stube bekommen, um zu arbeiten. Seinetwegen schliefen die Mägde in der kleinen Scheune, die in guten Zeiten zusätzlich errichtet worden war, und die Knechte in einer Hütte neben dem Stall, während Heinrich sich sein Lager meist nahe der Feuerstelle suchte oder vorne beim Haupttor in einer kleinen Kammer schlief.

Heinrich lief, wann immer möglich, heimlich zu Alberti. Er nahm einen Hocker, stellte ihn neben den Meister und kletterte hinauf, um besser sehen zu können, wie Albertis Hand mit der Feder über das Papier fuhr, Kreise, Kringel und Haken zeichnete, die Feder in das Tintenfass tunkte, fortfuhr zu zeichnen, die Feder wieder eintunkte, und so weiter. Wenn Heinrich den Meister schüchtern bat vorzulesen, so tat er dies ohne zu zögern. Für Heinrich war es ein Wunder. Er nahm sich vor, diese Kunst des Schreibens und Lesens zu lernen, auch wenn natürlich niemand auf die Idee kam, ihn etwa auf die kleine Schule zu schicken, die einige Jahre zuvor in Schwerte vom dritten Prediger unter Mithilfe des zweiten eingerichtet worden war. Auch Alberti wäre sicher nicht darauf gekommen, dass ausgerechnet dieser zugelaufene Bengel, das Balg einer Hure, wie der Bauer dies selbst in Anwesenheit des Jungen sagte, überhaupt etwas lernen wollte. Heinrich erwies sich zur Überraschung Albertis aber als recht gelehrig. Nach wenigen Wochen schon konnte er alle Buchstaben aufmalen und las ganze Sätze ohne Hilfe, wenn auch stockend, stotternd und mit falscher Betonung. Vielleicht würde er sogar, das stellte Alberti ihm in Aussicht, einmal den Bauersleuten und dem Gesinde aus Arndts Werken Gebete vortragen dürfen. Das spornte Heinrich, wie beabsichtigt, an. Wo immer er war übte er, schrieb mit einem Stock in den tonigen Lehm den Namen seiner Schwester Emilia und die Worte Breslau und die Teufel. Als Alberti einmal sah, wie er den Namen der Stadt in den Staub schrieb, wunderte er sich nicht wenig und erzählte, als Heinrich nicht sagen wollte, wo er das Wort aufgeschnappt hatte, seinem Schüler einiges über Breslau, wo er selbst mit seinen Eltern gelebt habe und auf das Elisabeth-Gymnasium gegangen sei. Dort habe er viel Nützliches gelernt, auch das Lateinische und das Hebräische, ja sogar das Italienische, das Französische und Englische. Auf die Frage seines verwirrten Schülers, ob denn da auch die Teufel lebten, sagte er lächelnd, der Teufel sei überall und er niste sich ein, wo er nur könne.

Vom Rat der Stadt Schwerte war endlich, nach mehr als einem halben Jahr, ein Brief gekommen. Man sei, so hieß es, für das zugelaufene Kind des Namens Heinrich Holzkötter, gemeinhin Daubenfüßer genannt, nicht zuständig. Alberti hatte Heinrich den Brief vorgelesen, noch bevor der Bauer das Schriftstück in die Hand bekam. Am selben Abend tauchte Heinrich bei Alberti in dessen Studierstube auf.

„Warum“, begann er leise, „nennt man mich den Daubenfüßer?“

Alberti sah ihm an, dass diese Frage schon lange in ihm brennen musste, und auch in dem Brief hatte es ja geheißen, er werde Daubenfüßer genannt. Der Meister lachte.

„Nun“, sagte er, „du wirst so genannt, weil du dich gemeinhin leise und ohne ein Wort an die Menschen heranschleichst, weil du ihnen nicht gegenübertrittst. Und da die Menschen in diesem Landstrich und wahrscheinlich überall auf Gottes Erde so etwas für absonderlich ansehen, nennen sie dich eben Daubenfüßer.“

Er nahm den Jungen beim Kinn und zwang ihn, aufzusehen.

„Hättest du meine Stube“, fuhr er fort, „mit einigem Lärm betreten, dich geräuspert oder mit den Füßen gescharrt, oder etwa an die Tür geklopft, so hätte ich mich zu dir umgedreht. So aber hast du mich eine Weile unentschlossen beobachtet, und erst als du Mut gefasst hast, mir diese Frage zu stellen, bist du zu mir herangeschlichen.“

Heinrich, das sah Alberti deutlich, hatte Mühe, dem Gesagten zu folgen, doch er beließ es dabei und schickte den Jungen ohne eine weitere Erklärung fort. Alberti wusste indes recht genau, wo der Begriff herkam, denn daub oder taub hieß in dieser Gegend oft auch so viel wie wertlos, ein Mensch, der nicht arbeiten konnte, eine Frau, die keine Kinder gebar. Wie schnell war der gemeine Christenmensch bereit, andere abzutun! Heinrich würde sich nun jedenfalls in einen Winkel zurückziehen und grübeln, über seinen Namen und sich selbst, und das mochte nicht das Schlechteste sein.

Im Herbst des selben Jahres, seit einer Woche hatte es fast ununterbrochen geregnet, erreichten Fremde zu Pferd, bis über die Knie mit Schlamm bespritzt, den Hof. Sie trugen sichtbar Säbel und Pistolen bei sich, so dass dem Knecht, dem sie zuerst begegneten, überdeutlich eine gewisse Furcht anzumerken war.

„Mach dir nicht ins Hemd, Bursche“, sagte einer lachend. Den herbeieilenden Bauern fragten sie nach Meister Alberti, der aber war auf die Jagd gegangen mit dem Grafen von Hohen-Limburg, von dem nämlich, so berichtete der Bauer ungefragt und ebenfalls ängstlich auf die Waffen schielend, er den Hof für fünfzehn Jahre gepachtet habe, die Abgaben und Lasten seien sehr hoch, nicht zuletzt weil der Graf jährlich zusätzlich ein gut gemästetes Schwein und außerdem häufige Fuhrdienste verlangte, selbst auch in der Erntezeit. Die Herren sagten nichts dazu. Nach kurzer Beratschlagung aber war beschlossen, auf Alberti zu warten, und so kam es, dass selbst die Bauersleute in der Scheune schlafen mussten, während sich die Fremden, fünf Männer im besten Alter, in den Stuben hinter der Feuerstelle einrichteten.

Nach zwei Tagen kam Alberti endlich mit nur geringer Jagdbeute zurück. Herzlich begrüßte er die fünf Männer, die er, wie er erklärte, noch aus seiner Leipziger Zeit kannte. Dann zog er sich zurück, um sich zu waschen und umzukleiden, doch er beeilte sich, da er es kaum erwarten konnte, die Gerätschaften und die Bücher in Augenschein zu nehmen. Vor allem die neuartigen Mikroskope und die Micrographia Nova, erst vor drei Jahren gedruckt, machten sichtlich den größten Eindruck auf ihn. Auch ein weiteres, schon etwa älteres Buch betrachtete er mit leuchtenden Augen, und als Heinrich, den bisher niemand bemerkt hatte, fragte, was das für ein Buch sei, da las er ihm einfach den Titel vor, nämlich Vierzehnte Schiffart, oder Gründliche und wahrhafte Beschreibung des Neuen Engellandts, einer Landschafft in America, unter dem Capitein Johann Schmidt, Ritter und Admiral derselben Landtschafft, auch dem glücklichen Fortgang so er mit Sechs Schiffen deren Orts gehabt. Beneben einem kurzen Discurs, wie es ihm auf der Reise ergangen, von den Franzosen gefangen und der Gefangenschaft erlediget, und wie es itzo daselbst beschaffen, alles nechst abgelaufenen 1616. Jahres, durch einen Liebhaber der Historien aus dem Englischen in Hochteutsch versetzt im Jahr 1628. Heinrich begriff nichts, nickte aber wie ein Großer. Alles lachte und schlug sich auf die Schenkel. Heinrich aber blieb ernst.

Den ganzen Abend über saß man schließlich noch beim Wein, den die Herren beisteuerten, und frischem, wohlschmeckendem Brot im Hof. Das Wetter hatte sich gebessert, die Sonne war gegen Abend noch durch die Wolken gestoßen, so dass die Luft lau und schwül war und selbst das einfache Herumsitzen allen den Schweiß auf die Stirn trieb. Trotzdem holte ein Knecht, als endlich nur noch das Feuer die Gesichter erhellte, seine Flöte und blies einige schiefe Lieder, zu denen die Fremden, im Matsch herumstampfend, mit den Mägden tanzten, dass es nur so spritzte, all das sehr zum Unwillen der Bauersfrau, von deren bösen Blicken sich aber keiner der Kerle abhalten ließ, den Frauen ordentlich in die Hintern zu kneifen. Als Alberti, der dem Treiben weintrinkend und lächelnd zugesehen hatte wie ein mildes altes Väterchen, dann spät und ein wenig betrunken in seine Stube kam, fand er Heinrich über der Micrographia Nova, völlig starr und mit offenem Mund hineinblickend. Anstatt böse zu reagieren, weder sollte Heinrich ein Schwefelholz noch eine Kerze entzünden, und wertvolle Bücher aufschlagen sollte er auch nicht, lächelte Alberti.

„Das ist noch gar nichts, mein Freund“, sagte er, „denn das sind nur die kleinen Wunder.“

Diesmal war es am Daubenfüßer, heftig zu erschrecken. Am nächsten Tag reisten die Kaufleute wieder ab.

Natürlich war es ein Glück für Heinrich, an diesem Platz der Welt mit Andreas Alberti einen gebildeten Menschen zu haben, der sich um die Herkunft des Knaben nicht scherte und sich einfach die Freiheit nahm, ihn zu behandeln, wie er es für richtig hielt. Immerhin war er, Alberti, ohnehin aus seinem Stand gefallen und ging inzwischen, wenn er sich selbst seiner Situation wegen Rechenschaft ablegte, sogar davon aus, den orthodoxen Lutheranern als Ketzer, den Reformierten und den Calvinisten als Indifferentist und den Katholiken als heidnischer Höllenhund zu gelten. Selbst die Anhänger Philipp Jacob Speners, der ein zurückhaltender, fast schüchterner Mann gewesen war und den er selbst noch vor wenigen Jahren auf seiner bisher letzten größeren Reise in Dresden gesehen hatte, waren wohl denkbar schlecht auf ihn zu sprechen. Wem die Wiedergeburt zu Lebzeiten, die persönliche Heilsaneignung, ja die vollkommene Christwerdung einziges Ziel auf Erden ist, dem muss wohl das weltliche Leben und die Liebe zur Wissenschaft als ein Grundirrtum erscheinen. So hatte er manchen Discours mit den Pietisten ausgefochten, in Mülheim an der Ruhr, in Bremen, in Detmold, und überall war er am Ende mit kalter Höflichkeit verabschiedet worden. Und nun saß er fest, auf einem Bauernhof bei Schwerte, im Niemandsland, weil er unschlüssig war und auch seit geraumer Zeit keine Nachrichten erhalten hatte, denen er trauen mochte. Ich werde, dachte er oft, der erste Mensch sein, der auf einem Bauernhof eine Bibliothek zusammenstellt, und tatsächlich lagen bereits mehrere Dutzend Bücher auf dem einfach gezimmerten Holztisch. Neben dem eben erst neu erworbenen Werk fanden sich solche über Heil- und Pflanzenkunde und Theologie, vor allem aber Konvolute mit theologischen Streitschriften, denen eine Weile sein besonderes Augenmerk gegolten hatte. Auch Briefe lagen stapelweise herum, unter anderem die seines Leipziger Mitstudenten und guten Freundes Johann Georg Böse, den es jetzt nach Soltau verschlagen hatte. Mit ihm korrespondierte er noch immer regelmäßig. Zuletzt erst hatte er erfahren, dass Böse an einem Tractat arbeitete, in dem die ursprünglich von Spener wieder aufgeworfene Frage behandelt wurde, ob Gott dem Menschen zu Lebzeiten einen diesem nicht erkennbaren Termin setzt, nach dessen Überschreitung dieser Mensch sich nicht mehr werde bekehren können. Für ihn, Alberti, war diese Frage nicht wichtig, ja er erachtete sie sogar eigentlich für recht lächerlich. So kleinlich, davon ging er aus, würde Gott schon nicht sein. Niemand aber, und am wenigsten Andreas Alberti, der seinen Böse zu kennen glaubte, konnte ahnen, dass sich der bitterböse Terminismusstreit Jahre später aus eben dieser Schrift Böses entwickeln würde, und ebenso wenig, dass der Verfasser darüber sterben müsste. Tatsache aber ist, überlegte er jetzt, dass nicht der brave Johann aus Leipzig verwiesen worden ist, sondern ich, Alberti, nicht nur weil ich mich als Student der Theologie in aller Öffentlichkeit den Mitteldingen, Kartenspiel, Tanz und ein wenig auch den Frauen hingegeben habe, sondern vor allem auch, weil ich wohl als ein Anhänger des Cartesius galt. Tatsächlich hatte Alberti damals trotz eines ausdrücklichen Verbots die Privatvorlesungen des Christian Thomasius besucht. Böse allerdings schrieb ihm indes nicht zum ersten Mal, es könne trotzdem keine Rede davon sein, dass Alberti verfolgt werde, vielmehr sei er nichts weiter als ein abgebrochener Theologiestudent, den niemand kenne und der langsam alt und eigenbrötlerisch werde, dort in der westfälischen Diaspora. Und hatte er nicht recht? Auch der Graf von Hohen-Limburg, dem er seinen Werdegang nicht vorenthalten hatte, war entschieden dieser Ansicht, ja er lachte sogar über die Blödheit eines wackeren Gelehrten, der statt im Schloss, die Einladung stehe, lieber auf einem schmutzigen Bauernhof sein Leben friste. Aber habe ich hier nicht alle Freiheiten, dachte er immer wieder, denn wenn es auch an Bequemlichkeit mangelte, so konnte er, so lange nur seine Mittel reichten, nach Lust und Laune Gottes Welt studieren. Natürlich, er könnte die Stelle eines Informators übernehmen, irgendwo bei der weitverbreiteten Verwandtschaft des Grafen, da hegte er keinerlei Zweifel. Doch etwas hatte ihn immer zögern lassen, und nun wusste er auch warum, denn Gott hatte ihm Heinrich Daubenfüßer gesandt, einen Knaben, den er noch nie hatte lachen sehen, der aber dennoch bei aller Geselligkeit zu finden war, aufmerksam und wissbegierig im Hintergrund alles beobachtend. Manchmal sah er ihn angestrengt lesen in Arndts Wahrem Christenthum oder in dessen Paradies-Gärtlein, und er fragte sich, ob er ihm nicht ein weltliches Buch geben sollte, mit dem sich doch ebenso gut das Lesen lernen lasse. Doch Caspar von Lohensteins Werke oder diejenigen Grimmelshausens wären sicher ungeeignet, und für galante Romane, die er selbst in freien Augenblicken gern zur Hand nahm, war Heinrich zu jung. So blieben nur Arndts Erbauungsbüchlein, und das mochte dann wohl ausreichen.

Die Lektüre Heinrichs blieb also recht einseitig, so dass er sich demzufolge mit kaum etwas mehr beschäftigte als mit der Frage nach dem Teufel und dessen Erscheinung auf Erden, denn dies war notwendigerweise eines der Hauptthemen in Arndts Schriften. In jedem Fall, überlegte Heinrich, hat der Teufel viele Namen und kann in vielerlei Gestalten auftreten. Die Bauersleute und die Knechte und Mägde sprachen vom Deibel, Meister Alberti nannte ihn auch Beelzebub, Luzifer oder Antichrist. Im Wahren Christenthum wurde er meist nur Teufel oder Satan genannt, ein grimmigen Menschenfeind, der wie ein brüllender Löwe umhergeht und Ausschau hält, welchen armen Sünder er verschlingen könne. Der Meister hatte eine dieser Stellen vor nicht langer Zeit vorgelesen, und in allen Gesichtern war Furcht zu sehen gewesen. Erst als er eine tröstliche Stelle über das Leben Jesu vortrug, fassten sich alle wieder und gingen friedlich schlafen. Wenn nur, dachte Heinrich immer öfter, der Meister mich zum Vorleser bestimmen würde, so wäre mir leichter ums Herz, denn ihm war aufgefallen, wie gleichmütig Meister Alberti während seiner Lesungen immer blieb. Doch Heinrich wusste auch, dass der Teufel diejenigen, die sich zu sicher fühlten, heimsuchen würde, um sich in deren Herz einzunisten. Er hatte schon lange vor, den Meister wegen all dieser Dinge zu fragen, denn er fand, so sehr er auch suchte, kein passendes Gebet für seine Schwester Emilia, an die er so oft denken musste und die ja schließlich von den Teufeln geraubt worden war. Aber auch die, wie Alberti sie nannte, kleinen Teufel der Micrographia Nova, all die Fliegen und Mücken und Flöhe, beeindruckten ihn, und zwar so sehr, dass er einmal träumte, wie sie aus Wunden herauskrochen, die sich überall an seinem Leib auftaten.

DAS GEBÄLK

Nachdem zu Beginn des Winters ein vom Grafen beauftragter Zimmermann das gemästete Schwein abgeholt hatte, war kein Fremder mehr auf dem Hof gewesen. Anfang Februar aber erschienen drei reisende Musikanten, vor Kälte zitternd und schon ganz blaugefroren, und baten um Unterkunft. Der Bauer hat zwar keinen Sinn für dererlei Leute, doch eine Aufheiterung mochte wohl nicht das Schlechteste sein. Vor lauter Langeweile häuften sich die Streitigkeiten in der kleinen Gemeinschaft. Was sollte man schon tun, wenn alles unter einer alten, festgefrorenen Schneedecke lag, abgesehen von den üblichen Arbeiten im Stall und dem Flachsspinnen. Es wäre wohl doch besser gewesen, alle Männer mit Ausnahme von Engelbert Ende Oktober mit dem Ablauf der Verträge fortgeschickt zu haben.

„In den Tod wirst du sie schicken“, hatte seine Frau eingewandt, und am Ende hatte er nachgegeben.

Er erlaubte den Spielleuten, sich für einige Tage auf dem Hof aufzuhalten. Auch Meister Alberti, der nach wie vor stillvergnügt den lieben langen Tag über seinen Büchern saß, wenn er nicht Heinrich im Lesen und Schreiben unterrichtete, schien einer Abwechslung nicht abgeneigt zu sein. Lächelnd sah er zu, wie die Musiker Radleier, Fidel und Flöte auspackten. Bald auch waren Lieder gefunden, die alle kannten. Die Musiker, die aus dem Hessischen stammten, gaben in ihrer Mundart manche Strophe hinzu, was Anlass genug gab, oftmals lauthals in Lachen auszubrechen. Alberti beteiligte sich nicht an dem Treiben und machte sich stattdessen Notizen zu den Liedern, ließ sich aber immerhin überreden, einen Krug Wein aus seinem Vorrat zu stiften, was die Stimmung weiter verbesserte. Eine der drei Mägde, alle Anna mit Namen, nötigte schließlich auch den still in der Ecke hockenden Heinrich zum Tanz, und natürlich lachte man über ihn, weil er sich dumm anstellte und über die eigenen Füße stolperte. Mit hochrotem Kopf lief er unter dem Johlen der Knechte hinaus und zur Scheune, wo er hoch oben im Gebälk einen Platz hatte, den niemand kannte. Dort lag in einer Aussparung sein Messer, immer noch sein einziger Besitz, und Lindenholzstücke, aus denen er Figuren schnitzte.

Behände wie ein Äffchen kletterte er ins Dachgebälk hinauf und kauerte sich auf einen Balken. Der Schnee schimmerte durch die Ritzen der Verschalung. Von der Musik war kaum etwas zu hören, nur ab und an drang ein schriller Flötenton zu ihm herauf. Er ärgerte sich über Anna.

„Die dumme Hexe“, sagte er laut, „die soll sich in Acht nehmen!“

Plötzlich drang Musik in den Hof, kurz nur, die Tür zum Haus wurde sogleich wieder geschlossen. An den näherkommenden Stimmen erkannte er Anna, die ihn so bloßgestellt hatte, und die ältere Anna, die den linken Fuß ein wenig nachzog. Jetzt bloß keinen Mucks von sich geben, dachte Heinrich, als die beiden Frauen die Scheune betraten. Er hielt den Atem an. Zunächst war nichts zu hören. Dann übergab sich eine der Beiden mehrmals und würgte fürchterlich dabei.

„In deinem Zustand so wild zu tanzen“, hörte Heinrich endlich die Ältere sagen, „das kann nicht gut gehen!“

Schweigen, doch heftiges Atmen.

„Meinst du“, fuhr sie fort, „ich wüsste es nicht. Einer der Herren Kaufleute, die im letzten Sommer wegen dem Meister hier waren, hat in der Nacht die Kammer verlassen. Ich habe es gehört!“

Wieder Schweigen, endlich ein Weinen, das zu einem Wimmern wird.

„Auch ich habe gewartet, aber vergebens.“

Leises Lachen, bis es wieder still ist.

„Er hat mir“, sagt nach einer Weile die Jüngere mit belegter Stimme, „über das Fell geleckt, ganz und gar ausgezogen hat er sich, seine Rute stand mächtig, das kann ich dir sagen. Reiten konnte man darauf, bis ins Schlaraffenland hinein!“

Heinrich wurde ganz seltsam zumute. Sein kleiner Pimmel war steif geworden. Das hatten natürlich die so seltsam gesprochenen Worte gemacht. Nach einer Weile, die Frauen schwiegen, schrumpfte sein Pimmelchen wieder zusammen.

„Die Fut hat er mir geleckt, von oben bis unten, und die Brüste hat er mir gerieben und seine Rute dazwischengesteckt“, kam es dann aber plötzlich wieder aus der Tiefe, kehlig und rau. Schon reckte sich Heinrichs Pimmel wieder auf.

„Und dann“, hörte er weiter, „fuhr er in mich und er keuchte so laut, dass ich Angst bekam, der Bauer würde es hören.“

Pause.

„Ja, und bald“, sagte die ältere Anna leise, „kommt der Herr Kaufmann an der selben Stelle als ein neuer Mensch wieder heraus.“

Meister Alberti ging Ende März, als das Wetter milder wurde, auf Reisen, er hatte sich endlich dazu durchgerungen. Es zog ihn nach Amsterdam, um, wie er sagte, die neuesten Bücher der Wissenschaft zu sehen und zu studieren. Das war nicht gelogen, doch der Hauptgrund lag in der zunehmenden Langeweile, die ihn immer mehr bedrückte und ihm oft sogar das Lesen vergällte. Böse, sein guter Freund, mochte schon recht haben mit seiner Einschätzung. Ich bin also, sagte sich Alberti, nichts weiter als ein verkrachter Student, ein unbeschriebenes Blatt, und wer weiß, vielleicht würde ich sogar in Leipzig freundliche Aufnahme finden. Doch es zog ihn zum Meer, zu den Häfen, zu Menschen aller Herren Länder. Die Oberaufsicht über die wenigen verbliebenen, für ihn selbst unwichtigen Bücher gab er Heinrich, außerdem drückte er ihm ein handschriftliches, sauber in Leder gebundenes Glossar in die Hand, das er einmal in Leipzig bei einer Haushaltsauflösung billig erstanden hatte und das die deutschen Worte für zwei- oder dreihundert lateinische Begriffe alphabetisch auflistete. Das war sein Abschiedsgeschenk an den Jungen. So würde er eine Art von Besitz haben. Er hatte ihm seine Beweggründe genannt, selbst wenn Heinrich nicht alles begriff, hatte ihm von Breslau und auch von Leipzig gesprochen, wo er wohl ebenso gut hätte hingehen können, doch seine Wahl sei nun mal auf Amsterdam gefallen, auch, und da knuffte er dem Jungen in die Seite, der hübschen Frauen wegen, denn schließlich konnten ja wohl nicht nur die im Osten die schönsten sein. Heinrich nickte ernst. Ein seltsamer Vogel ist das, dachte Alberti und packte weiter seine Habseligkeiten.

Als das Pferd, eine Gabe des Grafen, gesattelt und alles Gepäck aufgebunden war, sah sich Alberti nach Heinrich um. Er wollte sich in aller Form verabschieden, doch der Junge war nicht zu sehen. Sicher hockt er in irgendeinem Versteck, dachte er, und beobachtet meine Abreise. Und tatsächlich saß Heinrich oben im Gebälk und sah durch einen Spalt, wie der Meister Alberti mit den Bauersleuten sprach, auch mit der schwangeren Anna, der er zum Abschied die Hand auf die Stirn legte. Dann zog er mehrmals kräftig an den Zügeln, um das nervöse Pferd zu beruhigen, und ritt, ohne sich noch einmal umzuwenden, langsam davon.

Eines Tages war Anna verschwunden. Einige hatten sie noch am frühen Morgen gesehen, wie sie breitbeinig zum Brunnen watschelte und Wasser holte. Mit Einbruch der Nacht, die Schweine waren eben wieder in ihren Ställen, traf man sich am Feuer, aß seinen Brei und trank Bier. Niemand sprach. Schließlich stand der Bauer auf, holte die Bücher Arndts und legte sie Heinrich wortlos in die Hand, auch wenn er wusste, dass es seiner Frau nicht recht war, dass nun der Daubenfüßer vorlas. Doch es war eine schöne Gewohnheit und ein willkommener Trost, sonntags und eben auch gelegentlich am Ende eines mühseligen Tages ein christlich’ Wort zu hören. Warum ausgerechnet das Hurenbalg, dieser Taugenichts, das Lesen hatte lernen dürfen, konnte allerdings nur Gott wissen. Das dachte auch die Bauersfrau, wie sie ihn jetzt dort stehen sah, Sohn eines welschen Hurenbocks und einer Hure. Aber warum las er denn nicht, diese Ausgeburt der Hölle? Alle blickten zu ihm hin und warteten, doch Heinrich suchte in aller Seelenruhe eine Stelle, die er einmal zufällig aufgeschlagen und gelesen hatte. Er war ganz sicher, sie würde passen zu Anna mit ihrem dicken Bauch. Endlich wurde er fündig.

„Siehe“, begann er angestrengt, er musste die Worte geradezu mit Gewalt hinauspressen, „siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk.“

Weiter kam er nicht, denn die Bauersfrau sprang auf, riss ihm das Buch aus den Händen und spuckte ihm ins Gesicht.

„Hurensohn bleibt Hurensohn“, schrie sie mit hasserfüllter Stimme, „des Teufels bist du, des Teufels!“

Auch der Bauer funkelte ihn mit ängstlich kleinen Augen an, murmelte sein ewiges „Satansbraten“, nahm die Bücher und trug sie zurück ins Haus. Schweigend ging man auseinander.

Den Juli und fast den ganzen August regnete es nahezu ununterbrochen. Weder Emmer noch Hirse waren zu retten, die Sensen blieben unbenutzt. Die Bauersfrau gab dem Daubenfüßer, allen Huren dieser Welt und dem Deibel die Schuld für den Ernteausfall. Sie fluchte und jammerte fortwährend vor sich hin. Als sich endlich Ende August klares und trockenes Wetter einstellte, war es zu spät, selbst wenn nun Tag und Nacht gearbeitet wurde. Ein Großteil der Ernte war verloren, so oder so, und wo sonst mehrere Dutzend Garben aufgestellt waren, fanden sich in diesem Jahr nur wenige. Zu allem Überfluss erschien an einem Abend Anfang September bei einbrechender Dunkelheit der Graf von Hohen-Limburg höchstselbst auf dem Hof. Mit ihm kam ein pockennarbiger Riese auf einer alten Mähre. Der Graf ritt standesgemäß, wenn auch ein wenig schwankend und mit schiefsitzender Perücke. Er hatte auf fast jedem seiner Höfe feststellen müssen, dass die Ernte kaum der Rede wert war. Seine Laune war übler und übler geworden, denn wie sollte er nun, fragte er sich, seine Schulden begleichen. Seit gestern hatte er nicht weniger als fünf Bauern vor Wut die Nase blutig geschlagen. Das pockennarbige Ungetüm, Knu mit Namen, dem Zunge und Ohren fehlten, war weniger rücksichtsvoll und verdrosch, wen er nur vor die Fäuste bekam, ein Mann fürs Grobe, den man immer gut vorbeischicken konnte, wenn alles Verhandeln oder Drohen nichts half, wenn mal wieder klargemacht werden musste, wer Herr ist und wer Untertan. Zwei Knechte erwischte es böse an diesem Abend, und auch die Bauersfrau bekam einen Hieb ab, an den sie lange denken musste.

Zwei, drei Jahre gingen ins Land. Heinrichs Kräfte wuchsen zusehends. Er war auch der einzige, der mit gutem Erfolg Lachse aus der Ruhr fischen konnte, ohne dabei zu ertrinken. Manche sagten sogar, er könne schwimmen wie ein Fisch. So wurde er nach und nach unentbehrlich. Eines schönen Sommertags jedoch trat er, schwer beladen, in ein Loch und verstauchte sich den linken Fuß. Das Geschrei war groß. Die Bauersfrau sagte zwar, „da hat er ja nun seinen Klumpfuß, der Deibel“, doch auch sie wusste, dass Heinrichs Arbeitskraft bitter fehlen würde. So lag er auf seinem Strohsack und las alles, was Meister Alberti zurückgelassen hatte, selbst ein Buch über das Rechnen. Einige Bücher las er mehrmals, denn sein Fuß war auch nach zwei Wochen noch steif und geschwollen, trotz allerlei Einreibungen. Ein Medicus aus Schwerte sah sich die Sache an, verschlang eine ausgedehnte Mahlzeit, verordnete jedoch keinerlei Medizin.

„Wird schon, wird schon werden, immer fleißig einreiben und den Fuß hochlegen“, sagte er und empfahl sich, satt und munter.

Schließlich waren über drei Wochen seit dem Fehltritt vergangen, als gegen Abend die Hunde anschlugen und ein jüdischer Krämer, ein älterer Mann in einem alten, braunen Rock, auf dem Hof erschien. Den leichten zweirädrigen Karren, auf dem sich eine Art Kommode mit kleinen Schubfächern befand, zog er selbst, was ihm einige Mühe bereiten musste. Sicherlich hätte der Bauer ihn vom Hof verwiesen, wäre da nicht die Sache mit Heinrich gewesen. So trat er freundlich auf ihn zu, wünschte ihm einen guten Tag und führte ihn umstandslos zu Heinrich, damit er sich den Fuß einmal ansehe. Schon aber tauchte die Bauersfrau, die den Karren gesehen hatte und der Übles schwante, im Kabuff auf, starrte den alten Mann mit offenem Mund an und begann, ihn zu beschimpfen, die Juden hätten den Heiland getötet, vertilgen solle man die Brut, doch weiter kam sie nicht, denn der Bauer verabreichte ihr ohne Vorwarnung eine schallende Ohrfeige und beförderte sie mit einem Tritt in den Hintern hinaus. Schimpfend zog sie von dannen und der Jude staunte. Lag es nun an dieser Ohrfeige oder nicht, jedenfalls winkte der Alte den Bauern nah an sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Heinrich verstand jedes Wort, sein Gehör war scharf wie nie, seit er in diesem Verschlag liegen musste. Wenn es hilft, dachte er, soll es mir recht sein, denn für immer einen steifen Fuß zu haben, war keine schöne Aussicht. Der Medicus hatte sogar davon gesprochen, den Fuß gegen einen kleinen Obolus abschneiden zu können, wenn es wirklich nicht besser würde damit, denn das helfe immer.

Der Bauer nahm die Sache selbst in die Hand. Er stiefelte los, stampfte quer über den Hof, ging ins Haus, lief auf der Tenne an den jetzt im Sommer leeren Buchten vorbei und verschwand schließlich in einer der kleinen Kammern vorne am Haupttor. Schwer atmend horchte er noch eine Weile in das stille Haus hinein, dann räumte er eine Kiste mit zerbrochenem Werkzeug zur Seite, zog eine weitere, kleinere Kiste hervor und entnahm ihr eine schöne, große, dicke Blutwurst, um schließlich an der Feuerstelle im Hinausgehen einen schweren Ast zu greifen und wieder in den Hof zu treten. Die beiden Wachhunde, die schnell wie der Wind auftauchten und an ihren Leinen zerrten, vertrieb er mit Tritten, doch als ein vor einiger Zeit zugelaufener Rüde langsam, zögernd und aus schlechter Erfahrung misstrauisch dreinblickend näher heranschlich, ließ er die Wurst fallen. Noch bevor der Hund die Wurst auch nur im Maul hatte, traf ihn ein Keulenhieb. Dann noch ein Hieb und der Hund war tot. Kurz darauf erschien der Bauer mit dem Kadaver im Kabuff. Er reichte dem Juden generös die Wurst, der sie jedoch, einen Schritt zurücktretend und die Hände hochreißend, entsetzt ablehnte. Achselzuckend steckte der Bauer sie wieder ein, umso besser, dann behalte ich sie, dachte er, und legte den Hund neben Heinrich. Der Schädel des Tieres war komplett zertrümmert, ein Auge blickte Heinrich triefend und halb heraushängend an. Niemand sprach ein Wort. Nun hieb der Bauer sein Messer mehrmals in den Brustkorb des Hundes, bis ein großes, blutiges Loch entstanden war, das er, hineingreifend und kräftig ziehend und zerrend, so dass es ordentlich knackte, noch vergrößerte. Ohne Erstaunen sah Heinrich zu und steckte endlich auf Geheiß des Krämers, der dem Prozedere bitter lächelnd zugesehen hatte, seinen kranken Fuß in den Kadaver. Der Bauer nahm den Juden beim Arm und führte ihn hinaus. Zum Dank kaufte er ihm ein paar Tinkturen ab.

Heinrich machte es sich derweil bequem. So ein herrliches Gefühl würde er sicher nie wieder erleben! Und war der Fuß nicht schon besser? Bald schlief er, halb liegend, halb sitzend ein und träumte, wie er sinnlos über den Hof lief, einfach hin und her, vom Haus zur Scheune und von der Scheune zum Stall, vom Stall zum Haus und von da zur Scheune und immer so weiter. Als er aufwachte, war er völlig erschöpft und rang nach Luft. Sein Fuß steckte noch immer in dem toten Hund, der langsam kalt wurde.

Nach der wundersamen Heilung wuchs der Unwille der Bauersfrau. Es war ihr suspekt, dass der Junge nicht von einem christlichen Arzt geheilt worden war, sondern von einem jüdischen Quacksalber. Sie glaubte nun umso mehr, Heinrich habe nachts Umgang mit dem Teufel und bespringe die Mägde, ihrer jetzt vier, nämlich die beiden verbliebenen Annas und die Schwestern Margarethe und Tine, die kurz vor Einbruch des Winters von Verwandten aus dem Norden hergeschickt worden waren. Die Ankunft der beiden Mädchen hatte Heinrich in gehörige Aufregung versetzt. Er war nun endgültig kein Kind mehr, und wenn er es nicht mehr auszuhalten vermochte, wenn es ihm beim Anblick der Mädchen heiß und kalt zugleich wurde, suchte er sich einen ruhigen Winkel und legte Hand an sich, mochte es auch Sünde sein. Mit dem Teufel jedoch hatte er noch keine Bekanntschaft gemacht, und das hatte er auch nicht vor, da konnte die Bauersfrau krakeelen wie sie wollte. Die beiden jungen Mädchen beobachtete er, ohne sich etwas anmerken zu lassen, so glaubte er wenigstens. Zur Tat schritt er nicht, denn zwar hatte er von den Knechten einige tolldreiste Geschichten gehört, je betrunkener sie waren, desto ausschweifender ihre Erlebnisse, doch stieß die allzu grobe Art ihn ab. So wollte er einer Frau nicht beiwohnen.

Tine und Margarethe kluckten die erste Zeit viel zusammen und sabbelten in ihrer eigenen Mundart, die keiner auf dem Hof verstand. Nicht selten ging ein Knecht oder eine der beiden Annas lautstark dazwischen, damit die Arbeit getan wurde. Jeder konnte erkennen, dass Heimweh der Grund dafür war, dass sie sich so oft wie möglich in ihrer eigenen Sprache unterhielten, eine Mischung des Plattdeutschen ihres Dorfes mit eigenen Ausdrücken, die sonst niemand kannte. Je öfter sie aber mit anderen zusammenarbeiteten, desto mehr befleißigten sie sich einer für alle verständlichen Ausdrucksweise. Gegenüber Heinrich blieben sie allerdings wortkarg, vor allem Tine, die ihn, statt etwas zu sagen, meist nur mit ihrem Silberblick ansah.

Eines Abends, ein gutes halbes Jahr nach der Ankunft Tines und Margarethes, saß alles im Haus an der Feuerstelle. Einer der älteren Knechte, Engelbert, hatte zu seinem Namenstag Wein herangeschafft. Niemand wusste, wie ihm das gelungen war. Seinen Geburtstag kannte er nicht, und so feierte er immer am 10. April, am Tag des Engelbert von Eggersdorf, der, so hatte ihm ein Prediger einmal erzählt, ein großer Mann gewesen sei. Heinrich beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung. Besonders die beiden Mädchen behielt er im Auge. Sie saßen ein wenig abgesondert und blickten gelangweilt um sich. Bald bemerkte er, dass die Beiden sich langsam und wie zufällig zur Tür bewegten. Schließlich schob Margarethe ihre Schwester in einem günstigen Augenblick hinaus ins Freie und folgte ihr. Niemand außer Heinrich hatte etwas bemerkt. Er machte einen Bogen um die Feiernden, öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte hindurch. Die Mädchen standen im hellsten Mondlicht und sprachen miteinander. Zum Fluss wollten sie, das hörte er heraus. Er schloss die Tür und setzte sich wieder an seinen Platz.

Nach drei Bechern gesüßtem Wein, Engelbert füllte allen immer wieder nach, gelang es Heinrich nicht mehr aufzustehen. Anna humpelte zwar herüber und reichte ihm die Hand, ließ aber im letzten Moment wieder los. Zu allem Überfluss setzte sich die jüngere Anna auf seinen Schoß und hoppelte auf ihm herum. Sogar die Bauersfrau lachte jetzt, mit dem Oberkörper hin- und herwackelnd, ja überhaupt lachte hier plötzlich jeder. Die Knechte sangen ein Lied, sicher etwas Anzügliches. Heinrich verstand kein Wort. Schließlich nickte er weg, kam aber wieder zu sich, als Anna ihm einen Becher Wein an den Mund setzte und so lange kippelte, bis er alles geschluckt hatte.

„Komm, mein Kleiner“, sagte sie, „schön trinken, dann traust du dich was, willst doch an meine Päppe, das seh ich dir an.“

Um hinaus ins Freie zu gelangen blieb Heinrich schließlich nichts anderes übrig, als hinauszukriechen. Kaum im Hof, brach es in einem Schwall aus ihm heraus. Er würgte noch ein paar Mal, dann fiel er in seine Kotze und schlief ein. Als ein Knecht neben ihm stand und pinkelte, wachte er auf.

„Komm rein, Daubenfüßer“, lallte er, „die Bauersleut sind in tiefem Schlaf“, doch er ließ Heinrich einfach liegen.

„Wein mit Katzenkraut“, sagte er noch und kicherte, bis er wieder in der Tür verschwunden war.

Heinrich fror fürchterlich. Endlich aber, von drinnen war immer noch Gekreisch und Gepolter zu hören, gelang es ihm, auf die Beine zu kommen. Ihm schwindelte, am Himmel rasten die Wolken am Mond vorbei. Die Mädchen sind sicher noch unterwegs, fiel ihm ein, aber an eine Verfolgung war natürlich nicht mehr zu denken. Er schleppte sich in die Scheune und kletterte mit großer Mühe die Leiter zum Heuboden hinauf. Schwer atmend ließ er sich in das alte, trockene Heu fallen. Der Mond übergoss ihn mit Licht. Die Luke stand auf. Wein mit Katzenkraut, überlegte er. Das hatte man wohl den Bauersleuten eingetrichtert. Ihm jedenfalls reichten die drei oder vier Becher Wein, die er intus hatte. Schlafen wollte er, nur noch schlafen, doch da hörte er die Stimmen von Tine und Margarethe. Bald schon fand er sich hoch oben im Gebälk an seinem Platz wieder. Durch einen Schlitz zwischen den Brettern sah er die Mädchen, die mitten auf dem Hof im hellen Mondlicht standen. Sie flüsterten miteinander, kommen aber schließlich in die Scheune und klettern die Leiter hoch. Im Mondlicht gut zu erkennen liegen sie genau unter ihm im Heu. Fast scheint es, als sehe Tine ihn mit ihrem Silberblick lächelnd an, doch das konnte nicht sein. Hier oben ist es schwarz wie die Hölle, denkt er, niemand kann mich sehen, niemand.

Heinrich zuckt heftig zusammen. Er musste wohl eingenickt sein. Sterne blitzen vor seinen Augen, ihm schwindelt. Stürzte er ab, so bräche er sich das Genick. Ich muss nach unten, denkt er. Vorsichtig stellt er den linken Fuß auf den Balken, er kannte hier jeden Tritt, lässt sich ein Stückchen hinunter, um mit dem rechten Fuß Halt zu finden, es gelingt, er atmet tief durch, dann wieder den linken Fuß, so musste es gehen, der rechte, der linke, dann aber tritt er plötzlich und unvermutet ins Leere und stürzt. Warum er nicht auf Tine fiel, sondern neben ihr ins Heu, glaubte Heinrich sein Leben lang Gott verdanken zu müssen – einmal hilft Gott jedem Menschen, und zwar dann, wenn er es am wenigsten verdient. Tine jedenfalls erwacht, sieht ihn an, wie er da mondbleich liegt wie eine Erscheinung.

„Na, du Düwel“, sagt sie nach einer Weile ganz langsam, „unterwegs, die Weiber zu bespringen?“

Sie ist betrunken, das merkt Heinrich sofort. Sicher haben sie Wein gestohlen, deswegen wollten sie unbedingt fort, denkt Heinrich, und da grabscht Tine auch schon nach ihm, fährt ihm durchs Haar, presst den Mund auf seinen und fingert wild an ihm herum.

„Komm“, lallt Tine, „tu es mit mir, wie du es mit den anderen getan hast“, und noch bevor Heinrich sich versieht, fährt Tines Hand in seine Hosen. Im Licht des Mondes sieht er plötzlich nur noch Einzelheiten, übergroß ein schiefer Zahn, ein Pickel am Kinn, die Nase, grinsend schielt Tine ihn an. Dann zieht sie seine Hosen mit einem Ruck herunter und hat seinen Schwanz in der Hand, umgreift ihn fest wie einen Stock, lässt ihn aber sofort wieder los. Heinrich keucht, er muss aufpassen, gleich schießt der Saft heraus, ja, aufpassen muss er, das sagt er sich. Tine starrt indes auf seine Rute.

„Es bewegt sich“, lallt sie, „wie ein Tier, guck mal.“

Doch Margarethe schläft tief und fest. Heinrichs Herz bollert wie wild, er weiß nicht, was er tun soll, und auch Tine rückt ein wenig von ihm ab. Margarethe schnarcht weiter. Endlich aber kommt Tine wieder näher heran, Heinrich regt sich nicht, wie festgeschmiedet ist er. Ihm sausen die Gedanken nur so im Kopf hin und her. Dann ist Tine nackt. Sie hat winzige Titten, wie ein Skelett sieht sie aus, das denkt er, und da springt sie auch schon mit einem Satz auf ihn, greift unter sich und führt nach einigem Gestochere, bei dem sie laut stöhnt, seinen Schwanz in ihr Loch ein. Ein paar ungelenke Bewegungen, schon spritzt es aus ihm heraus. Tine verzieht den Mund, ja das ganze Gesicht wird zu einer einzigen Grimasse, dann gibt sie einen unartikulierten Laut von sich und fällt, wie ohnmächtig, zur Seite. Blöde grinst sie ihn an.

„Du Deibel“, sagt sie, „Deibel“, und rollt sich, ohne sich das Kleid überzuwerfen, zu einem Knäuel zusammen. Nach wenigen Augenblicken ist sie eingeschlafen. Heinrich zieht sich die Hosen hoch, klettert hinunter und tritt auf den Hof. Alles liegt in einem bleichen Licht, der Mond steht majestätisch inmitten einer Unzahl von Sternen am Himmel, keine Wolke ist zu sehen. Es herrscht völlige Stille.

EMILIA

Emilia geht in einem großen Bogen um die mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Pfützen herum. Gestern hatte ihr eine Frau, die im Wald Brennholz sammelte, den Weg in diese Richtung gewiesen und gesagt, es sei nicht mehr weit. Auf die Frage, ob sie bei ihr übernachten könne, hatte sie geantwortet, sie habe zwei Söhne im Haus. Etwas in der Art hatte Emilia oft gehört, und wenn ihr auch der ein oder andere in den letzten Wochen seine Hilfe nicht versagt hatte, so war sie doch immer in Gefahr, des Nachts zu erfrieren, wenn niemand ihr Obdach bot, einer jungen, schwangeren Frau, die sich mitten im Winter von Ort zu Ort schleppte, oft ohne zu wissen, ob sie auf dem richtigen Weg ist. Zum Glück war sie gestern auf die halbverfallene Hütte eines Köhlers gestoßen. Sie hatte ihre letzten beiden Äpfel gegessen, war schließlich eingeschlafen und nach wenigen Stunden auch wieder aufgewacht, wofür sie Gott immer wieder dankte, selbst wenn es ihr noch so schlecht ging.

Warum nur war sie ohne ein Wort aus Breslau fortgegangen und hatte den weiten Weg nach Schwerte auf sich genommen? Der letztlich ausschlaggebende Grund war am Ende wohl der, dass ihr Heinrich immer öfter in den Sinn gekommen war. Wie er am Rockzipfel der Mutter hing, so hilflos und noch so klein, damals. Und da war sie einfach fortgegangen, von einem Moment zum anderen, nach Westen, der Straße nach, Richtung Dresden und Leipzig. Ihr Brot aber, das wurde ihr in den ersten Tagen klar, musste sie, wenn niemand mit einem christlichen Sinn ihr helfen wollte, auch durch Hurerei verdienen. Manch ein Wirt oder Kutscher war ganz und gar nicht bereit, ihr rein aus Nächstenliebe beizustehen. Nicht einer Hure, für die viele sie hielten. Allein und in Umständen. Wäre sie doch im acoluthschen Haus und bei Adam geblieben, so dachte sie oft, doch sie kehrte nicht um.

Gegen Abend lag, nachdem sie lange in einem Wald bergab gegangen war, Schwerte mit dem schiefen Turm von St. Viktor vor ihr, jenseits der Ruhr, kaum zu erkennen in der Dämmerung. Blass erschien der zunehmende Mond am Himmel. Sie überquerte die hölzerne Brücke und schleppte sich auf dem matschigen Weg zum Brücktor, das bereits geschlossen war, und dann einmal um die ganze Stadt. Vielleicht, dachte sie, habe ich Glück und jemand nimmt mich mit hinein. Zwei, drei Wagen rumpelten vorbei, kaum dass sie überhaupt beachtet wurde. Ein Kutscher hielt seine Laterne in ihre Richtung, sah sie kurz an, fuhr aber weiter. Sie würde also ohne fremde Hilfe eine Möglichkeit finden müssen, an einem der Torwächter vorbeizukommen. Wieder am Brücktor angekommen setzte sie sich schließlich völlig erschöpft auf die Treppe, die zum Weg hochführte. Der Mond beschien sie blass. Vielleicht würde sich der dritte Prediger ihrer erbarmen. Wenn es ihr doch nur gelingen würde, in die Stadt hineinzukommen. Schließlich stand sie auf und ging Richtung Hüsingtor. Ein Hund von beachtlicher Größe bellte sie an, doch Emilia hatte keine Angst, nicht vor einem Hund. Sie bemerkte es dann nicht einmal, als das Tier sich ihr zugesellte, ja sogar ihren müden Gang annahm.

Ein Wagen rollt langsam durch das Hüsingtor in die Stadt hinein. Der Torwächter, ein kleiner, dicklicher Mensch mit hochrotem Gesicht, nickt dem Kutscher zu. Als er Emilia sieht, sagt er laut seinen Spruch, Gesindel habe keinen Platz in Schwerte. Sie solle sich verfügen. Emilia geht zögernd ein paar Schritte rückwärts, der Hund aber trottet an ihr und dem Mann vorbei durch das Tor in die Stadt. Ob sie ihn nicht verstanden habe, brüllt der Torwächter, denn Emilia sagt nichts und tut nichts. Sie steht nur da. Schließlich stiefelt der Mann auf sie zu, packt sie am Arm und dreht sie um, als sei sie eine Puppe. So steht sie mit dem Rücken zur Stadt, vor ihr die in der Dunkelheit verschwindende Straße. Keinen Schritt mehr kann sie tun, das spürt sie, eine Wut ist in ihr, die in ihrer Kehle sitzt und hinaus will, sie zittert am ganzen Leib. Dann bricht sie zusammen. Als man sie auf einer Trage zur Kirche bringt, gilt sie bereits für tot. Den Medicus, so der Torwächter zu einigen Umstehenden, sollte man wohl nicht mit so einer belästigen, das sei eine Hure, das habe er sofort gesehen. Niemand beachtet den Mann.

Der dritte Prediger sieht lange das schlafende Mädchen an. Er hatte sie gleich erkannt. Seit drei Tagen liegt sie, kaum bei Bewusstsein und eingehüllt in alte Decken, in seiner bescheidenen Kammer in einem Haus in der Brückstraße, weswegen er selbst beim Müller übernachten muss. Niemand will sich um sie kümmern, nur seine Zugehfrau tut das Notwendigste, allein ihm zuliebe, wie sie sagt. Mit viel Mühe hatte er schließlich den Medicus, Sohn des kürzlich verstorbenen alten Arztes, beredet, sich das Mädchen wenigstens einmal anzusehen.

„In jedem Fall ist sie schwanger“, sagt er, vor dem Prediger die Treppe hinuntergehend, und sein einziger Rat wäre, sie vor das Stadttor zu den Papisten zu bringen, denn dort bekäme sie eine Krankensalbung und könne sterben. Überleben würde sie eine Geburt nämlich nicht, ausgezerrt wie sie sei.

Der Prediger sah sie noch vor sich, die kleine Emilia, wie sie behände um die Mutter und den kleinen Heinrich herumfuhrwerkte, um alles so gut wie möglich herzurichten, dort oben auf der Anhöhe in der armseligen Hütte. Selbst das Bild Dorotheas sah er deutlich vor sich, wie sie blöde ihre verstümmelte Hand jedem entgegenstreckte, fordernd, zuckend, zitternd. Auch der Tag, als die Breslauer Calvinisten die Stadt heimgesucht hatten – wie viele Jahre das jetzt schon her war! – fiel ihm ein, und wie er hinterrücks niedergeschlagen und fast zu Tode geprügelt worden war. Und nun? Nun stand er auf seinen Krückstock gestützt in seiner Kammer, sah auf das fiebernde, schwangere Mädchen und versuchte nachzudenken. Es konnte natürlich keine Rede davon sein, Emilia wieder fortzuschicken, nicht in diesem Zustand. Noch hatte weder der erste noch der zweite Prediger etwas verlautbaren lassen, doch es musste ein Entschluss her. Sicher würde auch der Rat der Stadt sich bald mit der Angelegenheit befassen, denn dass der junge Medicus, der so gar nicht nach seinem Vater geraten war, stillschweigen würde, war nicht anzunehmen. Ruchbar war das Ganze ohnehin schon geworden in einer Stadt mit nur wenigen hundert Bürgern, ja man sah ihn während der Früh- und der Nachmittagsmesse, so jedenfalls sein Eindruck, bereits scheel an. Zudem hatten schon sieben der insgesamt zehn Schichtmeister Auskunft verlangt. Doch was sollte er schon berichten, denn es kam ja alle Tage vor, dass Arme und Ehrlose Einlass in die Stadt verlangten und abgewiesen wurden, doch bei einer Schwangeren müsse man eine Ausnahme machen, darauf bestand er, im Namen Jesu. Um des lieben Friedens willen würde er aber schließlich dem Vorschlag zustimmen müssen, nach der Geburt Mutter und Kind in ein Haus vor den Toren der Stadt zu überführen, das einstmals als Pesthaus erbaut worden war und nun den Armen und Kranken und Ehrlosen Unterschlupf bot. Doch so weit war es noch nicht.

So oft es seine Zeit erlaubte sah er nach Emilia, und so eilte er manchmal sogar nur für Minuten zu ihr, auch wenn sie selten die Augen öffnete und kaum ein Wort sprach. Er machte sich zunehmend Sorgen, denn immer öfter, die Zugehfrau hatte es ihm berichtet, wand sich Emilia in Fieberträumen, schrie dabei immer wieder auf und riss die Arme hoch, als müsse sie sich verteidigen. In wachen Momenten wollte sie aber nicht sagen, was sie geträumt hatte. Nur dass sie lange Jahre in Breslau gewesen sei, das sagte sie einmal in die Stille hinein, in einem guten Haus, das einem Prediger gehöre. Alles weitere Nachfragen half nichts, mehr sagte sie nicht. Als es ihr Mitte April endlich ein wenig besser ging, das Fieber war ganz verschwunden und sie konnte sogar aufstehen, fragte sie nach Heinrich, ganz plötzlich, während der Prediger ihr zur Unterhaltung ein wenig erzählte von absonderlichen Begebenheiten in Schwerte. Er wolle jedenfalls sein Bestes tun, das versprach er, um ihn aufzuspüren. Nach der Mutter fragte Emilia nicht.

Am Vormittag des folgenden Tages nimmt der dritte Prediger seinen Stock zur Hand. Er wollte selbst hinausgehen zu dem Bauernhof, auf dem Heinrich vielleicht noch lebte. So konnte er sich einmal die Beine vertreten und der dumpfen Atmosphäre der kleinen Stadt entfliehen.  Er verließ die Stadt durch das Ostentor. Wie sehr hätte er sich gewünscht, jetzt auf Reisen gehen zu können und die Welt kennenzulernen. Der ein oder andere Reisebericht war ihm im Laufe der Jahre untergekommen, und selbst wenn die Autoren sicher hier und da übertrieben, so würde er schon gerne einmal mehr sehen als das Ruhrtal, die ersten Höhen des Sauerlandes und einmal im Jahr Dortmund, wenn er eingeladen war zum Geburtstag eines Studienkollegen, den er damals in Wittenberg kennengelernt hatte. Sollten die Studienjahre dort seine einzige Erfahrung bleiben mit der Ferne, der Fremde?

Er hielt inne, sein Rücken schmerzte und sein Bein nicht weniger. Er hätte die Zugehfrau schicken können, doch er hatte große Angst, Emilia würde niederkommen, wenn er allein bei ihr ist. Der Zugehfrau hatte er mehrmals eingeschärft, das Mädchen keinesfalls sich selbst zu überlassen. Die hatte ihn zu beruhigen versucht, sie käme weiterhin zu den festgelegten Zeiten, und noch sei mit der Niederkunft nicht zu rechnen, denn auch eine Hure sei nun mal ebenso beschaffen wie eine ehrbare Frau. Er hatte sich seinen Teil gedacht, aber nichts erwidert. Und nun würde er, so Gott will, Heinrich auf dem Hof finden und mitnehmen zu seiner Schwester.

Die Straße war nach den häufigen Regenfällen der letzten Zeit so schlammig, dass es sich auf dem Grünstreifen zu den Feldern hin besser gehen ließ. Trotzdem war es mühsam. Eine Kutsche mit Reisenden schaukelte schwerfällig vorbei. Der Kutscher grüßte und drosch dann weiter auf seine Gäule ein. Nach einer halben Meile Wegs erreichte der Prediger den Hof. Ins Haus eintretend fand er einen der Knechte vor, auf dem Boden sitzend ein Flachsspinnrad reparierend. Der arme Kerl wagte kaum ihn anzusehen, so als sei er die Erscheinung Jesu persönlich. Die Bauersfrau, die den Prediger hatte kommen sehen, brachte derweil einen Krug Bier. Niemand sei krank, da müsse man Gott danken, begann die Bauersfrau, kaum dass der Prediger sich nach den Umständen erkundig hatte, doch könne man die Abgaben nicht immer leisten. Zwar habe man nun eine Kuh, doch er solle sie sich nur ansehen, abgemagert sei das Vieh über den Winter, bis auf die Knochen, und dann verlange der Graf im Herbst auch wieder ein gut gemästetes Schwein, so fett, dass es kaum laufen könne, sonst blühe ihnen etwas. Das habe dieser Knu ihnen gesagt, kaum zu verstehen sei dieses zungenlose Ungetüm. Der Prediger hörte, sein Bier in kleinen Schlucken trinkend, dem Wortschwall schweigend zu. Als er endlich nach Heinrich fragte, erschrak die Frau.

„Auch so eine Ausgeburt“, begann sie schließlich mit gepresster Stimme, „er soll die Gatter instandsetzen und ist für den heutigen Tag auch zum Flachsspinnen bestimmt, doch er steckt sicher wieder in den Büchern. Gott vergebe mir, doch das Lesen ist ein Fluch, wenn so ein Taugenichts und Hundsfott es lernen darf!“

Der Prediger holte tief Luft und setzte eben zu einer Antwort an, als Heinrich plötzlich dastand.

„Du Deibel!“, schimpfte die Bauersfrau und sprang auf.

Heinrich, der die Bauersfrau wie Luft behandelte, schien sich keineswegs über den Besuch des Predigers zu wundern. Er führte ihn, einfach indem er sich wortlos in Bewegung setzte, in das kleine Kabuff vorne am Tor, das er sich selbst eingerichtet hatte, mit einem grob gezimmerten Pult und einem Bord an der Wand. Der Prediger traute seinen Augen nicht. Hier lagen mehr als ein Dutzend Bücher und Schriften, ein Krug mit Federn und ein Tintenfass waren ebenfalls vorhanden, nebst einigen Bögen Papier. Nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte, fragte er, wie Heinrich an solch Reichtum gekommen sei, und ob das Bücher von jenem Herrn seien, der aus den Schriften Arndts den Bauersleuten vorgelesen habe. Heinrich, dem seine Aufregung nun doch anzusehen war, überhörte die Frage und begann, dem Prediger die Bücher einzeln und geradezu feierlich zu reichen, Andachtssammlungen, Schriften, die Gewissensfragen zum Inhalt hatten, etwa Glück- und Gewinnspiele betreffend, manche nur einen Bogen stark. Auf einem Stapel obenauf lag eine Broschüre mit dem Titel Summarischer Außzug der führnehmsten Kirchen-Geschichte unter der Regierung der hoch-löblichen Evangelisch-Reformierten Grafen und Herrn zur Lippe. Der Prediger musste lächeln, denn diese Schrift konnte Heinrich wohl kaum begreifen. Dass er ein wenig lesen konnte, schön und gut, doch aus dem Paradies-Gärtlein vorlesen und hochgelehrte Schriften verstehen, waren zwei Paar Stiefel. Als ihm Heinrich aber Abschriften zeigte, in einer gut lesbaren Handschrift, war er dann doch bass erstaunt. Der Knabe, so seltsam er sein mochte, verstand mehr von der Welt als ein dahergelaufener Bauernlümmel, das war sicher.

Ohne weitere Umschweife kam er, den Jungen mit Daumen und Zeigefinger am Kinn packend und in die Augen blickend, zum Grund seines Besuchs.

„Hör mir zu“, sagte er, „deine Schwester Emilia ist in Schwerte, sie will dich sehen.“

Heinrich steht stocksteif in seiner kleinen Kammer, unfähig sich zu rühren oder etwas zu erwidern. In ihm keimt etwas auf, etwas geschieht, das er nie in seinem Leben zuvor erlebt hatte, nämlich eine Wende zum Guten hin, die Erfüllung eines Wunsches. Endlich bewegt er die Lippen, doch er hat keine Worte für das, was er sagen will. Die Worte Hoffnung oder Freude hat er nie selbst ausgesprochen, vorgelesen aus Schriften, das wohl, doch nie wirklich begreifen können, was sie bedeuteten, und auch sein Antlitz kennt sie nicht, nicht die Freude und nicht die Hoffnung. Hilflos ist er, weiß nicht was sagen, was tun, er kann nicht lachen, nicht weinen, auch nicht beten, ja es kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn, etwa Gott zu danken und ein Dankgebet zu sprechen.

„Es wird das Beste sein, wenn du sofort mit mir kommst, nach Schwerte, denn Emilia muss zurzeit das Bett hüten“, sagt der Prediger endlich.

„Ja, gut“, erwidert Heinrich, nimmt eine alte Jacke, die nur aus Flicken zu bestehen scheint, vom Haken, stampft die Tenne bis zur Feuerstelle hoch und verschwindet, ohne auf die Rufe der Bauersfrau zu achten, durch die Seitentür. Auch der Prediger erklärt der Frau nichts und humpelt hinter dem Jungen her, bis er ihn einholt.

„Lass uns“, keucht er, „langsam gehen, denn wie du sehen kannst, bin ich ein Krüppel.“

Er berichtet Heinrich ausführlich von den damaligen Ereignissen. Er bemerkt zunächst nicht einmal, dass er mit dem Knaben wie mit Seinesgleichen spricht, doch der scheint alles zu begreifen, selbst die Gegnerschaft zu den Calvinisten und den Reformierten, jedenfalls nickt er immer wieder mit ernstem Ausdruck. Als sie die Stadt erreichen, steigt der Rauch aus den Schornsteinen fast lotrecht in den Himmel. Der Wind hatte sich für einen Moment gelegt, bevor dann mit einbrechender Dunkelheit wieder Regenwolken durch das Ruhrtal streichen würden, das konnte der Prediger geradezu riechen. Es würde pladdern, bis nicht ein Mensch mehr noch ein Fünkchen guter Laune hätte. So war das jedes Jahr zum Ende des Winters, alles wurde zu Schlamm und Matsch und Modder und die Ruhr zu einer Seenlandschaft.

Heinrich pocht das Herz bis in den Hals, als er mit dem Prediger das Tor durchschreitet, ohne vom dicken Torwächter und dem frierenden spindeldürren Schreiber beachtet zu werden. Nach wenigen Schritten, Ecke Brück- und Mühlenstraße, legt der Prediger Heinrich den Arm auf die Schulter und weist auf ein kleines Fenster im Obergeschoß des Eckhauses.

„Dort oben“, sagt er, doch noch bevor Heinrich loslaufen kann, bittet er ihn zu warten. Er wollte Emilia auf die Begegnung vorbereiten. Als er seine Wohnung betritt steht sie am Fenster. Heinrich schien sie nicht entdeckt oder aber nicht erkannt zu haben. Als er sie anspricht dreht sie sich langsam um. Ihre Hände liegen auf der Wölbung ihres Leibes und bewegen sich gleitend auf und ab. Begütigend streichelt er ihr über das verklebte Haar und nötigt sie mit guten Worten, sich wieder auf den Strohsack zu legen und sich zuzudecken. Doch als er ihr, nachdem er sich ein wenig gesammelt und mehrmals geräuspert hatte, die Nachricht verkünden will, Heinrich sei hier, steht dieser bereits hinter dem Prediger und tritt hervor.

Die Stube im Dämmerlicht. Der Prediger steht am Fenster. Bald muss er gehen, er hat eine Predigt zu halten. Emilia bleibt stumm, während ihre Augen unverwandt auf Heinrich ruhen, der den Blick seinerseits nicht abwendet, wortlos fragend. Die Zugehfrau ruft von unten herauf nach dem Prediger. Er geht zur Tür, mit dem Stock ertastet er die erste Stufe und geht langsam die Treppe hinunter. Die Zugehfrau hat eine Laterne, sie kommt ihm entgegen. Emilia sieht den riesigen, verzerrten Schatten des Predigers an der Wand. Unten angekommen bedeutet er der Frau zu schweigen. Sie verlassen das Haus und gehen zur Kirche hinauf, während sich oben in der Wohnung Jahre der Trennung zu einer schüchternen Berührung verdichten.

Langes Schweigen. Heinrich geht zum Ofen, entzündet an der Glut ein Binsenlicht, sieht zu Emilia, die auf dem Strohsack liegt und sich die Decke unters Kinn zieht. Müde sieht sie ihn an, schließt die Augen, und dann endlich sagt sie leise, die stumme Frage Heinrichs beantwortend, sie habe im Haus des Herrn Predigers Acoluth im fernen Breslau in einer Nacht im Sommer mit einem Gymnasiasten zusammengelegen. Sie habe ihn gern, er wisse viel über die Welt, so jung er auch sei, er würde Prediger werden.

„Adam Bernd ist sein Name.“

Dann schweigt sie wieder. Das Licht flackert. Wo jener Adam Bernd nun sei, fragt Heinrich, wieso sie überhaupt, das verstehe er nicht, fortgelaufen ist aus Breslau, das will er wissen, und ob dieser Adam sie fortgejagt habe, oder der Prediger es getan hat, doch Emilia antwortet nur, es habe ein Unglück gegeben. Dann beißt sie sich auf die Unterlippe und dreht ihr Gesicht zur Wand. Was nur, denkt Heinrich, ist mit meiner großen Schwester geschehen, was haben die Teufel mit ihr gemacht?

So sitzt Heinrich schließlich lange starr und steif im flackernden Licht am Tisch, wie ein Widerhaken dieser Name in ihm. Adam Bernd. Das Bild zweier Leiber, die beieinanderliegen, seine Schwester Emilia und jener Mensch, Leib ohne Gesicht. Und nun ist sie in Umständen, und so viel begriff er dann doch von der Welt, dass er wusste, wo die Kinder herkamen. Er fragt wieder, was ihr geschehen sei, doch Emilia schluchzt nur auf, zerbeißt sich weiter die Unterlippe und schweigt.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühgottesdienst steht Heinrich wie aus dem Boden geschossen in der Sacristei.

„Wer ist Adam Bernd?“, fragt er unvermittelt, doch der erschrockene Prediger weiß nicht, von wem die Rede ist. Erst als Heinrich sagt, dieser habe mit Emilia zusammengelegen, in Breslau, verstand er. Doch natürlich wusste auch er nicht, wer dieser Adam Bernd sein mochte. Für Heinrich war diese Frage von großer Wichtigkeit, das leuchtete ihm ein. Und ob er das Haus des Herrn Predigers Acoluth in Breslau kenne, auch das wollte Heinrich wissen, er bebte vor Ungeduld, doch auch hier konnte der Prediger keine Auskunft geben, denn er hatte weder diesen Namen je gehört, noch war er je in Breslau gewesen. Plötzlich aber erinnerte er sich, Heinrich vor langer Zeit einmal gesagt zu haben, die Teufel aus Breslau hätten seine Schwester mitgenommen. Und nun war Emilia aus eben diesem Breslau zurück, krank und mit einem Kind im Leib!

Heinrich blieb in Schwerte und schlief in der Wohnung des Predigers bei seiner Schwester. Der Schichtmeister der ersten Schicht, Thorbecke, den der Prediger gut kannte, war indessen von einer Reise zurückgekehrt und hatte von der Angelegenheit erfahren. Er regte an, Emilia nach der Geburt des Kindes als Magd in sein Haus aufzunehmen. Gott würde ihm dies wohl nicht als Sünde ankreiden. Selbst Heinrich wolle er unter Umständen in Dienst nehmen. Zuletzt erst sei ihm, wie der Prediger ja wisse, sein Hausknecht weggestorben, der am Tag zuvor noch fidel gewesen sei wie ein junger Hund. Nun, man werde sehen.

Den dritten Prediger trieb noch immer die Sorge um, wie es mit der Geburt vonstatten gehen solle. Seine Zugehfrau hatte ihm ein altes Weib empfohlen, direkt im Nachbarhaus, das gut angesehen war und über große Erfahrung verfügte, doch lag diese seit Tagen auf dem Krankenlager und hustete gotterbärmlich. Der Medicus rührte allerhand Kräuter zusammen, die er ihr als Brei auf die Brust schmierte. Trinken musste sie einen bitteren Sud aus Andornkraut. Derweil verging nur wenige Schritte entfernt kaum eine Stunde, in der Heinrich seine Schwester nicht fragte, warum sie fortgegangen sei aus dem Hause des Predigers, was ihr angetan worden war und ob er diesen Adam zu den Teufeln aus Breslau zu rechnen habe. Emilia aber schwieg beharrlich, während ihr die fortgesetzte Fragerei immer wieder ein Bild vor Augen stellte. Wie ein Blitz tauchte es auf, Adam über und über mit getrocknetem Blut bedeckt, nackt und wie tot. Doch warum sie fortgelaufen war, konnte sie Heinrich nicht sagen, sie wusste es ja selbst nicht, und am Ende sah er endlich ein, dass die Fragerei keinen Sinn hatte. Er hockte sich schmollend in eine Ecke, nahm sein Messer zur Hand und begann, eine Figur schnitzen, einen Deibel, wie er hässlicher nicht sein konnte.

Der dritte Prediger stand als ein dunkler Schatten vor Heinrichs Nachtlager. Er weckte den Jungen nun jeden Morgen vor der Frühmesse, damit er sich ein wenig nützlich machen konnte und weniger Zeit fände zum Grübeln. Wenn sie fort waren, würde bald schon die Zugehfrau kommen und ihre Arbeit tun. Der Prediger wusste, wie sehr sich Emilia vor dieser mürrischen und wortkargen Frau fürchtete. Natürlich gab es auch in dieser Stadt Frauen, die es herzlich gut mit den Menschen meinten, besonders auch mit den Gefallenen und Gebrochenen, doch war keine dieser wahrhaft christlichen Frauen abkömmlich. Der Prediger hatte tagelang erfolglos herumgefragt, so dass ihm am Ende nichts anderes übrigblieb, als mit seiner Zugehfrau vorlieb zu nehmen. Doch mit Herzenskälte und Schweigen wurden die Dinge nicht besser, und so sprach er der Schwangeren immer wieder gut zu, wie einem Kind. Gott werde am Ende alles zum Guten lenken! Er konnte nicht wissen, dass Heinrich, kaum dass der Prediger fort war, ihr zusetzte mit all dem, was er in den Büchern Arndts gelesen hatte. Der Teufel werde über sie herfallen wie ein brüllender Löwe, in der Hölle werde sie schmoren, Gott könne ihr nicht mehr helfen, denn er habe sein Urteil über sie bereits gefällt für alle Zeit.

Im Haus ist es still an diesem Morgen. Emilia ist eben aufgewacht. Sie ist allein. Sollte die Alte zur Frühmesse gegangen sein, fragt sie sich. Aus der Stube unten kein Laut. Von der Straße her Schritte, die sich wieder entfernen Richtung Rathaus und Kirche. Sie steht auf und schlüpft in ihre Schuhe, wirft sich ihr altes Kleid über, greift die wollene Jacke, geht schwerfällig zur Treppe und sieht hinunter. Was wäre, fragt sie sich, stürzte ich und läge tot unten. Vielleicht würde Heinrich lachen, so wie er lacht, wenn er seinen Figuren die Köpfe abbricht. Aber nein, denkt sie, lachen wird niemand, doch weinen um sie würde nur Adam, und der ist weit fort. Langsam und vorsichtig geht sie die Treppe hinunter. In der Diele niemand. Auf dem Abort wieder diese Schmerzen, die ihr durch den ganzen Leib ziehen und den Atem nehmen.

Sie geht eine Weile in der Diele hin und her, dann tritt sie aus dem Haus. Es ist kühl, ihr schwindelt. Wie lange sie dort oben auf dem Krankenlager gelegen hatte! Und nun würde sie über den Markt gehen, die Hure mit dem Deibel im Leib. Alle sollten es sehen! Ein Wagen rumpelt Richtung Brücktor, auf dem Bock der Bauer, auf dem Leitpferd ein Knecht mit pockennarbigem Gesicht, eine lederne Peitsche in der Hand. Sie denkt, ob der Bauer sie mitnehmen könne, hinaus in die Welt, doch dann geht sie, nur die alte Wolljacke über dem Kleid, langsam hinauf zum Rathaus, an der Kirche vorbei und über den Marktplatz, auf dem Bäuerinnen ihre Waren feilbieten, Kohl oder schrumpelige Äpfel. Männer, Frauen und Kinder begegnen ihr. Vom Hochwasser sprechen die Menschen, vom Regen der letzten Wochen, und manche sehen sie sogar an, ohne jedoch wirklich Notiz zu nehmen von ihrer Erscheinung. Sie musste an Breslau denken, an die Bürger dort, die Gasthäuser und Schenken, das prächtige Rathaus, die gewaltige Elisabethkirche, sie dachte an Adam, sie sieht deutlich sein Bild vor sich, lebendig und heiter, er spricht mit ihr, sie hört zu, auch wenn sie nicht versteht, was er sagen will. Sie läuft weiter in kleinen, trippelnden Schritten über den Markt, die Hände auf dem Bauch, hin und her, an den Ständen vorbei, doch immer noch scheint niemand sie wirklich zu sehen, kein Mensch redet sie an oder weist mit dem Finger auf sie. Sie geht die Stadtmauer entlang, in den Bögen der Tore stehen müde die Wächter und reden mit den Schreibern oder schweigen, durch das Ostentor fährt eine Kutsche in die Stadt hinein. Ein Mann mit Vollbart sieht hinaus, er hat dunkle, ernste Augen. Wenn nur Adam in dieser Kutsche säße, denkt sie, um mich zu holen, und dann geht sie, mit ihren kleinen Schritten, die Jacke fest um sich ziehend, weiter und weiter. Die Menschen können mich nicht sehen, denkt sie wieder, sie sehen mich nicht, am Brücktor bleibt sie stehen, das Eckhaus, ob die Alte oben ist, die Hexe, und dann geht sie durch das Tor hinaus, sie geht einfach hindurch, hinaus kommt man immer, vor ihr die Brücke über dem Mühlenstrang, der vollgelaufen ist, der Weg, die Ferne, die Berge, die Wiesen, Nebelfetzen. Die Straße morastig, sie sinkt ein in den Modder, bis zu den Knöcheln, in die Schuhe läuft das braune, eiseskalte Wasser, doch sie geht weiter, bald kommt ihr ein Wagen entgegen, die Pferde bis zu den Flanken nass, sie werfen die Köpfe hin und her und schnauben, auch der Knecht, der neben der Kutsche läuft, ist nass bis zu den Ohren, sie erkennt ihn, die Peitsche hat er noch in der Hand, und jetzt sieht sie es, ja, die Ruhr führt Hochwasser, von der Holzbrücke keine Spur mehr, überflutet oder fortgerissen, am anderen Ufer zwei Wagen und eine Kutsche, Männer mit langen Stöcken, sie blicken hinüber zur Stadt und dann wieder auf das schnell fließende Gewässer. Mich sehen sie nicht, denkt Emilia. Äste, ja ganze Bäume treiben vorbei, schon steht sie im Wasser bis fast zu den Knien, ein Fuß festgesaugt am Grund, das Wasser wie Eis, es kommt aus den Bergen, den Fuß reißt sie hoch, dann den anderen, die Schuhe verloren, sie kann nicht weiter, sie muss zurück, denkt sie, die Füße, die Beine wie erfroren, ohne Gefühl, keinen Schritt kann sie mehr tun, und da trifft sie ein großer Ast in der Kniekehle und reißt sie um, sie schreit, sie stürzt, schon ist sie mit dem Kopf unter Wasser, kalt, eiseskalt, die Strömung ergreift sie und nimmt sie mit, ein Arm ist noch zu sehen, dann zieht ein Strudel sie hinunter. Einer der Männer am anderen Ufer sagt wenig später, ihm sei, als treibe dort ein Leichnam, kaum zu erkennen.

„Oder ein totes Tier“, sagt ein anderer leise, bekreuzigt sich aber.

Der Torwächter am Brücktor kann sich nicht an eine Schwangere erinnern, vielleicht war er austreten oder hatte einen Wagen abzufertigen. Auch die anderen Torwächter, die der dritte Prediger befragt, sagen, man habe keine Frau gesehen, auf die diese Beschreibung passe. Er fragt jeden, den er trifft. Am Abend gibt er es auf, wirft die zerbrochenen Schnitzfiguren ins Feuer und bezieht wieder seine Stube. Heinrich, der gegen Mitternacht zu ihm kommt, sagt, er habe sie nicht finden können, sie werde tot sein, der Teufel müsse sie geholt haben. Dann dreht er sich auf dem Absatz um, läuft die Treppe hinunter und ist verschwunden.

DAS SCHWEIN

Der Bauer ist außer sich. Man habe Heinrich den Winter über durchgefüttert, und wenn es an die Arbeit gehe, verschwinde er.

„Erwische ich dich noch einmal im Kabuff bei den Büchern“, brüllt er, verschluckt sich, hustet, keucht, läuft rot an, „dann schlage ich dich tot!“

Aug in Aug stehen sie sich gegenüber, Heinrich mit seinen etwa vierzehn Jahren kaum kleiner als der Bauer. Im weit geöffneten Tor die alte Anna und Engelbert, die die Szene auf der Tenne beobachten. Der Bauer, der sich keine Blöße geben will, hält Heinrich, der einfach nichts sagt und ihn nur hell ansieht, die braune Faust unter die Nase, leise zittert sie vor seinem Gesicht, nach Erde riecht sie, feucht und modrig. Nein, Angst vor dieser Faust, vor diesem alten Kerl hat Heinrich nicht. Er schließt die Augen, atmet tief in den Bauch hinein, und endlich lacht er ganz leise, ganz für sich, weil es ihn kitzelt, ein Prickeln hinter den Augen. Ich bin Heinrich, denkt er, Heinrich der Daubenfüßer, Herr Daubenfuß, was also will der Kerl von mir!

„Das Gatter ist wohl zu reparieren“, sagt Heinrich schließlich mit einem Lächeln leichthin und springt ins Freie, während der Bauer auf seine Faust starrt, so als habe er sie noch nie im Leben gesehen.

Von dieser Stunde an ist Heinrich ein neuer Mensch. Hatte er sonst bei geselligem Beisammensein abseits gestanden, so spielte er nun des Abends mit den Anderen Karten, rauchte seine Pfeife, trank Bier und manchmal Branntwein. Er machte sich an Tine heran, er neckte sie, wo er nur konnte, zog ihr den Rock hoch, wich lachend ihren Schlägen aus und feixte so lange, bis auch sie lachte, statt ihn zu beschimpfen. In anderen Umständen war sie nicht, aber sie hatte trotzdem Angst, das selbe Schicksal zu erleiden wie diese Anna, von der ihr flüsternd immer wieder erzählt worden ist. Die mit einem Kind im Leib von Irrlichtern in den Sumpf oder in die Ruhr gelockt worden sei, so genau wüsste man das nicht, aber die sei ja auch hinter jedem Schwanz her gewesen wie der Teufel hinter der armen Seele, und nun schmore sie in der Hölle. Heinrich war sehr ernst geworden, als Tine ihm einmal ihre Angst gestand, vom Teufel geholt zu werden. Zwar erzählte er von Anna in einer Weise, die näher an der Wahrheit lag und die mit einem stattlichen jungen Kaufmann zu tun hatte, doch änderte dies für Tine nichts, denn es war ja wohl kaum dieser Kaufmann, der Anna in den Sumpf gelockt hatte, sondern der Teufel.

Heinrich trug ein offenes, weltliches Wesen zur Schau und verbrachte kaum noch Zeit mit seinen Büchern. Auch aus Arndts Werken las er nun nicht mehr vor. In ihm aber, in seiner Seele, sah es anders aus.  Doch das waren verschiedene Welten, sein Tun und Schaffen auf dem Hof und das, was nur ihn allein betraf. Er dachte viel nach, während er im Wald oder auf der Weide die Schweine hütete oder oben in der Scheune auf seinem Balken saß. Musste er seine Schwester nicht rächen? Den Schuldigen finden? Denn dass sie tot war, war ihm sicher wie das Amen in der Kirche. Die Schuld aber an Emilias Unglück trug nicht etwa der dritte Prediger oder gar er selbst, nein, schuldig war allein dieser Adam Bernd, mit dem Emilia, das hatte sie ihm ja selbst gesagt, zusammengelegen hatte. Und der sie, auch wenn Emilia das nicht hat sagen wollen, fortgejagt hat, weil sie sein Kind unter dem Herzen trug. So wird es gewesen sein! Eines Tages würde er sich auf den Weg machen, um im fernen Breslau diesen Adam Bernd aufzuspüren und zur Rechenschaft zu ziehen! Das war er Emilia schuldig.

Die Dinge des Leben nahmen ihren Lauf. Es regnete ausreichend, Stürme oder Hagelschauer gab es keine. Dann jedoch ließ der Graf von Hohen-Limburg bereits Anfang September mitteilen, er benötige das gemästete Schwein, das ihm zustünde, sofort. Ein Bauer aus Westhofen überbrachte die Nachricht, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Knu es abholen käme. Bei ihm sei er auch schon gewesen, und da nach dem letzten Winter die Schweine mager waren und auch jetzt im Spätsommer noch nicht fett, denn erst im Herbst gab es ja Nüsse und Eicheln und Bucheckern, wie der Graf wohl wüsste, habe Knu gleich alle aufgeladen und mitgenommen.

Die Vorstellung, dem Grafen im schlimmsten Falle alle Schweine abtreten zu müssen, lastete schwer auf den Bauersleuten. Man konnte aber natürlich die Schweine bis auf zwei oder drei tief in das Sölder-Holz treiben und vorgeben, mehr habe man nicht. Eine Magd solle sofort, tauchte Knu auf, zu Heinrich laufen, ihm Bescheid zu geben. Das war der Plan. Allerdings ließ sich das Ungeheuer weder im September noch im Oktober oder November blicken. Eines regnerischen Tages aber, Anfang Dezember, kam er nach Einbruch der Dunkelheit auf einem von zwei Pferden gezogenen Ackerwagen auf den Hof gefahren. Ohne sich um irgendjemanden zu scheren, man saß um das Feuer herum und aß, trampelte er, über und über mit Schlamm bespritzt, herein und sah sich die Schweine in den Ställen an. Er lallte etwas von vieren, die er holen solle, dann suchte er die fettesten aus und verfrachtete eins nach dem anderen der quiekenden Viecher auf den Wagen. Den Bauersleuten standen vor Wut die Tränen in den Augen. Als endlich alle schon dachten, der Wagen würde sich jeden Augenblick in Bewegung setzen, kam das Ungetüm noch einmal herein. Er sagte zu dem Bauern etwas, doch es war nur ein unverständliches Gestammel. Wütend wiederholte es der Riese, worauf der Bauer in seiner Not nickte. Nun begann das Untier grinsend das Haus zu durchsuchen, stampfte in die Gesindestube, öffnete die Truhen, knallte sie zu, stammelte irgend etwas, stapfte weiter, und als er in die kleine Webkammer, die auch als Spinnstube diente, trat, gab er ein triumphierendes Geheul von sich. Die Mädchen, Tine und Margarethe, die sich dort hinter allerlei Gerät verborgen hatten, schrien vor Angst, doch Knu hob Tine, wie zuvor die Schweine, einfach hoch und klemmte sie sich unter die Achsel. Keiner rührte sich, als er aus der Tür trat, alles sah mit offenem Mund auf das zappelnde, schreiende Mädchen. Knu grinste nur höhnisch, der Speichel lief ihm aus dem fast zahnlosen Mund mit dem Stummel einer Zunge, um dann plötzlich auf den Bauern zuzugehen und ihm in unverständlichen Sätzen laut brüllend zu drohen. Endlich aber stiefelte er los und war bereits unter der Tür zum Hof, als Heinrich aufstand und behände wie eine Katze auf ihn sprang und ihm ohne viel Federlesens ein Messer in den Rücken hieb. Das Untier ließ Tine los, die schwer auf den Boden klatschte und sofort wimmernd davonkroch. Ein kleiner Moment der Stille trat ein, man hörte das Feuerholz knacken, dann drehte sich Knu laut brüllend um und langte nach dem hinter ihm stehenden Heinrich, verfehlte ihn jedoch. Dieser lief, die Irritation des Kerls nutzend, an ihm vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Knu setzte, das Messer noch im Rücken, ihm nach. Alle dachten, Heinrich würde sicher über das Feld in den Wald laufen, wo er sich gut verstecken konnte. Der Bauer wies, mit hochrotem Kopf und stotternd die Knechte an, einige Forken, die Axt und was sonst noch als Waffe zu gebrauchen war, zu holen, damit man sich gegen den Kerl verteidigen könne, käme dieser zurück. Heinrich aber floh nicht in den Wald, sondern in die Scheune. Knu folgte ihm. In fast völliger Dunkelheit hörte er mehr als dass er es sah, wie Heinrich zuerst die Leiter zum Heuboden erkletterte und dann das Gebälk hinaufhuschte. Wilde Drohungen ausstoßend hastete Knu ihm keuchend nach, erklimmt die Leiter, zieht sich brüllend und geifernd an einem Balken hoch, klettert, grapscht ins Leere, hat bald aber Heinrichs linkes Hosenbein in Händen, zieht und ruckt, packt zu, schreit, zieht weiter, doch Heinrich hat längst mit beiden Händen festen Halt gefunden, holt endlich Schwung und tritt mit dem rechten Fuß in das Gesicht des Riesen, einmal, zweimal, noch einmal und wieder, bis der loslässt, das Gleichgewicht verliert und laut aufbrüllend auf die Kante des Heubodens stürzt und dann satt und mächtig ganz hinunterfällt. Das Brechen des Genicks ist bis ins Haus deutlich zu hören.

Eine dunkle Gestalt nähert sich dem Haus, und noch bevor die Laterne sein Gesicht beleuchtet, wissen alle, es ist Heinrich. Die Wangen rot und feurig wie der Beelzebub selbst. Die Vorstellung, gemeinschaftlich über den Feind, das Ungetüm herfallen zu müssen, ihm den Schädel einzuschlagen und die Augen auszustechen, wich nur langsam aus den Köpfen.

„Er ist tot“, sagte Heinrich endlich leise und wies mit einem leichten Heben des Kopfes hinter sich. Engelbert, als der älteste der Knechte, nahm dem Bauern die Laterne aus der Hand und ging hinüber zur Scheune. Den Knüppel hoch über dem Kopf haltend tat er zögernd die paar Schritte hinein. Doch ein Blick genügte ihm. Es war so, wie Heinrich gesagt hatte.

Engelbert war der erste, der etwas tat. Kurzentschlossen drehte er den Leichnam zur Seite, riss das Messer heraus, wischte es an den Hosen des Toten ab und hieb es in einen Balken. Dann drückte er Heinrich die Laterne in die Hand und hieß ihn folgen. Als die Schweine wieder in den Stall gebracht waren, zog er den Jungen in einen Winkel, um mit ihm zu beratschlagen, was zu tun sei. Den Bauersleuten, die zusammen mit den anderen ins Haus zurückgegangen waren, fiel inzwischen nichts anderes ein als inbrünstig zu beten, während von irgendwoher aus dem dunklen Haus das Weinen der beiden Mädchen zu hören war. Ein großes Unglück war geschehen, das war keine Frage, der Graf würde sie alle hart bestrafen, daran hegte niemand einen Zweifel. Nur Gott konnte ihnen noch helfen. Engelbert aber, der in seinem langen Leben einiges erlebt hatte, nur nicht, dass Gott den Armen half, hatte einen Plan, oder jedenfalls eine Ahnung, was zu tun sei. Noch war es stockfinster, kein Mond schien, nicht mal ein Sichelchen, doch sobald auch nur ein wenig Tageslicht zu erahnen war, musste alles so schnell wie möglich vonstatten gehen. Heinrich, dem er in knappen Worten seine Überlegung auseinandersetzte, sollte ihm dabei zur Hand gehen. Mit einigem Geschick und großer Kraftanstrengung schafften sie es, den Leichnam des Riesen auf den Wagen zu befördern. Nachdem die beiden Pferde, die angeschirrt bleiben mussten, mit Decken und Wachstüchern gegen Kälte und Nässe geschützt und gefüttert und getränkt waren, gingen sie hinein, schürten das Feuer und aßen und tranken, argwöhnisch beobachtet von den Betenden, die einzeln vor sich hinmurmelten, kaum dass einmal ein Jessesmariaunjoseff herauszuhören war.

Stunden vergingen. Nur die Bauersfrau betete noch leise murmelnd vor sich hin, mit dem Oberkörper rhythmisch vor und zurück schaukelnd. Als Engelbert und Heinrich die Decken von sich warfen und aufstanden, nahm sie keine Notiz davon. Schweigend trat man hinaus in die fahle Kälte des anbrechenden Tages. Engelbert kletterte auf den Bock und nahm die Zügel, während Heinrich die Pferde von den Decken befreite und sich neben die Leiche hockte, über die sie alte Säcke gelegt hatten. Es ging sehr langsam vorwärts, denn wenn auch der Hauch einer Morgendämmerung zu erahnen war, so war der Weg vor ihnen doch schwarz wie die Hölle. Schon nach wenigen hundert Fuß hielt Engelbert an und schickte Heinrich mit der abgeblendeten Laterne nach vorne. So gelangten sie so auf den leidlich befestigten Weg, der in vielen Bögen und Wendungen zu einem alten Rittergut in Villigst führte. Nicht wenige Schwerter mieden das sumpfige Gebiet, weil dort die Toten umgingen und Irrlichter ins Verderben lockten. Heinrich und Engelbert aber blieb keine Wahl, sie mussten hinein ins tote Land.

Bald kam schwerer, nasser Nebel auf. Endlich aber war schemenhaft die nach dem letzten Hochwasser neu errichtete Brücke am Gutshaus zu erkennen. Hinüber jedoch, um dort den Wagen zu wenden, durften sie nicht, da waren sie sich schnell einig, da am gegenseitigen Ufer das Haus des Schulzen stand. So schirrten sie die Pferde ab und versuchten, den Wagen direkt vor der Brücke, nur dort war der Weg ein wenig breiter, zu wenden. Heinrich und Engelbert zogen und schoben lange keuchend und schwitzend, immer in Gefahr, in den Morast zu geraten. Schließlich gelang es ihnen, ihr Gefährt in die rückwärtige Richtung zu setzen und die Pferde wieder anzuschirren. Mit letzter Kraft hievten sie nun die Leiche des Ungetüms auf den Bock, wo sie, nach vielem Zerren und Ziehen, schräg liegend Halt fand. Engelbert ergriff nun die Zügel und trieb die Pferde an, doch mehrere Versuche, sie ins Moor zu lenken, gingen schief. Das nämlich war der Plan, als sei Knu auf dem Hinweg hineingeraten und versunken. Die Pferde aber blieben stur auf dem Weg. Was also tun? Schon war es so hell, dass über dem sich langsam lichtenden Nebel in der Ferne der schiefe Turm von St. Viktor zu erkennen war. Der Plan musste geändert werden, und zwar schnell!

„Warum“, sagte Engelbert, „soll er nicht vom Wagen gestürzt sein und sich das Genick gebrochen haben?“

Heinrich, der frierend auf der Ladefläche saß, sagte nichts. Der alte Knecht aber durchschnitt am rechten Hinterrad den Sicherungsring, steckte ihn sich in die Jackentasche, zog den Splint aus der Achse und warf ihn auf den Weg. Dann bestieg er den Bock, hieß Heinrich hinunterspringen und trieb die Pferde an. Kurz darauf ein Krachen und erschrecktes Wiehern, das Rad war abgesprungen und die Leiche vom Bock neben den Wagen gefallen. Als Heinrich die Stelle erreichte, war Engelbert eben dabei, die Stichwunde im Nacken des Ungetüms mittels eines Begrenzungspflocks zu vergrößern, so dass niemand auf einen Messerstich, sondern auf eine Folge des Sturzes schließen würde. Dann hieb er das Holz wieder tief in den Boden, spuckte aus und marschierte los in einem Tempo, dem Heinrich kaum zu folgen vermochte. Eine gute Stunde später erreichten sie den Hof. Alles saß schweigend am Feuer und starrte in die Flammen. Engelbert sagte, Knu sei nie auf dem Hof gewesen, keiner habe ihn gesehen. Jeder solle das sagen, würde er gefragt werden. Da standen sie alle schwerfällig auf und machten sich an die Arbeit, auch Tine und Margarethe. Gott hatte ihre Gebete erhört.

DER GEHILFE

Der dritte Prediger schickt auch dieses Mal keinen Boten, sondern geht selbst hinaus zum Hof. Er ist im Auftrag des Schichtmeisters Thorbecke unterwegs, der immer noch einen Gehilfen sucht und sich an die Geschichte mit Emilia und Heinrich erinnert hatte. Da er mit Leinen und anderen bäuerlichen Waren handelte, benötigte er einen Burschen, der es ohne weiteres mit Linnewebern und Bauern aufnehmen konnte, und da Heinrich, wie der Prediger sagte, nicht nur kräftig geworden war, sondern sogar lesen und schreiben konnte, wollte er diesen und keinen anderen. Doch ob Heinrich zustimmen würde, war fraglich. Der Prediger war sicher, ihn als den missmutigen, mehr oder weniger armen Tropf vorzufinden, wortkarg und verschlossen, als den er ihn kannte.

Auf halber Strecke setzte er sich auf einen Baumstumpf. Das Bein schmerzte sehr. Der Medicus faselte in letzter Zeit von einer Methode, die daraus bestand, Baumrinde um das Bein zu wickeln und feucht zu halten, so zöge man die Substanzen, die die Schmerzen verursachten, aus dem Fleisch. Wenn es denn helfe, hatte er dem Stutzer geantwortet, der daraufhin anderntags mit einem Buch herangelaufen gekommen war, in dem die Heilung beschrieben wurde. Sobald es ein wenig wärmer sei, wolle er mit der Behandlung beginnen. Wie er den Kerl kannte, würde er dafür einiges berechnen wollen – dem konnte man nicht kommen mit Gotteslohn. Ja hatte der Medicus ihm nicht sogar ins Gesicht gesagt, das Himmelreich und der Glaube an den Jüngsten Tag sei alles nur steinalte Überlieferung, Miss- und Afterglaube! Der Prediger spürte, wie die Wut wieder in ihm aufstieg. Womöglich lag er jedem Kranken in Schwerte mit solch Heidengeschwätz in den Ohren. Doch er war nun mal der einzige Arzt in der Stadt, das war vorderhand nicht zu ändern.

Eine Magd, die eben dabei war, mit einem langen Stecken im Brunnen herumzustaken, zeigte stumm auf die Scheune, aus der Hämmern zu hören war. Er fand Heinrich dabei, einen Keil in das Querstück eines Tisches hineinzutreiben, die fertige Tischplatte stand schon bereit.

„Seid ihr nun unter die Tischler gegangen“, begrüßte ihn der Prediger. Heinrich blickte lächelnd auf. Zwar ging auch ein Anflug von Sorge über sein Angesicht, doch als er hörte, er solle Gehilfe eines Kaufmanns in Schwerte werden, beim Schichtmeister Thorbecke nämlich, der ihn, den Prediger, das Angebot zu überbringen beauftragt habe, lachte er und sagte, das würde wohl nicht das Schlechteste auf Erden sein. Trotzdem hielt der Prediger, so überrascht er auch war, die ganze lange Rede, die er sich, Heinrich zu überzeugen, zurechtgelegt hatte. Er zählte all die Vorzüge des Kaufmannsstandes auf, die da seien das Reisen zu fremden Orten, das gute Geld, das sich verdienen ließe, den guten Stand, der einem wackeren Kerl auch eine gute Frau einbringen musste, ja womöglich könnte einer, der von der Pike auf das Gewerbe lerne, in späteren Jahren ein eigenes Geschäft eröffnen, ein Haus bauen und viele Kinder haben. Er musste aufpassen, nicht zu übertreiben, doch da Heinrich aufgeräumt und gutmütig zuhörte, wurde auch ihm ganz hoffnungsvoll, so dass er einiges über den Schichtmeister selbst und seine Frau und Tochter hinzufügte. Am Ende sagte er noch, damit die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, es sei natürlich trotzdem eine schwere Arbeit, die so ein Kaufmannsgehilfe zu verrichten habe, er würde viel lernen müssen, um ein guter Gehilfe zu sein. Die Sache war also abgemacht, sie gaben sich feierlich die Hand, bevor sie den Bauern suchen gingen.

Mit diesem jedoch war die Sache nicht so einfach. Er habe, so krakeelte er mit quietschiger Stimme, zwei Knechte im November entlassen, sie kämen erst im April zurück, wenn überhaupt. Kurz gesagt, ohne Heinrich ginge es nicht, er werde ihn nicht gehen lassen. Da könne kommen, wer wolle! Erst wenn der Flachs ausgesät sei, würde er unter Umständen mit sich reden lassen. Das sei sein letztes Wort in dieser Angelegenheit. So erfuhr Heinrich zum ersten Mal in seinem Leben eine gewisse Wertschätzung, denn nun buhlten gleich zwei Seiten um ihn.

Der Prediger ging, nachdem er Heinrich versprochen hatte, in der Sache nicht nachzulassen, mit einigen Würsten bepackt nach Schwerte zurück, musste aber dem Schichtmeister eine schlechte Nachricht überbringen. Der jedoch machte sich anderntags in aller Herrgottsfrühe selbst auf den Weg und kaufte dem Bauern kurzerhand und für einen guten Preis sämtliches im Winter hergestellte Tuch ab, das Heinrich auch gleich, als letzte Diensthandlung für den Bauern und als erste für den Kaufmann, auflud.

Heinrich bekam im thorbeckschen Haus in der Kötterbachstraße eine kleine Kammer unter dem Dach angewiesen, wurde neu eingekleidet und schließlich, da war er noch keine Stunde im Haus, in die Schreibstube gesteckt. Der Meister wies ihn an, Kopien so manchen Schriftstückes herzustellen und legte ihm einen ganzen Stapel neben das Schreibpult.

„Zeig einmal, was du kannst“, sagte er, dem Jungen auf die Schulter klopfend, „und dass ich keinen Tintenklecks finde und kein verdorbenes Blatt!“

Heinrich machte sich an die Arbeit. Doch wenn er dachte, er könne seine Zeit in der warmen Stube verbringen, so hatte er sich getäuscht. Kaum war Thorbecke fort, stand des Meisters Frau in der Tür und nahm ihn mit zur Feldarbeit vor den Toren der Stadt, wo er mit der Tochter des Hauses, Sophia, den fast noch gefrorenen Boden aufzulockern hatte. Außerdem musste eine mannshohe Mauer ausgebessert werden, die im Winter teilweise umgestürzt war. Da bin ich nun, dachte er, über die vielen kleinen, armseligen Parzellen blickend, doch irgendwie vom Regen in die Traufe geraten.

Als es dunkel wurde, kam der Meister angestiefelt und holte ihn zurück in die Schreibstube. Dort sei genug zu tun, er solle nicht rasten und ruhen, bis er ihm erlaube, sich zu Bett zu legen. Gleich an diesem ersten Abend kam dann auch noch Sophia zu ihm auf die Stube geschlichen, er müsse für sie einen Brief schreiben, aber grad so, als habe sie ihn geschrieben, und den müsse er dann bald zu Caspar bringen, des Schulzen Sohn auf dem Rittergut in Villigst.

„Niemand“, setzte sie hinzu, „darf das erfahren, sonst mach ich dir die Hölle heiß und brate dich am Spieß!“

Heinrich versprach Stillschweigen und schrieb den Brief nach Sophias holprigem Diktat. Es waren nur wenige Zeilen, in denen es um ein versprochenes Rendezvous ging. Dann legte er sich auf sein Lager, zog die Decke bis übers Kinn und schlief sofort ein.

So kam es, dass Heinrich in seinen ersten Wochen im thorbeckschen Haus die Feldarbeit nicht zur Zufriedenheit der Hausherrin erledigte, zugleich aber Schreibarbeit zu verrichten übrig blieb, was wiederum den Meister in Rage brachte. Streitigkeiten der Eheleute waren die Folge. Laut und bestimmt diskutierten sie, auf dem eigenen Standpunkt beharrend und kein Jota davon abweichend. Überhaupt sprach niemand im Haus um den heißen Brei herum, und selbst als der Meister seine Frau beschlafen wollte, wusste das am nächsten Tag das ganze Haus, samt aller Aufträge bringender oder Waren abholender Boten. Der Meister selbst erzählte es tagelang wieder und wieder.

„Ich habe ja kein Kind zeugen wollen“, sagte er, „denn das kann Gott nicht mehr von mir verlangen, und auch der Deibel nicht!“

Darauf genehmigte er sich einen Schnaps. Die Hausherrin konnte indes über solche Reden nicht lachen, sie zog sich mit strenger Miene zurück. Heinrich hörte sie nun oft, stockend und mit langen Pausen zwischen einzelnen Sätzen, geistliche Texte lesen, die ihm sehr bekannt vorkamen.

„Ein Frauenzimmer muss schreiben und lesen können“, sagte Thorbecke.

Er befahl Sophia, es nicht an Übung fehlen zu lassen. Heinrich solle ihr helfen, ja ein Vorbild könne sie sich an ihm nehmen. Tatsächlich konnte sie nicht einmal einfache Rechnungen fehlerfrei ausfertigen, während Heinrich durch die tägliche Übung die Feder immer besser und sauberer führte. Über Fehler ärgerte er sich selbst am meisten. Seine Schrift wurde ansehnlicher und schöner, er hielt viel darauf, einen eigenen Stil herauszubilden, den er selbst bei banalsten Schriftstücken anwendete. Für Sophias Briefe an Caspar verwandelte er seinen Strich ins Feminine, und für sie fand er auch passende Verse in den Büchern, die in der bescheidenen Bücherstube in den Ecken lagen, wobei er manches dergestalt umdichtete, dass ein junges Mädchen es durchaus an ihren Geliebten schicken kann. Sie setzte ihren Namen darunter, den immerhin konnte sie galant aufmalen, bevor sie den Brief sorgfältig versiegelte und ihm treuhänderisch übergab.

„Bilde dir bloß nichts ein“, zischte sie ihn dabei meistens an, „für einen wie dich ist schon eine Magd zu gut.“

Zu anderen Stunden machte sie ihm schöne Augen, und auf dem Acker band sie den Rock höher als nötig und bückte sich tief. Einmal hockte sie sich direkt neben ihm in die Ackerfurche und pinkelte.

„Na“, sagte sie, noch über der gelben Pfütze hockend, „da hat aber unser Bauernlümmel eine veritable Beule in der Hose“, worauf sie lachte und ihm zuraunte, er solle lieber an eine andere denken, wenn er schon dem Teufel die Messe bereite, denn sie, sie sei dem Caspar verschrieben, wie er wohl wisse, worauf Heinrich grinste und sich das Gemächt zurechtrückte, denn in seinen Augen war des Schulzen einziger Sohn nur ein weinerlicher dünner und blasser Mensch und in Liebesdingen sicher ganz untauglich.

So folgte Tag auf Tag. Im Herbst des Jahres ging Thorbecke auf Reisen, um in Holland bessere Stoffe zu erwerben.

„Feines Leinenzeug kann ich zu weit höheren Preisen verkaufen als das, was die hiesigen Bauern und Linneweber mir anbieten, also reise ich“, erklärte er kurz und knapp. In Duisburg werde er sich einem Kaufmann aus Köln anschließen, mit dem er auch den Rückweg antreten werde. Kaum drei Wochen später setzte der Winter frühzeitig mit Schnee und eisiger Kälte ein. Vom Meister weder Spur noch Nachricht. Heinrich war nun der Mann im Haus mit seinen gut fünfzehn Jahren, doch dass ihm dies nicht etwa zu Kopf stieg, dafür sorgte schon die Hausherrin, die ihn streng hielt und keinen Müßiggang zuließ. Auch als er sein Nachtlager in der Schreibstube aufschlug, vis à vis zu Sophias Schlafstube, wollte sie das zunächst nicht zulassen. Der Frost jedoch wurde immer strenger. Heinrich konnte sie umstimmen, indem er sie in seine eisige Dachstube führte, wo selbst das Wasser in der Waschschüssel vollständig gefroren war. So lebte er inmitten von Schriften und Büchern, die er, da es an ausreichend Regalen mangelte, thematisch geordnet an den Wänden hochstapelte. Ein kleiner, gut ziehender Ofen beheizte sein Reich. Wann immer möglich las er in den Büchern, die der Meister über die Jahre mitgebracht hatte, darunter Romane, die aus dem Französischen übersetzt waren.

Endlich kam ein Brief Thorbeckes. Der Meister schrieb, er müsse bis zum Frühjahr in Holland bleiben, da wegen widriger Winde lange kein Schiff gegangen sei und er nun auch nicht mehr rechtzeitig nach Nimwegen kommen werde, um von dort mit der wertvollen Ware auf dem Rhein Duisburg zu erreichen. Heinrich solle weiterhin die Schichtbücher der letzten Jahre sauber abschreiben, dabei aber kein Licht verschwenden. Binden lassen solle er sie nach dem Muster des ersten Jahrgangs, all dies natürlich nur, wenn andere Aufgaben erledigt seien. Die Hausherrin zeigte ihm den Brief. Auch sie war der Ansicht, die Schichtbücher müssten durchaus noch einmal ins Reine geschrieben und neu gebunden werden, selbst wenn es Geld und Zeit koste.

An eben diesem Abend stahl Heinrich sich aus dem Haus und besuchte den dritten Prediger in seiner neuen Wohnung am Markt. Der lag wie so oft wegen seines kranken Beines danieder, manchmal schaffe er es kaum die vielen Stufen hinauf oder hinunter, sagte er, aber eine ebenerdige Wohnung sei nicht verfügbar gewesen. Heinrich hörte ihm lange zu, als er über die Mitteldinge sprach, die manch ein Prediger den Menschen nicht gestatten wolle. Da sei ein Disput im Gange, der schon viele, viele Schriften hervorgebracht hätte, dafür und dawider sprechende ebenso wie indifferente. Später kam er sogar noch zu den Fragen der Rechtfertigung. Heinrich begriff nur wenig, doch er merkte sich das ein oder andere Argument, so gut er konnte, damit er selber nicht, so sagte er sich, in die Defensive geraten würde, käme es einmal darauf an. Ihm schien sogar hier und da, als verstehe er wirklich, um was es gehe. In jedem Fall waren die Mitteldinge so etwas wie Tanzen, Trinken, Kartenspielen und so weiter, also alles, was den Menschen Freude machte.

Heinrich wiederholte die Besuche. Beide gewöhnten sich bald daran. Eines Abends steuerte Heinrich nach dem Besuch beim Prediger eine Schenke an. Auch dies wurde ihm eine Gewohnheit, selbst wenn er eher schüchtern in einem Winkel bei einem Krug Bier saß, während es, vor allem vor Feiertagen, um ihn herum hoch herging und manch einer sich ordentlich die Hucke vollsoff. Die Obrigkeit hatte zwar strenge Regeln erlassen, doch wurden diese, da man Unruhe und Aufstände etwa der Handwerksgesellen befürchtete, nicht allzu strikt angewendet. Einmal alle sieben Tage musste gefeiert werden, das sah mancher als sein Recht an, da konnte die gute Polizei machen was sie wollte.

Die Marktschenke an einem nasskalten Abend, Anfang Februar. Es hatte sich bereits eine illustre Gesellschaft versammelt, es wurde musiziert und getanzt, die Luft war geschwängert von Bierdunst und hin- und her waberndem Tabaksrauch. Linneweber und Zimmerleute prosteten sich fröhlich zu und feilschten scherzhaft um die Mädchen, die sich immer wieder lachend einen Burschen zum Tanz nahmen, ihn dann aber mit gespielter Empörung zurückstießen, sobald seine Hand sich dem verlängerten Rücken näherte oder er einen Kuss verlangte. Heinrich zog sich mit einem Krug Bier in eine Ecke zurück, schnorrte von seinem Nebenmann ein wenig Tabak, rauchte seine Pfeife und ließ den Herrgott einen guten Mann sein. Plötzlich stand eine dralle Weibsperson mit hochgebundenem Rock, sicher doppelt so alt wie er selbst, vor ihm und blinzelte ihn an.

„He, Du kleiner Pumper, willste nicht tanzen“, rief sie und zog ihn im selben Moment zu sich heran, buchstäblich an ihren Busen. Ein scharfer Geruch nach Schweiß drang ihm in die Nase, dann fand er sich mitten auf der Tanzfläche wieder, und da er nicht recht tanzen konnte, hob die Frau ihn einfach hoch und schleuderte ihn herum. Hatte er das nicht schon einmal erlebt, damals auf dem Hof! Mehrere Paare wichen jetzt lachend zu den Tischen hin aus. Schließlich setzte die Frau ihn auf einen Stuhl, drückte ihm einen Kuss auf den Mund und nahm sich den Nächsten. Heinrich glühte. Gleich neben ihm drängte eine Hand unter den Rock eines Mädchens. Das junge Ding quiekte auf, tat aber nichts, um den Kerl loszuwerden. Er dachte wieder an die Worte des Predigers, der die Unzucht streng verurteilte, doch schon war da auch die Stimme Annas damals in der Scheune, die von ihrem Herrn Kaufmann sprach. Sicher war sie tot, die Arme, erfroren, verhungert oder ertrunken – so wie Emilia. Der Tanz war mit einem Male beendet. Die Musiker bekamen einen Obolus und einen Krug Bier, die Tische wurden in die Mitte des Raumes gerückt, um Karten zu spielen. Bald schon warf man sich Schimpfworte an den Kopf, ärgerte sich, wenn man verlor, feixte, wenn man gewann, einer lief kotzend hinaus, ein anderer erzählte tolldreiste Geschichten von einer Reise nach Osnabrück, während Heinrich rauchte und trank, zuhörte und beobachtete.

Den Namen Adam Bernd sprach Heinrich dem dritten Prediger gegenüber nicht mehr aus, doch in seinen Gedanken und selbst seinen Tagträumen war er stets präsent. Mehr als einmal hörte er Emilias Stimme leise Adam Bernd sagen, so als stünde sie lebendig direkt neben ihm und flüstere den Namen in sein Ohr. Eines Tages hörte er Emilias Stimme diesen Namen plötzlich sogar laut und deutlich sagen. Adam Bernd hallte es durch die Schreibstube, wie ein Donner, worauf ihm Bilder erschienen einer schattenhaften, auf einer Bank festgebundenen Gestalt, und er sah sich selbst, wie er mit Zwicken und Zwacken und Strecken beschäftigt war, unter ihm ein nackter, geschundener Leib.

Derweil kam ein weiterer Brief des Meisters, er könne auf einem Hamburger Schiff mitfahren, sobald der Wind günstig stehe. Er reise also nicht über Nimwegen nach Duisburg, um von dort auf dem Hellweg nach Schwerte zu gelangen, sondern würde von Hamburg aus, wo er aber immerhin Geschäftskontakte erneuern könne, nach Paderborn reisen, um von dort den Hellweg von Osten her zu nehmen. In wenigen Wochen wäre er, wenn alles gut ginge, zurück. Mit den ersten Frühlingsknospen war es dann auch so weit, Thorbecke langte, feines Linnen und noch manch anderes im Gepäck, wieder in Schwerte an und verkaufte auch gleich einen großen Teil der edlen Ware zu einem recht guten Preis. Für Sophia besiegelte der Meister, kaum wieder im Lande, durch Handschlag eine leidlich gute Partie. Der Sohn des siebten Schichtmeisters würde seine Tochter heiraten. Die beiden Männer waren sich seit Jahren schon einig gewesen in dieser Sache und hatten zuletzt Briefe getauscht. Die Hochzeit sollte im nächsten Jahr stattfinden. Bis dahin würde Sophia ausreichend Zeit haben, ihren Teil zu der Aussteuer beizutragen.

„In jedes Laken, in jedes Tuch ein E. Th. hineinzusticken“, sagte sie eines schönen Tages zu Heinrich während der Feldarbeit, „ist schlimmer als all das Umgraben und Säen, und müsste ich es alleine tun.“

Ihre Augen glänzten rot und fiebrig, das Haar war matt und verklebt, der Rock hing im Modder und zog Wasser bis zu den Kniekehlen hinauf. Auf die Frage, wer denn ihr zukünftiger Mann sei und was er tue, sagte sie nur, sie kenne ihn seit Kindertagen.

Für Heinrich hieß die Rückkunft Thorbeckes, zusätzlich zur Feldarbeit wieder dringende Schreibarbeit verrichten zu müssen. Da er inzwischen ausdauernder schreiben konnte, als er selbst je gedacht hätte und zudem eine immer schönere Feder führte, oblag ihm nun auch das Ausfertigen der wichtigsten Schriftstücke. Der Meister beglückwünschte sich zu seinem guten Einfall, den Jungen in Dienst genommen zu haben. Selbst als Heinrich im Sommer damit begann, an Montagen manchmal ganz blau zu machen wie die Handwerker, schritt Thorbecke nicht ein.

„Auch ich bin einmal jung gewesen“, sagte er zu seiner Frau, die solch sündhaftes Benehmen nicht durchgehen lassen wollte, denn noch habe man eine Tochter im Haus, und allein aus diesem Grunde müsse, darauf bestand sie, in allen Dingen Strenge herrschen, das sei überaus wichtig. Der Meister ließ sie reden und Heinrich seine kleinen Freiheiten, der es aber leiden musste, dass die Frau des Hauses ihn bald schon als Vorleser vorhandener und vor allem neu erhaltener Schriften bestimmte, eine Stunde an jedem Abend. Womöglich dachte sie ihn dadurch zu bekehren. So las Heinrich nicht selten wieder aus Arndts Werken, wie vor Zeiten auf dem Bauernhof, dazu auch aus Schriften wie Der Einfältige Christ, durch wahren Glauben mit Christo vereinigt und ähnliches. Sophia, die von der Mutter dabeizusitzen genötigt wurde, da sie ja nun bald heiraten und das Haus verlassen werde, begann nach einer Weile des Vorlesens oft zu zittern und zu beben und vergrub die Hände im Schoß. Die Mutter schickte in solchem Fall Heinrich mit einem Kopfnicken hinaus, der dann schnurstracks zur Schenke eilte. Er hatte bald heraus, dass ein paar Blicke und ein paar besondere Betonungen beim Lesen das Mädchen zuverlässig zum Weinen brachten. Die Mutter sah darin ein Zeichen der Ergriffenheit und sprach der Tochter von Wiedergeburt und Frömmigkeit, ja sie nahm sich die Tochter und deren Empfindsamkeit zum Geleit. Las Heinrich aber nur der Hausherrin allein aus den Schriften vor, wollte es ihr absolut nicht gelingen, sich selbst zu verlieren und in Christo aufzugehen. Oft lag sie lange wach in der Nacht und befragte sich selbst, ob sie ein gottgefälliges Leben führe oder ob der Teufel in ihrem Herzen niste und sie zu Sünden und sündigen Gedanken verleite, trotz aller Vorsicht und Strenge. Es befiel sie jedes Mal große Angst und sie betete inbrünstig und bat Gott inständig um ein Zeichen. Der Kaufmann schlief seit einiger Zeit schon mit Wachs in den Ohren, er musste sich um seine Geschäfte kümmern, nicht zuletzt auch deswegen, weil auch eine schlichte Hochzeitsfeier einiges kostete, die beiden Söhne würden anreisen und allerlei Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins und wer weiß noch wer.

„Da muss man seine Groschen schon zusammenbringen“, sagte er oft verschmitzt zu Heinrich, der ihm immer mehr ans Herz wuchs, „und die Frömmelei den Weibern überlassen.“

„Es geht“, sagte der dritte Prediger eines Abends beiläufig, ohne dass Heinrich eine Frage an ihn gerichtet hätte, „eine Post von Dortmund nach Frankfurt an der Oder, und von dort geht sicher ein Schiff nach Breslau.“ Das könne er ihm sagen, mehr wisse er nicht. Wieder waren zwei Jahre ins Land gegangen, Emilia verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, während des Kaufmanns Geschäfte allerdings immer schlechter gehen. Die Preise für grobes wie feines Linnen, für Drillich wie Zwillich, waren zwar gestiegen, wie überhaupt alles teurer wurde, doch zugleich blieben die Löhne sich seit Jahren gleich. Seine Ware aber, das erklärte Thorbecke Heinrich eindringlich, unter Preis zu verkaufen, weil die Menschen weniger Geld hätten, käme nicht infrage. So lange man die Ware lagern und noch einen kleinen Acker sein eigen nennen könne, käme man auch so über die Runden. Thorbecke unternahm nun häufig Reisen ins bergische Land, nach Köln und sogar nach Frankfurt am Main und Würzburg, denn er müsse sehen, wie sich das Geschäft verändern und erweitern ließ. Sollten die anderen Kaufleute der Stadt sich in ihr Elend fügen, er würde etwas dagegen tun. Wann immer es möglich war, lieh er sich Geld und kaufte manches zu geringen Preisen, mietete vor den Toren Schwertes eine Scheune, die Ware zu lagern, feilschte und forderte, übervorteilte hier und da, blieb aber auch auf einiger Ware vorläufig sitzen.

„Ein Kaufmann muss kaufen und verkaufen“, sagte er Heinrich immer wieder, „sonst hätte ich ja gleich Mörtelrührer werden können.“

Heinrich schrieb also viele neue Arten von Ware in die Bücher, Pfeffer, Honig, Salz in Scheiben, Unschlitt, Flachs und sogar Kalk und Ziegel, verzeichnete Ort und Tag des Kaufs und den Namen des Verkäufers, die Menge in Maß, Pfund oder Metzen und den Ort der Lagerung, den Verkaufspreis und in die letzte Spalte den Namen des Käufers, wenn er denn nicht ein Kreuz zu machen hatte, weil die Ware verdarb oder gestohlen worden war.

Wie zuvor Sophia, so forderte auch die Hausherrin Heinrichs Schreibdienste, wenn auch in gänzlich anderer Absicht. Sie war in Kontakt getreten mit einem Prediger aus Detmold, dem sie laufend den Stand der Dinge mitteilte. So erfuhr Heinrich mehr als ihm lieb war über ihre stetigen Versuche, die Leidenschaften und alle Eigenheiten in sich zu ertöten, die Anfechtungen des Teufels zu erkennen und sich ihrer zu erwehren. Zu allem Überfluss musste er ihr die Briefe des Detmolder Predigers vorlesen. Was Wunder, dass Heinrich nun fast jeden Abend in die Schenke ging, dort war Leben und nicht Tod, Vergnügen und nicht Aufopferung. Eines Abends sprach man in illustrer Runde von gleich mehreren Schwangerschaften. Diese und jene werde nicht mehr zum Tanz erscheinen, zischte man sich zu, ja, so komme es eben, wenn man die Finger nicht lassen könne von den Kerlen. Heinrich war mit diesen Reden der Abend verdorben und er verließ bald schon die Schenke. Seine Gedanken waren bei Emilia. In die Ruhr wird sie gegangen sein, dachte er, ersäuft hatte sie sich, und die Schuld daran trug Adam Bernd!

Plötzlich, am Morgen in der Schreibstube, war der Gedanke da. Was hatte Emilia noch gesagt – sollte dieser Adam Bernd nicht Prediger werden? Natürlich! Sein Feind war kein Gymnasiast! Und musste nicht ein jeder Prediger, mehr noch als gemeine Leute, ängstlich darauf bedacht sein, keine Sünden zu begehen, auf dass er nicht in der Hölle lande! Er müsste Adam Bernd also zu Sünden verführen, zu schlimmen Sünden, damit er tagaus, tagein in Angst lebte und glaubte, der Teufel sei in ihn gefahren und hocke ihm im Herzen! Am selben Abend noch befragte Heinrich den dritten Prediger, was denn die größten Sünden seien, die ein Mensch, oder gar ein Prediger, ein Mann Gottes, begehen könne. Froh, seinen jungen Besucher belehren und zudem vom übermäßigen Trinken abhalten zu können, hob er also an, ihm den Katalog der Sünden zu erläutern. Heinrich hörte aufmerksam zu.

Im folgenden Herbst fuhr Heinrich mit dem Marktwagen durch das Brück-, das Osten-, das Westen- und das Hüsingtor hinaus und durch alle vier Stadttore auch wieder hinein. Der dritte Prediger hatte ihm erst kürzlich gesagt, er könne auch bis zur Elbe reisen, dort eine Schiffspassage nehmen, um dann von Wittenberg oder Dresden aus den Landweg nach Breslau zu nehmen. Doch wann immer er am Abend in die Stadt hineinfuhr, war ihm zumute, als käme er nie fort. Übellaunig und gereizt brachte er die bei den Webern und Bauern abgeholte Ware ins Lager, gab seinem Meister Bericht und ging in die Schreibstube, sich seinen eigenen Arbeiten zu widmen. Neuerdings las er die christlichen Bücher der Hausherrin, die sie ihm freudig lieh, und schrieb alles feinsäuberlich heraus, was mit schweren Sünden zu tun hatte.

Endlich kam die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte.

„Bereite alles vor“, sagte eines schönen Frühlingsmorgens Meister Thorbecke, aufgeräumt in die Schreibstube tretend, „wir reisen noch diesen Sommer nach Magdeburg und Berlin.“

Für einen kurzen Moment glaubte Heinrich, ein kleines, feistes Teufelchen auf des Meisters Schulter sitzen zu sehen, dann nickte er und sagte, er freue sich auf die Reise.

DIE GRÖSSTE ALLER SÜNDEN

So oft wie möglich besucht Heinrich den dritten Prediger, während er sich in der Schenke kaum noch sehen lässt. Eines Sonntagabends fragt er beim Abschied, ob er nicht noch einiges über die Sünde erfahren dürfe, das interessiere ihn sehr, er wolle auch gleich morgen wiederkommen. Der Prediger war überrascht und erfreut, dies zu hören, denn Heinrich hatte ihm von der Frömmigkeit der thorbeckschen Hausherrin berichtet, ein weiterer Ansporn, den Jungen auf die richtige Art und Weise zu belehren, denn ganz offensichtlich stand diese Frau den Pietisten nahe. Die Schrift eines gewissen Philipp Jakob Spener, des Begründers dieser seltsamen Gruppierung, Pia desideria betitelt, hatte er selbst vor Jahren einmal gelesen und vieles richtig daran gefunden. Doch dass die Laien eine wichtige Rolle in Religionsdingen spielen sollten, selbst die Frauen, das war ihm nicht recht einsichtig gewesen. Alles, so schien es, geriet mehr und mehr durcheinander. War es denn nicht, überlegte er immer wieder, Unglück genug, dass die Reformierten in Schwerte ihr Unwesen trieben. Und dass Papisten aus dem Sauerland zu den Markttagen zuhauf in die Stadt kamen und sich eine Kapelle vor dem Hüsingtor gebaut hatten. Und nun sollte zu allem Überfluss auch noch diese pietistische Lehre hier Fuß fassen! Er würde also sein Möglichstes tun müssen, um in Heinrich einen Mitstreiter für den rechten Glauben zu gewinnen. Er selbst war gut präpariert und mit Argumenten bestens ausgestattet, denn nach jenem Anschlag auf sein Leben, damals im Herbst des Jahres 1687, hatte er nicht nur damit begonnen, noch ausgiebiger als zuvor allerlei Schriften zu lesen, sondern er schrieb sich seitdem täglich all das von der Seele, was ihn nicht ruhen ließ, denn wenn Gott ihn hatte strafen wollen, so ein immer wiederkehrender Gedanke seither, mit den nicht enden wollenden Schmerzen im linken Bein und dem Fieber, das ihn oft heimsuchte, dann musste auch er Sünden auf sich geladen haben, die nicht eben klein gewesen sind, die Gott ihm aber nicht offenbarte. Schreibend, so hoffte er, würde er der Wahrheit näherkommen.

Im Diarium des Predigers fanden sich somit allerlei Gedanken und gute Argumente gegen die Abweichler, aber auch eine längere Abhandlung zur Sünde, die ihm eines Abends aus der Feder geflossen war. Er wollte Heinrich das eine oder andere daraus vorstellen, ohne dass es wie eine Predigt wirkte. Immerhin ging der Junge bald zusammen mit Thorbecke auf Reisen, da würde es gut sein, ihn auf die Gefahren der Welt aufmerksam zu machen, damit er nicht etwa als ein Pietist wieder hier erschiene. Er schlug sein Tagebuch auf.

„Wo große Strafen und Züchtigungen Gottes sich finden“, las er laut, sich das Büchlein direkt vor die Nase haltend und in seiner Stube trotz der Schmerzen im Bein hin und her humpelnd, „da mögen wir wohl denken, dass gewiss nicht kleine Sünden begangen wurden, die Gott veranlasst haben, uns mit solchen bittern Ruten zu geißeln. Und sollte ich nach dem gemeinen Sprichwort nicht etwa sagen müssen, den ärgsten Hunden hängt man die größten Klöppel an?“

Er hielt inne und setzte sich. Er wollte Heinrich ja nicht mit seinen Selbstanklagen aus dem Haus jagen! Er blätterte weiter, es musste etwas weniger Schweres sein, etwas Weltliches. Vielleicht, dachte er, sollte ich Heinrich von der Mischung der Säfte berichten, dem Temperament, das Gott einem jeden Menschen mitgibt. Er selbst war ja ohne Zweifel ein Melancholiker, da war viel zu erzählen.

„Denn obwohl“, las er also wieder laut, als er endlich eine passende Stelle gefunden hatte, „die Melancholici wegen ihres Temperaments und verbrannten dicken Geblütes schon zu schrecklichen Anfällen geneigt sind, so glaube ich doch, dieselben würden nicht so leicht ausbrechen, wenn nicht mit den Sünden Holz zugetragen würde zu dem Feuer, dem feurigen Ofen der Anfechtungen, in welchem sie öfters brennen müssen, bis die Schlacken ihrer Sünden verzehrt sind!“ Das war, fand er, nun ein wenig zu deutlich im Ton einer Predigt. Aber er würde schon, sagte er sich, die richtigen Worte finden. Endlich klopfte es. Heinrich trat ein, einen großen Krug Bier und geräucherte Würste in der Hand.

Er wollte aufmerksam zuhören an diesem Montagabend. Besonders interessierte ihn, darauf war er erst auf dem Weg zum Prediger verfallen, ob eine Tat, die einer nicht vorsätzlich herbeigeführt hat, ihm dennoch als Sünde angerechnet werden würde, etwa wenn einer im Zustand des Wahns oder der übermäßigen Wut einen Gegner oder einen Feind niedermachte. Er drückte das ein wenig umständlich aus, mit falschen Begriffen und unter Zuhilfenahme der üblichen Teufelsmetaphern. Dem Prediger, der die Frage dennoch sofort verstand, stieg das Blut zu Kopf. Natürlich hatte er damals, als er mit dem halb zerschmetterten Bein auf dem Krankenlager gelegen hatte, die Calvinisten und mit ihnen die Reformierten wütend zum Teufel gewünscht, mochten sie nun etwas mit dem Überfall zu tun gehabt haben oder nicht. Und ja, natürlich hätte es sein können, dass er angesichts des Täters in Wut geraten wäre, zugeschlagen, zugestochen hätte, und er war sich nicht mal sicher, ob er sich solch einen Moment des Wahns nicht insgeheim wünschte. Am Ende war alles ins Leere gelaufen, weil sich der Täter nicht finden ließ. Er konnte sich ohnehin nur bruchstückhaft erinnern, an den üblichen abendlichen Spaziergang und dann erst wieder daran, dass vor ihm das besorgte Antlitz des Medicus erschien. Er war, wurde ihm erklärt, hinterrücks überfallen worden, hatte eine schwere Wunde am Hinterkopf erlitten und man habe auch noch auf ihn eingeschlagen oder eingetreten. Was aber, das fragte er sich noch einmal, würde ich getan haben, wenn mir damals jemand, der Richter oder ein Schichtmeister, unter vier Augen den Namen des Verdächtigen genannt hätte? In einer kleinen Stadt läuft man sich über den Weg, ob man will oder nicht. Würde mich die Wut überwältigt haben, hätte ich auf ihn eingeprügelt, würde ich ihn gar ermordet haben in all meiner Wut? Er sah Heinrich an, der an einer Wurst kauend auf Antwort wartete. Fest steht, dachte der Prediger, dass mich Gott seitdem mit Schmerzen und bösen Träumen straft, ohne dass ich in der Tat Gewalt gegen einen Menschen ausgeübt hätte, ohne dass ich schuldig bin. Aber auch böse Gedanken sind ohne Zweifel bereits böse Taten! Er nahm einen tiefen Schluck Bier. Heinrich blickte ihn ernst an, nur ein leichtes Wippen des Fußes zeigte seine Ungeduld. Was sollte er dem Jungen, überlegte der Prediger angestrengt, nur sagen? Wäre eine im Wahn, in der Wut verübte Tat, wie er sie selbst im Geiste oft begangen hatte, keine Sünde, so wäre ja ein Totschlag im Rausch kaum zu ahnden!

„In Hiob“, hob er endlich an, den Jungen fest anblickend, „steht geschrieben, mein Lager soll mir lindern meine Pein, doch so erschreckte mich Gott durch Träume. Ebenso, Heinrich, ergeht es auch mir seit Jahren, nach jenem Streit mit den Calvinisten aus Breslau und dem Überfall auf mich. Meine Träume seither sind in der Tat schrecklich, und auch die Schmerzen wollen nicht vergehen, obwohl ich nichts Böses getan habe. Darüber aber außer sich zu geraten und seine Gegner im Streit niederzumachen, ob in größter Wut und selbst auch nur in Gedanken, ist Sünde, hörst du, Heinrich, das wäre Gott zuwidergehandelt!“

Heinrich nickte, sagte aber nichts. Ihm war nicht recht klar, wie ein Mensch durch Gedanken sündigen konnte, auch wenn er davon oft gelesen hatte. Er verstand auch nicht, warum das Besiegen eines Feindes im Kampf Sünde sein soll, wenn dieser Böses getan hat. Knu war ein Feind, dachte er, ein böser Mensch, der mit dem Teufel im Bunde gewesen ist. Sein Tod war gerecht und hat Gutes bewirkt. Er verabschiedete sich, ohne noch Fragen zu stellen.

Am nächsten Abend fand Heinrich den Prediger auf dem Krankenlager vor. Die Zugehfrau war damit beschäftigt, große Stücke Pappelrinde auf sein linkes Bein zu legen und diese mit heißdampfenden Tüchern abzudecken. Heinrich ließ sich durch ihre bösen Blicke nicht beirren.

„So ist denn“, fragte er nunmehr unvermittelt, kaum dass er sich gesetzt hatte, „die Angst vor einer Sünde schon selbst eine solche, aus dem Grunde, weil die Angst böse Träume auslösen muss und dem Menschen das Leben zu einer Hölle macht?“

Der Prediger lächelte, trotz seiner Schmerzen. Das, was Heinrich da sagte, war naiv und kindlich und ein wenig zu kurz gedacht, denn die Angst vor der Sünde hatte Gott dem Menschen ja wohlweislich zu dessen Schutz eingegeben. Dies setzte er Heinrich auseinander, der aber schien mit der Antwort nicht zufrieden und grübelte lange nach. Dann fragte er schließlich, die Frau hatte eben die Wickelei beendet und die Tür hinter sich geschlossen, was denn die größte Sünde sei, so dass bereits die Angst davor die schlimmste Pein auslöse. Daraufhin sprach der Prediger von den sieben großen Sünden, dem Hochmut oder der Eitelkeit, dem Geiz oder der Habgier, der Wollust, dem Zorn oder der Rachsucht, der Maßlosigkeit, dem Neid oder der Eifersucht, der Trägheit des Herzens und des Geistes oder der Feigheit, doch all dies kannte Heinrich ja bereits aus Arndts Schriften und den Büchern der Hausherrin. Außerdem leierte der Prediger die Aufzählung nur herunter, wie er dies manchmal in seinen Predigten tat. Heinrich suchte etwas anderes, denn er wollte, das wurde mehr und mehr zu seinem eigentlichen Plan, diesem Adam Bernd die Hölle auf Erden bereiten. Indem er ihm Angst vor der Sünde eingab! Vor der größten aller Sünden, und kostete dies auch sein eigenes Seelenheil. Aber das Entscheidende fehlte noch!

Der Prediger schrie auf. Er hatte sich ungeschickt bewegt. Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht. Schwer atmend lag er eine ganze Weile mit geschlossenen Augen auf seinem Lager. Heinrich öffnete derweil das Fenster und sah hinaus.

„Manchmal wünschte ich mir“, sagte der Prediger endlich leise, „mich in zwei Menschen aufteilen zu können und dem anderen den Schmerz zu lassen! Leider ist das unmöglich, Heinrich, und grad jetzt würde ich mich, wenn eben dieser Schmerz mich nicht hinderte, am liebsten zum Fenster hinausstürzen, damit er aufhört, doch könnte ich ohne Umstand zum Fenster gehen, so hätte ich keine Schmerzen und auch keine Veranlassung, mich hinunterzustürzen.“

Er lächelte matt und blickte zu Heinrich, der aber stand schweigend am Fenster und sah auf den dunklen Marktplatz hinunter. Für einen kurzen, schauerlichen Moment erschien ihm, wie von einer kleinen bösen Sonne aus der Finsternis herausgeschnitten, das Bild des unten auf dem Pflaster liegenden Predigers. Jede Einzelheit war zu erkennen, die verrenkten Glieder, die erloschenen, ins Leere starrenden Augen, das Blut, das aus dem zerschlagenen Schädel rann. Dann verschwand das Bild, so plötzlich wie es erschienen war. Heinrich sprach noch eine Weile mit dem Prediger, über dies und das, doch mit einer Fahrigkeit, die nicht zu ihm passte. Dann verabschiedete er sich. Ihm war ein Licht aufgegangen. Und was für eins!

Kaum oben in seiner Kammer schreibt er: Die größte aller Sünden ist der Selbstmord! Daneben zeichnet er ein Haus mit einem geöffneten Fenster, in dem ein Mann steht. Ja, dachte er, an seiner Zeichnung herumkritzelnd, und die größte Angst ist es, sich umbringen zu müssen! Es wird wohl eine Art Anfechtung sein, überlegte er, spürt man die Lust, sich ins Wasser zu stürzen oder aus dem Fenster zu springen. Er konnte das nicht recht begreifen. Auf seinem Balken in der Scheune hatte er in einer Weise gesessen, dass er nicht hinunterfallen konnte, doch in einem melancholischen Augenblick, in einer Art Umnachtung, ja, das mochte sein, würde der ein oder andere Mensch sich in die Tiefe stürzen. Das musste wohl vom Temperament und der Mischung der Säfte abhängen. Er dachte an Emilia. Ihm war ja sofort, als man sie nicht finden konnte, klar gewesen, dass sie tot sein musste. Der Prediger war umhergelaufen und hatte die Leute befragt, doch sie war von niemandem gesehen worden. Sie war zurückgekommen nach Schwerte, dachte er, und dann ging sie wieder fort, in den Tod! Der Prediger fragte ihn damals noch, ob er nicht traurig sein würde, wenn sie wirklich tot sei. War er denn traurig gewesen, als er die Mutter tot im Wald gefunden hatte? Er wusste es nicht. Doch die Mutter war blöde gewesen die ganze Zeit, sie verstand kaum, was man ihr sagte. Und auch Emilia war wohl so geworden, blöde und des Teufels, ganz plötzlich. Die Mutter hatte tot auf dem zugefrorenen Tümpel gelegen, die Wildschweine oder die Wölfe mochten sie gefressen haben. Und Emilia, da war er sich sicher, haben die Fische gefressen. Gott oder der Teufel hatte das bewirkt, der Mensch stand nur daneben und sah zu, bis er selbst an die Reihe kam.

Würde der dritte Prediger sich aus dem Fenster stürzen, wenn die Schmerzen im Arm wären und nicht im Bein? Das fragte er sich am Tag darauf, müde auf dem Kutschbock hockend. Er musste lächeln, nein, der Prediger würde sich nicht umbringen, denn dann würde er zu den Verdammten gehören und ewig in der Hölle schmoren. Dennoch, eine plötzliche Beraubung des Verstandes, und ein Mensch wirft sich vor eine Kutsche, springt ins Feuer oder ins Wasser, und war vielleicht einen Lidschlag zuvor noch bei Verstand gewesen. Heinrich dachte lange darüber nach, er selbst würde dies nicht tun, niemals, auch nicht im berauschten Zustand. Den Weibern unter die Röcke gehen oder Streit beginnen, all diese Dinge, die man am anderen Morgen bereut, nun gut, davor war er nicht gefeit in seiner Schwachheit, aber sich kopfüber in einen Strudel stürzen oder ins Feuer – nein, das werde ich nicht tun, entschied er, niemals.

Doch ganz so sicher war er sich durchaus nicht, denn der Gedanke ließ ihn nicht los, dass auch er selbst einmal plötzlich einem Wahn verfallen könnte. Was wäre, überlegte er, als er am selben Abend todmüde auf seinem Strohsack lag, wenn einer sich selbst nicht trauen kann? Wenn er die Lust, sich zu töten, in einer Weise in sich spürt wie etwa die Wollust, die sich ja auch nicht vertreiben lässt so ohne weiteres? Musste er dann nicht beständig Angst haben vor sich selbst? Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Solche Angst, dachte er, ist die Hölle auf Erden für einen armen Sünder. Und diese Hölle, die würde er Adam Bernd bereiten!

 

ZWEITES BUCH

DER EINBEINIGE

Bei Tagesanbruch schleicht Heinrich auf Zehenspitzen, sein Bündel über der Schulter und sein Geldsäckchen mit Pfennigen und Groschen in der Tasche, aus dem Gasthaus bei Helmstedt und läuft in die aufgehende Sonne hinein. Ein Student hatte ihm am Abend zuvor bei einem kleinen Nachttrunk die Route nach Breslau auf ein Stück Papier gezeichnet, über Oschersleben, Aschersleben, Halle, Leipzig, Dresden, Görlitz, Bunzlau und Liegnitz. Den Weg sei er selbst gegangen, andersherum, von Neumarkt aus. Vier Wochen habe er benötigt. Es gäbe zwar, sagte er augenzwinkernd, auch einen kürzeren Weg, doch dann würde er Leipzig und die Gasthäuser und die Frauen dort verpassen, und das wäre schade drum, wenngleich Breslau in dieser Hinsicht auch nicht zu verachten sei. Lange noch lag er wach und wäre sicher zu spät aufgewacht, hätte nicht Thorbecke gegen Morgen ganz fürchterlich zu schnarchen begonnen.

Mit jedem Tag seiner Reise war das Wetter schlechter geworden. Er hatte den Eindruck, es werde jedes Mal ein wenig kühler und regnerischer, wann immer er ein Flüsschen überquerte, erst die Bode, dann die Wipper, dann die Saale. Draußen zu übernachten war kaum möglich. Auch in der Nacht vor seiner geplanten Ankunft in Leipzig musste er wieder einmal auf dem nackten Boden eines Landgasthauses schlafen, wenn man das überhaupt Schlafen nennen konnte, denn nebenan gab es mehrmals Raufereien. Als er frühmorgens in den Schankraum trat, sah er durch eine offen stehende Tür den Wirt, der eine Blutlache mit einem alten Lumpen verwischte und Sand aus einem Krug darüber streute. Er war froh, als er fortkam, kaum dass er für ein paar Pfennige ein wenig Brot bekommen hatte, um es ins Bier zu brocken. Noch lag ein gutes Stück Wegs vor ihm bis nach Leipzig. Vielleicht kann ich mich als Gehilfe bei einem Kaufmann verdingen, der Richtung Schlesien reist, überlegte er. Er würde sehen, was sich machen ließ.

Schließlich steht Heinrich am frühen Abend des selben Tages müde und staunend auf dem Marktplatz der großen Stadt Leipzig. Nachdem er am äußeren Ranstädter Tor durchgewinkt worden war und am Barfüßerpförtchen seinen Namen als Heinrich Daubenfuß, Kaufmannsgehilfe, angegeben hatte, er sei im Auftrag seines Meisters hier, war er einfach in die Stadt hineinmarschiert, nach rechts um eine Häuserecke und dann wieder nach links gegangen, um schließlich auf dem Markt mitten im Getümmel zu landen. Es ist noch hell, am Himmel sind blaue Lücken zwischen auseinanderfahrenden dunklen Wolken zu sehen. Um ihn herum allerlei Trubel und Menschen aller Stände, darunter viele Studenten mit wallenden Perücken und schwarzen Hüten, bestickten Mänteln, Kniebundhosen, weißen oder gelben Seidenstrümpfen und Schnallenschuhen, alle mit einem feinen Degen bewaffnet, ihnen zur Seite manche Dame mit hochaufgestecktem Haar und engtailliertem Kleid, daneben Mägde und Handwerksgesellen und junge Burschen, die ihren Herrschaften die eingekaufte Ware hinterhertrugen. Wenn er da an den armseligen Markt in Schwerte dachte! Er geht von Stand zu Stand und sieht sich die Ware an, Gänse und Hühner in Käfigen, Buchstände mit galanten Romanen und gelehrten Werken, Gemüse, Fleisch, Würste, Tuche, alles ist vorhanden. In den Läden unter dem Rathaus finden sich feine Öle aus Italien und wertvolle Kerzen aus Schweden ebenso wie Felle aus Russland, dazu Pfeffer, Honig und einiges mehr. In einem dunklen, vollgestopften Raum sieht er sich Drucke aller Art an, Stadtansichten vor allem, auch Stiche nach Gemälden. Vor einem Laden für Messer und Degen steht ein Stadtsoldat, der Heinrich prüfend ansieht und ihm dann zunickt. Heinrich grüßt zurück und geht weiter, durch einen Durchgang unter dem Rathaus hindurch, noch ein Markt, stellt er überrascht fest, ebenso bevölkert. Ein Bürger mit einer dunkelgrauen Perücke und einem großen Hund an seiner Seite erklärt dem Staunenden ungefragt, dies hier sei der Naschmarkt und das prächtige Gebäude dort die Kaufmannsbörse, worauf Heinrich nickt und sich nach einem Schlafplatz erkundigt, er sei Kaufmannsgehilfe und im Auftrag unterwegs.

Wie gut es doch gewesen ist, dachte er zufrieden, nachdem er sein bescheidenes Quartier in der Ritterstraße Ecke Brühl bezogen hatte und ausgestreckt auf einem Strohsack in der Ecke eines großen Raumes lag, dass ich mir vor einer Weile schon Seidenstrümpfe habe verschaffen können, denn eine noch so zerrissene Kleidung wird fast anständig, sind die Strümpfe nur von feiner Machart und ansprechender Farbe. Ihm jedenfalls sind die seidigen Dingerchen, zusammen mit einer halbwegs vorzeigbaren Perücke und einem leidlich sauberen Rock, wie jedem anderen Manne das Eintrittsbillet in eine jede Stadt. Wie als eine Versuchung waren ihm die Strümpfe, frisch gewaschen und tropfnass, geradezu vor die Nase gehangen worden, erinnert er sich, ausgerechnet in Paderborn war das gewesen, wo Thorbecke und er so misstrauisch behandelt worden waren. Ein ungeheurer Glücksfall. Die Perücke allerdings, die ihm ein wenig zu groß ist und verrutscht, wenn er sich am Kopf kratzt, besaß er erst seit wenigen Stunden. Er hatte sie, wie die Strümpfe, kurzerhand gestohlen, als sich ihm die Gelegenheit bot. Es war am Mittag des selben Tages gewesen, und es mochte wohl noch gut eine Meile bis Leipzig sein, als es wieder einmal bedrohlich nach einem Gewitter aussah, das sich von Südwesten her näherte. Es tröpfelte bereits, als Heinrich, aus einem Wald heraustretend, einer umgestürzten Kutsche alter Bauart ansichtig wurde. Ihr Verhängnis war ohne Zweifel die Spurbreite der hiesigen sächsischen Wagen gewesen. Sie musste, notgedrungen schräg fahrend, heftig umgeschlagen sein. Die Räder links waren zerborsten, die rechtsseitigen hingen in der Luft, während die beiden Pferde tot waren. Auf den aufgerissenen Flanken saßen dutzende von Kolkraben, die nicht einmal aufflogen, als Heinrich sich langsam und vorsichtig näherte. Menschen waren auf den ersten Blick nicht zu sehen, doch war der Boden übersät mit Fußabdrücken, kleinen wie großen, vollgelaufen mit Wasser. Wer weiß, wie lange der Unfall her sein mag, dachte er, die Raben beobachtend. Als er in ein paar Schritten Entfernung um die Kutsche herumstapft, sieht er, dass ein einzelner Schuh, schwarz und mit einer silbernen Spange versehen, aus dem offenen Verschlag der Kutsche herausragt. An ihm hängt ein weißbestrumpftes Bein, und an diesem einen Bein ein Leib und obenauf ein Kopf, das linke Auge ist weit aufgerissen, vom anderen kleben nur noch schleimige Reste in der Augenhöhle. Durch das blutige Loch der weggefressenen Wange hindurch erkennt er Zahnstümpfe und die Zunge. Heinrich wendet sich erschreckt zusammenfahrend ab, zwingt sich aber, wieder hinzusehen. Ein nicht ohne Geschmack gekleideter älterer Herr, stellt er fest, einbeinig und von einiger Leibesfülle, mit auffallend schönen Knöpfen an seinem Rock. Der Kopf ist seltsam verdreht.

„Ist da wer?“, ruft Heinrich nun ganz unsinnigerweise. Einige der Raben flattern kurz auf, fallen dann aber aus geringer Höhe, krah, krah rufend, wieder in die offenen Wunden hinein. Vorsichtig nähert er sich weiter, nicht so sehr aus Ehrfurcht vor dem Toten als vielmehr aus Angst vor den Vögeln, die weiter unbeeindruckt, ihn aber gleichwohl beobachtend, Fleischbrocken aus den Kadavern reißen. Die Kreatur ist unberechenbar, das weiß Heinrich aus manchem Erlebnis. Doch die Vögel tun nichts und der Einbeinige auch nicht, während Heinrich unschlüssig eine Weile dasteht und die Kutsche betrachtet, einmal auf dem linken, dann wieder auf dem rechten Bein balancierend, wie das wohl ist, so einbeinig zu sein, denkt er, die Vögel im Augenwinkel, die emsig ziehen, zerren, reißen und vertilgen, während bald schon dicke Tropfen aus schwefelgelbem Himmel zu Boden klatschen.

Endlich bricht das Gewitter mit einem Guss und krachendem Donner los. Heinrich klettert, was bleibt ihm übrig, über den Toten hinweg in die Kutsche hinein. Der Aufbau knarrt bedrohlich. Er drückt sich in eine Ecke, und da sitzt er nun mit einem einbeinigen und einäugigen Toten und kann nicht fort, ohne klatschnass zu werden oder sich vom Blitz erschlagen zu lassen.

„Nur keine Angst“, sagt er laut, den Blick von dem Toten nicht wendend, doch je öfter er dies sagt und je dunkler die Welt wird, je öfter ein Blitz den Himmel zerreißt, je näher das Gewitter kommt, desto lebendiger scheint die Leiche zu werden. Das wäre nicht der erste Tote, denkt er, den der Teufel wieder zum Leben erweckt! Was also tun? Sich nassregnen lassen und am Ende nicht eingelassen werden, weil ein Torwächter ihn für einen Landstreicher hält? Manch einer hatte ihm, wenn am Abend in einer Schenke das Gespräch auf das Reisen kam, von Leipzig geschwärmt, Schuster, Kaufleute, Zimmermanns- und Maurergesellen, Wirte, Studenten, selbst Salpetersieder, alle rieten dazu, die Stadt zu besuchen, ob sie nun schon mal dort gewesen waren oder nicht. Endlich klarte es auf, und bevor Heinrich über den Toten hinweg aus der Kutsche stieg, nahm er noch einmal allen Mut zusammen, zog ihm die Perücke vom Kopf, klopfte sie aus und steckte sie ein.

ADAM und EMILIA

Der junge Adam Bernd aus Breslau kämpft allabendlich gegen die ihm vom Teufel eingegebenen Anfechtungen, indem er auf dem Rücken liegend auf seinen eigenen Händen einzuschlafen versucht. Hätte er es sich nur getraut, so würde er seinen Lehrer Martin Hanke, Rektor des Elisabeth-Gymnasiums, oder, wenn er in der Neustadt vor den Toren der Stadt im Haus des Predigers Andreas Acoluth nächtigte, diesen gebeten haben, gemeinsam ein Gebet an Gott zu richten wider die Wollust und die Anfechtungen des Leibes. Doch wäre solch eine Bitte nicht erst recht der Beweis dafür, wie besessen er war von der Fleischeslust? Zwar hatte ihm Acoluth schon einige Male verklausuliert von dieser Sünde gesprochen und ihm zugleich versichert, Gott selbst vergebe sie. Eben dies merke ja auch Martin Luther im Kleinen Katechismus an. Doch solche Hinweise halfen ihm nicht, denn die Gier und Wollust, die ihn tagsüber und besonders des Nachts überfiel, war übergroß und stärker als sein Wille. Es war, als würde eine fremde, teuflische Macht seine Gedanken lenken. Häufig genug hatte er nachgeben müssen und Hand an sich gelegt, ängstlich darauf bedacht, dass keiner seiner Kameraden im Schlafsaal davon etwas mitbekam. Oft bat er Gott auf Knien, ihn von der Wollust zu befreien, ihn nicht zu strafen mit Verdammnis und Unheil, denn war ihm denn von Gott nicht, so sagte er sich, so manche Wohltat erwiesen worden, durfte er denn nicht das Gymnasium besuchen und Sprachen und Mathematik lernen, statt als Kohlgärtner dereinst seine Tage beschließen zu müssen? Doch das Gute und Schöne, das wusste er, konnte ihm Gott wieder nehmen!

Neuerdings zog es ihn in die Schenken und auch zu den Bühnen, auf denen derbe Schwänke zum Besten gegeben wurden. Sicher, er disputierte im Wirtshaus mit den Andersgläubigen, und das mochte eine gute Sache sein, doch er trank auch mit den Schulkameraden so manchen Krug Bier, spielte Karten, ging kegeln, so wie er überhaupt einen Hang zu den Mitteldingen besaß. Diese Neigung verurteilte Acoluth, dem die Verehrung seiner Eltern und die seiner Geschwister galt, zwar nicht in Bausch und Bogen, hielt sie aber bei einem zukünftigen Prediger, denn als einen solchen sah er Adam, für unangemessen.

Zu allem Überfluss war da auch noch Emilia. Sie sprach nicht viel und schien immerzu Angst zu haben, besonders vor der Acoluthin, der alten und kranken Mutter des Hausherrn, und selbst wenn sie etwas sagte, so klang es müde und schleppend. Wenn sie ihn wenigstens offen anblicken würde, dachte Adam, seinethalben auch frech wie so manch andere, doch sie blickte zu Boden oder an ihm vorbei. Eines Morgens jedoch, Adam hatte im acoluthschen Haus übernachtet und war zeitig aufgestanden, um den Prediger in die Kirche zur Frühmesse zu begleiten, huschte sie kaum bekleidet dicht an ihm vorbei in ihre Kammer. Er stand wie vom Donner gerührt. Eine Gier nach dem fremden Leib, die sich als eine Art Kitzel in ihm ausbreitete, hinter den Augen und im Kehlkopf und im Unterleib, lenkte ihn, so als führe ihn der Teufel selbst an Schnüren wie eine Marionette, zu Emilias Kammer. Er hatte die Hand bereits auf der Klinke, als Herr Acoluth von unten herauf nach ihm rief, es sei an der Zeit aufzubrechen.

Ausgerechnet an diesem Morgen sprach Acoluth in seiner Predigt in St. Salvator vor dem Schweidnitzer Tor von den Anfechtungen.

„Schlagen wir der einen den Kopf ab“, sprach er laut zu seiner kleinen Gemeinde in der großen Kirche, „wachsen zwei dafür nach, doch Gott weiß, wie wir dem zu begegnen haben: mit Einkehr und mit Buße.“ Adam stand, wie es seine Gewohnheit war, an einen Pfeiler gelehnt im Halbdunkel. Mit seinen Gedanken war er bei Emilia und sein Leib war in Aufruhr wie noch nie. Und das im Hause Gottes! Das Gebet, das er leise vor sich hinsprach, schien ihm selbst schal und verlogen zu sein, so sehr, dass er bald mit den Tränen kämpfte. Er lief hinaus und machte sich auf den Weg zum Gymnasium. Viel allerdings war an diesem Tag nicht mit ihm anzufangen, denn das Bild der unter dem Tuch deutlich erkennbaren Brüste Emilias und das ihres nackten Hinterns ließen ihn immer wieder in Tagträumereien versinken. Zu allem Überfluss saß sie bald auch noch fast täglich für ein oder zwei Stunden in dem Raum, in dem Adam las und schrieb oder mit Acoluth Bibelstellen diskutierte, denn sie hatte einfache Lektionen im Schreiben, Lesen und Rechnen bekommen, damit sie mehr Aufgaben im Haus übernehmen könne. Natürlich wurde Adam gebeten, dem Mädchen zu helfen. So war es kein Wunder, wenn er sie kaum noch aus seinen Gedanken vertreiben konnte, ja manchmal ertappte er sich dabei, wie er unwillkürlich ihren Namen vor sich hin murmelte.

Adam war in seinem sechsten Jahr auf dem Elisabeth-Gymnasium. Es war seiner eigenen Beharrlichkeit und der Hilfe seines Bruders Johann zu verdanken gewesen, dass er überhaupt diese Schule besuchen durfte, denn seine Eltern wären wohl kaum auf den Gedanken gekommen, ihren Nachzügler für Höheres zu bestimmen. Dem Rektor Martin Hanke, der neben Geschichte, Ethik und Politik die Beredsamkeit lehrte, fiel der Knabe schnell auf, allerdings weniger seines Fleißes als vielmehr seiner eigentümlichen Bauernschläue wegen, die sich vor allem in oft klugen und gewitzten Antworten zeigte. Adam war in Siebenhufen, der südwestlichen Vorstadt Breslaus, zu lange Jahre unter Kohlgärtnern gewesen, als dass er sich, das wusste Hanke, gehobener Sitten selbstverständlich hätte befleißigen können. Allerdings war er bei jeder Disputation vorne mit dabei und immer wohlunterrichtet. Nicht selten aber war er allzu verbissen und missachtete oder überhörte die Friedensangebote der Gegner, ja er versuchte manches Mal, sie lächerlich zu machen mit einer letzten, scharfsinnigen Bemerkung, auf die sich kaum mehr antworten ließ. Bei den Disputen mit Andersgläubigen in den Schenken fiel er zudem oft von fürchterlichem Ernst urplötzlich in die lustigste Stimmung. Selbst seine Schulkameraden zogen die Stirn in Falten, wenn er dieses Verhalten an den Tag legte. Im Ganzen galt er aber als ein guter Disputant, so dass es umso mehr verwunderte, als es mit seiner Schlagfertigkeit urplötzlich nicht mehr zum Besten bestellt war, er die Argumente der Gegner falsch zusammenfasste, ihnen unklar antwortete, ja manchmal sogar viel zu viel trank und dann gar nichts mehr Vernünftiges herausbrachte. Er selbst war sich ganz im Klaren darüber, warum er kaum noch einen Gedanken fassen konnte, und auch in dieser ganz und gar sein Gemüt beherrschenden Angelegenheit mit Emilia schwankte er hin und her, nämlich zwischen der Freude über sein offensichtliches Verliebtsein und der Angst, eine Sünde zu begehen, die er keinesfalls wiedergutmachen konnte. Dabei wusste er nicht einmal, wie es dazu gekommen war, wie das Verliebtsein überhaupt in ihn gefahren ist. Sollte es etwa, überlegte er, nur dieser zufällige Moment an jenem Morgen gewesen sein, der ihn verliebt gemacht hatte? Seinem Bruder Johann vertraute er einmal an, es gäbe viele hübsche Mädchen in Breslau, besonders eines, doch der knuffte ihn nur in die Seite.

„Dann sieh mal zu“, sagte er lachend, „dass die Sache nicht ausgeht wie das Hornberger Schießen.“

Eines Abends im Frühjahr, Adam saß am Hebräischen, während Emilia mit dem römischen Alphabet und einfachen Sätzen kämpfte, wurde Acoluth zu einem Sterbefall gerufen. Er bat Adam, Emilias Versuche zu korrigieren. Er hatte ihr schon öfter helfen sollen, doch immer war der Prediger im Zimmer gewesen oder wenigstens im Haus. Nun aber würden sie allein sein. Er wartete, nachdem der Prediger die Haustüre hinter sich zugeworfen hatte, noch eine Weile klopfenden Herzens und auf sein Buch starrend, um dann aufzustehen und neben Emilia zu treten, die gesenkten Blickes über ihrem Blatt saß. Er überflog, sich ein wenig niederbeugend, die einfachen Sätze und sah sofort, dass alles richtig geschrieben war, etwas ungelenk vielleicht, aber richtig.

„Das hast du gut gemacht, Emilia“, sagte er, worauf sie den Kopf herumwarf und ihn anblinzelte. Das ging ihm durch und durch, wie ein Blitz, und da war ihm plötzlich, als ob sein rechter Arm sich wie von selbst hob, seine Hand sich wie von selbst auf den Scheitel Emilias legte und bis in den Nacken fuhr, und dann tat die Hand, gegen die Emilia sich streckte wie ein Kätzchen, ganz leicht nur, in kleinen Stößen, es noch einmal und noch einmal. Ein wohliger Schauer zitterte ihm durch den Leib.

Im Hause Acoluth war Adam ein gern gesehener Gast. Der Prediger stellte seit Jahren immer einem oder sogar zwei Gymnasiasten, die er als zukünftige Theologen ansah, eine Kammer zur Verfügung. Sein Experiment mit zwei Knaben aus der Nachbarschaft, davon hatte er Adam kürzlich erzählt, der eine Sohn einer Magd und eines Soldaten, der andere der eines alleinstehenden Krämers, beide Georg geheißen, war vor einer Weile allerdings gründlich schiefgegangen. Sie wurden wegen Ungehorsam und Diebstahl dem Gymnasium verwiesen, in das sie auf Acoluths Empfehlung erst kurz zuvor eingetreten waren. Nun halfen sie in der Küche und kümmerten sich um die Schweine. Adam habe die Beiden sicher schon einmal bemerkt.

Adam verdankte es Rektor Hanke, der ihn Acoluth, mit dem er seit langem Freundschaft pflegte, als neuen Eleven vorschlug. Adam sei, wie er versicherte, ein ruhiger und vernünftiger, wissbegieriger und fleißiger Knabe. So hatte er, auch wenn er sein Bett im Schlafsaal behielt, umstandslos und von heute auf morgen eine kleine Kammer unter dem Dach des acoluthschen Hauses bezogen. Sie war recht geräumig, jedoch nicht sehr hell. Das einzige Fenster ging zur Stadtmauer hinaus, die direkt hinter den Ställen und einigen kleinen Nebengebäuden dunkel in den Himmel wuchs. Außer einem Tisch und einem Stuhl war zunächst nicht mehr darin als eine mit frischem Stroh gefüllte Matratze und ein kleiner Ofen. Bald aber befanden sich dort schon all seine Besitztümer, nicht zuletzt eine feine, bestickte Kappe und ebenso feine Tücher, die er immer dann trug, wenn er des Abends ausging, auch wenn das eitel sein mochte. Seine Bücher stapelten sich auf dem kleinen Tisch, besondere Schätze darunter, teilweise von Hanke geliehen, etwa die erste Ausgabe der Lustigen und Ernsthaften Monats-Gespräche, die ein gewisser Christian Thomasius herausgab. Zum Lernen des Französischen war ihm von Hanke der Roman La Princesse des Clèves zugestanden worden, er dürfe ihn aber, gab er ihm zu verstehen, keinesfalls einem seiner Kameraden zu lesen geben und er selbst solle besonders darauf achten, wie sehr die Prinzessin hin- und hergerissen sei zwischen Vernunft und Leidenschaft.

Dies also war nun sein Reich, hier würde es ruhiger und erträglicher sein als in der Schule. Wie oft war er nicht im großen Schlafsaal des Gymnasiums mitten in der Nacht geweckt worden, entweder durch freche Späße oder, weit öfter, durch Albträume eines der Knaben, durch Zappeln, Stöhnen und sogar durch Schreie. Der Teufel sandte diese Träume, das schien ihm sicher, doch nie hatten mehrere gleichzeitig einen üblen Traum ­– es musste also den treffen, dessen Sünde am Tag zuvor am schwersten wog, den Knaben, den der Satan am leichtesten ergreifen konnte. Auch er selbst hatte schlechte Träume, vor allem wenn er viel an die Mädchen dachte und nicht nur jedem Rock hinterherschielte, sondern es einzurichten wusste, einen Blick auf die Beine der Schönsten zu erhaschen, indem er sich nämlich dort auf die Lauer legte, wo sie die Röcke heben mussten wegen des Kots auf den Wegen der Vorstädte. So etwas reizt den Teufel ganz besonders. Von Mädchen aber träumte Adam nie, jedoch immer wieder davon, ertrinken zu müssen, weil er von einem Boot aus in die Oder gesprungen ist, ganz freiwillig, obwohl er nicht schwimmen kann. Zuerst war es angenehm, er ließ sich ein wenig treiben, bis es ihn aber mit einem Male hinunterzog. Die Kameraden im Boot strecken ihm die Hände entgegen, einer rudert wie besessen, und das ist das letzte, was er sieht, ja, er dachte im Traum, das fiel ihm später wieder ein, dass er von Gottes Welt zuletzt dies sehen durfte, das kleine Ruderboot mit dem Rudernden, Rücken und Arme ohne Kopf, und Hände, die sich ihm entgegenstreckten, ohne ihn erreichen zu können.

Einen ruhigen Schlaf fand Adam aber dennoch nicht im Haus des Predigers, vor allem der zunehmenden Schwäche und Krankheit der Acoluthin wegen, der nunmehr ans Bett gefesselten und immer hinfälliger werdenden Mutter des Hausherrn. Niemand konnte es ihr recht machen, nur wenn ihr Sohn zu ihr kam, wurde sie ruhiger, ging in sich und betete. Sonst aber jammerte sie Tag und Nacht und beschimpfte lallend jene am meisten, die ihr am ehestens halfen, die sie fütterten, ihr den Nachttopf unterschoben und sie wuschen.

„Zur Hölle sollst du fahren“, schrie sie jeden an, der ihr zu nahe kam, selbst den Medicus, der aber als Einziger darüber lächelte und sie ansprach, als besuche er sie allein der Höflichkeit halber. Die Mägde und der Hausknecht reagierten, was Wunder, verstört auf das Verhalten der früher so vornehmen und strengen Frau. Ein weiterer Schlagfluss raubte der Alten bald fast vollends die Sprache und richtete bei der armen Frau innere Schäden an, so dass es bald nur so aus ihr herausfloss, wie der Arzt es einmal leise einer Magd gegenüber formulierte. Es stank wie die Hölle im ganzen Haus, und einmal hörte Adam, wie der Medicus dem Sohn riet, der Sterbenden nur noch zu trinken zu geben. Dieser wies das von sich, stimmte aber wenigstens dem Vorschlag zu, Weihrauch abzubrennen, nicht der Kranken, sondern der Hausbewohner wegen.

Trotz alledem zog Adam es vor, im acoluthschen Haus zu bleiben. Dem Prediger gelang es, den Alltag aufrecht zu erhalten, so dass er auch weiterhin Adam unterrichten konnte und selbst Emilia nicht vergaß mit ihrem Alphabet und den einfachen Rechenaufgaben. Schrie die Acoluthin unten im Haus, schloss ihr Sohn für einen Moment die Augen, murmelte wohl auch ein kurzes Gebet, sprach dann aber weiter und erklärte Adam wie immer geduldig die Besonderheiten des Hebräischen oder vertiefte die Frage nach der Rechtfertigung.

Jeder tat still seine Arbeit und alles ging seinen Gang, und es würde wohl in diesen Tagen nichts weiter Berichtenswertes geschehen sein, wäre Adam nicht eines Nachmittags um das Haus herum zu den Ställen gegangen. Er kam aus dem Gymnasium und war recht früh dran. Acoluth war noch außer Haus. So trödelte Adam herum, gab den Pferden alte, verschrumpelte Äpfel zu fressen und scheuchte die Hühner vor sich her. Plötzlich traf ihn ein Stein am Kopf und ein weiterer am Rücken. Erschreckt fuhr er herum, und da erkannte er die beiden Georgs, die ihn vom Dach des Stalles aus bewarfen.

„Wen haben wir denn da“, rief einer der Beiden, „ist das nicht der schöne Adlatus unseres hochverehrten Herrn Predigers!“

Noch bevor Adam sich versah, sprangen sie vom Dach herunter. Ein kurzer Hieb auf die Nase, nicht einmal die Hände hatte Adam zur Abwehr hochreißen können, ebenso plötzlich von hinten eine Kopfnuss, dann das selbe noch einmal, nur andersherum, als Adam sich zu dem hinter ihm Stehenden herumdrehte. Dem Fliehenden wurde ein Bein gestellt, schon folgte ein Tritt in den Magen, ein weiterer Hieb ins Gesicht, er schmeckte Blut, Adam floh in Richtung Küche, stolperte, rappelte sich wieder auf und sprang endlich die wenigen Stufen hoch. Die Köchin, eine resolute Polin, drückte ihm einen Lappen in die Hand, ging hinaus und beschimpfte die beiden Kerle in ihrem eigenartigen Deutsch, die sich dafür mit obszönen Reden und Gesten bedankten und schließlich lachend verschwanden. Das Ganze hatte kaum zwei Minuten gedauert.

Acoluth, eben eingetroffen, fand Adam in der Küche. Die Köchin berichtete, während Adam mit dem blutigen Tuch unter der Nase gesenkten Kopfes am Tisch saß, was geschehen war, dann nahm er den Jungen mit hinauf. Emilia, die Adam ganz erschrocken ansah, bekam ihre Aufgaben, worauf der Prediger seinen Schüler in ein im hinteren Teil des Hauses gelegenes Zimmer zog, in dem die weltlichen Bücher ihren Platz hatten. Acoluth riss das Fenster auf, denn auch hier hatte sich der üble Geruch festgesetzt. Er begann ohne Umschweife, Adam vor verderbten Menschen, wie diese beiden Burschen es seien, zu warnen. Einst habe er, wie Adam bereits wisse, große Stücke auf sie gesetzt, das bekenne er offen.

„Ja, Adam“, fuhr er nach einer Pause fort, „auch ich trage eine Schuld an dieser Entwicklung, ebenso wie dein verehrter Lehrer Martin Hanke. Weder er noch ich haben das Treiben der Beiden früh genug entdeckt, obgleich wir die Gefahren und die Anfechtungen kennen, denen sich junge Männer zu erwehren haben.“

Adam wich dem Blick Acoluths aus, der nun eine Weile schwieg.

„Du weißt, von was ich spreche, Adam“, setzte er schließlich wieder an, „du bist alt und verständig genug, das zu begreifen.“

Adam nickte. Wenn der Prediger das Berühren seiner selbst meinen sollte, dachte er, jenen verderblichen vom Teufel kommenden Drang, so verstand er doch nicht, was das mit den beiden Georgs zu tun hatte und mit dem Angriff auf ihn. Die Nase begann wieder zu bluten, Acoluth holte einen nassen Lappen aus der Küche, dann saßen sie sich wieder gegenüber.

„Nun“, fuhr der Prediger fort, „warum sind die beiden Übeltäter so geworden, nachdem sie doch, ebenso wie du, für geeignet befunden wurden, das Gymnasium zu besuchen? Ich will es dir sagen und dir die Entdeckung des Übels offen schildern.“

Er räusperte sich, dann fuhr er fort.

„Eines Abends“, sagte er, „ging Herr Hanke in den Hof des Elisabeth-Gymnasiums hinunter, um den stillen Ort zu besuchen, ganz hinten, neben den Ställen. Es war spät, in den Schlafsälen schon längst Ruhe eingekehrt und niemand mehr wach, so dass er erschrak, unter der Tür hindurch flackerndes Licht zu sehen und Gekicher zu hören. Du kennst deinen Lehrer, Adam, er lässt Gedanken mitunter sofort Taten folgen, so auch hier. Er riss die Tür mit Gewalt auf und fand die beiden Georgs mit heruntergelassenen Hosen, die Teile des Körpers entblößt, die sonst der Scham halber verborgen bleiben. Sie rafften ihre Hosen hoch, stießen Hanke zur Seite und entflohen. Die beiden Burschen wurden anderntags aufgegriffen, als sie an der Stadtwaage herumlungerten und Unfug trieben. Sie durften das Gymnasium nicht mehr betreten und wären wohl umstandslos bei den Soldaten gelandet, wenn ich sie nicht als Stallburschen aufgenommen hätte. Hanke bat mich darum, er wollte sie trotz allem nicht in Bausch und Bogen verurteilen, und ich willigte nach einigem Überlegen ein. Mit aller Deutlichkeit führte ich ihnen vor Augen, Adam, so dass es nicht missverstanden werden konnte, was von ihnen nun verlangt wurde, treuer Dienst, Gehorsam und ein Verhalten nach den Regeln der Sittlichkeit. Nun, jetzt werden sie zu den Soldaten müssen.“

Adam nickte. Er war knallrot.

Da ihm nun, hob Acoluth nach kurzer Pause wieder an, deutlich dieses Beispiel vor Augen stünde, wolle er ihm einiges berichten über die Folgen einer der größten Sünden, nämlich der Selbstberührung, die junge Männer für den Rest ihres Lebens an Leib und Seele verdürben. So würden viele noch in jungen Jahren an der Fallsucht sterben und bekämen Geschwüre eben dort an den missbrauchten Teilen des Körpers, doch er wolle nicht Mitleid für die Übeltäter erregen, sondern ihm, Adam, als einem zukünftigen Prediger, die Sache klar auseinandersetzen, damit auch er dereinst davor warnen könne. Damit stand Acoluth auf und nahm ein schmales Büchlein aus dem Regal. Er wolle ihm das Exempel eines gewissen Wilhelm vortragen, von einem Prediger gewissenhaft aufgeschrieben, er solle genau zuhören und sich dabei die beiden Georgs vor Augen führen.

Acoluth hatte das Buch bereits aufgeschlagen in Händen und wollte eben seinen Vortrag beginnen, als plötzlich ein grässlicher Schrei das Haus erschütterte. Er drückte Adam das Buch in die Hand und lief hinaus. Die Acoluthin, so stellte sich heraus, war aus dem Schlaf erwacht und hatte den Beelzebub selbst an ihrem Bett stehen sehen, ja sie hatte sich schon tot gewähnt, da sie nichts sonst hatte erkennen können als diese Gestalt. Das jedenfalls glaubte man aus ihrem Gestammel heraushören zu können. Niemand, auch ihr Sohn nicht, konnte sie beruhigen. Die Mägde raunten sich mit zugehaltener Nase zu, Gott zögere noch, die Acoluthin zu sich zu nehmen, und so versuche der Teufel mit allen Mitteln, die Seele der Frau an sich zu bringen. Der Medicus, der bald eintraf, untersuchte sie und verbot nun klipp und klar, ihr etwas zu essen zu geben, nur abgekochtes Wasser dürfe sie zu sich nehmen. Kaum jedoch war der Arzt verschwunden, bettelte sie um eine Mahlzeit, etwas Suppe nur, die sie wirr um sich blickend hinunterschlang. Auch Brei und Brot bekam sie. Der Medicus schlug beim nächsten Besuch die Hände über dem Kopf zusammen und sah sich schließlich bestätigt, als die Bauchdecke der Acoluthin drei Tage nach ihrer Teufelsvision buchstäblich aufplatzte und die blutigen Gedärme zu sehen waren. Das Entsetzen stand allen ins Gesicht geschrieben. Die Schreie der alten Frau hörte man in der ganzen Nachbarschaft.

Adam hatte das ihm von Acoluth in die Hand gedrückte Buch, Warnung und Belehrung für Knaben, mitgenommen und in die kleine Holztruhe gelegt, die unter seinem Bett im Schlafsaal stand. Das Büchlein des Predigers, ein Exlibris war eingeklebt, würde wohl kaum Anstoß erregen, sollte es ein Lehrer bei einer Visite finden. Doch wer immer dieses Buch verfasst hatte, das der Aufklärung des heranreifenden Knaben ebenso wie der Warnung vor dem Verbotenen dienen sollte, mochte wohl die Wirkung auf einen mit Phantasie begabten jungen Mann falsch eingeschätzt haben. Sicher, die Beschreibung des sich zugrunde richtenden Knaben, Wilhelm genannt, warnte Adam durchaus vor der Selbstberührung, denn wer wollte schon die Fallsucht bekommen und zuletzt ganz den Verstand verlieren? Auch die von solchen Unglücklichen stammenden Briefe, die am Ende des Bändchens abgedruckt waren, verfehlten ihre Wirkung auf Adam durchaus nicht. Die kurzen Abschnitte aber, die die Zeugung des Menschen zum Inhalt hatten, erregten ihn. Immer wieder las er, heimlich in eine Ecke gedrückt, die selben Stellen. Und ein jedes Mal durchfuhr es ihn heiß und kalt.

Das nun war ohne Zweifel eine Anfechtung, wie sie im Buche steht. Es war eine Probe, ob er denn das Zeug dazu hat, Priester zu werden. Zu allem Unglück tauchte das Bild Emilias vor ihm auf, wenn von der empfängnisfähigen Frau die Rede war. Ihr Blick, ihre Brüste, ihr nackter Hintern, wie sie vor der Tür steht, die Hand auf der Klinke. Er schrieb bald das ein oder andere aus dem Buch ab, sowohl die Warnungen als auch die Erläuterungen zum ehelichen Verkehr. Bei der nächsten Gelegenheit stellte er es heimlich ins Regal zurück. Doch so oft Adam sich die Warnungen zu Gemüte führte, mancher Knabe war infolge der Selbstberührungen in Wahnsinn verfallen oder sogar gestorben, die Wirkung der doch an sich allzu nüchternen Zeilen zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts war stärker, zumal in seiner eigenen Handschrift. Denn während die Warnungen nur Angst in ihm auslösten, mit der er umzugehen gelernt hatte, steigerte das zur Fortpflanzung Ausgeführte seine Wollust. Hätte ihn einer seiner Kameraden gebeten, den Akt der Fortpflanzung zu erläutern, so hätte er den Text des Büchleins, da war er sicher, auswendig hersagen können.

„Allein Vater und Mutter“, begann er allein in seiner Kammer sitzend schließlich eines Tages ganz unwillkürlich, „haben einen Verdienst um Euch, ohne welches ihr gar nicht in der Welt sein würdet. Sie sind die Ursache von eurem Leben und ihr seid durch sie entstanden. Die beiden Personen verschiedenen Geschlechts, die jetzt für Euch Vater und Mutter sind, vereinigten sich in ihrem erwachsenen Alter miteinander, Euch hervorzubringen. Dazu hatte Gott sie geschickt gemacht, indem er ihre Körper, so wie den eurigen, mit denjenigen Teilen begabte, die die Geschlechtsteile heißen. Bei beiden Geschlechtern findet sich in dem Bau dieser Teile eine solche Verschiedenheit, dass eine genaue Vereinigung derselben miteinander möglich ist. Diese genaue Vereinigung der Geschlechtsteile macht diejenige Handlung aus, die wir die Zeugung oder eheliche Beiwohnung nennen, und ihr seht hieraus, warum jene Teile auch Zeugungsteile genannt werden. Diese vertrauliche Handlung, die Zeugung, sollte nun nach der Absicht Gottes die Folge haben, dass der erste Grund zur Bildung eines Kindes in dem Leibe einer Person weiblichen Geschlechts gelegt würde. Und die Folge hat sie auch wirklich, ohne dass wir es genau erklären können, wie es eigentlich zugeht.“

Adam schlief gemeinhin drei, vier Mal in der Woche im acoluthschen Haus und nutzte die Gelegenheit, die Sünde der Selbstberührung ungestört begehen zu können, willig und widerwillig zugleich. Ob es nicht am Ende Hochmut war, dachte er oft, wenn er sich, nachdem er den Abend in einer Schenke verbracht hatte, auf sein Lager legte und schwor, nichts zu tun, sich nicht zu berühren, wenn er sich dann doch nicht beherrschen konnte? Und steigerte dieses Schwören nicht noch seine Lust, umso mehr vielleicht, desto lauter die Acoluthin schrie in ihrem nun schon seit Wochen andauernden Todeskampf, der das ganze Haus zu einem stinkenden Pfuhl gemacht hatte, zu einem Vorgeschmack der Hölle? Warum lebte man denn, fragte sich Adam immer wieder, wenn nicht auch der Lust wegen!

Um den Unterricht schwänzen zu können, es sah nach einem schönen Sommertag aus, den er nutzen wollte, hatte er früh am Morgen dem Hausdiener des Gymnasiums eine echte Schmierenkomödie vorgespielt, Magenschmerzen und Gliederreißen. Er wolle deswegen zu seiner Mutter gehen, da nur sie das Gegenmittel kenne. Er musste fast lachen, als er dies sagte. Als sei sie eine Hexe, dachte er. So war er bei zunehmender Hitze zuerst unruhig in Breslau herumgelaufen und hatte dann in Siebenhufen die Mutter und seinen Bruder Johann besucht, der nun die Hausherrenrolle innehatte, nachdem der Vater gestorben war. Später saß er in einer Schenke und spielte Karten, wurde zu einer Kegelpartie eingeladen, aß etwas und trank Bier und Branntwein. Doch seine Gedanken kreisten, je mehr er trank, spielte und redete, immer deutlicher um Emilia. Er musste sie wenigstens sehen, heute noch! Er würde also zum acoluthschen Haus hinausgehen und, so nahm er sich vor, Emilia abpassen. Mit ihr einmal allein zu sein, dazu drängte es ihn lange schon so unwiderstehlich, dass er manchmal fast glaubte, er würde glatt dem Teufel seine Seele verkaufen, wenn das der Preis wäre.

Nachdem der Kretschmar sie allesamt zu bereits später Stunde hinauskomplimentiert hatte, begleitete Adam einen seiner Kumpane, den trinkfesten ältesten Sohn einer Weißgerberfamilie, noch ein Stück Weges und verließ dann, unter dem misstrauischen Blick des Torwächters, die Stadt durch das Ohlische Tor. Es war spät, sicher schon Mitternacht, doch notfalls würde er Emilia wecken. Von Westen her kündigte sich mit Wetterleuchten und fernem Grollen ein Gewitter an, und so beeilte er sich schwankenden Schrittes, das acoluthsche Haus zu erreichen. Zu seiner Überraschung stand alles sperrangelweit offen, die Haustür und alle Fenster, und als er eben in die kleine Gasse einbiegen wollte, um das Haus durch die Küchentür zu betreten, bemerkte er, dass es stank wie die Hölle selbst, schlimmer noch als sonst. War die alte Hexe nun endlich geplatzt und tot, dachte er, doch da drang wie zur Antwort das bekannte Jammern der Acoluthin an sein Ohr. Adam stapfte die drei, vier Stufen zur Küchentür hinauf, fand sie offen und ging hinein. Auf dem Herd kokelte Weihrauchharz und Holzkohle in einer Schüssel vor sich hin. Im Treppenflur hastete plötzlich, wie aus dem Nichts kommend, Andreas Acoluth an ihm vorbei, doch der beachtete ihn gar nicht, wahrscheinlich sah er ihn nicht einmal. Der Medicus, der ihm schnellen Schrittes folgte, schien wenigstens so etwas wie eine leichte Verbeugung anzudeuten, dann war auch er wieder verschwunden. Nun, überlegte Adam, so will ich mal Ausschau halten nach Emilia, doch ihm war mit einem Male speiübel, sei es wegen des Gestanks oder weil er recht betrunken war. Sollte er vielleicht doch noch zurück ins Gymnasium gehen? Doch würde der Torwächter ihn überhaupt hineinlassen, fragte er sich. Und selbst wenn, so dürfte er ihm mitten in der Nacht in jedem Fall einen Torgroschen abknöpfen. Er setzte sich auf die Treppe, um zu überlegen, und nickte ein.

Als er vom Schreien der Acoluthin wieder wach wird, nähert sich ein Licht, es ist Emilia, mit einer Kerze in der Hand. Sie wirkt erschöpft und hat, soweit das im flackernden Licht zu erkennen ist, rotglühende Wangen, wie im Fieber.

„Adam“, ruft sie.

Sie setzt sich neben ihn und erzählt leise und stockend, es gehe zuende mit der Acoluthin, es sei fürchterlich, er könne sich das nicht vorstellen, der Leib habe sich ihr an vielen Stellen geöffnet, manchmal schreie sie und schlüge um sich, dann jammere sie wieder leise und läge sogar manchmal wie tot da.

Adam hört lächelnd zu, ein wenig mit dem Oberkörper hin und her schwankend.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich“, bringt er endlich lallend heraus, und dann will er ihr sagen, dass er wegen ihr, Emilia, heute Abend hier sei, er setzt mehrmals an, doch er findet die Worte nicht. Stattdessen nimmt er das Mädchen endlich einfach bei der Hand und zieht sie, die nicht widerstrebt, hinter sich her, zwei Treppen hinauf bis in seine Kammer. Schon sitzen sie nebeneinander auf der Strohmatratze. Die Kerze in beiden Händen, wie ein Engelchen, denkt Adam, sitzt sie da. Ihm fällt ein, er hat ganz vergessen, eine Schale mit Weihrauch aus dem Flur mitzunehmen, obwohl er beim Hinaufgehen noch daran gedacht hatte. Doch nun, da Emilia endlich in seiner Kammer ist, will er nicht noch einmal aufstehen. Sein Herz klopft wie wild, und weil er aus lauter Verlegenheit und auch weil er seiner Zunge nicht trauen kann, nichts sagt, nimmt er ihr die Kerze aus der Hand, stellt sie neben sich und streichelt ihr über das Haar. Oft hatte er sich vorgestellt, wie es mit einem Mädchen, mit Emilia, sein würde, hatte den Prahlereien der Handwerksburschen zugehört, geradezu an ihren Lippen gehangen, wenn sie von den Mädchen sprachen, die sich erst zierten, dann aber doch wollüstig und wild würden und schließlich kaum zu bändigen seien. Warum aber, fragt er sich, bleibt Emilia jetzt so starr und sitzt nur stumm neben mir? Sie sitzt einfach da und schaut auf ihre Füße, denkt er. Sicher machte er etwas falsch! Ihm ist, als müsse sein Herz so laut hämmern und stampfen, dass man es bis in den Hof hören kann, und dann endlich nimmt er all seinen Mut zusammen und legt ihre Hand vorsichtig in seinen Schoß. Doch auch jetzt sagt Emilia kein Wort, vielleicht dass sie die Lippen ein wenig fester aufeinanderpresst, das ist alles. Wieder geschieht eine Weile nichts, nur sein Glied pocht durch den Stoff gegen Emilias Hand. Von unten sind die Schreie der sterbenden alten Frau zu hören.

Das Prasseln des Regens wird heftiger, während Blitze und die im Luftzug ein wenig flackernde Kerze die immer noch unveränderte Szenerie beleuchten. Ein süßes, wollüstiges Reißen durchfährt Adam und nimmt ihm die Luft. Endlich drückt er Emilia, die nichts sagt und nicht aufblickt, sachte auf das Lager. Emilia weiß nicht, wie ihr geschieht, wie im Fieber ist alles heiß und kalt, sie denkt, sie muss hinunter, sicher benötigte man ihre Hilfe, das wird sie Adam sagen und aufstehen und gehen, aber dann lässt sie es zu, dass er seine Hände auf ihren Leib legt, auf ihren Bauch und ihre Brust, die auf und nieder bebt. Ganz nahe hört sie seinen schweren Atem. Jetzt trampelt jemand die Treppe hinauf und wieder hinunter, man ruft laut nach dem Hausherrn, Türen schlagen zu, es donnert und blitzt, und als bald darauf Hagel auf das Dach prasselt, legt Emilia, als sei dies ein Zeichen, ihre Hände auf die Schultern Adams und schiebt ihn sanft von sich. Ein ängstliches Lächeln gleitet über ihr Gesicht, sie blickt auf, ich gehe nun, denkt sie, es ist Unrecht, was Adam will, er darf das nicht, ich muss gehen, doch dann zieht sie sich das Kleid über den Kopf, sie selbst ist ganz überrascht, und sitzt nun nackt da, wieder donnert es, kurz und krachend, ein Blitz erhellt die Kammer, Adam denkt einen Moment lang an den Teufel, einen kleinen Moment nur, doch dann schon liegt er zwischen ihren Beinen, bloß wie Gott ihn schuf, alle Gedanken sind fort und nie gedacht gewesen, er glüht, Haut an Haut liegen sie, und unversehens ist er in ihr, er weiß nicht wie. Doch er tut ihr weh, sie stöhnt auf vor Schmerz, aber es geht wie von selbst, wie oft hatte er nicht gesehen, wie Betrunkene in einer Schenke, lallend und lachend den Beischlaf imitierten. Als er aber Emilias schmerzverzerrtes Gesicht sieht, hält er inne, ihm ist, als nehme eine höhere Macht ihn auf und legte ihn neben Emilia, ich will ihr doch nicht, um Gottes Willen, weh tun, denkt er, und dann sind da nur noch die Schreie der Sterbenden, das Prasseln des Regens und das Donnern des Gewitters.

Die Zeit steht still, so muss es wohl beiden erscheinen. Ich bin wie ein wildes Tier über sie hergefallen, denkt Adam verzweifelt. Die Wollust, der Teufel will die Oberhand gewinnen, das ist sicher. Noch kann er entrinnen! Emilias spürt ihr Herz rasen, als wolle es herausspringen. Ohne Berührung liegen sie nebeneinander, dann legt Adam seinen Kopf auf ihre Brust. Unbeholfen streichelt sie ihn. Auch Adam streichelt sie, ihren Bauch, ihre Schenkel, ihr Geschlecht.

Unversehens aber ein Krachen, ein Poltern und fremde, laute, geifernde Stimmen. Schon stehen die beiden Georgs glotzend und mit hochroten Gesichtern in der Kammer. Sie reißen Adam, ehe er reagieren kann, an den Haaren von Emilia weg, alles geht rasend schnell, der eine schlägt und tritt den am Boden Liegenden, während eine stinkende Hand Emilia, die schreit, den Mund zuhält. Schon ist Adam blutüberströmt, das sieht sie noch, ein Tritt in den Unterleib, ein weiterer, er ist nur noch ein einziger Schmerz, einer schlägt weiter auf ihn ein, wild und wie besinnungslos, bis Adam sich nicht mehr rührt, noch ein Tritt, noch ein Zucken, Emilia drückt man ein Tuch in den Mund, sie muss würgen, ein brennender Schmerz, sie schlägt um sich, der schwere Leib auf ihr, der stinkende Atem, brutal dringt er ein, reißt an ihren Haaren, keucht kehlig, die Todesschreie der alten Frau und das Prasseln des Regens vermengen sich mit dem Keuchen des Teufels, und als der von ihr ablässt und sie einen Moment frei ist, will sie fliehen, zur Tür gelangen, doch ein Schlag gegen den Kopf, ein Hieb in den Magen, sie geht zu Boden, und schon ist der zweite Georg über ihr und reißt ihr die Beine auseinander. Der Schmerz ist unerträglich, und er nimmt kein Ende.

Es ist still im Haus, als Emilia aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht. Ein Leib liegt auf ihr, nackt zwischen ihren Beinen. Getrocknetes Blut klebt in seinem Haar, das Gesicht ist angeschwollen und entstellt. Er ist tot, denkt sie, Panik steigt in ihr auf, er atmet nicht, doch als sie sich rührt, stöhnt Adam leise. Er kommt zu Sinnen. Bald liegen sie wieder nebeneinander auf seinem Lager. Sein Unterleib, seine Beine und selbst der Rücken sind übersät mit aufgeplatzten Wunden. Er versucht zu sprechen, doch seine Stimme versagt. Noch ist es finstere Nacht. Die Schreie der sterbenden Acoluthin sind zu hören. Es regnet nicht mehr.

Erst am frühen Morgen, noch vor dem ersten Hahnenschrei, geht Emilia, kaum dass sie einen Schritt vor den anderen setzen kann, Wasser holen. Notdürftig gewaschen und versorgt verlässt Adam schließlich, auch wenn er vor Schmerzen kaum gehen kann, das Haus des Predigers Acoluth. Aus dem Sterbezimmer dringt derweil kein Laut, die Nacht ist bald vorbei und die Acoluthin tot.

Seiner Mutter und den Geschwistern berichtet Adam, er sei vor der Neuen Kirche von Trunkenen überfallen und ausgeraubt worden. Bald weiß es die ganze Nachbarschaft, und auch in das Haus Acoluth dringt die Kunde. Elisabeth, seine Lieblingsschwester, pflegt ihn gesund, nach drei Wochen kann er wieder den Unterricht im Gymnasium besuchen und geht schließlich auch wieder zu Acoluth. Von den beiden Georgs hörte Adam, dass sie gesucht würden, sie hatten in der selben Nacht, in der die Acoluthin starb, Schmuck aus dem Haus gestohlen. Den Gedanken, die beiden Teufel seien sicher irgendwo in der Fremde unter Qualen gestorben, verbot sich Adam nicht, ja er genoss ihn sogar und sponn ihn weiter. Emilia, die einen Sturz auf der Kellertreppe erfunden hatte, um die Prellungen im Gesicht zu erklären, sieht er häufig, sie ist meist in der Küche beschäftigt, aber sie sind nicht eine Minute allein, so dass sie kaum einmal ein Wort wechseln können. Und selbst wenn dazu die Gelegenheit ist, stehen sie nur voreinander und halten sich schüchtern an den Händen. An einem kalten Tag schließlich, die Luft riecht schon nach Schnee, findet Adam den Prediger ratlos vor.

„Mein guter Adam“, begrüßt er ihn, „Emilia ist verschwunden. Sie hat niemandem etwas gesagt. Weißt du, wo sie sein mag?“

Adam schüttelt den Kopf, ohne ein Wort. Dann machen sie sich an das Hebräische, doch ein guter Lehrer spürt, wenn der Schüler nicht bei der Sache ist.

TEUFEL und HEIMSUCHUNG

Wenige Jahre später. Adam Bernd, ehemaliger Schüler des Elisabeth-Gymnasiums zu Breslau, ist seit acht Tagen Richtung Westen unterwegs. Die letzten zwei Meilen ist er auf einem Wagen mitgefahren. Er dankt den Bauersleuten, die nicht durch das Grimmaische Tor in die Stadt Leipzig einfahren wollen, denn am Peters-Tor kenne man den Registrator, da gäbe es keine Fragen. Leipzig also! Im Dunst kann Adam die Pauliner Kirche und links neben ihr das große Fürstenhaus erkennen – wenn er sich nicht täuschte. In den Wochen vor seiner Abreise war ihm so einiges vorgeschwärmt worden, und sowohl Herr Acoluth als auch Herr Hanke besaßen eine stattliche Anzahl von Kupferstichen mit den verschiedensten Stadtansichten. Die Nicolauskirche musste etwas rechts vom Tor zu finden sein, ganz vage schimmert ein Turm über der Stadt, während die Thomaskirche wohl direkt neben dem Schloss, ein dunkler Klumpen in weiter Ferne, ihren Platz hat, von hier aus aber eigentlich kaum zu erahnen war. Einige Wagen rumpelten vorbei, Bauern und Kaufleute. Adam setzte sich unter eine schon in voller Pracht stehende Eiche, um noch eine Weile in sich zu gehen. Der Herr Acoluth wollte mir ja durchaus, überlegte er, Wittenberg ans Herz legen, während der Herr Hanke Jena pries als Ort für ein weltliches Studium, wenn das denn möglich sein würde.

„Nun also Leipzig“, sagte er halblaut vor sich hin, „wo ich, so Gott will, die Theologie studieren werde.“

Acoluth hatte ihm versiegelte Briefe mitgegeben, darunter einen des Breslauer Stadtrates, die er an geeigneter Stelle vorweisen solle. Mit etwas Bonheur ließe sich so durchaus etwas erreichen.

„Vor allem aber halte dein Mundwerk im Zaum“, hatte er ihm geraten, „das offene Wort ist nicht eben in Mode in Leipzig, vor allem nicht in theologischen Dingen.“

Auch Hanke merkte an, dass Adam den Breslauer Möglichkeiten noch nachtrauern werde.

„Was hier in Breslau Disputation heißt, ist dort bereits Gotteslästerung“, so sagte er. Adam solle aber dennoch aufrechten Mutes sein und vor allem seine gute Breslauer Lebensart nicht verlieren. Besonders an diese Aufforderung musste Adam oft denken, auch wenn das mit der guten Lebensart nur teilweise seine Richtigkeit hatte. In eine theologische Disputation verstrickt ist er zwar zumeist die Ruhe selbst, ging es jedoch um Alltägliches, so war es, fand sich nur jemand zum Streiten, in der Vergangenheit nicht selten zu wüsten Wortgefechten gekommen. Oft genug hatte er sich auch betrunken, um Geld Karten gespielt und war mit Freunden zu Tanzvergnügungen gegangen, all dies zur Betrübnis der Mutter, die seit jeher vehement gegen all diese Mitteldinge stritt. Kaum war seine Absicht verkündet, nach Leipzig zu gehen, musste er ihr versprechen, in der Fremde ein neuer Mensch zu werden. Und war ihre Sorge nicht berechtigt? Hatte sich nicht der Vater, dachte Adam, unter dem hellen Blätterdach der Eiche sitzend und die Reisenden beobachtend, zu Tode gesoffen? Am Ende war er nur noch ein sabbernder Greis gewesen, ein Häuflein Elend, der seinen Schnaps brauchte und selbst in seinen hellsten Momenten nur immer die selben Geschichten zu erzählen wusste und seine Kinder kaum mehr erkannte. Die Mutter hatte sich damals, als es so weit gekommen war, dennoch nicht um ihn kümmern können, auch daran dachte Adam jetzt, denn die Jüngste der Schwestern lag Monate krank zu Bett. Sie starb noch vor dem Vater, er erinnerte sich mit Schaudern, nachdem sie am Abend zuvor noch mit Johann und ihm besprochen hatte, wie es weitergehen solle mit dem Vater. Am Morgen lag sie tot in ihrem Winkel. Niemand hatte etwas bemerkt, nicht einmal die Mutter, die neben ihr schlief.

Adam atmete tief durch. Die Bilder jenes Morgens standen ihm deutlich vor Augen, er sah den Vater vor sich, der dem Anschein nach nur mitbekam, dass etwas nicht stimmte. Ob er überhaupt begriff, dass seine Tochter tot ist, konnte niemand sagen. Lange stand er dann steif und aufrecht wie ein Soldat an ihrem Lager und betrachtete sie, wie sie da mit gefalteten Händen auf ihrem Strohsack lag, doch sein Blick war stumpf. Er sagte kein Wort. Am Ende muss wohl der Vater allein dort stehengeblieben sein, denn es war einiges zu veranlassen. Die Mutter und Adam gingen zu Herrn Acoluth, der ohne zu zögern seine Hilfe anbot, während Johann und Elisabeth die Nachbarschaft verständigten und beim Schreiner einen schlichten Sarg bestellten. Den Vater aber haben sie alle nicht mehr lebend wiedergesehen, er hat das Haus verlassen und muss wohl unbehelligt durch Breslau bis zur Oder gelaufen sein. Ob er sich hineingestürzt hat oder gefallen ist, wusste niemand. Tage später brachte man den aufgedunsenen Leichnam des Vaters ins Haus, er war kaum zu erkennen. Die Mutter sah mit Abscheu auf die Leiche und spuckte sie an. Man fürchtete um ihre Gesundheit.

Doch all das war jetzt Vergangenheit! Adam atmete noch einmal tief durch und sprang auf die Beine. Er würde in Leipzig ein neues Leben beginnen, das eines Studenten, und er hatte, das sagte er sich immer wieder, durchaus allen Grund, optimistisch zu sein. Immerhin war es ihm im letzten Schuljahr gelungen, bei einem Vortragswettbewerb ein Stipendium des Breslauer Rates zu ergattern, eines von nur zweien, die ausgelobt waren. Nun beginne, so hatte ihm ein Ratsherr bei der Feierlichkeit gesagt, seine Zukunft, die unter einem besonders guten Stern stünde, denn bisher habe noch jeder Stipendiat des Rates sein Glück gemacht! Also gut, dachte Adam und sah auf seine Stiefel hinunter, so als ob sie denn nicht endlich losmarschieren wollten. Aber die Gedanken an Vergangenes ließen ihn noch nicht los, das spürte er, es war, als müsse er sich alles Wichtige noch einmal vergegenwärtigen.

Ein neuer Mensch sollte er werden. Einfacher gesagt als getan. Die Mutter hatte, er saß bereits in der Kutsche, die ihn zunächst bis nach Görlitz bringen sollte, eindringlich auf ihn eingeredet, er solle an Hebräer 12.1. denken, dort fände sich die Warnung, dass die Sünden uns anklebten und träge machten für die Zukunft, wenn wir nicht vor Zeugen bekennen, den Kampf wider uns selbst anzunehmen. Er hatte der Mutter noch einmal feierlich in die Hand versprechen müssen, fortan frömmer und heiliger zu leben, damit er nicht ende wie der Vater. Wie sie ihn angesehen hatte! Doch er war kein Kind mehr, er wusste um seine Schwächen, er kannte all die Anfechtungen, die vom Leib her den Kopf angreifen. Oder war es nicht eher der Kopf, der den Leib affizierte? Doch sei’s drum, mit allem nicht Gottgefälligen sollte es ein Ende haben!

„Ich werde“, sagte er zur Stadt gewandt, so als sei eine letzte Bekräftigung notwendig, „Theologie studieren und Prediger werden, denn immerhin habe ich neun Jahre das Gymnasium besucht, drei Jahre in Secundo, sechs in Primo ordine gesessen und am Ende noch ein Stipendium des Rates bekommen, so dass mir das Studieren wohl gelingen dürfte!“

Endlich schulterte er seinen Ranzen und nahm die letzte halbe Meile seines Weges in Angriff. Direkt vor ihm zogen mehrere fremdländische Wagen langsam Richtung Stadt, und wenn ihn nicht alles täuschte, parlierte man französisch. Ein junges, rothaariges Frauenzimmer, rittlings auf allerlei Gerät sitzend, eigentlich noch ein Kind, wenn man genau hinsah, rief ihm etwas zu. Er hörte immer nur das Wort Apell und konnte sich keinen Reim darauf machen, obwohl er in den letzten Jahren Französisch gelernt hatte. Endlich aber begriff er, dass sie seinen Namen wissen wollte. Brav rief er „Adam Bernd“, worauf sie ihm Kussmünder zuwarf und ein französisches Lied anstimmte, dessen sicher anstößigen Text er nicht verstand, doch mit jedem Refrain, aus dem sein Name herauszuhören war, öffnete sie ihre Schenkel ein wenig weiter. Als Adam schließlich knallrot war, diese Sprache versteht ein Jüngling von Anfang zwanzig nur allzu gut, hatte sie ein Einsehen und zog die Knie zusammen.

„Je m’appelle Monique“, rief sie noch, bevor sie lachend unter der Plane verschwand. Ein Wanderer hinter ihm machte auf polnisch eine Bemerkung, die er wieder nicht begreifen konnte, doch der Mann lachte noch lange über seinen eigenen Witz.

So zog Adam Bernd am Freitag vor Jubilate 1699, knapp drei Wochen nach dem Osterfest, noch immer mit hochrotem Kopf, am Wagen der Franzosen vorbeischreitend, die, von den Torwächtern befragt, eifrig einige Schriftstücke vorwiesen, durch das Grimmaische Tor in Leipzig ein. Er blieb vollkommen unbeachtet, auch wenn er noch eine Weile glühte wie eine italienische Tomate. Zunächst nun musste er sich eine Unterkunft suchen, noch bevor er sich zu den Collegia anmelden wollte. Ob es ein Haus der Breslauer Studenten gäbe, wusste er nicht, er hatte nicht daran gedacht, sich zu erkundigen. Er irrt also erst einmal durch die Gassen und Straßen und weiß nicht recht, ob Leipzig oder Breslau den prächtigeren Marktplatz hat, doch das musste ihm gleich sein, denn die Stadt besichtigen konnte er, wenn er ein Lager für die Nacht sicher hätte. In einem überfüllten Gasthaus, durch dessen Fenster kaum Licht ins Innere dringt, fasst er sich schließlich ein Herz und fragt den Nächstbesten, einen etwas schäbig wirkenden jungen Mann, ob er ihm eine Unterkunft vermitteln könne.

„Ein Logis sucht der Herr, nun, wenn’s weiter nichts ist“, sagt dieser lachend, „für eine Stunde lässt sich was machen, in guter Gesellschaft, versteht sich, da kann ich Euch behilflich sein. Sonst seid Ihr hier falsch.“ Auch in den anderen Wirts- und Gasthäusern hatte er kein Glück, selbst teure Unterkünfte waren, wohl wegen einer Messe, nicht zu bekommen, so dass er bei einbrechender Dunkelheit noch immer nicht wusste, wohin.

Ein Student in Kniebundhosen, einem weiten Rock mit Stulpenärmeln und einem reichlich verbeulten Hut, nicht mehr ganz nüchtern, konnte ihm endlich weiterhelfen. Er war Breslauer wie Adam, wenn auch um einige Jahre älter. Im Peters-Viertel zeigte er ihm ein Haus am Ende einer Gasse, wo gleich mehrere ihrer Landsleute logierten, da finde er sicher einen Platz. Dann verschwand er grußlos und ein wenig torkelnd. Ein kleiner alter Mann mit riesigen Ohren am kahlen Schädel, der trotz der späten Stunde im Licht einer trüben Ampel eben dabei war den Hof des Hauses zu kehren, schickte ihn auf eine Stube unter dem Dach, ganz oben, nicht zu verfehlen, wo noch ein Strohsack und Decken lägen, dort könne er seinetwegen eine Nacht schlafen, es wohne seit Wochen niemand mehr dort. Er solle, rief er ihm noch nach, eine der Kerzen und Schwefelhölzer mit hinaufnehmen und aufpassen, die Treppe sei nicht ganz in Ordnung. Die Stube stellte sich als ein Kabuff heraus mit einem kleinen Fenster. Der Strohsack und die Decken stanken nach Mist. Doch was blieb ihm, dachte er, anderes übrig, als damit Vorlieb zu nehmen.

Adam isst noch einen letzten schrumpeligen Apfel, pustet den Kerzenstummel aus und zieht die Decke bis ans Kinn. Es ist kalt und stockfinster, doch besser so, sagt er sich, als auf der Straße zu übernachten. Die schönen Vorstellungen, die er sich nach seiner Gewohnheit beim Einschlafen macht, werden bald durch Geräusche gestört. Ihm ist, als kehre der alte Mann dort unten noch immer in einem fort den Hof. Nichts sonst ist zu hören, nur dieses Kehren. Doch das einzige, das er tun kann, tun muss, das weiß er, ist zu schlafen, tief und fest zu schlafen, mit dem Geräusch des unablässigen Kehrens einzuschlafen, diesem gleichmäßigen, tonlosen Sirren mit einer kleinen Hebung am Ende, einer Pause, dem Sirren, einer Pause, Sirren, Pause …

Adam zieht erschrocken die Luft durch die aufeinandergepressten Zähne. Er hätte nicht zu sagen gewusst, ob eine Sekunde vergangen ist oder eine Stunde, ob er geschlafen hat oder nicht. Das Geräusch aus dem Hof ist nicht mehr zu hören, still ist es und dunkel. Wenn ich die Augen schließe, denkt er, macht es keinen Unterschied, es bleibt stockfinster. Er weiß nicht einmal, wo die Tür, nicht, wo das Fenster ist, nur dass er liegt, das weiß er, und dass er nun schlafen muss. Doch da tauchen Bilder in ihm auf, ungerufene, wie dünne Tücher legen sie sich über ihn, eines nach dem anderen, Bilder aus seiner Kindheit, seiner Jugendzeit, helle und leuchtende und auch düstere, und da erscheint ihm Emilia mit ihrem staunenden Gesicht, dann unversehens Herr Acoluth, der ihm zum Abschied herzlich die Hand schüttelt, die weinenden Geschwister, dann aber wieder Emilia, mit einem Korb zum Markt gehend, wie es ihr wohl gehen mochte, denkt er, er hätte wetten können, dass sie irgendwo in Breslau sein muss und als Magd arbeitet, er hatte Ausschau gehalten nach ihr, doch keine Spur, meine arme Emilia, denkt er, sie und er in seiner Kammer, jene Sommernacht, und da sind sie, diese Bilder, die ihn so oft peinigen, er ballt die Fäuste, abwehren muss er sie, doch er hat kein Mittel, schwer atmet er, bis ein wirklicher Schmerz ihn durchfährt, ganz plötzlich, wie ein Blitz, es zerreißt ihn, die beiden Georgs, sie sind über ihm, sie schlagen auf ihn ein, er blutet, sein Gesicht, sein Unterleib, nur Blut und Schmerz, er keucht und keucht und schlägt sich endlich selbst, mit der Faust gegen den Kopf und in den Magen – bis er mit einem Male erwacht.

Bald atmet er ruhiger. Ein wiederkehrender Albtraum. Er lauscht in die Stille. Seltsam, denkt er, das ist meine erste Nacht in Leipzig, zum ersten Mal bin ich in einer fremden Stadt, doch niemand hat daran gedacht, mir eine Unterkunft zu sichern, nicht Hanke, nicht Acoluth und ich selbst am wenigsten, und nun liege ich in einem Verschlag auf dem Dachboden eines Hauses, von dem ich nichts weiter weiß, als dass es im Peters-Viertel steht. Von Ferne jetzt Lärm, als marschierten Soldaten durch eine enge Gasse, oder nein, ist das nicht wieder dieses Fegen aus dem Hof, ganz deutlich, nur lauter als zuvor, so scheint es, oder ist es die ganze Zeit dagewesen, fragt er sich, dieses Sirren, dieses Kehren, hin und her, und hat nicht, fällt ihm jetzt ein, dieser hässliche alte Mann im Hof etwas Teuflisches, ja, der Teufel, denkt er, er ist es, der mich hinaufgeschickt hat in diese Kammer, der mich gefangen hält, mich verzehren, mir die Seele rauben will! Was tun? Mein Bündel nehmen, die Treppe hinunter? Nicht ihm in die Fänge laufen! Ich muss liegenbleiben, überlegt er, ruhig werden, warten bis zum Morgen, das Geräusch ertragen, die Finsternis ertragen, nicht dem Teufel auf den Leim gehen, liegen, warten, die dunklen Bilder vergessen, zur Ruhe kommen, beten, das Gebet ist der Schwachen Stärke, ich werde beten, denkt Adam, und er will beten, doch es gelingt nicht, er findet keine Worte. Bald darauf aber ist ein Hauch Licht zu erahnen. Vage schält sich das Fenster aus der Dunkelheit heraus. Es schwebt in der Finsternis. Er starrt auf das graue Rechteck, er starrt und starrt, leise bewegt es sich auf und nieder, als tanze es ganz zart zu einer unhörbaren Melodie. Plötzlich ein Knarren und Knarzen, nicht aus dem Hof, nicht in seinem Kopf. Vom Treppenaufgang her musste es kommen, es ist, als erklimme jemand langsam und schwerfällig Stufe für Stufe. Ob er nicht wieder träumte und ganz friedlich auf dem Strohsack liegt unter der alten Decke? Er tastet sich ab, sein Hals, sein Gesicht, die Augendeckel geschlossen, natürlich, das bin ich, ich schlafe seelenruhig. Tief atmet er ein und aus. Doch atmet da nicht irgendwer mit ihm ein und aus, denkt er mit einem Male und fährt hoch, ist da nicht ein Keuchen zu hören, ein tiefes, kehliges, rasselndes Keuchen, das des Teufels oder des wahnsinnigen alten Mannes! Und hat er wirklich den Riegel vorgeschoben? Doch geht der Teufel nicht durch Türen und Wände!

Und da ist ihm, als schwebe er zusammengekrümmt über dem taghell erleuchteten Hof, auf dem der hässliche alte Mann mit dem kahlen Schädel und den riesigen Ohren steht und zu ihm hochsieht, dann seinen Besen nimmt und zu kehren beginnt, hin und her und zurück, immer und immer wieder, ohne Unterlass hin und her.

LEIPZIGER ALLERLEI

Heinrich Daubenfuß lebt umständehalber und ganz gegen seine eigentliche Absicht, nämlich nach Breslau zu reisen, seit allzu langer Zeit in Leipzig. Seine Gedanken sind bei Adam Bernd, auch wenn der kein Antlitz hat. In seinen Träumen ist Heinrich wie der Blitz mit einem Satz in Breslau und gleich der erste Mensch, den er fragt, weist mit dem Finger auf eine Gestalt.

„Der dort vor der Kirchtür, im Predigerhabit, das ist Adam Bernd.“

Entschlossen schreitet er auf seinen Feind zu, auf denjenigen, der Emilia ins Unglück trieb, doch je näher er kommt, desto undeutlicher wird die Gestalt. Sie verschwimmt vor seinen Augen.

Sein Plan, Adam Bernd die Hölle auf Erden zu bereiten, wächst und gedeiht, wann immer er Schriften oder Flugblätter in die Hand bekommt, in denen die Sünde des Selbstmords behandelt wird. Seinen Lebensunterhalt verdient Heinrich derweil mit dem Ausspionieren jener Männer in Leipzig, die der theologischen Fakultät der Universität ein Dorn im Auge sind. Der gemeinhin folgende, von der Obrigkeit verhängte Auszug des Bespitzelten aus der Stadt ist ihm ein Fest, das er nicht versäumen darf. Jean, von vielen einfach „das Schwein“ genannt, ein Kerl unbestimmten Alters, der ihm die Aufträge vermittelt, musste ihm stets sagen, wann ein als Pietist Überführter der Stadt verwiesen wurde. Dies geschah meist zum Georgenpförtchen hinaus, aus reiner Boshaftigkeit, damit der Ausgewiesene nicht schnurstracks nach Halle zu seinen Glaubensbrüdern laufen konnte, sondern noch einmal um Leipzig halb herum zu gehen hatte. Letztlich aber waren es diese Aufträge, die Heinrich davon abhielten, Leipzig zu verlassen. Immerhin aber hatte er die calvinistischen Teufel, die Emilia nach Breslau mitgenommen hatten, leibhaftig und sozusagen in Stellvertreterschaft stets vor Augen. Er hatte die Worte des dritten Predigers aus Schwerte nicht vergessen. Oft sah er sich in seinen Tagträumen in die Mitte dieser Calvinisten treten, um sie mit Feuer zu überziehen, und sprangen sie ins Wasser, so verlöschte das Feuer nicht. Fest stand aber, er musste nach Breslau reisen, um diesen einen Menschen zu finden. Das würde keineswegs eine Weltreise bedeuten, er könnte die Postkutsche nehmen, die neuerdings zwei Mal die Woche fuhr. Allerdings reichte dazu sein Erspartes nicht, weil er sein weniges Geld bei den Huren ließ. Jean, das Schwein, der seinen Hang zu diesen Dingen schnell erkannt hatte, schleppte immer mal wieder eine dieser jungen Dirnen heran. Unversehens saßen sie auf seinem Schoß. Eines Tages brachte ihm Jean gar eine Schwangere, sie sei wie toll, sagte er, er wolle nicht einen Groschen nehmen, er könne sie bespringen wie der Teufel.

Für Jean war der Täubenfüßer, so nannte man ihn in Leipzig allenthalben, ein armer Tropf, der manch delikaten Bespitzelungsauftrag ausführte, wenn man ihm nur ein paar Münzen in die Hand drückte. Eines Tages jedoch, im Juni des Jahres 1703, wartete Heinrich vor der Coffee-Bille lange vergebens auf Jean. Der war, erfuhr er noch am selben Abend, aufgegriffen und aufs Rathaus gebracht worden. Heinrich wunderte sich sehr, denn bisher hatte der Kerl es verstanden, sich den Herren der Stadt, besonders den geistlichen der theologischen Fakultät, unverzichtbar zu machen, wenn es denn um Geschäfte aller Art ging, mit denen diese sich nicht die Finger schmutzig machen wollten. Gelegentlich hörte Heinrich sogar von spätabendlichen Handgreiflichkeiten gegenüber Pietisten. Auch die gut siebenhundert Öllaternen, die die Stadt vor einer Weile hatte aufstellen lassen, behinderten dieses Tun keineswegs, ganz im Gegenteil, denn manch einer fühlte sich deswegen sicherer als zuvor, völlig zu Unrecht natürlich, denn wo Licht ist, ist auch Schatten. Kurz und gut, Jean wirkte im Verborgenen und hatte seine Gönner. Diese konnten ihm jedoch jetzt nicht helfen, denn als Jean an diesem einen Tag im Juni gegen Mittag einen ihm bekannten Regimentspfeiffer, mit dem er bereits vor Jahren einmal aneinandergeraten war, vor dem Peters-Tor entdeckte und mit ihm in Streit geriet, handelte er dem kürzlich von einem gewissen Christian Thomasius sinnigerweise zu Papier gebrachten Gesetz, nach dem man sich der Höflichkeit in allen Lebenslagen zu befleißigen habe, mehr als nur grob zuwider. Die Wache am Tor zögerte zudem einzugreifen, denn es sah ganz nach einer der üblichen verbalen Auseinandersetzungen aus, bis Jean schließlich aber seinen Dolch zog und ihn seinem Kontrahenten ohne Vorwarnung mit einem kraftvollen Stoß in den Leib hieb.

Hatte nicht Platon schon mehr als zweitausend Jahre zuvor in seiner Politeia Bedenken angemeldet gegen jede Art der Pfeifferei im Staate! Zum einen, so der große Denker, würden Tapferkeit und Vielstimmigkeit nicht recht zusammenpassen, zum andern verziehe so ein Flötenspieler beim Spielen sein Gesicht zu einer unschönen Grimasse. Der Regimentspfeiffer vor dem Peters-Tor jedenfalls verzog tatsächlich, als er den Dolch im Leibe spürte, fürchterlich sein Gesicht, so wie er es sonst nur tat, wenn er spielte, und eben da lag der Hase im Pfeffer, denn eben sein Spiel war es gewesen, das Jahre zuvor Jean, als Feldscherer im Dienst, zur Weißglut gebracht hatte. Das jämmerliche und schieftönende Geflöte war durchaus nicht zu ertragen gewesen. Und da jener Regimentspfeiffer aus lauter Angst vor Strafe jeden gottverdammten Morgen übte, während so mancher Soldat und auch der Feldscherer mit schwerem Kopf noch auf seinem Lager lag, war es kein Wunder, dass Jean, als er diesen Ruhestörer und Flötenvergewaltiger vor dem Peters-Tor unversehens wiedersah, auf diesen losstürmte und ihn zur Hölle wünschte. Dieser gab zugleich, er erkannte den ehemaligen Feldscherer durchaus, üble Schimpfworte zurück, die jenen allerdings zu treffen vermochten, denn eben wegen seiner Geschäfte, die das Militärische und die holde Weiblichkeit in Beziehung setzten, war er damals entlassen worden. So in Rage gebracht zog er also seinen Dolch und rammte ihn dem Pfeiffer kurzerhand in den Leib. Jetzt erst griff die Wache ein. Als kurz darauf der Medicus eintraf, war dem armen Pfeiffer schon die Luft ausgegangen. Ein letztes Fiepen, das hatten alle gehört, zeigte an, dass die Seele seinen Leib verließ. Natürlich konnte dies auch ein letzter Furz gewesen sein, wie die verständigeren und aufgeklärteren Zeitgenossen unter den Gaffern wohl wussten. Schweigend und nachdenklich ging man auseinander.

Dem Täubenfüßer war der Vermittler abhandengekommen. Er musste sich andere Dienste suchen. So wurde aus dem recht untergeordneten Spion sowohl ein Lampenwächter, dem das Anbrennen und Auslöschen, Öl auffüllen und Putzen der öffentlichen Laternen in einigen Gassen im Hallischen Viertel oblag, als auch ein Leipziger Sänftenträger. Wenn des frühen Morgens die letzte Laterne ausgelöscht war, wechselte er ohne Umstand seinen Überrock, schlief noch ein, zwei Stunden, um dann zusammen mit einem Kompagnon einige Stunden lang Einheimische und Fremde durch die Stadt und bis hinein in die Vorstädte zu tragen. Zwar bekam er nun weniger Schlaf, aber auch die Hurerei und Sauferei nahm ein Ende, so dass er nun endlich einen Teil seines Verdienstes auf die hohe Kante legte. Eines Tages würde er sich, das stand für ihn nach wie vor fest, nach Breslau aufmachen, um dort einen gewissen Adam Bernd zu suchen und ihm das Leben zur Hölle zu machen.

Der Prozess gegen Jean hatte ein wenig auf sich warten lassen, und so war es Herbst und schließlich Winter geworden. Das Gerücht kam auf, Jean habe unter der Tortur alles zugegeben. Sogar zu Gott soll er sich bekehrt haben. Beten würde er stundenlang. In dieser Art ging es von Ohr zu Ohr, während der schon erwähnte Rechtsphilosoph Christian Thomasius im nahen Halle an einer Schrift saß, die die Folter grundsätzlich infrage stellte. Er war durchaus nicht allein mit dieser Ansicht, doch was nützen Gedanken, wenn die Dinge laufen, wie sie sollen. Ein Armenadvokat, der Jean selbstlos vertrat, ein gewisser auf Reisen sich befindlicher Johann Paul Siebenkäs, hatte ganz zuletzt noch viel Wirbel veranstaltet und behauptet, der Regimentspfeiffer habe zuerst zur Waffe gegriffen. Dies jedoch wusste das Gericht durch Zeugenaussagen zu widerlegen, die besagten, der Pfeiffer habe nichts in der Hand gehalten als sein Instrument. Dementsprechend sollte der Mörder, so das unwiderrufliche Urteil, mit dem Schwert vom Leben zum Tode befördert werden.

Die Gegend um die Stadt herum stand Anfang März noch immer größtenteils unter Wasser, nachdem es bei noch gefrorenem Boden tagelang geregnet hatte. An eine Hinrichtung auf dem Rabenstein vor dem Grimmaischen Tor war nicht zu denken. Der Vorschlag, den alten Galgen, an dem seit siebzehn Jahren niemand mehr hat baumeln müssen, wieder in Dienst zu setzen, war zurückgewiesen worden, denn das Urteil laute nun mal auf Enthauptung mit dem Schwert. Außerdem, so gab man gesprächsweise zu bedenken, stille eine Hinrichtung mit dem Schwert den Blutdurst des Volkes und habe eine abschreckende Wirkung, ohne besonders grausam zu sein.

Der 14. März des Jahres 1704 würde ein leidlich klarer, kalter Tag werden. Die Hinrichtungszettel waren gedruckt, auch wenn auf eine zuvor veröffentlichte, aufwendige Marschordnung verzichtet wurde, wenngleich alles in der üblichen, schönen militärischen Ordnung vonstattengehen würde. Zu Heinrichs Überraschung waren die Lampenwächter zum Dienst auf dem Marktplatz verpflichtet. So stand er um sechs Uhr in der Früh bei noch fast völliger, nur durch die Laternen und einigen Lampen durchbrochenen Dunkelheit vor dem Rathaus in Reih und Glied, zusammen mit Bierziehern, Aufladern, Nachtwächtern, Weißkitteln und Korn- und Kohlemessern. Vor ihnen war die Garnison der Stadtsoldaten aufgezogen. Ein Hauptmann erklärte das Prozedere. Die Stadttore, mit Ausnahme des Grimmaischen, wo sich wie bekannt die Hauptwache befände, würden, so der Hauptmann in seiner kurzen Ansprache, mit dem ersten Geläut des Rathausglöckleins von der Bürgerschaft verschlossen, so dass niemand hinaus- oder hereinkommen könne, bis die Exekution vorbei sei. Zudem werde das Rathaus mit einer ausreichenden Zahl von Soldaten besetzt werden, wobei je 16 Mann nebst je einem Unteroffizier für den vorderen und hinteren Eingang des Rathauses verantwortlich seien, 60 Mann hingegen mit kreuzweise gesetzten Flinten und aufgesteckten Bajonetten im Rathaussaal einen Gang für die Ratsmitglieder zu bilden und sich dann auf ihre Posten auf dem Markt zu begeben hätten, während sechs Mann die kleine und zwölf Mann die große Rathaustreppe bewachten. Vier Mann schließlich würden flintenbewehrt dem Zug des Rates zur Exekutionsstätte vorausgehen. Desweiteren seien alle Tore und Pförtchen mit starken Mannschaften zu besetzen, damit beim Hereinströmen des Volkes nach der Hinrichtung sich nicht etwa verdächtiges Gesindel mit einschleiche. Das war wahrlich durchdacht. Heinrich staunte.

Kaum dass die Soldaten sich mit knarzenden Stiefeln in Bewegung gesetzt hatten, nimmt sich ein Feldwebel der frierenden Lampenwächter und Weißkittel an, führt sie zum Zeughaus und händigt einem jeden einen Spieß aus, dessen Empfang er auf einer Liste zu quittieren hat. Viele machen ein oder zwei oder sogar drei Kreuze, einige setzen ihren Namen ein. Heinrich schreibt H. Daubenfuß auf die Quittung. Er gehört zu der Gruppe, die im Kreis um die Richtstätte zu stehen hat, nur auf Armeslänge voneinander entfernt. Er ist nicht mehr als sechzig Schuh entfernt vom Blutgerüst. Als es langsam heller wird, schlurft immer mehr Volk aus den Gassen heran. Alles friert und schlägt mit den Armen, hüpft ein wenig auf der Stelle, Tücher und alte Pelze werden enger geschlungen. Auch Heinrich ist schon ganz durchfroren, als der Scharfrichter, flankiert von vier Soldaten, endlich auf dem Podest erscheint. Ein mächtiger Kerl, ganz in Leder gekleidet. Er präsentiert ohne Umschweife sein scharf geschliffenes, vorne aber stumpf endendes Schwert der Menge, worauf Jean, gefesselt mit einem Strick um die Handgelenke, allein die Stiege hinaufstapft und mitten auf dem Podest stehenbleibt. Ein Raunen und eine Bewegung, einem Schaukeln gleich, geht durch das Publikum. Die Soldaten sperren die Augen auf und umklammern ihre Waffen mit festem Griff. Langsam geht Jean zum Rand des Blutgerüsts und blickt versonnen zum blassblauen Himmel hinauf. Kein einziger Vogel ist zu sehen und nicht eine Wolke. Erst als einige der Frauen versuchen, Jean zu berühren, ziehen ihn zwei der Soldaten zurück. Wie oft, denkt Heinrich, auf seinen Spieß gestützt, hatte ihm Jean nicht eine dieser Huren dort angeschleppt! Nicht wenige waren wegen Ehebruch oder Hurerei unter dem Scharfrichter gewesen, hatten aber alle ohne Ausnahme, wie er wusste, die ganze Marter ausgestanden und waren zu Jean zurückgekehrt. Ich kenne die alle, denkt Heinrich, sie sich der Reihe nach ansehend. Plötzlich Unruhe. Wie auf Kommando und zur nicht geringen Überraschung Heinrichs und aller Umstehenden, führen die Huren die reinsten Veitstänze auf, schreien die Soldaten an, heben die Röcke und vollführen obszöne Gesten. Ein Feldwebel macht ihm und seinen Nebenleuten Zeichen, auf der Hut zu sein. In der Tat wird die Menge unruhiger, Hunde bellen, ein Pferd kann kaum am Ausbrechen gehindert werden, schon sieht es so aus, als würde eingegriffen werden müssen. Dazu kam es nicht. Als die ersten gewahr werden, dass der zum Tode zu befördernde Mörder, ohne an dem Tumult den geringsten Anteil zu nehmen, sich ganz freundschaftlich mit dem Scharfrichter unterhält, als beide sogar leise lachen, als seien sie auf einem Landausflug, hätten gut gegessen und seien bester Laune, verstummt die Menge nach und nach. Bald erscheint gemessenen Schrittes der Priester, und auch diesem wendet sich Jean herzlich zu. Der Gottesmann segnet ihn. Der Verlesung des Urteils lauscht der Delinquent mit schräggelegtem Kopf, dann werden ihm, unter dem erneuten Raunen des Publikums, die Fesseln abgenommen. Er trinkt noch in aller Ruhe einen Becher Wein, worauf er sich seiner Jacke und seines Hemdes entledigt und diese ordentlich zu Boden legt, niederkniet, die Augen gen Himmel hebt, eben lugt die Sonne blitzend über die Dächer, still betet mit murmelnden Lippen und schließlich den Kopf senkt. Einen Augenblick später bringt ihn der Schwertstreich des Scharfrichters vom Leben zum Tod. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Nicht wenige werden ohnmächtig. Heinrich aber hätte schwören können, dort poltere nun wirklich ein Schweinskopf statt eines menschlichen Hauptes über die Bretter. Schwatzend geht schließlich alles auseinander, die Stadttore werden geöffnet, das Leben beginnt wieder und nimmt seinen gewohnten Lauf, freundlich beschienen von der klaren Märzsonne.

EIN ZEICHEN GOTTES?

Heinrich war in Leipzig ein großer Leser geworden. Nicht selten ist er der Einzige in einer Bibliothek, der keine Perücke trägt. Doch da er sich ordentlich anmeldet, ernsthaft liest und häufig Passagen abschreibt, glaubt man in ihm einen armen Studenten der Theologie zu sehen, der sich mit Freitischen und Gastpredigten über Wasser hält. Nach der Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung Jeans war sein Leben recht solide geworden, die eine Hälfte zumindest. Einem guten Trunk war er nach wie vor nicht abgeneigt, und auch der Teufel zwickte ihn immer noch im Schritt, wenn ein junges Mädchen mit dem Hintern wackelte. In der Bibliothek wenigstens gab es keine Frauen, da konnte er in Ruhe die Bücher studieren. Oft lieh er sich solche, die die Sünde des Selbstmords zum Thema hatten. Nachdem er mit wenig Gewinn Ephraim Praetorius‘ Der Verdammliche Selbst- und Eigenmord gelesen hatte, empfahl ihm der Bibliothekar ein schon älteres Werk, nämlich Gründlicher und wahrhaftiger Bericht von Johann Balthasar Kelterborns Leben und jämmerlichen Ende eines gewissen Friedrich Wineker. Über eben dieses Werk habe er, so der Bibliothekar, vor nicht langer Zeit mit einem Magister der Theologie gesprochen, der für seine Collegii an der Universität und seine Predigten Exempel suchte. Dieser Magister war niemand anderes als Adam Bernd. Der Bibliothekar aber konnte sich partout nicht des Namens erinnern, und Heinrich fragte nicht nach.

Er reiste vorerst nicht nach Breslau. Sein Plan, Adam Bernd die Angst vor dem Selbstmord einzugeben, war nicht ausgereift. Er hatte viel von melancholischen Leuten, Wahnwitzigen und Selbstmördern gelesen, doch diese waren alle ohne äußeres Zutun und allein durch Melancholie und schreckliche Gedanken dem Teufel verfallen, was ihm nicht viel weiterhalf. Er musste wissen, wie genau der Wahnsinn in die Menschen hineinkam. Und ob er von einem anderen Menschen hineingetragen werden konnte. Zudem nahm sein Leben in Leipzig durchaus Gestalt an, er war in der Tat ansässig geworden. Als Lampenwächter und Sänftenträger verdiente er einen zwar bescheidenen, aber ausreichenden Lohn. Auch der Bibliothekar seiner bevorzugten Bibliothek im Hallischen Viertel, der bald erkannte, dass Heinrich kein Theologiestudent sein konnte, war ihm weiter wohlgesonnen. Er lieh ihm sogar galante, von der Obrigkeit nicht erwünschte Romane, wenn ihn Heinrich nur, heimlich still und leise, versteht sich, zu gewissen Wirtschaften brachte, die sich eines Hinterein- und ausganges rühmen konnten. Das war dem Manne wichtig, und natürlich sollten die Frauen, die dort verkehrten, ebenso über gewisse Ein- und Ausgänge verfügen, nun ja, er verstünde schon. Heinrich verstand. Er war somit sicher der einzige Hurer in Leipzig, der sich nicht mit Geld bezahlen ließ. Eine wiederhergerichtete Perücke und einen alten, noch recht hübschen Rock samt Beinkleidern nahm er zwar auch an, sonst aber ging es ihm nur um Bücher, die der Bibliothekar ihm fleißig besorgte. So saß Heinrich bei Dämmerlicht manchen Abend in einer Schenke, meist der Coffee Bille, und las einige der neuerdings in Deutsch verfassten Schriften zur Philosophie, langsam und bedächtig, um so viel wie möglich zu verstehen. Heinrich der Täubenfüßer, der sich gemeinhin als Herr Daubenfuß vorstellte, besaß bald schon eine eigene, bescheidene Bibliothek.

Heinrich würde nie leben können wie ein braver Bürgersmann, das spürte er in den Eingeweiden. Und selbst die Bürger hatten ja, wie er wusste, ihre dunklen Seiten. Ich habe, sagte er sich, zwei Leben, eines unter der Sonne, eines unter dem Mond. Er betrank sich also bei der ein oder anderen Gelegenheit, meist im Hause Farlemann, ein gewisser Studiosus Eger betrieb dort das Geschäft mit den Mädchen, und verlangte dann stets eines in anderen Umständen, nicht weit vor der Niederkunft. Eine Hochschwangere, so sagte er sich, brachte schließlich niemand aufs Rathaus und in die Inquisition, selbst wenn sie eine Hure ist. Bald schon sprachen sich die Schwangeren bei Farlemann gegenseitig mit Emilia an und grinsten abgründig. Er nannte sie alle Emilia und achtete auf jedes Wort, wenn die jungen Dinger sich auszogen und ihm den Hintern hinhielten, wenn sie Gott anklagten oder den Teufel oder wen auch immer. Sich jedoch umbringen zu wollen, davon sprach nicht eine. Oft jammerten sie auch nur, er möge das andere Loch nehmen, das Kind sei doch ante portas, und so oft Heinrich dies hörte, aus dem Mund einer Dirne, die immerhin doch sein Geld nahm, musste er lauthals lachen, und dann machte er es, wie es ihm beliebte.

Eines Abends, als er in den Sieben Brettern, das andere von ihm gern besuchte Haus, schon ziemlich betrunken die Sibylle Kühn bestieg, da hatte er kaum entladen und wie ein Tollwütiger „Emilia“, immer wieder „Emilia“ geschrien, da wand sich die Kühnsche plötzlich in Schmerzen und stieß ihn kreischend von sich. Wie ein Käfer auf dem Rücken neben dem Bett liegend, einem nackten, hässlichen Satyr gleich, starrte er glotzäugig auf die Schreiende, ohne etwas zu tun, und wäre nicht die Ehefrau des Stadtsoldaten Brauer, der das Haus gepachtet hatte, in die Stube gestürmt und hätte resolut die Geburt ausgeführt, wer weiß, was geschehen wäre. So stand Heinrich, vollständig nackt und mit noch pulsierendem, aufrechtem und rotglänzendem Gerät in der Kammer, während die Brauer die Kühnsche bearbeitete, abwechselnd sie zu beruhigen und anzufeuern suchte, bis das Menschenkind heraus war. Die Brauer nabelte es ab, und mit einem Hieb auf den Hintern gab sie ihm, es war ein Mädchen, den Odem. Heinrich aber, der immer noch stocksteif in der Ecke stand und einer Ohnmacht nah gewesen war, mochte sich jetzt noch so schnell bedecken und das Weite suchen, die Brauersche hatte nichts Besseres zu tun als feixend überall zu verbreiten, dieser Täubenfüßer könne in wenigen Minuten einer Frau ein vollständiges Kind machen, ja im Grunde sei es sogar so, dass das Kind, kaum habe er seinen Schwanz herausgezogen, auch schon nachfolge.

„Ein Teufelskerl, dieser Täubenfüßer“, rief sie und bog sich vor Lachen. Hohn und Spott waren Heinrich sicher, und so manchen Scherz ertrug er nur mit der Faust in der Tasche. Eine Weile mied er das Haus, stürmte aber eines Abends, einem spontanen Einfall gehorchend, durch den Vordereingang in die Schenke hinein und brüllte, schnell, er brauche eine Hure, er müsse sofort ein Kind machen und wolle es dann auch sofort mitnehmen. Alles lachte, selbst die, die nichts wussten vom Vorfall mit der Kühnschen, und er selbst war es dann, der diesen die Angelegenheit haarklein beschrieb, worauf sich alles noch einmal vor Lachen nur so bog. Die Schmach war getilgt, keine Frage.

Dann aber geschah das Außerordentliche. Heinrichs ganzes Leben änderte sich von Grund auf und für alle Zeit. Alles begann damit, dass er mehrfach gehört hatte, die über zweihundert Jahre alte Peters-Kirche, direkt neben dem Stadttor gelegen, die lange als Kalkhütte, Kaserne und sogar als Haus der Wäschefrauen gebraucht worden war, sei wieder eingeweiht worden, damit im Peters-Viertel und in den südlich gelegenen Vorstädten die Menschen nicht länger ohne geistlichen Beistand sein müssten. Bald schon sollte, so wurde erzählt, der neue Prediger eingesetzt werden, der bereits als Oberkatechet dort wirke und zukünftige Theologen betreue. So wählte, aus reiner, wohlbegründeter Neugierde, jener nun schon über dreißig Jahre auf dem Erdball weilende Heinrich Holzkötter, genannt der Täubenfüßer oder auch Herr Daubenfuß, in einer Person Lampenwächter, Aushilfssänftenträger und manchesmal auch Hurer, noch nie auf das Rathaus befohlen und unter dem Scharfrichter gewesen, am Sonntag dem neunundzwanzigsten Mai des Jahres 1712, nachdem er sich in aller Herrgottsfrühe nach getaner Arbeit, dem Auslöschen der Laternen, vor den Stadtmauern ein wenig die Beine vertreten hatte, den Weg durch das Peters-Tor zurück in die Stadt. Der Torwächter lässt ihn, ohne den Torgroschen zu verlangen, passieren. Freundlich nicken sie sich zu und wünschen einen guten Tag. Die Kirche ist, zu Heinrichs Überraschung, noch eingerüstet, mitnichten also fertiggestellt. Bis auf eine Katze, die schwarzweißgefleckt auf dem Gerüst vor sich hindöst, ist nichts und niemand zu sehen. Er tritt näher. Die frisch hergerichtete Eingangstür ist verschlossen. Er hebt ein Flugblatt auf, das direkt vor ihm liegt, es ist zerknüllt und dreckig, und während er im Weitergehen seinen Blick über den turmlosen Bau und die Baugerüste gleiten lässt, streicht er es glatt und liest dann die wenigen Zeilen. Für den heutigen Sonntag, den neunundzwanzigsten Mai, wird, so liest er, nach vielen schon gehaltenen Katechismusexamina seit Beginn des Jahres, für zwölf Uhr am Mittag die erste Predigt in der Peters-Kirche angekündigt, die da halten soll der Magister ADAM BERND.

Wie vom Donner gerührt steht Heinrich still. Die Peters-Kirche, sie also würde nun der Ort sein, an dem er jenem Menschen begegnen sollte, der Emilia geschwängert hat, so dass sie mit einem Kind im Leib ein jämmerliches Ende hat finden müssen. Sich ersäuft hat, so denkt er, aus Melancholie, Schwermut, Verzweiflung. All das in den Schriften Gelesene und zu einem noch immer unausgereiften Plan Zusammengeschusterte poltert kreuz und quer durch seinen Hirnkasten, bis er endlich zu sich kommt und erkennt, dass Menschen um ihn herumstehen und ihn begaffen. Ein riesiger Kerl im Habit eines Bierkutschers tritt vor ihn hin, dreht ihn wie eine Puppe herum und versetzt ihm unter dem Gejohle der Umstehenden einen Tritt in den Hintern. Er stürzt, bleibt liegen, die Knie und die Handflächen aufgeschrammt. Ein paar Kinder äffen ihn nach, schleudern die Arme um sich und plappern laut. Bald aber wenden sich die Leute ab von dem armen Irren. Er steht auf und geht zügig nach seiner Stube. Er hat noch einiges zu tun, denn nun musste sein Plan ausgeführt werden, koste es, was es wolle.

Adam Bernd steht zur selben frühen Stunde am Fenster seiner neuen, wenngleich nur als Übergang gedachten Logis im Haus des Herrn Draten, dem Knopfmacher am Alten Neumarkt, Ecke Peterskirchhof. Von dem Tumult vor seiner Kirche bekommt er nichts mit. Seit zwei Wochen schon, seit er aus dem Roten Collegio der philosophischen Fakultät, wo er gut zehn Jahre lang gewohnt hat, ausgezogen war, ist er nicht recht bei Sinnen. Auch jetzt stritt er wieder, wie so oft, mit sich selbst und ließ all die Geschehnisse der letzten gut anderthalb Jahre Revue passieren, ja er verspürte sogar Heimweh nach seiner gewohnten Stube und selbst nach dem Lärm vom Eselsmarkt in der Ritterstraße, über den er sich so oft geärgert hatte. Zudem verstärkte die Aussicht, bald schon wieder umziehen zu müssen, seine Unruhe. Aber natürlich ist das Pfarrhaus in der Schlossgasse eine angemessenere Unterkunft als solch eine Wohnung, die noch dazu im obersten Stockwerk lag. Der Rat der Stadt hatte zwar beschlossen, das seit Jahren unbenutzte Pfarrhaus zeitgleich mit der Kirche herzurichten, doch das konnte wegen der üblichen Streitereien ums Geld noch ein wenig dauern, nach allem was zu hören war.

Sein Blick fällt auf das Schreibpult am Fenster und das darauf liegende Diarium. Seit Anfang des vorigen Jahres hatte er nichts mehr eingetragen, da er wegen Krankheit und Niedergeschlagenheit keine saubere Feder hat führen können. Jetzt aber wollte er all das nur auf lose Blätter Hingeschmierte lesen und so sauber wie möglich in sein Buch eintragen. Der Stapel war mehr als drei Handbreit hoch, immerhin aber bereits geordnet nach dem Datum der Niederschrift. Doch was für ein Geschmiere, kaum zu entziffern! Lange Passagen mit Gedanken zu all den Fragen, die ihn umtrieben, theologische wie weltliche. Etwa, ob die Folter nicht verboten werden müsse. Das meiste aber hatte er zu der Frage des Selbstmords aufgeschrieben. Es war unter Theologen strittig, ob ein Mensch, der sich unwillkürlich umbringt, der vor lauter Verzweiflung nicht weiß, was er tut, zu ewiger Höllenpein verurteilt sei oder nicht. Auch Adam selbst war, wie viele seiner Zeitgenossen, von der Angst geplagt, in einem wirren Augenblick etwas Dummes zu tun, der Verzweiflung nachzugeben. Nicht selten träumte er davon, aus dem Fenster zu springen, so wie in seiner ersten Nacht in Leipzig vor so langer Zeit, als er in dieser Dachstube lag und wild phantasierte. Seither hatte er viel darüber nachgedacht, auch Gastpredigten zu dem Thema gehalten und einiges dazu aufgeschrieben. Er würde, sobald seine Zeit es zuließ, ein Tractat verfassen.

Die Predigt, die er in wenigen Stunden würde halten müssen, war lange schon ausgefertigt. Wie sehr, dachte er, habe ich doch gezweifelt, ob ich dieses Amt des Oberkatecheten und Predigers annehmen soll. Und wie günstig wäre es meinen Gegnern gewesen, hätte ich mich davongemacht! Doch sagte ich mir nicht selbst, dachte er weiter, ein Predigeramt ohne Pfarrfrau sei nicht gut auszufüllen, mit der Pfarre kommt die Knarre, so heißt es wohl, doch wie soll ich, und diesen Gedanken brachte er nicht aus dem Kopf, eine Frau ehelichen, nachdem Emilia mir damals auf diese Weise entrissen wurde? Dabei war ihm nicht einmal Emilias Gesicht noch präsent, nicht ihre Stimme, nicht ihr Leib, viel eher waren es die bösartigen Fressen der beiden Georgs, die sah er in manchem Traum, aus dem er schweißgebadet erwachte. Jedes Mal, wenn er zum Balbier ging, zum Aderlass, konnte er nicht widerstehen, den Finger in die Schüssel zu stecken und sein eigenes, schwarzes Blut zu schmecken. Vielleicht war so die Erinnerung an jene Nacht zu bannen, in der er fast totgeprügelt worden war, in der die beiden Teufel Emilia vergewaltigt hatten. Wenigstens träumen aber wollte er von einem anderen Leben, davon, mit einer Frau den ehelichen Beischlaf zu vollziehen und eine Familie zu gründen. Aus der Nachbarwohnung hörte er oft genug Gestöhn und Gekreisch, und mit dem Ohr an der Wand tat er es manchmal und berührte sich selbst. War er allein, so spürte er die Lust im Unterleib, einen winzigen Moment lang war er selig. Doch das waren seltene, sündige Momente, die ihn traurig zurückließen. Nie wird er den Blick einer Hure vergessen, die vor Jahren in einer Gasse unauffällig an ihn herantrat, sich unterhakte und ihn so aus dem Dunstkreis einer Laterne hinausschob. Sie griff ihm, kaum im Schatten, ohne zu zögern ans Gemächt. Nichts aber wollte sich rühren. Mit offenem Mund sah sie ihn an. Ihr Sprüchlein wollte sie loswerden. Doch für so einen Fall hatte sie keines parat. Zurück im Roten Collegio schlich er auf seine Stube. Eine dünne Mondsichel warf ein wenig Licht an die Wand hinter seinem Bett. Und plötzlich wieder einmal dieser eine teuflische Gedanke, diese Idee, hinauf auf das Fensterbrett und sich einfach in die Tiefe fallen lassen. Wie man sich auf sein Lager fallen lässt. Mehr war nicht zu tun. Und lag er nicht bereits dort unten, war er nicht bereits der schwarze, tote Leib mit zerschmettertem Kopf, so fragte er sich in jener Nacht, wie so oft zuvor und auch danach. Ja, sagte er schließlich laut, kein Zweifel, ich, Adam Bernd, liege unten in der Gasse, den Leib zerschmettert, die Seele zum Teufel. Und war er an jenem Abend nicht tatsächlich auf das Fensterbrett gestiegen und hatte mit geballten Fäusten und fest geschlossenen Augen darauf gewartet zu fallen, einfach nur zu fallen, sein Kopf reckte sich in die Leere, jetzt musste es bald geschehen, das ist das Ende, dachte er, doch so sehr der Kopf auch nach vorne stieß, so sehr verweigerten die Beine diesen Dienst, sie wollten nicht, sie stemmten sich gegen die Tiefe, und als Adam dann endlich doch fiel, fiel er schreiend ins Innere seiner Stube zurück, schlug mit dem Kopf gegen den Stuhl und blieb benommen liegen.

Warum nur dachte er heute, am Tag seiner Antrittspredigt, an all das? Er durfte nicht die Stunden zergrübeln, wie so oft, nicht an all die schlimmen Dinge denken, die Gott auf Erden zulässt! Erst unlängst hatte er in der Bibliothek die neue Schrift des Philosophen Leibniz einsehen können, Essais de théodicée. Der Mann mochte recht haben. Doch heute war seine Predigt das Wichtigste! Er würde der Prediger der einfachen Menschen sein, ihnen den richtigen Weg weisen, sie überzeugen, ohne sie allzu sehr zu ängstigen.

Er sprang auf, zog kurzentschlossen das Hemd über den Kopf und entledigte sich seiner Beinkleider. Er betrachtete seinen mageren Leib in dem alten kleinen Wandspiegel mit dem schwarzen Rahmen, sich drehend und Grimassen schneidend, so als müsse er sich grad am heutigen Tage unwürdig verhalten. Es kam über ihn wie zu Beginn seiner Leipziger Zeit, wenn er sturzbetrunken vom Kartenspiel aus der Schenke gekommen war und sich in diesem selben Spiegel nackt betrachtete, nur dass er damals durch den eigenen Blick erregt eine Erektion bekam. Heute war er nüchtern, und es war Sünde, sich zu berühren, so wie es Sünde gewesen war, mit Emilia den Beischlaf zu wollen. Da war er wieder, dieser Gedanke, einer, der nicht zu besiegen, dem nicht beizukommen war. Schnell warf er sich das Hemd wieder über und stieg in die Hosen. Doch es war ja nicht eigentlich dazu gekommen, dachte er weiter, die Stube barfuß auf- und abschreitend. Jetzt musste er dies zu Ende denken, es durch Worte auszutreiben suchen! Die beiden Teufel waren dazwischen gegangen und hatten ihm und Emilia Gewalt angetan. Er dachte an all das Blut, den Geschmack des Blutes. Totschlagen hätte man die Hurenböcke sollen! Wie rohes Fleisch das Geschlecht zwischen Emilias Beinen, rohes Fleisch auch sein Geschlecht, sein ganzer Leib. Und dann, eines Tages, nicht einmal mehr miteinander gesprochen hatten sie, nur ein paar verschämte Worte hier und da, fragte man im ganzen Haus nach ihr, man schickte zum Markt, doch niemand wusste etwas. Bald schon aber sprach niemand mehr von ihrem Verschwinden, nicht offen jedenfalls.

Drei Stunden noch bis zur Predigt. Seit Januar des Jahres leitete er als Oberkatechet das Seminarum Petrinum. Die angehenden Magister, die ihm unterstanden, klebten oft genug an seinen Lippen, und so würde die heutige Predigt ebenso gelingen wie auch die nun bald zu haltenden Bibelhomilien. Die Collegia an der Universität so viele Jahre, die Gastpredigten, all dies hatte ihn zu einem guten Redner werden lassen, selbst die berüchtigten Murmler machten ihm keine Sorgen. Er würde alle überzeugen. Auch seine Gegner! Noch zu Beginn des letzten Jahres, 1711, war ihm hart zugesetzt worden, auch daran dachte er. Eben von einer langen Krankheit genesen, von der nicht wenige meinten, sie sei nur eingebildet, setzte gegen Ende des Winters eine Kampagne wider ihn ein, die vor allem daraus bestand, Gerüchte zu streuen. Das neu zu schaffende Predigeramt an der Peters-Kirche, so schwer es sein mochte, war durchaus begehrt. Ich selbst, dachte Adam jetzt wieder einmal, bin ja von Anfang an in Zweifel gewesen, ob ich der Sache gewachsen sein würde und ich nicht lieber zurückgehen soll nach Breslau, obgleich ich dort ja ganz ohne mein Zutun bei manchem Prediger als Indifferentist oder gar Pietist verschrien bin. Er war weder das eine noch das andere, er hatte seine eigene, schwer errungene Sicht auf die Dinge, und wenn er sich etwas vorwerfen konnte, dann doch eher seinen Aberglauben, sein Münzenwerfen, sein Warten auf ein Zeichen Gottes. Allerdings war dies seiner eigenen Überzeugung nach die einzige Möglichkeit, seiner fatalen Entscheidungsschwäche Herr zu werden oder ihr wenigstens etwas entgegenzusetzen, denn wie oft brannte er zunächst voller Überzeugung für die eine Sache und war bald schon für die andere entflammt. Das beste Beispiel dafür mochte wohl die Angelegenheit im Frühjahr eben dieses letzten Jahres gewesen sein, nicht lange nach Ostern, als er beim ersten Morgenschimmer und ganz plötzlich mit eben diesem Gedanken aufwachte, wieder in sein Vaterland gehen zu müssen. Die Idee war einfach da gewesen, obwohl er noch am Abend vorher sich geschworen hatte, den Gerüchten um seine Person, die ihm seit Tagen zugetragen wurden, zu trotzen. Und dann dies! Natürlich würde er noch für eine absehbare Zeit in Leipzig bleiben müssen, dennoch begann er schon, noch im Bett liegend, der Stadt und den Freunden nachzutrauern. In Tränen aufgelöst saß er schließlich auf seiner Stube, dachte nach über seinen Werdegang, seine Erlebnisse in dieser Stadt, seine Lehrtätigkeit an der Universität, besonders seine Predigtlehre und seine Moralkurse waren immer gut besucht, ja es wollte ihm bald scheinen, als könne dieser Entschluss nur Unglück auslösen. Trotzdem, und eben dies gab ihm zu denken, stellte sich die gegenteilige Entscheidung zum Bleiben nicht ein, dieser Gast blieb aus. So nahm er seine Zuflucht zum Aberglauben wie zu einem Rettungsanker.

Sich selbst in die Tasche zu lügen war also ganz sicher ein beliebtes Spielchen, das Adam Bernd mit Adam Bernd auszutragen pflegte, und so wischte er sich an jenem Morgen die Tränen ab, zog eine alte Perücke über und machte sich auf den Weg, um noch einmal in aller Ruhe durch Leipzig zu gehen. Die Collegia begannen erst wieder nach Trinitatis, er hatte Zeit. Träfe er einen seiner Freunde, so würde er ihm seine Entscheidung, nach den Sommerkursen die Stadt zu verlassen, sofort ohne Zögern mitteilen. Womit die Sache dann entschieden sei. Doch Adam traf an diesem Morgen niemanden, nur einmal sah er aus der Thomaskirche einen Mann heraustreten, der wohl sein guter Bekannter Gottfried Wagner, Ratsherr und Baumeister, hätte sein können, doch Adam lenkte seinen Schritt in eine andere Richtung, denn was sollte Gottfried wohl zu dieser Zeit in der Thomaskirche zu schaffen haben? Ich bin also weiterspaziert, überlegte er, kreuz und quer durch die Stadt, um schließlich zum Hallischen Tor über die Zugbrücke hinauszumarschieren. Eine Weile war er dann, tief in Gedanken um seinen Abschied versunken, durch kleine Ansiedlungen, Vorstädte und einige Gartenanlagen geschlendert, um schließlich einigermaßen erschöpft, hungrig und durstig durch das schäbige Peters-Tor wieder ins Innere zu gelangen. Er hatte natürlich, das war er sich schuldig, noch einen Blick auf die Peters-Kirche werfen müssen. Der Rat der Stadt hatte lange über Kreuz gelegen, wie es weitergehen solle mit dem alten Bau, der seit der Reformation alles mögliche gewesen war, nur kein Gotteshaus. Man konnte sich nicht einigen, ob hier allein eine Schule und Kirche für die Catechumenos und das einfache Volk einzurichten sei, oder aber, ob durch den Einbau von Kapellen es auch den vornehmen Leuten ermöglicht werden sollte, das Gotteshaus zu besuchen. Einige Monate war, wie er wusste, nichts geschehen, doch jetzt, Anfang des Jahres 1711, liefen Maurer und andere Handwerker wie angestochen herum, wie Adam überrascht feststellte. Aus dem Innern war einiger Lärm zu vernehmen. Die Fäuste in die Seiten gestemmt vor dem Bau stehend dachte Adam, dass nun die Ausschreibung der Stelle des Katecheten und Predigers wieder offiziell gültig sein müsse, ansonsten ja nicht gebaut werden würde. Das erklärte auch die Gerüchte über ihn, seine angebliche Unfähigkeit, ein Amt zu bekleiden. Tatsächlich war er zwar monatelang wie erschlagen und oft bettlägerig gewesen und hatte stark an Gewicht verloren, doch es ging wieder aufwärts, wie jeder sehen konnte. Und vor seiner Krankheit und noch vor Beginn der Bauarbeiten hatte man ihn ja immerhin schon in das zukünftige Amt gewählt, anderthalb Jahre war das nun her. Danach aber war nichts mehr zu hören gewesen davon, er glaubte schließlich sogar, die Sache sei eingeschlafen und würde nicht mehr verfolgt. So etwas kam in Leipzig ziemlich häufig vor. Sich bloß keine übertriebenen Hoffnungen machen, das war ohnehin alle Zeit das Gebot in dieser Stadt, wo Streit und Missgunst an der Tagesordnung sind.

Durch die Türöffnung konnte er im trüben Licht erkennen, dass Zimmerleute dabei waren, links über dem Altar die Kanzel zu errichten. Er betrat das Kirchenschiff. Jetzt sah er auch noch etliche weitere Handwerker in den Ecken und Nischen arbeiten. Einige setzten Scheiben in den Türen und Fenstern der Betstuben ein, derer je vier sich an den beiden Längsseiten im Erdgeschoß befanden, vier jeweils darüber liegende waren von der ersten Empore aus zu erreichen, dazu lagen links und rechts vom Altar an jeder Seite zwei übereinander in einem Eckbau. Unglaublich, dachte Adam, dass die Kirche fast zweihundert Jahre als Kalkhütte, Waschhaus oder Kaserne benutzt worden war, und wie schön wäre es doch, hier Gottesdienste feiern zu können. Vorsichtig ging er weiter. Die ersten Betstuben an der linken Seite, zur Stadt und den angebauten Häusern des Hutmachers, des Rohrmeisters und des Kupferschmieds hin, waren offensichtlich bereits vollständig hergerichtet. Selbst die Falltüren zu den darunterliegenden Grüften waren aufgearbeitet worden, stellte er, in eine Stube eintretend, überrascht fest.

Einem jungen Tischler, das lange blonde Haar zu einem Zopf gebunden, war der umhergehende Mann aufgefallen. Er stellte einen Fensterrahmen zur Seite und trat zu ihm in die Betstube.

„Die Türen zu den acht Grüften“, begann er ungefragt, habe er allein aufgearbeitet und zwei sogar gänzlich neu gebaut als sein Gesellenstück. Den Gesellenbrief bekäme er an seinem Geburtstag, dem 6. Juni, da feiere er ein großes Fest. Da der junge Mann offensichtlich ein Lob erwartete, tat Adam ihm den Gefallen, worauf dieser über das ganze Gesicht strahlte. Ein offenbar fröhlicher Mensch, dachte Adam, ein Mensch, den man mit einem einfachen Lob glücklich machen kann. Er selbst begann sich unbehaglich zu fühlen und machte Anstalten, zu gehen.

„Die Grüfte“, fuhr der Tischler dessen ungeachtet fort, „sind voll mit allerhand Gerümpel. Aufgesprungene Särge mit Knochen finden sich. Dazu alte Stühle oder zerbrochene Möbel. Es lohnt nicht hinunterzugehen. Habt Ihr einen bestimmten Grund, die Kirche zu besichtigen?“

Unschuldig sah ihn der Tischler aus wasserblauen Augen an, und wie sollte er auch ahnen, was eben diese Frage für Adam bedeutete.

„Nun“, sagte er zögerlich, „ich habe mich einstmals als Oberkatechet und Prediger für die Peters-Kirche beworben, war auch bereits im Herbst des Jahres 1709 gewählt worden, worauf dann aber nicht nur die Umbauarbeiten verschoben worden sind, sondern ich auch krank geworden bin.“

Das Gesicht des Tischlers spiegelte das von Adam Gesagte, wie dieser zu seiner Überraschung erkannte, exakt wider. Er lächelte glücklich bei der Erwähnung der Wahl und sah unmittelbar danach, als Adam von seiner Krankheit sprach, kreuzunglücklich aus. Statt einer Bemerkung oder einer weiteren Frage schloss der junge Mann zu Adams Überraschung die Tür zur Betstube und holte zwei Stühle aus der Ecke.

„Setzt Euch doch“, sagte er, offenbar davon ausgehend, der Prediger wolle sich etwas von der Seele reden. Adam war zu baff, um jetzt etwa  noch gehen zu können.

Adam sprach von solchen Dingen, die ein Strahlen auf dem Gesicht seines Gegenübers auslösen mussten. Das war ihm sehr angenehm. Als er aber von seinem nun beschlossenen Abschied aus Leipzig berichtete, zeigte der junge Tischler seinen traurigsten Gesichtsausdruck, der sich erst ein wenig aufhellte, als Adam zugab, ein Zeichen Gottes könne den Entschluss noch rückgängig machen.

„Gut“, sagte der Tischler, „dann haben wir ja noch ein wenig Hoffnung“, worauf er aufstand, die Tür öffnete und erklärte, nun müsse er wieder an die Arbeit, es sei noch einiges zu richten, bevor Meister Schwan käme. Denn der sei zwar gerecht, aber auch streng.

Adam blieb zurück und saß noch ein Weilchen auf seinem Stuhl, während draußen im Kirchenschiff und auf den Emporen an allen Ecken und Enden gehämmert und gesägt, geredet und geflucht wurde. Endlich trat er aus der Stube heraus. Ein Handwerker stand in der schon fast fertiggestellten Kanzel, die äußere Verkleidung und die Treppe fehlten noch, und erläuterte mit einem anderen Mann eine technische Frage. Adam atmete tief durch. Gut zwölf Jahre war er in Leipzig, hatte studiert und viele Freunde gewonnen, schlimme Krisen durchlebt, war oft genug dem Tode näher gewesen als dem Leben, hatte gepredigt und geschrieben, sich um Anstellungen bemüht, schließlich jahraus, jahrein seine Kurse an der Universität gegeben. Und jetzt würde sein Leben eine neue Wendung nehmen. Es war entschieden! Noch einmal sah er sich um, der mit Tuch bedeckte Altar, die Kanzel. Es soll nicht sein, dachte er. Schon traten ihm die Tränen in die Augen. Er wandte sich um, damit niemand es sähe, nur hinaus, dachte er, er musste fort von hier, und fast war er an der großen Türe, fast draußen im hellen Sonnenschein, an der Luft, als ihn plötzlich etwas festhielt. Er war mit dem Innenfutter seines Rocks an einem Nagel hängengeblieben. Schon kam ein Handwerker angelaufen, besah sich die Sache und versuchte sehr vorsichtig, ihn zu befreien. Die Peinlichkeit zu lindern versuchte Adam, mit den Umstehenden ein wenig zu scherzen.

„Das“, sagte er, „bedeutet ganz gewiss, ich werde in der Peters-Kirche hängen bleiben und hier der Prediger werden.“

Die Umstehenden lachten. Für ihn aber war Scherz und Ernst denkbar nah beisammen. Von der Empore aus beobachtete der junge Tischler das Geschehen. Er strahlte über beide Ohren. Kurz trafen sich ihre Blicke. So blieb Adam Bernd am Ende nichts anderes übrig als dies Hängenbleiben an einem Nagel als ein Omen und Zeichen zu sehen und so lange in Leipzig zu bleiben, bis die Stelle des Oberkatecheten und Predigers tatsächlich vergeben ist.

„Ein Zeichen Gottes, nun ja, das ist es wohl nicht“, erwiderte Gottfried Wagner am selben Abend auf Adams Frage und setzte ihm Rosinensuppe und Wein vor. Weder der junge Tischler und seine Grimassen noch das Hängenbleiben an dem Nagel hätten etwas mit Gottes Wille zu tun. Das wüsste Adam wohl am besten. Aber ein Omen sei ein Omen, das sei eben Aberglaube, und der habe ja auch seinen Reiz. Er riet ihm also, den Lauf der Dinge abzuwarten, denn es seien bereits einige Kandidaten für das Amt abgewiesen worden, so dass immer mehr Ratsherren geneigt sind, die Wahl Adams zu erneuern. Das dürfe er ihm im Grunde nicht sagen, doch er solle einem erfahrenen Mann von bald sechzig Jahren nur vertrauen, und nun wolle man Wein trinken, auf die Gesundheit und auf alles Gute, das da kommen werde.

Am späten Abend des Tages, an dessen Morgen er seinen Abschied aus Leipzig beschlossen hatte, lag Adam Bernd betrunken und satt auf seinem Lager im Roten Collegio. Mit Wagner hatte er sich nach der zweiten Kanne Wein die Scherze nur so an den Kopf geworfen. Wäre nicht Wagners Ehefrau erschienen und hätte ihn einen alten Toren geschimpft, der sich aufführe wie ein betrunkener Student, so säßen sie sicher noch immer dort. Nun ja, dachte Adam, zur Sünde des Aberglaubens kommt so auch noch die Trunkenheit. Aber was soll’s, so bleibe ich eben erst einmal in Leipzig, in Gottes Namen! Dann schläft er ein. Am anderen Morgen erwacht er mit schwerem Kopf und mit Selbstvorwürfen wegen des Trinkens, doch sein Entschluss, jenes Amt des Oberkatecheten und Predigers der Peters-Kirche anzustreben, das ihm ein gutes Auskommen und wohl auch einigen Zuspruch brächte, stand fest.

Ein gutes Jahr später, am neunundzwanzigsten Mai des Jahres 1712, dachte Adam noch einmal über all dies nach. Am Ende, so überlegte er, hatte sich nun doch alles zum Besten gewendet. Ich bin wirklich in der Peters-Kirche hängengeblieben, im wahrsten Sinne des Wortes. Er war tatsächlich hoffnungsfroh an diesem Morgen, er gestattete es sich ausdrücklich und freute sich auf die Antrittspredigt, zu der er bald aufbrechen würde. Er konnte nicht ahnen, dass ein gewisser Heinrich Holzkötter, in Leipzig der Täubenfüßer oder Herr Daubenfuß gerufen, begierig darauf wartete, demjenigen endlich ins Gesicht zu sehen, dem er Rache geschworen hatte und dem er das Leben zur Hölle machen würde.

AUF DEN ERSTEN BLICK

Ich bin, dachte Heinrich, ruhelos auf seiner armseligen Stube hin und her gehend, Lampenwächter und Sänftenträger, werde hier und da als Schreiber gebraucht, trinke Tee, Kaffee, Wein und Bier, gelegentlich Branntwein, esse ordentlich und viel, spiele Karten und Billard, streite und vertrage mich, ganz wie jedermann. Aber all dies, fand er, war nicht der Rede wert, ganz im Gegensatz zu dem, was er nun zu tun hatte. Er stellte sich vor, wie beschämend es gewesen wäre, nach Breslau gereist zu sein und dort zu erfahren, dass Adam Bernd längst schon in Leipzig lebte. Nun, dachte er, so ist er zu mir gekommen, nicht ich zu ihm. Der Zufall oder Gottes Fügung hatte ihm Adam Bernd vor die Nase gesetzt, und heute in der Mittagsstunde, das stand fest, würde er ihn zum ersten Mal sehen.

Längst vergessene Geschichten kamen ihm in den Sinn. Knu, der in die Tiefe stürzt und sich das Genick bricht. Tine, die plötzlich über ihm gewesen ist. Doch das waren eher undeutliche Bilder, wie überhaupt die Vergangenheit ihm oft nebulös, im wahrsten Sinne des Wortes schleierhaft erschien. Selbst seine Jahre in Leipzig nahmen häufig einen seltsamen Charakter an, dachte er darüber nach. Vieles aber lief, vor allem seit der Hinrichtung Jeans, recht gut. Ob der Allmächtige seine schützende Hand über ihn hielt? Manchmal sandte er das ein oder andere Dankgebet zu Gott, etwa als er erfuhr, dass eine der Huren, mit der es vor nicht langer Zeit wegen des Preises zum Streit und damit nicht zum Vollzug gekommen war, nicht nur Venus-Blattern hatte, die hatten sie alle, sondern mit Unterleibsfäule in einem dreckigen Winkel lag und bald verrecken würde. Und wie oft traf es den Hurer wie die Hure! Am meisten Dank aber schuldete er Gott dafür, ausgerechnet Andreas Alberti auf dem Bauernhof bei Schwerte getroffen zu haben. Ohne ihn wäre er Schweinehirt geblieben oder hätte sich als Soldat verdingen müssen. Fragte ihn jemand, welche Profession er ausübe, so sagte er stolz Schreiber, nicht etwa Lampenwächter. Er hatte durchaus den ein oder anderen Auftrag, wobei ihm sein feines Gehör zugutekam, denn selbst in der größten Unruhe war es ihm möglich, ein Diktat aufzunehmen. Auch das Abschreiben von Contracten wurde recht gut entlohnt, nicht nur, weil er, bevor das Original unversehens verloren ging, kleine Änderungen vorzunehmen hatte, sondern auch seiner schönen, gut lesbaren Handschrift wegen. Und da die gewissen anderen Dienste für den Bibliothekar ihm seine eigene kleine Bibliothek verschafft hatten, konnte er sich fast als ein Bürger fühlen, wenn er auch wohl nie einer werden würde, jedenfalls nicht mit Brief und Siegel.

Unversehens fiel ihm ein, wie er Adam-Bernd-Figuren geschnitzt hatte. Damals in der Stube des dritten Predigers. Denen er die Köpfe abbrach. Er zog die mit Ranken und Blumen bemalte Kiste, die er einmal von einem Bauern in Probstheida gekauft hatte und in der er Manuskripte und Andenken aufbewahrte, hervor und nahm sein Messer zur Hand. Schnell fanden sich geeignete Stücke gut getrockneten Lindenholzes. Lignum Sacrum nannte es dieser Kerl aus Meißen, der damit Handel trieb. Heinrich hatte einmal Spielzeug für einen Nachbarsjungen daraus geschnitzt, jetzt würde es einen anderen Zweck erfüllen. Zielsicher fand er den richtigen Ansatz, und bald schon zeigte sich die Teufelsfratze. Emilia hatte damals wohl kaum verstanden, krank und in anderen Umständen, was diese Figuren bedeuteten, und noch weniger, warum er sie zerbrach. Er schnitzte in schneller Folge mehrere Figuren, nahm schließlich ein Stück Schmirgelpapier, gab seinen Teufelchen den letzten Schliff und steckte eines ein. Dann sah er noch einmal die Abschriften aus den Büchern durch, die sich mit der Sünde der Selbstentleibung, des Selbstersäufens, des Selbsterhängens und so weiter beschäftigten. Seiner Rache, sagte er sich, stand nun nichts mehr im Wege.

Er legte sich auf sein Lager. Er dachte an Emilia. Er zwang sich, an sie zu denken. Sie war von den Teufeln nach Breslau gebracht worden. So war es ihm damals gesagt worden. Sie war fort und er mit der Mutter allein. Bis Emilia Jahre später unvermutet und schwanger wieder aufgetaucht war, darniederliegend und kaum ein Wort sprechend, eine Fremde. Als sie nicht auffindbar war, da dachte er sofort, er war sicher, dass sie in die Ruhr gegangen ist, und bald nach ihrem Verschwinden, kaum war er wieder auf dem Hof, träumte ihm, er sei mitten in der Nacht in der Nähe eines Flusses, dessen Rauschen und Glucksen er zwar hören, den er aber nicht sehen konnte. Er stapfte mit einer Fackel in der Hand durch feuchte, tiefe Wiesen, kam indes kaum vorwärts, obwohl er es eilig hatte. Dann steckte er plötzlich fest und sank langsam tiefer und tiefer ein. Er wollte um Hilfe rufen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Womöglich aber würde ein nächtlicher Wanderer seine Fackel sehen, er reckte sie also in Höhe und schwenkte sie wild, und wirklich, bald schon näherte sich aus der Ferne ein Schatten aus einem dichten, schwarzen Nebel heraus. Als die Gestalt näherkommt, erkennt er den nackten, aufgequollenen, vor Nässe triefenden Leib einer Frau und den Kopf eines ungeborenen Kindes zwischen ihren Beinen. Das Kind sieht ihn aus klaren blauen Augen an, während die Frau auf ihn zugeht. Ihr Mund bebt, als würde sie seinen Namen rufen wollen, aber es ist nichts zu hören. Doch ist der Kopf da zwischen ihren Beinen nicht sein eigener, fragt er sich, ist nicht er selbst dieses Kind, das heraus will aus dem Leichnam der Mutter, dem Leichnam Emilias, heraus aus dem wandelnden Tod? Da weiß er plötzlich, er muss dieses Kind befreien, trotz seines Entsetzens. Mit einem Schrei springt er vor, urplötzlich losgelöst, wirft das Ungeheuer zu Boden, reißt ihm die Beine auseinander, packt den Kopf des Kindes und zieht, doch das Kind, der Kopf schreit Nein, Nein schreit der Kopf, immer wieder, eine letzte Anstrengung, jetzt muss es gelingen, denkt er, das Kind soll geboren sein, und endlich ist der Widerstand fort, das Kind ist gerettet, es lebt, es ist befreit, Heinrich ist unglaublich glücklich, es läuft ihm durch alle Glieder, er weiß nicht wohin mit seinem Glück. Doch dann erkennt er, dass er nur den Kopf des Kindes in Händen hält.

Sein Schnitzfigürchen in der Tasche mit der Faust umschließend macht er sich auf den Weg zur Peters-Kirche. Schon auf dem Markt und dann in der Petersstraße bemerkt er, dass etwas anders ist als an anderen Sonntagen. Als er den Schuhflicker George Bachfeldter trifft, fragt er, warum so ungewöhnlich viel Volk unterwegs sei. Überrascht blickt dieser ihn an. Ob er denn nicht wüsste, der bekannte und beliebte Prediger Adam Bernd halte seine erste Predigt in der neu eingeweihten Peters-Kirche. Als er dies hört, klappt Heinrich einfach zusammen. Bachfeldter kann ihn gerade eben noch auffangen. Ein paar Ohrfeigen reichen aus, ihn zu beleben.

„Der bekannte und beliebte Prediger Adam Bernd“, stammelt Heinrich. Der Schuhflicker ist sich nicht sicher, ob das Antlitz des Anderen eher Freude oder Entsetzen ausdrückt, doch dann nimmt er Heinrich einfach mit, denn er will keinesfalls zu spät kommen. Am Eingang der Kirche hatte sich bereits ein dichtes Menschenknäuel gebildet. So etwas hatte Heinrich beileibe nicht erwartet. Schon die Bemerkung Bachfeldters hatte ihn überrascht wie selten etwas im Leben, denn wie konnte es sein, dass er nichts gehört hatte von Adam Bernd, wenn dieser doch so bekannt und zudem beliebt sein soll? Bald war man mitten in der Menge und wurde zum Eingang hin und schließlich in die Kirche hineingepresst. Freudige Erregung war überall zu spüren, und als Heinrich und Bachfeldter in der Kirche sind, sehen sie, dass sie schon fast voll ist und die Menschen dicht gedrängt bis zum Altar hin stehen. Die Kanzel aber, auf die alle starren, ist noch leer. Bachfeldter drängt, Heinrich mitziehend, nach vorne, denn er müsse, sagt er, möglichst nah bei der Kanzel stehen, sonst könne er den Prediger nicht recht sehen. Heinrichs Herz schlug ihm bis in den Hals, dass es schmerzte.

In eben diesem Moment sitzt der Oberkatechet und Prediger der Peters-Kirche, Adam Bernd, nicht weit entfernt auf dem Abort des Kupferschmieds. Erst gestern hatte er noch einmal eindringlich darauf hingewiesen, der Locus müsse in der Zeit vor der Predigt frei sein. Das Gemurmel aus der Kirche war bis hierher zu hören. Tagelang hatte er Durchfall gehabt, davor aber wochenlang unter Verstopfung gelitten und seiner Hämorrhoiden wegen kaum sitzen können. Und nun, wenn es raus musste, wollte es wieder nicht. Die Angst aber, mitten in der Predigt hinunter zum Abort stürzen zu müssen, es womöglich nicht mehr rechtzeitig zu schaffen, war übergroß. Er würde zum Gespött der Leute werden.

Wieder drückte er mit den Fingerspitzen auf seinem Bauch herum, ohne Erfolg. Was tun? Schon als ihm Bürgermeister Winckler am 27. Dezember des letzten Jahres mitgeteilt hatte, er sei zum neuen Prediger gewählt worden, war ihm das auf den Magen geschlagen. Am Tag der Ordination hatte er Durchfall gehabt. Da aber war er wenigstens pünktlich an Ort und Stelle gewesen, um im Consistorio den Religionseid abzulegen, der ihm aber auch wieder schwere Sorgen bereitete, weil er nun mal eher an die Wiedervereinigung der Kirche glaubte und eben nicht an die alleinige Rechtmäßigkeit der lutheranischen Sache. An all dies dachte er im Moment, während das Gemurmel aus der Kirche immer lauter und lauter zu werden schien. Er konnte doch nicht Gott bitten! Es musste doch möglich sein, das Opus naturae jetzt zu verrichten. Es war zum Verzweifeln.

Die Menschen in der Kirche standen so eng, dass niemand sich rühren konnte. Direkt vor Heinrich hatte sich noch eine Magd geschoben, obwohl da eigentlich kein Platz gewesen war. Selbst auf den mit Bändern abgesperrten Emporen, wohin all die Baugeräte und das Material gebracht worden waren, die Arbeiten waren längst nicht abgeschlossen, standen viele und sprachen in freudiger Erwartung miteinander. Nicht wenige unter ihnen hatten Adam Bernd bereits in anderen Kirchen predigen gehört, er galt als Freund des gemeinen Volkes, der gut und eindringlich sprach und auch seine Exempel gut auswählte. Natürlich ahnte niemand, dass der Prediger nicht weit von ihnen entfernt in völliger Verzweiflung auf dem Locus hockte und nicht aus noch ein wusste. Er dachte nicht nur, wie so oft, dass er nun endgültig an der roten Ruhr erkrankt sei und bald sterben müsse, sondern sogar an jene Schnecke, die er als Kind einmal in sich gewähnt hatte, ein übler Scherz seines Bruders Johann. Schritte kamen näher. Sicher wollte man ihm sagen, es sei an der Zeit, zaghaftes Klopfen, er bat noch um einige Minuten, die Schritte entfernten sich, und dann steckte er sich einfach, ohne weiter zu überlegen, den Mittelfinger in den Hintern, so tief es ging, drehte ihn hin und her, zog ihn heraus, steckte ihn wieder hinein, immer wieder und immer wieder, und siehe da, plötzlich schoss es unversehens nur so aus ihm heraus in die Tiefe der Grube. Schnell wischte er sich ab, eilte hinaus und wusch sich die Hände. Einen Moment noch versuchte er zu meditieren, um dann endlich in die Kirche zu treten und die wenigen Stufen zur Kanzel gemessenen Schrittes hinaufzugehen. Das Gemurmel im Kirchenschiff erstarb augenblicklich, doch als er eben beginnen wollte zu sprechen, da sank nicht weit von der Kanzel entfernt ein Mann ohnmächtig zusammen. Er blieb zwischen all den Leibern stecken. Es war niemand anders als Heinrich, dem die Sinne schwanden. Der Schuhflicker, mit dem er gekommen war und der nun hinter ihm stand, packte ihn unter den Achseln und das junge Mädchen vor ihm fächelte ihm mit ihrer Haube Luft zu, bis er wieder zu Bewusstsein kam. Adam Bernd, der die Szene aufmerksam beobachtete, nickte Heinrich freundlich und aufmunternd zu und begann dann mit seiner Predigt.

Heinrich rang, die linke Faust um sein Schnitzfigürchen geballt, mühsam nach Luft, während ihn immer noch alle Augenblicke der fast zärtliche, sorgenvolle Blick des Predigers streifte. Er senkte unwillkürlich den Blick. Doch kam der Prediger, kam Adam Bernd ihm nicht bekannt vor? Hatte er ihn nicht doch schon gesehen in Leipzig? Und wieder durchfuhr es ihn, wieder spürte er die Knie weich werden und die Hände unter seinen Achseln. Natürlich, ja! Das war der Mann, der vor langer Zeit, vor sicher über zehn Jahren, in einem Wirtshaus schlichtend an den Tisch getreten war, als er mit Jean, dem Schwein herumstritt. Ja, das ist er, das ist er, dachte Heinrich verwirrt, ohne Zweifel derjenige, mit dem er dann noch durch Leipzig spaziert war. Nach Hause hatte er ihn begleitet, und dann nie wiedergesehen. Oder nicht erkannt! Doch warum nur hatte er ihn damals nicht nach dem Namen gefragt? Das hätte er doch unbedingt tun sollen! Dann wäre der Kerl da oben jetzt nicht Prediger dieser Kirche, sondern, dachte Heinrich, im Narrenhaus!

Ein Aufseufzen der Menge riss ihn aus seinen Gedanken. Heinrich hatte bisher nicht eine Silbe von dem mitbekommen, was sein erklärter, nur wenige Schritte entfernter Feind sprach.

„Und können wir“, rief Adam Bernd in diesem Augenblick, „da nicht mit gutem Recht ausrufen: Siehe da eine Hütte Gottes bei den Menschen, und er wird unter ihnen wohnen? Und wollt ihr, meine Lieben, mein ganzes Urteil kurz und gut von diesem neuen Gotteshause, in welchem jetzt die erste Predigt soll gehalten werden, hören, so rufe ich jedem unter Euch zu: Siehe da eine Hütte Gottes bei den Menschen, und er wird unter Euch wohnen.“

Der Prediger legte eine Pause ein und ließ den Blick schweifen.

„Ich heiße diese Kirche“, fuhr er schließlich fort, „gerne eine Hütte, denn zuvor war dieses Haus, wie ihr wisst, eine Kalk- und Walchhütte. Und sehet, diese geringe, verachtete und verworfene Kalkhütte ist nun durch eine selige Verwandlung zu einer Hütte Gottes geworden. Wenn ich aber dieses Haus eine Hütte Gottes nenne, so ist das nicht so absolut, schlechthin und ohne alle Bedingung anzunehmen und zu verstehen; denn soll dieser Ort eine Hütte Gottes sein, soll Gott hier wohnen, so kommt es darauf an, ob unsere Herzen auch Gottes Hütten sind!“

Adam Bernd sprach weich und eindringlich. Heinrich hatte nicht wenige Predigten gehört und kannte den Ton anderer Prediger, denen die Gläubigen aus Furcht an den Lippen hingen. Hier jedoch lächelten viele und nickten zustimmend mit den Köpfen, ja es schien sich eine selige Stimmung der Menschen zu bemächtigen. Alle waren überaus aufmerksam und vergaßen offenbar die Umstände, die Enge und die schlechte Luft. Dann aber geschah etwas, von allen außer Heinrich offenbar unbemerkt. Die Magd, die kleine Rothaarige, die ihm zuvor Luft zugefächelt hatte, hockte sich, den Rücken an Heinrichs Knie gedrückt, direkt vor ihn hin und pinkelte leise auf den Boden. Die Lust schoss Heinrich unmittelbar in die Eingeweide, sein Glied wurde augenblicklich stocksteif. Als das Mädchen sich vorsichtig wieder aufrichtete, bemerkte sie die prägnante Veränderung. Und nicht nur, dass sie jetzt ihren Hintern sanft gegen Heinrichs Unterleib drückte, nein, das Luder musste auch noch in eine leichte, kaum merkliche rhythmische Unterleibsschwingung verfallen. So eine Hure, dachte Heinrich ungläubig und versuchte, der Predigt zu folgen, und da schien es ihm, als sei der Blick des Predigers auf ihn gerichtet, nicht mit Sorge wie zuvor, sondern mit Groll und Zorn. So jedenfalls dachte Heinrich, während das Mädchen die kreisenden Bewegungen nun mit leichten Stößen garnierte, die ihm vollends den Verstand rauben mussten. Der Prediger erhob indes seine Stimme zu einer Mahnung. Laut und eindringlich rief er ins Kirchenschiff hinein.

„Ein frecher Hurer“, hörte Heinrich, „macht sich kein Gewissen aus der ersten Pfütze zu saufen, die er antrifft, da seinen Durst zu löschen und seine Huren-Begierden zu sättigen! Gott lässt es geschehen, da ein anderer, der Gott fürchtet, und sich nicht in Gefahr begeben will, die ewige Seligkeit zu verscherzen, sich nur mit demjenigen Brunnen vergnügen und zu Frieden sein muss, aus welchem ihm Gott und die gesunde Vernunft zu trinken erlauben.“

Als sei dies eine Aufforderung, diesem Gedanken sogleich zuwider zu handeln, presste das Mädchen sich stärker gegen Heinrichs Unterleib, vollführte wieder manch leichten Stoß, bis sie schließlich nach hinten, nach seinen Händen langte und die rechte in ihren Schoß und die linke, die das Teufelsfigürchen fest umklammerte, an ihre Brust drückte. Da war es um den armen Heinrich geschehen, es schoss aus ihm heraus. Ein Stöhnen entrang sich ihm, er zuckte drei oder vier Mal. Der Prediger hielt inne. Bachfeldter aber, der eine neuerliche Ohnmacht befürchtete, griff Heinrich geistesgegenwärtig unter die Achseln und schüttelte ihn leicht, bis die Krise vorüber war.

Den Rest der Predigt, die bald fortgesetzt werden konnte, denn der arme kranke Mann stand schon wieder fest auf seinen Beinen, wie Adam Bernd feststellte, musste Heinrich mit einem nassen Fleck überstehen. Das Mädchen wandte einmal kurz den Kopf und sagte mit einem feinen Lächeln etwas auf französisch. Täubenfüßer verstand odeur, pilier und plaisir, mehr nicht. Adam Bernd sprach derweil zum Ende des ersten Teils sein Votum mit fester Stimme ins Kirchenschiff:

„Liebster Jesu, wir sind hier / Lenke Sinnen und Begier / Zu den süßen Himmelslehren / Dass die Herzen von der Erden / Ganz zu dir gezogen werden.“

Manch einer seufzte schwer auf.

Je länger die Predigt dauerte, desto erschöpfter wirkte Adam Bernd. Heinrich glaubte ihn vor den Augen seiner neuen Gemeinde rapide altern zu sehen. Zu Beginn hatte er aufrechtstehend freudig gesprochen, nun aber stand er gebückt, den Kopf vorgereckt, so als drücke die Last der Sünden und Verfehlungen, von denen er sprach, ihn selbst nieder, so als leide er für alle, die ein gottloses Leben führen. Die zuvor freundliche und sanfte Stimme hatte nun etwas Knarziges, tief aus dem Rachen kommendes, selbst wenn er vom neuen Menschen sprach, den es zu schaffen gelte, denn ein Jeder, sagte er, könne ein solcher werden, enthalte er sich nur der Sünden. Dann aber, nach einer kleinen Pause, ganz plötzlich, wie aus der Haut fahrend, donnerte der Prediger mit neuer Kraft:

„Ihr Unfläter und Hurer“, rief er, „was wollt ihr denn im Himmel machen, wenn ihr euren verhurten Sinn behaltet? Wenn gleich im Himmel der christliche Ehestand noch währete wie auf Erden, und die Menschen da, wie hier, freieten und sich freien ließen, welches doch nicht sein wird, so würdet ihr daran doch schlechtes Vergnügen haben und schlechtes Gefallen tragen an dieser Ordnung Gottes, denn sie hat Euch in dieser Welt nicht angestanden, deswegen ihr nicht leiden können, wenn man eure unbändige Fleischeslust so enge einschränken wollen!“

Alles erstarrte. Adam Bernd stand wieder aufrecht. Und da trafen sich die Blicke des Gottesmannes und Heinrichs, der den Blick dieses Mal nicht senkte, ihm standhielt, innerlich bebend, äußerlich ruhig. Sekunden später wandte der Prediger sich mit einem schmerzlichen Lächeln wieder der Gemeinde zu.

„Ihr Lieben“, begann er sanft, und ein erlösendes Schaudern lief durch die Zuhörerschaft.

Schien es Heinrich nur so, oder wiederholte sich dieses Schaudern jedes Mal, wenn der Prediger seine Stimme nur ein wenig hob und sie dann wieder senkte, wenn er die Hölle im Munde führte, um dann wieder den Himmel in Aussicht zu stellen? Immer wieder stöhnte jemand inbrünstig auf, ja es waren offensichtlich viele mächtig ergriffen von den Worten, die mal sanft, mal donnernd von der Kanzel aus in ihr Gemüt drangen. Heinrich hatte indes Mühe, dem Gesagten zu folgen, das Stehen und die schlechte Luft ermüdete ihn zusehends. Plötzlich fiel ihm ein, dass Jean, das Schwein erzählt hatte, mehr als einmal einen hinkenden Theologen gegen gutes Geld durch eine Hintertür in ein bestimmtes Gasthaus eingelassen zu haben. Jean sprach mehrfach vom Prediger Hinkefuß, der auch sonst in vielen Dingen seine Finger drin habe. Einmal hatte Heinrich den Kerl gesehen, eine vermummte Gestalt, die die Treppe hochschlich. Sollte nun dieser Vermummte jener gewesen sein, der jetzt dort oben vom neuen Menschen sprach? Was für eine Idee! Konnte das sein? Hinkte Adam Bernd etwa wie der leibhaftige Deibel? Hatte er einen Unfall erlitten, so wie er selbst damals auf dem Bauernhof, er erinnerte sich gut an die Heilung mit dem toten Hund, nur mit schlechterem Ausgang?

„Ach wie töricht und unglückselig ist doch der Mensch“, rief Adam Bernd in eben diesem Augenblick, als Heinrich sich an den hinkenden Mann erinnerte, „der die Welt wie seinen Gott liebt! Im Tode muss er sie verlassen, die Liebe aber der Welt und die Begierden sterben nicht mit, diese schleppt er in jene Welt. Er denkt, er kann ohne sie nicht glückselig sein, alles andere däucht ihn nichts, wenn er dieses nicht haben und genießen soll, was er liebt. Doch die Liebe zur Welt bedeutet dem neuen Menschen nichts, wenn er ins Himmelreich eingeht, wo die Liebe Gottes ihm alles ist.“

Wieder dieses Schaudern, dieses Beben im Kirchenschiff.

„Was will er denn im Himmel machen“, fuhr der Prediger fort, „da keine solche fleischliche Freude wie auf der Welt zu finden, die er allein geliebt, und außer derselben sonst nichts. Ihr Wollüstigen, der Bauch, die Bier-, die Weinkanne, die Speisekarte ist euer Gott, ohne diese Dinge leben däucht Euch eine rechte Hölle zu sein! Wie wird Euch dann der Himmel anstehen? Im Himmel ist kein Kaffee, Tee noch Schokolade, ohne die ihr keinen Morgen und Mittag wisst zuzubringen, kein Weinkeller ist drinnen zu finden und auch kein Branntweinhaus!“

Ernst und eindringlich blickte der Prediger seine Gemeinde an, doch noch bevor er wieder ansetzt, treffen sich die Blicke Heinrichs des Täubenfüßers und der seine abermals. Warum nur, denkt Adam Bernd, schaut dieser Mensch so freudig, während alle anderen reumütig dreinblicken? Er nickt ihm kurz zu, dann spricht er weiter und beendet schließlich die Predigt:

Welt, Ade, ich bin dein müde,

Ich will nach dem Himmel zu,

Da wird sein der rechte Friede,

und die ewig stolze Ruh:

Welt, bei dir ist nichts denn Streit,

Nichts als lauter Eitelkeit;

In dem Himmel allezeit

Friede, Freud und Seligkeit, Amen.

Eine große Stille tritt ein, dann verlassen die Menschen die Kirche langsam und wie betäubt. Kaum im Freien reckt Heinrich den Hals und sieht sich um, die kleine Hure ist jedoch nicht zu sehen. Der würde er was erzählen, dieser Hexe! Bachfeldter hatte sich von ihm mit einem Nicken verabschiedet und war davongeeilt, doch viele Kirchgänger blieben noch und standen in Gruppen auf dem Peterskirchhof. Alle sprechen wild durcheinander, jeder fällt dem anderen ins Wort, obgleich doch alle dasselbe zu sagen haben, wie Heinrich schnell feststellt. Im Grunde scheint es fast so, denkt er, als könne der ein oder andere es gar nicht erwarten, in den Himmel zu kommen, um sein von Sünde unbeflecktes Leben dort ohne all die irdischen Anfechtungen fortzusetzen. Manch einer wiederholt auch das Schlusswort der Predigt und wippt dabei von der Ferse auf die Fußspitze und wieder zurück, doch die meisten verhaspeln sich. Kurzentschlossen tritt Heinrich an eine Gruppe vornehmer Herren mit prächtigen Perücken heran, es war also nicht nur Volk in der Kirche gewesen, um es richtig aufzusagen.

„Welt, Ade, ich bin dein müde“, beginnt Heinrich also ebenso salbungsvoll wie der Prediger zuvor, bis er endlich leise das „Amen“ sagt. Die Herren bedanken sich, den seltsamen Menschen scheel anblickend. Einer gibt Heinrich ein Geldstück.

Während sich die Menge langsam zerstreut, bemühen sich der Kupferschmied und seine Frau um den armen Prediger, der mit Magenkrämpfen in der Sacristei liegt. Nichts wollte helfen, erst eine Wärmeflasche bringt nach einer ganzen Weile ein wenig Linderung. Bürgermeister Winckler und einige Stadträte, die dem neuen Prediger gratulieren wollen, müssen unverrichteter Dinge wieder abziehen. Einer der Herren wies noch einmal auf seine schon vor zwei Jahren geäußerte Sorge hin, Adam Bernd sei zu labil für ein solches Amt. Der Prediger selbst machte sich im selben Augenblick auch so seine Gedanken. Er fragte sich, wie um Gottes Willen ein einziger Mensch ihn so in Mark und Bein treffen konnte, einfach nur indem er lächelte, während die gesamte Gemeinde tief ergriffen war. Das Bild ging ihm nicht aus dem Kopf. Der selbe Kerl, der ganz zu Beginn ohne ersichtlichen Grund in Ohnmacht gefallen war, schien plötzlich heiter zu sein, als sei ihm eine Last von der Seele genommen worden, grad in dem Augenblick, als alle anderen aufstöhnten vor Sorge um ihr Seelenheil. Und dann dieser Blick! Die Art und Weise, wie er ihn angesehen hatte! Außerdem kam ihm dieser Mensch bekannt vor, er musste ihm irgendwo schon einmal begegnet sein, und sicher nicht unter angenehmen Umständen. Der Kupferschmied brachte einen Aufguss von Sassafras.

„Trinkt das“, sagte er, „das nimmt die bösen Gedanken von Euch.“

Aus dem Innern der Peters-Kirche war Poltern, lautes Rumoren und mancher Fluch zu hören. Die Handwerker, die der Predigt beigewohnt hatten, richteten die Arbeitsgeräte für den morgigen Montag her. Nur ein junger Tischler stand draußen in einer Nische zwischen den angebauten Wohnhäusern. Bei ihm, Heinrich traf fast der Schlag, stand die kleine Hure. Sie nestelte mit gespielter Verschämtheit an den Hosen des Tischlers herum, ein noch ganz junger Kerl mit langem Zopf. Schließlich küsste sie ihn leichthin auf die Wange und ging davon, nah an Heinrich vorbei, den sie mit einem kurzen Blick streifte.

„Die Weiber sind sich alle gleich“, murmelte er wütend, ohne sich zu rühren, „in jedem Loch ein Teufel, eine Schlampampe schlimmer als die andere.“

DOPPELGÄNGER, GREGOR UND MONIQUE

Der Torwächter am Peters-Tor übergibt seiner Ablösung einen Brief mit Anweisungen, wie zu verfahren sei mit einem Mann, der in der Nacht in aller Heimlichkeit die Stadt zu verlassen beabsichtige. Dann weist er mit einem Recken des Kinns in Richtung Peterskirchhof, dort sei ein Wahnwitziger, der seit Stunden über den Platz humpelte, hin und her und dann wieder her und zurück. Er müsse nur um die Ecke gehen, dann könne er ihn sehen. Adam Bernd saß derweil, nachdem er eine Weile geschlafen hatte, noch immer beim Kupferschmied und ließ es sich schmecken. Es ging ihm besser, viel besser, der Schlaf hatte ihn wieder zu einem Menschen gemacht. Er trank sogar einen Kaffee, aß ein Stück Kuchen, und auch als der Kupferschmied seinen besten Wein kredenzte, musste sich der neue Prediger nicht lange bitten lassen. Zwar dachte er noch immer an denjenigen, der ihn so scheel angestarrt und dann so seltsam gelächelt hatte, doch das musste wohl ein Verrückter gewesen sein. Das sollte man, dachte er, in einem öffentlichen Amt auszuhalten wissen. Nach einem letzten Gläschen will er sich schließlich, es war bereits dunkel, auf den Weg zu seiner Wohnung machen, ein paar Schritte nur.

Die Frau des Kupferschmieds hilft ihm hoch. Er schwankt ein wenig, als er sich seinen schwarzen Umhang überwirft. Dann weht ihm der frische Wind um die Ohren. Jetzt bloß nüchtern erscheinen, sagt er sich, das ist wichtig, und da sieht er auch schon, wie auf der anderen Seite des Platzes ein Mensch humpelnd hin und her geht durch den fahlen Lichtschein einer Laterne. Hin und her und her und hin. Seltsam, denkt er, das ist doch kein Stadtsoldat, und dann zählt er unwillkürlich die Schritte, die dieser Mensch tut. Es sind jeweils vierundzwanzig. Ein humpelnder Wahnwitziger! Wäre ich nicht leicht berauscht, so würde ich der Torwache Bescheid geben, denkt er. Doch in drei Teufels Namen, soll er doch tun, was ihm beliebt! Dann aber geht Adam direkt auf den Humpelnden zu. War das nun eine Verführung des Teufels gewesen – oder doch ein Fingerzeig Gottes? Darüber dachte er später oft nach. Jedenfalls gesellte er sich zu dem Auf- und Abschreitenden und ging einfach neben ihm her, ja begann sogar wie dieser zu humpeln, wenn auch mit dem anderen Fuß. Der Torwächter, der sich aus dem Blauen Engel eine Kanne Bier geholt hatte, sah kurz zu, ebenso der ein oder andere Passant, doch obgleich die Angelegenheit äußerst absonderlich war, blieb doch niemand lange stehen, ja ein jeder vergaß dieses Bild ganz und gar, kaum war er um die nächste Ecke gebogen. Heinrich aber, denn er war es, der diese seltsame Wanderung tat, glaubte zunächst, der Teufel habe sich ihm zur Seite gesellt. Er hatte niemanden herankommen sehen, niemanden gehört. Endlich aber, nachdem er mit seinem Doppelgänger etliche Male hin und her gegangen war, blickte er zur Seite und sah in das Antlitz seines Feindes, der sich ihm im selben Moment zuwandte, worauf Heinrich stolperte und der Länge nach hinschlug.

„Ich helfe Euch“, sagte Adam Bernd, und ehe Heinrich eine abwehrende Geste auch nur in Erwägung ziehen konnte, hatte der Prediger ihn ergriffen und wieder auf die Beine gestellt, als sei er leicht wie eine Feder. So standen sie sich also auf dem nächtlichen Peterskirchhof gegenüber, Heinrich, dessen Rache allein Adam Bernd galt, und eben dieser, der zuerst nur einen armen, verwirrten Mann vor sich wähnte, dann aber im trüben Licht der Laterne jenen erkannte, der noch vor dem Beginn der Predigt in Ohnmacht gesunken und später in Zuckungen geraten war, um dann aber wieder recht heiter zu wirken.

„Nun, Freund“, sagte Adam, „wer seid ihr? Ich habe Euch in der Peters-Kirche während meiner Predigt gesehen. Ihr wart einige Male unwohl, so schien mir?“

„Man nennt mich Heinrich den Täubenfüßer, oder auch Herrn Daubenfuß“, brachte der Angesprochene so grade eben noch heraus und sank hin. Richtig zu sich kam er erst wieder, als er in einer fremden Stube auf einem Stuhl saß. Aus der Kammer nebenan war ein Rumoren zu hören. Dann stand der Prediger mit einem Becher vor ihm, einem Aufguss von Sassafras.

„Erzählt ein wenig von Euch“, beginnt er freundlich, sich zu seinem Gast setzend. Heinrich nahm einen kleinen Schluck. Er musste Zeit gewinnen. Wartete er nicht seit einer Ewigkeit auf diesen Augenblick? Da durfte er nichts Falsches tun oder sagen. Für einen kurzen Moment, es war wie ein Aufflackern, schoss ihm der Gedanke durch seinen Hirnkasten, sein Gegenüber sofort anzugehen, sich als Bruder Emilias zu offenbaren, ihren Tod dem Prediger, der so viele schöne Worte machte, aufzuerlegen, ihm vorzuwerfen, er und kein anderer habe ihn verschuldet. Doch er sagte nichts dergleichen. Er hatte seinen Plan, nur dass ihm dieser im Moment kaum präsent war.

„Nun“, sagte er endlich, „ich bin Schreiber und Lampenwächter, manches Mal auch Sänftenträger, doch es ist die Schreiberei, die meine Berufung ist.“

Es war Adam schon auf dem Peterskirchhof aufgefallen, dass Heinrichs linke Hand zu einer Faust geballt war. Manche, die unter der Folter gewesen waren, verkrampften die Hände in ganz alltäglichen Situationen. Das sah man nicht selten.

„Schreiber seid ihr also“, begann Adam vorsichtig, „nun gut, ich benötige oft einen solchen“, er wies auf das Stehpult und den Wust an Papieren in einer offenstehenden Kiste vor dem Bücherbord, „wenn Ihr mir also bei dieser Gelegenheit eine kleine Probe Eurer Kunst geben würdet! Natürlich nur, wenn ihr Euch dazu in der Lage fühlt.“ Heinrich nickte, trat ohne ein Wort und ohne den Prediger anzusehen an das Pult, nahm den Deckel vom Tintenfass und suchte eine gute Feder aus, starrt dann aber auf seine linke Hand, die noch immer zur Faust geballt ist, so als habe er sie noch nie gesehen. Adam, der zwei Schritte hinter ihm steht, bekommt es mit der Angst zu tun. Mein Gott, denkt er, ich habe einen Wahnsinnigen mit in meine Wohnung genommen! Wer wird mir helfen, wenn er mich anfällt? Und da öffnet der Verrückte auch schon die Faust, ganz langsam, worauf ein kleines, blutrotes Stück Holz zu Boden fällt.

„Ich stehe zu Eurer Verfügung“, sagt Heinrich, ohne auf das Schnitzfigürchen und das Blut zu achten, und da ist es an Adam Bernd, fast in Ohnmacht zu fallen.

Was tue ich hier nur, denkt Heinrich wenig später, ein sauberes Tuch um die linke Hand gewickelt, während der Prediger, auf- und abgehend, ihm diktiert. Auch Adam fragt sich, was vor sich geht. Es ist spät, der Brief aber wichtig. Er würde ihn normalerweise selbst schreiben, so wie er alle wichtigen Briefe selbst schrieb, eine nochmalige Danksagung an den Rat der Stadt und den Bürgermeister, vor allem aber eine Versicherung, er sei sich gewiss, das Amt des Katecheten und des Predigers bewältigen zu können. Warum diktierte er ihn nun aber diesem Täubenfüßer? Und dann diese Sache mit der kleinen Schnitzfigur, die immer noch dort auf dem Boden lag. Ein Teufelsfigürchen, das dieser Mensch sicher stundenlang mit sich herumgetragen hat. Aus Breslau kannte er den Aberglauben der Papisten, den Teufel und alle Götzen und Dämonen zu bannen, indem man die Hand fest um eine figürliche Abbildung schloss. Manch ein prächtiges Chorgestühl wies auf den Lehnen Fratzen, Schlangen und Dämonen auf. Adam betrachtete den Brief, den Täubenfüßer ihm reichte. Er war sauber und richtig geschrieben. Ein paar Eigenheiten fielen zwar auf, doch man konnte ihn ohne Bedenken zum Rat der Stadt schicken. Nun sollte er ihm wohl ein paar Worte sagen, einen Obolus in die Hand drücken, den Brief unterschreiben und versiegeln. Und dann könnte Täubenfüßer den Brief auch sogleich, denn so würde er ihn für heute loswerden, zum Rathaus zu einem bestimmten Dienstmann bringen, der dort Tag und Nacht anzutreffen war.

„Nun gut“, sagte er stattdessen nach einer Weile, ohne sein Gegenüber anzublicken, „ich gebe Euch Bescheid, wenn Schreibarbeit zu verrichten ist.“

Heinrich nickte, verzog keine Miene, bedankte sich und ging.

In der nahen Peters-Kirche zeigt indes der junge Tischler der hübschen Französin, die ihn nach der Antrittspredigt angesprochen hatte, in der dunklen Kirche mit pochendem Herzen eine der Betstuben. Mit der Laterne beleuchtet er die von ihm selbst gebaute Falltür zur Gruft und erzählt ihr aufgeregt, dass er allein und kein anderer es fertiggebracht habe, den Prediger Adam Bernd an diese Kirche zu binden, einfach indem er einen Nagel einschlug. Sie lachte, worauf er versuchte sie zu küssen. Sie wich ihm aus.

„Nicht hier“, sagte sie ernst und wies auf den Eingang zur Gruft, „das bringt Unglück.“ Wenigstens ihren Namen verriet sie ihm diesmal, Monique, und er solle nur bei Johann Chantin im Goldhahngäßchen nach ihr suchen, später am Abend. Dann nahm sie ihm die Laterne aus der Hand, lief durch die leere Kirche und war verschwunden.

In der selben Minute betrachtete Adam Bernd das blutige Figürchen. Der Leib war nur angedeutet, die Fratze jedoch um so deutlicher als die des Teufels herausgearbeitet, so wie das gemeine Volk sich diesen vorzustellen pflegt. Das frivole Maul, der Spitzbart, die große Nase, die Hörner eher stumpf wie die eines Widders nach hinten gebogen. Er fragt sich, ob Heinrich selbst es geschnitzt hatte oder ob es so etwas zu kaufen gäbe. Den Brief schrieb er noch einmal ab, versiegelte ihn und gab ihn zusammen mit einer Tüte Rosinen als Belohnung einem Nachbarsjungen, der ihn gleich morgen früh zum Rathaus bringen sollte. Wieder in seiner Wohnung dachte Adam über diesen Heinrich nach. Vor seinem geistigen Auge erschien die leicht gebeugt am Pult stehende Gestalt, aufmerksam schreibend, ohne auch nur ein einziges Mal nachzufragen. Im Grunde wünschte er sich, ihn nie wieder zu sehen. Letzten Endes aber bin ich, sagte er sich, selbst schuld, denn sicher würde der Kerl noch immer den Peterskirchhof auf und ab humpeln, hätte ich mich ihm nicht zugesellt. Er musste lachen, als er sich dieses Bild vorstellte, ja hatte er nicht sogar selbst zu humpeln begonnen wie der Deibel persönlich! Und dann war da auch noch diese Ahnung, ihn bereits einmal gesehen zu haben. Er legte das Figürchen zur Seite, kleidete sich aus und ging zu Bett. Was für ein Tag!

Heinrich scheucht seinen Stubengenossen hinaus ins Freie und wirft sich auf sein Lager. Sein Herz rast wie wild, der kalte Schweiß bricht ihm aus. Nichts mehr ist wie zuvor, ja es scheint ihm absolut unglaublich, dass noch gestern Abend, ja sogar am frühen Morgen des selben Tages sein Leben ein vollkommen anderes gewesen ist. Bis zu dem Augenblick, als ihm Gott oder der Teufel dieses Flugblatt vor die Füße legte. Ich habe, sagte er immer wieder zu sich, Adam Bernd gefunden. Ich habe ihn gefunden! Nun endlich hatte dieser Name ein Gesicht, einen Leib, es gab ein Haus, in dem dieser Mensch wohnte, eine Kirche, in der er predigte. Nicht auszudenken, er wäre nach Breslau gereist, während Adam Bernd hier in Leipzig ein berühmter Mann ist! Er sprang wieder auf. Er musste seinen Plan verbessern, jetzt, wo sein Feind gefunden war! Und hatte dieser nicht gesagt, er wolle sich bei ihm melden, wenn er ihn als Schreiber benötige? Ha! Die Mühe wollte er ihm abnehmen. Er würde ihm nicht mehr von der Pelle rücken, nie wieder, bis er ihn genau dort haben wird, wo er ihn haben wollte! Das stand fest, das war sicher wie das Amen in der Kirche. Heinrich begann auf und ab zu gehen, humpelnd, ohne es zu bemerken. Zunächst ist es notwendig, überlegte er, sein Vertrauen zu gewinnen. Gut möglich, dass dann so einiges ans Tageslicht käme, das gut zu gebrauchen wäre wider den Prediger. Er erinnerte sich an eine Schrift, die er vollständig abgeschrieben hatte. Doch wo fand sich diese verfluchte Abschrift jetzt? Er durchwühlte all seine Papiere, und tatsächlich, da lag sie. Gründlicher und wahrhaftiger Bericht von Johann Balthasar Kelterborns Leben und jämmerlichen Ende, das beste Exempel für einen lebensmüden Menschen, das er über die Jahre gefunden hatte. Wieder und wieder hatte er sich darin vertieft, hatte Kelterborn bei seinem Niedergang begleitet, ihn seines ungelenken Versuchs wegen, sich mit dem Messer zu entleiben, anfangs noch fast bemitleidet, dann aber kein Mitleid mehr empfunden, als der Melancholiker nackt und bloß, Kleidung und Degen fein säuberlich am Ufer zurücklassend, ins Wasser ging. Da konnte jener Pfaffe, der den Bericht verfasst hatte, Wineker geheißen, schreiben wie und was er wollte, eine Verwirrung des Verstandes behaupten oder den Teufel bemühen, der sich im Herzen seines Opfers festgesetzt haben musste. Er, Heinrich, würde kein Mitleid haben, mit keinem dieser Selbstmörder! Die Krux an der ganzen Sache war allerdings, dass in diesem Fall wieder nicht ein Prediger Selbstmord begangen hatte, sondern sein Schützling. Davon, dass dieser Wineker selbst Angst hatte sich umzubringen, war nicht die Rede.

Er überlegte weiter. Jener Kelterborn hatte seine Frau verloren, war der Melancholie verfallen, allen Lebensmutes verlustig gegangen, und am Ende hatte nicht einmal die Fürsorge des Predigers die Selbsttötung verhindern können. So gut das Exempel auch sein mochte, die Frage, ob der Selbstmörder Ängste ausgestanden hatte, weil die Selbsttötung eine Sünde ist, war ungeklärt geblieben. Und außerdem, Heinrich las sich wieder fest, litt der Arme an Einsamkeit, und das traf auf Adam Bernd wohl eher nicht zu. Ihn also doch konfrontieren mit der Wahrheit und die Schriften Schriften sein lassen? So gut war sein Plan wohl doch nie gewesen, wenn er jetzt nicht einmal wusste, wie beginnen. Sein Stubengenosse polterte plötzlich mit einem Weibsstück herein. Als sie Heinrich sah, wollte sie gleich wieder verschwinden, doch er machte ohne ein Wort Platz und ging hinaus.

Die Gasse lag wie ausgestorben da, kein Mensch war zu sehen. Es musste bereits spät sein. Da blieb nur noch der Hintereingang einer Schenke. Am nächsten lag der Goldene Hahn im Goldhahngäßchen, nicht weit von der Nikolaikirche. Dort hatte er immer Kredit, eine Hand wusch die andere. Doch war dies auch der Ort, wo er bei einer Generalvisitation im Dezember nur knapp einer Festnahme entgangen war, als am frühen Morgen die Landmiliz das Haus gestürmt hatte. Das arme Mädchen, mit dem er zusammengelegen hatte, eine Göre aus Berlin, wurde wie so viele andere aufs Rathaus gebracht. Zum Glück wusste sie seinen Namen nicht. Eine Weile hatte er eingeklemmt hinter einer Wandverkleidung gehockt und war dann durch den Keller verschwunden. Die Stadt war für Wochen allerdings wie durch die Sintflut gereinigt gewesen, und natürlich verlangten die wenigen Huren, die nicht gefunden und in Haft gebracht worden waren, Unsummen und waren mit Versprechen nicht zu ködern. Nun ja, dachte Heinrich, es würde nicht gerade heute, nachdem er ziemlich lange nicht dort gewesen ist, wieder dazu kommen. Eine unbegründete Angst, sagte er sich. Und ein kleines Hürchen, wenn auch nie wieder eine Schwangere, da war er weiß Gott geheilt, müsste dort doch wohl aufzutreiben sein, zur Feier des Tages.

Johann Chantin öffnete ihm auf sein Klopfen hin persönlich die Tür, wie immer ohne ein Wort. Es roch nach Kohlsuppe, nach schlechtem Tabak und Branntwein. Musiziert wurde nicht. Das am Tage offene Branntweingewölbe war mit Holzläden zur Gasse hin verschlossen und lag im Dunkeln. Alles hatte sich in der angrenzenden kleinen Schankstube versammelt. Der Wirt ging voraus und verschwand die Treppe hoch. Bald schon kam er mit einem kleinen Fässchen Branntwein zurück, das er allein für sich und besondere Gäste unter seinem Bett aufbewahrte. Heinrich überlegte, ob er Johann die Sache mit Adam Bernd erzählen sollte. Eher nicht, beschloss er. Aber die Sache mit der Hure in der Peters-Kirche, die wollte er auf jeden Fall zum Besten geben, denn die Angelegenheit war letztlich, mit trockener Hose, doch ausnehmend komisch. Kaum aber saßen sie im hintersten Winkel, kaum hatte der Wirt den Korken aus dem Fass gezogen, entdeckte Heinrich das Weibsbild aus der Kirche. Wie klein doch die Welt ist! Sie stand in einer Ecke mit diesem Tischler, mit dem er sie heute auf dem Peterskirchhof gesehen hatte. Wieder nestelte sie an seinen Hosen herum. Der Arme war knallrot.

Eine gute Stunde später umfasste die Gesellschaft kaum noch ein Dutzend mehr oder weniger seltsame Gestalten, darunter vier Frauen. Man trank und sprach miteinander, stritt auch mitunter, ohne dass Chantin auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. Notfalls, das wussten alle, schlug er die Kontrahenten nieder und verfrachtete sie ins Freie. Dass aber jetzt noch, zu so später Stunde, gleich vier Frauen unten waren, gefiel dem Wirt keineswegs, denn so verdiente er nichts. Auch diese Monique benötigte heute einige Zeit, obwohl dem jungen Kerl fast die Hosen platzten, von seinem Kopf mal ganz abgesehen. Einige Male hatte er bereits versucht, ihr Zeichen zu geben, doch sie reagierte nicht. Turteln sollten die Beiden woanders, es wurde Zeit, dass sie das Bengelchen bei der Hand und mit nach oben nahm, um ihm so viele Taler wie möglich aus dem Beutel zu leiern.

Monique und der Tischler setzten sich an einen frei gewordenen Tisch. Sie flüsterten. Heinrich verstand jedes Wort.

„Du kennst ja nun die ganze Geschichte, Monique“, hörte er den jungen Mann sagen, „und weißt, dass wirklich ich es war, der diesen Adam Bernd zum Prediger der Peters-Kirche gemacht hat! Ich und kein anderer hat dafür gesorgt, dass er buchstäblich in ihr hängen blieb. An einem Nagel.“

Sie lachte ihm kopfschüttelnd ins Gesicht. Sie glaubte ihm nach wie vor kein Wort, da konnte er seine Heldentat noch so oft erzählen. Mit jedem anderen wäre sie längst auch schon oben gewesen und hätte den Rock gehoben. Doch mit dem schönen Tischler, das hatte sie längst beschlossen, sollte es anders laufen, auch wenn Chantin ihr böse Blicke zuwarf und das Kinn reckte.

Heinrich wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Was mochte das heißen, Adam Bernd sei wegen des Tischlers buchstäblich hängen geblieben? An einem Nagel! Als er vom Pinkeln aus dem Hof zurückkam, sah er Monique und ihren Schwarm statt die Treppe hinauf in den Keller hinunter verschwinden. Johann sagte er nichts davon und ließ sich noch ein Glas einschenken. Eine halbe Stunde später verließ er die Schenke. Nach einer Hure war ihm nicht mehr zumute.

„Komm mit, Gregor“, rief Monique leise.

Er folgte ihr die Treppe hinunter. Es war weder kalt noch feucht im Keller, eher trocken und muffig. Monique ging mit einer Kerze voraus. Ein großes Lager guten Weines, sagte sie, auf Flaschen gezogen, wolle sie ihm zeigen.

„Der Kretschmar ahnt nicht“, sagte sie lachend, dass sie davon wisse. Sie habe vor einigen Wochen mit einer Freundin, auch aus dem Hause, fast einen ganzen Tag hier verbracht, als alles zu einer Hinrichtung gelaufen war. Drei Flaschen habe man zur Feier des Tages geköpft, oder waren es vier gewesen? Sie gingen einen langen Gang entlang, ein paar Schritte eine Treppe hinunter, und schon standen sie in einem großen Raum, der wahrscheinlich, so dachte Gregor, zum Nachbarhaus gehören musste.

Zur gleichen Zeit wälzt sich Adam Bernd schlaflos hin und her. Trotz des kurzen Spaziergangs, den er, sich zu beruhigen, gemacht hatte. Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet, dachte er immer wieder. Endlich hatte er ein Amt inne, doch nun wollte die Freude darüber einfach nicht kommen. All das Hoffen, jahrelang, die Mühen des Schreibens und des Unterrichtens, all die kleinen und großen Krankheiten, die Ängste, die er hat ausstehen müssen. Vergebens gewesen war es immerhin nicht! Die Gemeinde hatte heute an seinen Lippen gehangen, selbst die sonst immer frech plappernden vornehmen Herren waren still gewesen – doch das einzige, das immer wieder vor seinem geistigen Auge erschien, war das Gesicht dieses Heinrich Daubenfuß. Wer war dieser Kerl? Was wollte er von ihm? Hatte er, auf- und abgehend, auf ihn gewartet, Stunde um Stunde? Um was zu tun? Nun, zunächst mal war er in Ohnmacht gefallen, wie bereits mehrmals während der Predigt, und dann eine Weile wie benommen und kaum ansprechbar gewesen. Sollte das nur gespielt, Betrug gewesen sein, um sich ihm als Schreiber vorstellen zu können? Wäre er mir einfach vor die Füße gelaufen, überlegte er weiter, hätte ich ihn sicher nicht lange angehört. Allein schon die Art, sein Gegenüber frech und kalt anzusehen, als sei er auf Streit aus, als müsse ein falsches Wort, ein falscher Blick zu Handgreiflichkeiten führen, war schwer zu ertragen. Ja, das war es, dieser Täubenfüßer schien auf Streit aus zu sein! Doch zur rechten Zeit würde er sich zu wehren wissen, beschloss er, und über diesem Gedanken beruhigte er sich endlich.

Mit einem Male aber stand ihm ein Bild vor Augen: Ein Gasthaus, in dem er eine Mahlzeit einnimmt, während am Nebentisch sich Streit anbahnt. Ja, das war es! Er war an den Tisch getreten und hatte die beiden Männer zu Ruhe und Eintracht gemahnt, einen saufenden dicken und einen feisten, frechen und wie ein Scheunendrescher fressenden Kerl. Das musste zehn Jahre her sein! Er warf die Bettdecke zur Seite, schwang sich aus dem Bett und trat zum Fenster. Unten in der Gasse war niemand zu sehen, doch würde es ihn gewundert haben, wenn dort ein Täubenfüßer auf und ab humpeln würde? Er rückte, einem plötzlichen Einfall folgend, sein Stehpult ans Fenster und entzündete eine kleine Lampe. Dann suchte er einen passenden Gänsekiel, fand einen passenden und setzte an. Er würde versuchen, das Gesicht dieses Kerls zu zeichnen. So etwas konnte helfen, so hatte er gelesen, schlimme Vorstellungen zu bannen. Zunächst versuchte er, die kleinen, verkniffenen Äuglein hinzubekommen. Das machte ihm Schwierigkeiten. Er war nie gut gewesen in der Zeichenkunst. Die Nase geriet zu groß, der Mund zu klein, auch die Form des Kinns wollte nicht gelingen. Er knüllte das Blatt zusammen und nahm ein neues. Sein Blick fiel auf das am Rand des Pults liegende Teufelsfigürchen. Er nahm es in die Hand und hielt es ins Licht. Wenn er die Hörner wegließ, überlegte er, dann war da durchaus eine gewisse Ähnlichkeit, so dass am Ende womöglich das Antlitz Heinrichs erscheinen müsste. Oder? Nun denn, sagte er sich, probieren wir es aus.

Monique und Gregor tranken Weißwein aus einer Flasche ohne Aufschrift. Ihm war mulmig zumute. Zum ersten Mal war er im Goldenen Hahn, und schon drang er heimlich mit einer Frau in den Weinkeller ein. In einer Woche würde er seinen Gesellenbrief bekommen. Wenn er aber zuvor als saufender Einbrecher erwischt würde, wäre es Essig damit, das war ihm klar. Monique kümmerte sich nicht um irgendwelche Einwände seinerseits. Sobald es im Haus ruhig sei, erklärte sie, wolle sie ihn mit auf ihre Stube nehmen, die direkt über der Gastwirtschaft lag. Der Weinkeller hatte zwei Türen, eine kleine, durch die sie eingetreten waren, und eine große, zweiflügelige, dort drüben, die in den Hof führte, von dem aus man über eine Stiege zu ihr hinauf käme. Gregor überlegte, ob er Monique nicht mit zu sich nehmen sollte, doch das war wohl keine gute Idee, nicht nur weil seine Stube direkt neben dem geheimen Ort lag und es dort oft stank, sondern auch, weil er dann mit ihr durch die halbe Stadt gehen müsste. Er nahm noch einen tiefen Schluck. Er war nervös, sein Magen rumorte und sein Kopf glühte. Sollte es also, dachte er, in dieser Nacht geschehen, zum ersten Mal?

Er reicht ihr die Flasche, doch sie schüttelt ernst den Kopf. Eine Weile schweigen sie, dann aber nimmt sie einen tiefen Schluck, stellt die Flasche neben sich auf den Boden und ergreift Gregors Hände.

„Gregor“, sagt sie in ihrem eigentümlichen Akzent, „es ist so, versteh das nicht falsch, der Wirt, Johannes, verlangt einen Obolus, wenn ich einen Mann mit auf meine Stube nehme. Ich werde morgen etwas in die Kasse legen, verstehst du, denn er hat uns zusammen gesehen.“ Sie war knallrot geworden. Wusste, begriff er, dass sie eine Hure ist, so war es absolut überflüssig, ihm dies zu sagen. Er würde lachend seinen Geldbeutel zücken und ihr vor die Nase halten. Doch nichts dergleichen geschah. Gregor rührt sich nicht und schweigt.

„Wir wollen gehen“, sagt er endlich leise, doch als Monique aufsteht, die Kerze nimmt und zur großen Tür geht, bleibt er sitzen. Vorsichtig tut sie Schritt um Schritt, die Kerzenflamme mit der Hand abblendend. Die Tür ist verschlossen.

„Potzdeibel“, ruft sie, merde, merde, merde!“

Die reinste Papierverschwendung. Beim fünften, sechsten Versuch mochte immerhin alles soweit stimmig sein. Die Augen, die Nase, selbst der Mund. Doch nun wirkte des Täubenfüßers Antlitz wie das eines Mädchens. Zu weich, ja, der Blick zu zärtlich, ohne auch nur den Anschein einer bösen Absicht. Wenn dieser Kopf, dachte Adam, statt des raspelkurzen Haares langes Haar trüge, wäre die holde Weiblichkeit perfekt. Penibel begann er, Locke um Locke zu zeichnen, umkräuselte das Gesicht mit höchster Sorgfalt, und lag es am Licht der Lampe, an seiner Müdigkeit, bald war ihm, als verlebendigten sich mit jedem Strich, mit jedem Haar, das er dazu gab, die Augen, scheu sahen sie ihn an, zurückhaltend, lächelnd fast.

„Emilia!“, rief er, „ um Gottes willen!“ Er hatte, statt dieses bösartigen Kerls Emilia gezeichnet! Stein und Bein hätte er geschworen, kein Bild mehr vor ihr in sich zu tragen. Mit der Zeichnung in der Hand steht er nun da, ein wenig zitternd, Adam Bernd aus Breslau, Prediger und Oberkatechet der Peters-Kirche in Leipzig, und starrt dieses Gesicht an. Was konnte das bedeuten?

„Die Tür zum Hof ist verschlossen“, sagt sie, „wir müssen durch das Haus.“

Gregor nickt, erhebt sich mühsam, stellt die Flasche neben ein großes Fass und geht hinter ihr her. Wenn ich sie nun doch mit zu mir auf die Stube nehme, überlegte er. Ja, das würde er tun, er würde Monique mitnehmen! Gleich schon stünde man im Flur des Hauses, dann wollte er sie fragen, das nahm er sich fest vor. Aber auch die Tür zum Flur war verschlossen. Sie gingen zurück und suchten nach dem Schlüssel für die Hoftür, alles leuchteten sie ab, doch vergebens. Er sei doch Tischler, er könne doch sicher das Schloss öffnen, flehte sie ihn an. Doch wie sollte er das machen, ganz ohne Werkzeug! Was also tun? Krach schlagen und sich erwischen lassen als ein Dieb? Er dachte an seinen Gesellenbrief, das Fest und seinen neunzehnten Geburtstag. Monique kramt derweil in den Ecken herum.

„Mach schon, hilf mir“, sagt sie. Als alles fertig war, ein Bett aus Kästen mit einigen Lagen alter Säcke als Matratze, strahlt Monique ihn an.

„Darf ich also bitten, Monsieur“, sagt sie leise, „die Bettstatt ist gerichtet.“

DER KONTRAKT

Ende Mai. Die Sonne steht hoch am Himmel, es ist warm. Heinrich folgt Adam Bernd, der Richtung Peters-Kirche geht. Hinter einem Fuhrwerk stehend sieht Heinrich ihn mit dem Kupferschmied vor dessen Haus sprechen. Bald schon gesellt sich ein Mann aus dem angrenzenden Provianthaus zu ihnen und schließlich der junge Tischler mit dem Zopf. Gregor. Er begrüßt den Prediger herzlich. Ob der Prediger weiß, was der Kerl über ihn und den Nagel erzählt? Zu hören war nicht viel, der Wind stand schlecht, aber es ging offensichtlich um die Bauarbeiten. Schließlich verabschiedete sich Adam von den drei Männern, die beisammen stehen blieben, und spazierte langsam, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, durch das Peters-Tor, wandte sich nach links und ging, nun aber stramm ausschreitend, an Graben und Stadtmauer entlang. Heinrich folgte. Er hatte nicht eigentlich einen Plan. Gut wäre es aber, er träfe Adam Bernd unversehens wie zufällig und verwickelte ihn in ein Gespräch, an dessen Ende im besten Falle eine Art von Kontrakt stehen würde, regelmäßig als dessen Schreiber tätig zu werden.

Er wird, denkt Heinrich, zum Zuchthaus wollen, nicht weit vor dem Grimmaischen Tor. Oder zum Lazaretthaus. Er sah den Prediger um die Ecke eines dieser neuen großen Häuser verschwinden, wie sie zusehends in den Vorstädten entstanden. Heinrich beschleunigte seine Schritte, doch als er den Platz zwischen dem Zucht- und dem Lazaretthaus vor sich hatte, war niemand zu sehen. Was tun? Bald kommt aus dem sechseckigen Turm des Lazaretthauses eine Magd mit einem großen Krug, sieht kurz zu ihm hin und verschwindet wieder, während hinter dem Haus eine schnell fahrende Kutsche auftaucht, die Richtung Tor unterwegs ist. Irgendwo kräht ein Hahn, ein Hund kläfft, eine weitere Kutsche mit zwei vornehmen Damen, wohl auf dem Weg zu einer Landpartie, allein, ohne Begleitung eines Herrn. Aus dem Zuchthaus ein Schrei, kurz nur, wie zufällig. Am Himmel keine Wolke.

Wo, denkt Heinrich der Täubenfüßer, sich den Schweiß von der Stirn wischend, wo zum Teufel ist er hin! Er stand hier wie auf dem Präsentierteller, und wer weiß, womöglich wurde er vom Prediger bereits beobachtet. Sein Plan, ihn wie zufällig zu treffen, wäre obsolet. Er würde zugeben müssen, ihm gefolgt zu sein. Offen um die Stelle eines Schreibers bitten, aus Not, aus Ermangelung anderer, ehrlicher Arbeit, die ihm den Lebensunterhalt sichern könne. Ein Armenadvokat, der ihm bekannt vorkommt, eilt, plötzlich wie aus dem Nichts auftauchend, an ihm vorbei. Er grüßt, Heinrich nickt ihm zu, zugleich tritt ein Wachmann des Zuchthauses ins Freie, lässt den Advokaten hinein und mustert Heinrich finster über den Platz hinweg, spuckt schließlich aus und schließt die schwere Tür hinter sich. Sollte er einfach fragen, den Erstbesten, ob der Oberkatechet und Prediger der Peters-Kirche, Adam Bernd, im Hause sei. Da aber hört er aus all dem Klagen, Husten und Jammern, das aus den Fenstern des Lazaretts sickert, ein Gespräch heraus. Zwei Männer unterhalten sich und, kein Zweifel, eine der Stimmen war die des Predigers. Heinrich ging halb um das Lazarettgebäude herum, ein Fenster im zweiten Stock stand offen.

„Ich bringe Euch zu ihm“, hörte Heinrich die fremde Stimme laut und deutlich, „aber seid darauf gefasst, einen elenden Menschen zu sehen, der zum wiederholten Male Gottes Gebote verletzt hat – ich habe wenig Hoffnung.“ Adam Bernd erwiderte, es sei nur wichtig, dass er allein mit dem Kranken bleibe und nicht gestört werde. Daraufhin verließen die beiden Männer offensichtlich die Stube. Heinrich trat hinter einen Baum, einer in zwei Stämme aufgespaltenen, verwachsenen Eiche, und als er schon dachte, die Stimmen verloren zu haben, öffnete sich im ersten Stockwerk ein Fenster. Ein älterer Mann mit hellgrauem, dünnen Haar erschien kurz und sah hinaus. Kurz darauf hörte Heinrich wieder Adam Bernd, er sprach salbungsvoll, langsam und leise.

„Beschreibe mir, mein Sohn“, hörte er ihn sagen, „deine Seelenpein. Sage mir, auf welche Weise sich der Teufel in deinem Herzen einnistete.“ Nach einer Weile wiederholte der Prediger das Gesagte noch einmal wörtlich, doch sein Gegenüber schien nicht antworten zu wollen. Dann stellte er die Frage zum dritten Mal, ohne jeden Anflug von Ungeduld. Wieder Schweigen. Kurzentschlossen stieg Heinrich in die Eiche hinein und kletterte bis auf die Höhe des Fensters. Der Raum lag in einem Dämmerlicht, nichts war zu erkennen. Zu hören war nur das Atmen zweier Menschen. Sie atmeten, wie Heinrich bemerkte, gegeneinander. Atmete der eine aus, so atmete der andere ein. Ein langsames Hin und Her. Dann aber änderte sich dieses Atmen, fast unmerklich zunächst, doch es glich sich ohne Zweifel nach und nach an. Schließlich war der Atem so gleichförmig, dass nur ein Mann in der Stube zu sein schien. Heinrich erschrak, als Adam Bernd erneut seine Frage stellte. Diesmal antwortete der andere mit leiser, unruhiger, ein wenig schwankender Stimme.

„Es kommt über mich“, sagte er, „von einem Augenblick zum nächsten. Nicht ins Herz springt der Teufel, nein, im Kopf sitzt er, er spricht zu mir, mit deutlichen Worten. Dann tue ich, wie der Teufel mir geheißen.“ Kaum hatte der Kranke das gesagt, stand Adam Bernd urplötzlich am Fenster und sah hinaus. Direkt zu Heinrich, wie es schien – doch das frische, hellgrün leuchtende Blattwerk verbarg ihn offensichtlich, denn der Prediger wandte sich wieder dem Kranken zu. Des Täubenfüßers Herz raste.

„Mit welchen Worten spricht der Teufel zu dir“, fragte er leise.

„Sieh hinunter, sagt der Teufel“, erwiderte der andere bald darauf kaum hörbar, „und siehe deinen sündigen, kranken Leib dort unten im Hof liegen, zerschmettert, aber der Pein und aller Sünden ledig. So sprach der Teufel immer und immer wieder zu mir. Doch er betrog mich, denn ein jedes Mal erwachte ich in einer Kammer wie dieser, mit Schmerzen und weiteren Sünden beladen. Warum hilft der Allmächtige mir nicht? Sagt es mir! Warum ist da einzig der Teufel, der zu mir spricht?“

Adam Bernd fühlte sich unwohl, ja mehr als das, ihm war elend zumute. Bin ich nicht, dachte er, selbst oft kurz davor gewesen, mich aus dem Fenster zu stürzen, die Seele willig dem Beelzebub zu überlassen. Gott weiß, wie viel Anstrengung es mich gekostet hat, überlegte er weiter, mir klar zu werden, dass vieles, was dem Teufel zugeschrieben wird, nur Wahnvorstellungen sind, wie auch Martin Luther sie wohl gehabt haben musste, als er meinte, mit dem Verderber selbst zu streiten. Mit aufgeklärten Studenten hatte er oft unter vier Augen über dererlei Dinge gesprochen. Einem armen Toren wie diesem gescheiterten Selbstmörder aber von der Seele zu sprechen und ihm zu sagen, diese habe ihren Hauptsitz im Gehirn, sich also etwas gegen den Teufel erreichen ließe durch klares Nachdenken, würde nicht angehen. Zu armselig im Geiste sind die meisten der einfachen Leute. Was also tun, was sagen? Wieder trat er, den Kranken mit einem milden Blick streifend, ans Fenster, wieder blickte er in das frühlingshafte, hellgrün leuchtende Blätterwerk des Baumes, und auch diesmal zuckte er nicht einmal mit der Augenbraue. Dann schloss er das Fenster und wandte sich seinem Kranken zu. Heinrich Daubenfuß hatte er schon beim ersten Mal gesehen, wie er dort im Baum hockte wie ein Verrückter. Was wollte dieser Kerl bloß von ihm? Sollte ich, dachte er, wirklich Angst vor ihm haben müssen?

Der Prediger sprach mit einem, der sich in die Tiefe gestürzt hat! Je mehr der Prediger, dachte Heinrich, über die Selbstentleibung erfuhr, über den Wahnsinn, dem die Menschen verfielen, desto größer mochte seine Angst werden, diesem Zustand selbst zu verfallen. Auch ein Theologe ist ein Mensch wie jeder andere. Gut möglich, dachte Heinrich erregt, dass alles leichter als gedacht werden würde, dieser Adam Bernd ohne großen Aufwand seinerseits zu einem Sack Elend wird, wie er es verdient hat! Er hörte noch eine Weile zu, bekam aber wegen des geschlossenen Fensters nicht alles mit, insbesondere der Kranke sprach sehr leise. Auch erkannte er in dem, was Bernd sagte, bald die üblichen Sprüche, die ihm selbst aus vielen Schriften bekannt waren und die der Prediger salbungsvoll hersagte.

Heinrich kletterte hinunter. Dem Prediger wie zufällig über den Weg laufen konnte er auch morgen noch. Nun wollte er sich die Schriften über den Suizid noch einmal ansehen und auch die Berlinische Ordinaire Zeitung heraussuchen, die sein Bibliothekar ihm neulich zugesteckt hatte, denn darin war von einem Priester die Rede, der sich das Leben genommen hatte. Das erste Exempel dieser Art, das in all den Jahren zu finden gewesen war.

Zehn Minuten später saß Heinrich auf einem Begrenzungsstein unter einem Baum und fluchte vor sich hin. Er durfte, so eine Hundsfotterei, nicht hinein! Das Peters-Tor war ihm versperrt. Eine Laune des Torwächters. Sicher spekulierte er, am hellichten Tag, auf einen Torgroschen. Wütend stampfte Heinrich mit dem Fuß auf. Es war der selbe Wächter, der Jean, das Schwein, vor Jahren festsetzte, als dieser den Regimentspfeifer erdolcht hatte. Heinrich hatte ihn damals ins Rathaus hineingehen sehen, wo das Gericht abgehalten worden war. Sollte dieser ihn kennen und ihn wegen seiner Bekanntschaft mit Jean nicht hereinlassen wollen? Er konnte ein anderes Tor oder eines der Pförtchen nehmen, doch die Genugtuung wollte er dem Wächter nicht geben. Er stand auf, schritt entschlossen auf den Kerl zu und brachte sich in Positur. Bauch rein, Brust raus. Er musste, das war ihm klar, bei seiner ersten Version bleiben. Er sei der Herr Daubenfuß und müsse hinein, um für seinen Auftraggeber eine Besorgung zu machen, außerdem wohne er selbst in der Stadt. Der Wächter lachte ihn aus und maß ihn abschätzig von oben bis unten.

„Es handelt sich bei meinem Herrn“, sagte Heinrich so ruhig wie möglich, „um den Prediger der Peters-Kirche, Adam Bernd. Dieser wird sehr ungehalten sein, wenn er erfährt, was hier vor sich geht! Das wird Euch das Amt kosten.“

Sein Gegenüber verfiel in ein keuchendes Lachen.

„Ein Hurer bist du“, rief er endlich glucksend und hustend, „hat man so etwas schon einmal gehört! Such dir ein anderes Tor, Kerl, hier geht’s nicht hindurch!“

Der Torwächter erkannte in dem aus Richtung des Lazaretts  Näherkommenden Adam Bernd. Das muss wohl ein seltsamer Zufall sein, dachte er und sprach dienstbeflissen den vollkommen in Gedanken versunkenen Prediger an. Ob dieser Bettler dort, er wies mit dem Kopf zu dem Baum und dem dort Hockenden hinüber, der sich Daubenfuß nenne, für ihn arbeite, denn dies behaupte er. Aus seinen Gedanken gerissen sah Adam den Wächter verständnislos an und blickte dann hinüber zu Heinrich, der, von der Erwähnung seines Namens aus seinen wilden Racheträumen gegen den Torwächter gerissen, ihn mit großen Augen anstarrte.

„Ja“, sagte Adam schließlich leise, als er begriffen hatte, um was es wohl gehen musste, „das ist einer meiner Schreiber. Hat er sich etwas zuschulden kommen lassen?“

Ihn in meiner Nähe zu haben wird das Beste sein, überlegte Adam, als er mit Täubenfüßer, der sich ihm schweigend zugesellt hatte, das Tor durchschritt. Er macht partout keinen besessenen Eindruck, dachte er, Heinrich aus dem Augenwinkel beobachtend, doch ihn in diesem Baum vor dem Fenster des Lazaretts hocken zu sehen, war absonderlich gewesen. Sollte er ihn deswegen zur Rede stellen, ihn fragen, ob er ganz gezielt das Gespräch zwischen ihm und diesem Selbstmörder belauscht hatte? War er auf ihn angesetzt, beauftragt von seinen Gegnern aus dem Stadtrat oder gar aus der theologischen Fakultät? Es war ein offenes Geheimnis, dass diese Dinge geschahen, und nicht einmal selten. Nun, das wäre ein weiterer Grund, seinerseits Heinrich nicht aus den Augen zu verlieren. An dem lang gehegten Plan, eine Schrift zur Selbstmörderei zu verfassen, würde er auf jeden Fall festhalten. Als Oberkatechet und Prediger der Peters-Kirche konnte er ohne Zweifel eine größere Wirkung und Abschreckung erreichen, als ihm dies zuvor möglich gewesen war als ein Theologe ohne Amt, selbst wenn ich, dachte er nicht ohne Genugtuung, durchaus seit Jahren schon bekannt bin in Leipzig meiner Predigten wegen. Die über das Übel des Selbstmords, die er in den letzten Jahren mal hier und da gehalten hatte, war besonders erfolgreich gewesen. Viele hatten ihn darauf angesprochen. Und was würde es da schon ausmachen, wenn die Schrift durch die Spitzelei dieses Täubenfüßers der theologischen Fakultät im Vorhinein bereits bekannt wurde! Konnte das nicht sogar die beste Werbung sein? Viele Schriften zu diesem Thema waren im Umlauf, auch gute, und niemand sprach ihnen die dringende Notwendigkeit ab. Meine Schrift zu diesem Übel aber soll, dachte Adam, eine Wirkung haben wie noch keine zuvor! Er fragte Heinrich also rundheraus, kaum dass sie den Peterskirchhof überquert hatten, ob er als Schreiber zu fungieren bereit wäre, er wolle eine Schrift über das Übel der Selbstmörderei verfassen. Heinrich sackte weg. Wie oft, fragte sich der Prediger, wollte dieser Mensch eigentlich noch in Ohnmacht fallen?

Nach einem Kaffee und einem Schnaps war Heinrich wieder bei Sinnen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte herauszubekommen, wo er war. Nein, er kannte dieses Kaffeehaus nicht, es musste wohl eines der besseren sein. Unter der offenen Türe entdeckte er den Prediger, der scherzend mit einem jungen Mann sprach. Kurz darauf ließ ihn der Prediger mit einer Sänfte nach Hause bringen. In seiner schäbigen Stube angekommen suchte Heinrich nach der Ausgabe der Berlinischen Ordinairen Zeitung. Er hatte sie versteckt, denn neuerdings wischten sich hier alle den Hintern mit Papier ab, weil sie das vornehm fanden. Endlich entdeckte er sie in einem Umschlag unter einem alten Sattel, den er kürzlich in der Pleiße gefunden hatte, direkt am Barfüßerpförtchen war das gewesen, wo oft altes Zeug lag. Auch eine zerfledderte neuzeitliche Ausgabe der Constitutio Criminalis Carolina musste hier irgendwo liegen. Aber das hatte Zeit. Der Artikel über den selbstmörderischen Prediger war jetzt wichtiger. Bei der erstbesten Gelegenheit würde er ihn Adam Bernd unter die Nase reiben.

Am nächsten Tag ließ der Prediger ihn durch den Rosinenjungen für den Abend rufen. Heinrich überflog den Zeitungsartikel aus der Berlinischen noch einmal. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, das Gespräch darauf zu bringen und den Artikel vorzulesen. Wenn nicht würde er ihn unter die Papiere des Predigers legen und auf den Zufall hoffen. Er würde sehen. Auf- und abgehend las er ihn noch einmal probeweise laut:

„Nieder-Elbe, den 20. August des Jahres 1711. Wie man aus Holland vernimmt, so ist der Leichnam des unlängst in seinem Arrest sich selbst erhenckten Prediger Valcks zum allgemeinen Spektakel aus dem Gefängnis auf die Gasse herabgeworfen, auf eine Schleife gelegt und durch die Straßen nach dem Hafen geschleppt worden, sodann in ein Fahrzeug geworfen, an die Nord-See geführt, und daselbst mit zwei großen Gewicht-Steinen beschwert ins Wasser gesenkt worden, weil er seines schändlichen Verbrechens und damit verknüpften Selbstmordes halber nicht würdig gewesen, von der Erde bedeckt zu werden.“

Nun, das war die ganze Meldung, doch sie würde ihre Wirkung nicht verfehlen. Allerdings war er nicht zufrieden mit dem Ton seines Vortrags, er hatte das Gefühl, seine Stimme bebe beim Lesen. Auf keinen Fall durfte Adam Bernd bemerken, wie wichtig ihm, der so lange Jahre auf die Rache für seine Schwester gewartet hatte, das alles war. Unter Umständen würde es doch besser sein, das Blatt unter die Papiere des Predigers zu legen.

Am Abend fand Heinrich einen müden Adam Bernd in dessen Wohnung vor, doch der erhob sich sofort und ging auf ihn zu, ihn herzlich zu begrüßen.

„Ich habe beschlossen“, sagte er ohne Umschweife, „die geplante Schrift sofort und ohne jeden Verzug anzugehen. Sie soll schlicht heißen ‚Über den Selbst-Mord‘. Alleiniger Schreiber werdet ihr sein, Herr Daubenfuß.“ Die beiden Männer gaben sich die Hand und sahen sich in die Augen, der Kontrakt war geschlossen. Dieses Mal fiel Heinrich nicht in Ohnmacht, ganz im Gegenteil, er fühlte sich seltsam belebt, so als durchströme frisches, heißes Blut seine Adern.

MEISTER URIAN

Das muss, dachte Heinrich, der mit einem Lächeln aus dem Haus des Knopfmachers in die frische Abendluft trat, gefeiert werden! Auf also in den Goldenen Hahn. Zwar durfte er niemandem Genaues erzählen, doch dem Mann als Schreiber zu dienen, der in aller Munde war, ist so oder so eine gute Sache. Eine sehr gute! Und dass Adam Bernd eine Schrift zum Übel des Selbstmords verfassen wollte, war noch besser. Als schaufele er sich sein eigenes Grab! Er machte sich auf den Weg zum Goldhahngäßchen. Bald, dachte er, würde er auf die genaueste Weise erfahren, wie der Prediger zur Sünde des Selbstmords stünde. Er stieß die Tür zum Goldenen Hahn auf. Nur wenige Gäste. Johann Chantin, der mit seinem Privatfässlein angelaufen kam und ihm Schnaps in ein großes Glas goss, sah ihn seltsam an.

„So betrübt, mein Freund?“, fragte er. Heinrich zuckte mit den Achseln und nahm einen tiefen Schluck. Und dabei hatte er doch feiern wollen.

Viele Schenken in Leipzig hatten nur bis zur elften Stunde geöffnet, so dass allabendlich spät noch seltsame Gestalten im Goldenen Hahn auftauchten. Heinrich zog sich in eine Nische zurück. Gegen Mitternacht drängte eine größere Gruppe in die Schenke, unter ihnen erkannte Heinrich diese Monique. So hieß sie wohl. Der Tischler war nicht bei ihr. Sie machte sich an einen älteren Kerl mit ungewöhnlich dichten, schwarzen, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen und tiefliegenden dunklen Augen heran. Der Mensch sah mit ein wenig Phantasie aus wie eine seiner Schnitzfiguren. Er musste lachen, wirklich, so war es. Natürlich, die Hörner fehlten, doch sonst stimmte es.

„Was lachst du denn?“, fragte Johann, der sich für einen Moment zu ihm setzte und sich einen Schnaps eingoss. Heinrich zog ein kleines Figürchen aus der Tasche. Er hatte gleich, als er feststellte, das andere wohl beim Prediger verloren zu haben, ein neues eingesteckt. Auch der Wirt musste grinsen.

„Eine gewisse Ähnlichkeit ist unverkennbar“, sagte er. „Die arme Monique bekommt übrigens von mir und meiner Frau einen Obolus extra, wenn sie sich Meister Urians annimmt. Ich erzähl dir später davon.“ Er kippte seinen Schnaps hinter und verschwand wieder.

Heinrichs Neugierde war geweckt. Einen Obolus vom geizigen Chantin, überlegte er, dessen strenges Regiment allgemein bekannt war? Dafür, dass sie, diese Monique, mit dem Kerl dort herummachte? Meister Urian hatte Johann ihn genannt, mit einem Anklang von Spott. Eben packte dieser Urian die Französin mit Daumen und Zeigefinger am Kinn und sah sie an. Dann lachte er laut, auch Monique lachte, doch gequält und falsch, so schien es Heinrich. Sie hatte Angst, ohne Zweifel. Wer ist dieser Kerl, fragte er sich, was tut er, wo kommt er her, und warum habe ich ihn noch nie gesehen, wenn doch Johann ihn kennt? Die Schenke füllte sich nun mehr und mehr, ein weiterer Pulk von Leuten schob sich wie eine Welle in den Raum. Chantin stellte Heinrich schnell noch einen Krug Bier auf den Tisch, bevor er sich gewissenhaft an das Abarbeiten der Bestellungen machte. Von Monique allerdings und diesem Menschen war nun nichts mehr zu sehen. Einmal erkannte Heinrich ihr rotes Haar. Bald stimmte irgendjemand ein Trinklied an, andere fielen ein. Plötzlich aber tauchte das aufgedunsene Gesicht des Bibliothekars vor Heinrich auf. Schon saß der Kerl bei ihm am Tisch, doch sie hatten kaum ein paar Worte gewechselt, als sich weiter vorne ein Streit anzubahnen schien. Der Gesang erstarb. Zwei Stimmen waren zu unterscheiden, tief und herrisch die eine, keifend und ein wenig lallend die andere. Beide waren Heinrich unbekannt.

„Ich warne Euch, Herr!“, dröhnte es durch die Schankstube – „warnt Euch selber, alter Mann“, war die Antwort. Eine Frau kreischte, ein Stuhl fiel um, mehrere Tische wurden hektisch zur Seite gerückt und fast gleichzeitig zwei Degen gezogen. Das klang immer, wie Heinrich fand, wie vite-vite, so auch hier. Alles drängte sich nun an den Wänden zusammen, während Heinrich und der Bibliothekar auf ihre Stühle kletterten, um besser sehen zu können. Auch Chantin stieg auf einen Hocker, doch er sagte und tat nichts, ganz gegen seine Gewohnheit. Womöglich, fragte sich Heinrich, weil es sich um Meister Urian handelte? Dieser stand  formvollendet einem jungen Kaufmann gegenüberstand. Schon klirrten die Klingen aufeinander. Das Duell dauerte nur wenige Sekunden. Eine Finte, ein elegantes Ausweichen, ein Stoß, und schon war der rechte Oberarm des Jüngeren durchbohrt. Der Degen fiel dem Kaufmann aus der Hand und er selbst wie ein Sack zu Boden und in Ohnmacht. Ah und Oh machte das Publikum, zwei, drei Leute klatschten, während sich Monique an den degenbewerten Arm Urians schmiegte, der seinerseits ruhig auf den Besiegten hinabsah.

„Holt einen Medicus“, sagte er. Dann wandte er sich laut an Chantin zum Tresen hin und rief ihm zu, womöglich möchten die anwesenden Damen und Herren auf seine Kosten ein geistiges Getränk zu sich nehmen, worauf Gejohle einsetzte.

„Das war ein kurzes Vergnügen“, sagte Heinrich und grinste, sich wieder setzend, den Bibliothekar an, der umständlich und zittrig von seinem Stuhl herunterkletterte. Erst jetzt bemerkte Heinrich, dass er sein Teufelsfigürchen in der linken Faust hielt. Die kleinen Wunden auf der Handfläche waren wieder aufgerissen. Und plötzlich saß statt des Bibliothekars Monique ihm gegenüber. Er erschrak.

„Er ist fort, auf eine Stunde nur“, sagte sie. Heinrich nickte, aber er verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Und warum gerade ihm?

„Johann sagt“, begann das Mädchen wieder, „Ihr könnt mir helfen, wenn es Not tut.“

Weder der Kretschmar noch seine Frau kümmerten sich um Monique und den Täubenfüßer. Heinrich begriff langsam, um was es ging. Auch sie nannte den Schwarzäugigen Meister Urian. Angst und so etwas wie Ehrfurcht durchzitterte ihre Stimme. Was geht mich das an, hatte Heinrich zuerst gedacht, was eine Hure und ein Hurer treiben. Doch das, was Monique erzählte, änderte seine Meinung. Eines der Mädchen, berichtete Monique leise, läge seit Wochen krank zu Bett, mit Fieber und fast abgequetschten Gliedern. An den Füßen aufgehängt habe er sie. Monique war den Tränen nah. Bald jedenfalls wäre Urian zurück und sie müsse mit ihm hochgehen, doch es gäbe eine Verbindungstür zu einem anderen Zimmer, der kleinen Kammer oben an der Treppe rechts. Kurz und gut, er, Heinrich, müsse notfalls diesen Urian, der heute, das habe er ja selbst gesehen, in gewalttätiger Stimmung sei, außer Gefecht setzen, ein Knüppel läge bereit. Heinrich nickte und schielte zu Johann hinüber, der ihn ernst anblickte.

Er drängelte sich durch die Menge und ging nach oben. In der besagten Kammer befand sich nichts weiter als ein Bett mit einer schlechten, nach muffigem Stroh stinkenden Matratze und ein Stuhl, über den ein paar Hosen gehängt waren und auf dem der Knüppel lag. Die Tür zum Zimmer nebenan war nicht verschlossen. Ein Bett, wenn auch ein ansehnliches, einige wenige Möbel, drei Stühle und ein Tisch. Im mittleren Deckenbalken kräftige Eisenringe. Für einen kurzen Moment tauchte ein nacktes Mädchen, kopfüber und blutend herabhängend, wie ein Gespenst auf. Nun denn, dachte Heinrich, die Tür wieder zuziehend, umsonst kommt mir die Hure nicht davon, das Risiko muss sie mir schon vergelten. Er nahm den Knüppel zur Hand, ein schweres Ding aus Eiche, legte ihn wieder auf seinen Platz und ging nach unten. Ein Sänger mit einer Art Laute machte sich eben bereit, etwas zum Besten zu geben. Es mochte wohl ein Spanier oder Italiener sein. Weiter hinten entdeckte er den Bibliothekar mit Chantins Frau. Von Monique keine Spur.

Wie sich herausstellte, war der Sänger ein aus London angereister portugiesischer Kaufmann, der die Strophen seiner Lieder abwechselnd auf englisch und portugiesisch sang und zwischendurch ein wenig auf deutsch radebrechte. Missmutig hörte Heinrich zu. Plötzlich deutlich das Knarzen einer Treppenstufe. Alle, die das Haus kannten, mieden diese Stufe. Es ging also los! Er stand unten an der Treppe, als das Lachen Moniques, wieder eher gequält als fröhlich, durch das Schließen einer Tür abgeschnitten wurde. Nun denn, dachte er, retten wir heute mal die holde Jungfrau vor dem Deibel. Wohl war ihm nicht.

Er schlich in die Kammer und legte das Ohr an die Zwischentür. Die tiefe männliche Stimme Urians, die vor dem kurzen Duell so mächtig geklungen hatte, war jetzt weich und einschmeichelnd. Dann wechselte er unvermittelt, mitten im Satz, zum Französischen. Monique antwortete auf Fragen knapp mit einem Qui oder Non, doch das, was Heinrich erwartete, was er befürchtete, nämlich ein plötzliches Umschlagen der Situation zum Gewalttätigen hin, geschah zunächst nicht. Durch das Schlüsselloch sah er nur den leeren Stuhl. Dann plötzlich hörte er aus dem französischen Gesäusel den Namen Adam Bernd heraus, und mit einem Male war er hellwach. Oder hatte er sich getäuscht? Meister Urian wechselte ganz unvermittelt und wie zufällig wieder ins Deutsche, sprach über Theologisches, über das Recht der Orthodoxie, den Pietisten, die mit dem Teufel im Bunde seien, den Garaus zu machen, ihnen nie, unter keinen Umständen, Leipzig zu überlassen und so weiter. Wollte er Monique nun bespringen oder ihr Vorträge halten! Auch wenn es ihn keineswegs drängte, in einen Kampf zu geraten und mit einem Knüppel auf diesen Kerl einzuschlagen, so konnte er sich Besseres vorstellen, als seine Zeit in dieser elenden Kammer zu verbringen.

Johann schlich auf Zehenspitzen, so als habe er Heinrichs Unmut geahnt, mit einem Tablett herein und brachte Brot, Käse und Bier. Heinrich klappte die Hände auseinander, zog die Schultern hoch und die Mundwinkel herunter, doch Johann flüsterte ihm zu, der Kerl sei unberechenbar, da müsse man auf der Hut sein. Dann ließ er Heinrich allein, der, biertrinkend und essend, weiter dem theologischen Vortrag Urians zuhörte. Der Name Adam Bernd fiel nicht mehr. Als schließlich nichts mehr zu hören war, blickte er durchs Schlüsselloch. Moniques Kleid lag auf dem Stuhl. Schon juckte es ihn zwischen den Beinen. Jetzt würde es wohl zur Sache gehen. Mit einem Mal aber hörte er den Kerl wieder losquasseln wie ein Wasserfall, nun wieder auf Französisch. Wollte der es etwa, fragte sich der Täubenfüßer, mit der Hure treiben, während er über den Pietismus oder wer weiß was schwafelte? Dann wieder Schweigen. Stille. Nur das Gemurmel aus der Schenke. Monique musste jetzt nackt sein, jedenfalls nach dem zu urteilen, was auf dem Stuhl lag, Kleid, Unterrock und lange Strümpfe. Da hörte er auch bereits das Aufstöhnen Moniques, mitten hinein in die Rede des Wahnsinnigen dort drüben. Sein Herz bollerte wie wild, während das Stöhnen Moniques lauter wurde, ja bald einem auf- und abschwellenden Gesang nahekam. Meister Urian redete inzwischen weiter, wie ein Automat redet der doch, dachte Heinrich, ja, das war es, der Kerl ist ein Automat, eine mechanische Puppe, eine Ausgeburt der Hölle! Er atmete tief durch.

„Beruhige dich, Heinrich“, sagte er leise zu sich selbst. Johann, oder nein, sie selbst, Monique, hatte ihm den Auftrag gegeben, sie zu retten, wenn es nötig sein sollte. Sie verließ sich auf ihn! Und hier stand er nun, Gewehr bei Fuß. Doch war es nun nötig, sie zu retten, oder nicht? Von drüben kam bald ein helles, mehrmaliges, ganz kurzes Quieken, wie von einem Kätzchen, dann war Stille, ganz und gar. Nicht ein Ton! Es schien also vorüber zu sein. Aber was? Was ist vorüber! Ihm schoss plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass dieser Teufel Monique erwürgt haben könnte. Davon hatte er schon einmal gehört. Männer, die nicht zu einem Ende kamen, wenn sie die Hure nicht würgten, ihr nicht die Luft abdrehten, bis sie blau anlief!

„Kommt herein, Heinrich Daubenfuß, genannt der Täubenfüßer“, hörte er plötzlich rufen, laut und deutlich. Heinrich erschrak heftig. Konnte das sein? Sicher nur Einbildung, dachte er. Er blickte durch’s Schlüsselloch, nichts zu sehen, und da wurde auch schon die Tür aufgerissen und er fand sich auf Knien vor des Meisters Hosenstall, aus dem sein Glied, überzogen mit einem English Overcoat, schlaff heraushing.

„Kommt herein, Täubenfüßer.“

Er erhob sich und folgte wie betäubt diesem Menschen in den anderen Raum hinein, der nun die Schleife seines Kondoms löste und es in die Ecke warf. Dann verstaute er sein Glied und knöpfte den Hosenstall zu. Monique lag mit geschlossenen Augen breitbeinig auf dem Bett.

„Wie Ihr seht, Täubenfüßer, oder Herr Daubenfuß, habe ich Mademoiselle Monique ganz unversehrt gelassen. Vielleicht gewährt sie Euch später noch einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit. Doch nun zum Geschäft. Setzt Euch.“

Monique kleidete sich an. Der Kretschmar und seine Frau erschienen mit zwei vollbeladenen Tabletts. Sie wichen Heinrichs Blicken aus. Auch Monique sah ihn nicht an. Meister Urian jedoch beobachtete ihn mit seinen dunklen, tiefliegenden Äuglein, die freundlich und zugleich belustigt schimmerten. Mit einer winzigen Bewegung von Zeige- und Mittelfinger schickte er alle hinaus, auch Monique, und wies mit der offenen Handfläche auf die Leckereien. Käse, Trauben, Brot, Wein und Kuchen standen zur Auswahl.

„Setzt Euch doch und greift zu“, sagte er, „wir Männer brauchen gutes Essen, um den Frauen etwas bieten zu können. Ich hoffe, ihr habt nicht so einen kleinen Pimmel wie ich.“

Die Zeit schien Heinrich langsamer als gewöhnlich abzulaufen. Es war ihm, als sitze Meister Urian schon eine Ewigkeit da, Pfeife paffend, Wein in kleinen Schlucken trinkend, schweigend ihm beim Essen zusehend. Als fast alles vertilgt war, nahm der Meister die Pfeife aus dem Mund.

„Ich weiß schon lange“, sagte er, „dass Ihr Unmengen essen könnt, doch ich wollte es selbst einmal sehen. Jean hatte mir davon erzählt.“ Heinrich sah sein Gegenüber entgeistert an.

„Jean, das Schwein?“, erwiderte er mit allzu vollem Mund, doch im selben Augenblick begriff er alles. Dass er darauf nicht früher gekommen war! Die Bespitzelung und Überführung der Pietisten in Leipzig war das Werk dieses Mannes hier! Er war der Auftraggeber, der hinter Jean gestanden hatte! Langsam kaute Heinrich weiter. Er musste ein wenig Zeit zum Überlegen gewinnen. Würde dieser Mensch etwa gegen Adam Bernd vorgehen wollen? Gut möglich, dachte er, denn warum sollte er sonst mit mir überhaupt reden? Von seinen Racheplänen allerdings hatte er niemandem berichtet, schon gar nicht Jean.

„Meister Urian ist kein schmeichelhafter Name“, begann sein Gegenüber wieder, „doch selbst in der theologischen Fakultät nannte man mich schon zu Beginn meiner Tätigkeit Meister Urian. Hinter meinem Rücken, versteht sich. So nahm ich den Namen an. Ich denke, meine Vorliebe für das Humpeln hat der Namensgebung wohl ohne Zweifel Vorschub geleistet. Immer wenn ich inkognito unterwegs bin, tue ich es. Ein Humpeln fällt zunächst auf, doch dann schützt es und hält die Menschen fern. Auch ihr humpelt recht gerne, nicht war?“  Was sollte er sagen, denn es stimmte und stimmte auch wieder nicht. Er hatte es nicht bewusst getan. Heinrich nickte zögerlich. Weiß die theologische Fakultät von seinem Treiben, fragte er sich. Dass er mit Huren rummacht? Nahm sie es in Kauf, um die verhassten Pietisten aus Leipzig zu vertreiben? Und war Adam Bernd der Nächste, auch wenn er doch wohl, soweit Täubenfüßer das beurteilen konnte, mitnichten ein Pietist war?

Monique war in den Hof gegangen, um ein wenig Luft zu schnappen. Zum Nachteil, überlegte sie, dürfte ihr die kleine Posse von eben wohl nicht gereichen! Zum ersten Mal auch war sie in einen Plan eingeweiht worden, statt nur den dummen Lockvogel spielen zu dürfen. Sie machte ja alles mit, Meister Urian wusste das. Und er war großzügig. Mit diesem ekligen Kerl aber, diesem Täubenfüßer, würde sie nicht ins Bett steigen! Ihm vor die Füße zu pinkeln war eine Sache, für ihn die Beine breit machen, kam jedoch nicht infrage. Warum dies alles aber überhaupt inszeniert worden ist, der tiefere Sinn des Ganzen, blieb ihr unklar. Sie hatte viel darüber nachgedacht. Hätte es nicht gereicht, diesen Täubenfüßer einfach nach allen Regeln der Kunst unter Druck zu setzen? Damit er mit allem, was er bei diesem Prediger entdeckt, herausrückte? Doch das soll nicht meine Sorge sein, weiß Gott nicht, dachte sie. Wo Gregor nur blieb?

Währenddessen erläuterte Meister Urian dem vollgefressenen Täubenfüßer den Fall Adam Bernd, berichtete von den Versuchen einiger Ratsmitglieder und auch Herrschaften der theologischen Fakultät, diesen nicht zu einem Priesteramt kommen zu lassen. Schon an der Universität sei er einigen wichtigen Herren ein Dorn im Auge gewesen, vermengte er doch die Theologie mit der Philosophie, nicht zuletzt mit der Lehre eines gewissen Renatus Cartesius. Außerdem sei der Magister Adam Bernd, das werde er noch erkennen, ein sanguinischer Melancholicus, der nicht selten gegen göttliche Gebote verstieß und schon einmal für Wochen der Grübelei verfalle. Solche Menschen seien als Prediger ungeeignet! Heinrich hörte gebannt zu. Der Meister sprach mit ihm wie mit Seinesgleichen, das schmeichelte ihm. Der Magister Adam Bernd, so viel war klar, sollte mundtot gemacht und des Pietismus‘ überführt werden, was wiederum die Ausweisung aus Leipzig zur Folge hätte. Natürlich wisse man, auch das sagte Meister Urian ganz offen, dass Adam Bernd kein Pietist sei, doch er sei eben auch kein treuer Anhänger der Orthodoxi, also indifferent, ein Freigeist, was womöglich noch schlimmer sei, ja das Schlimmste überhaupt. Denn speie nicht Gott alle Lauwarmen aus? Heinrich nickte eifrig.

Gregor küsste Monique ungestüm und griff ihr gleich unter den Rock. Eben deswegen, weil er das neuerdings immer tat und sie es mochte, hatte sie Meister Urian gebeten, ein English Overcoat zu benutzen, den er ihr zu Ehren Pariser nannte, denn, hatte er lachend gesagt, seien nicht alle schönen französischen Mädchen Pariserinnen! Selbstverständlich würde sie sich gewaschen haben, wenn er das Ding nicht benutzt hätte, doch sicher ist sicher. Gregor jedenfalls verabreichte sie trotzdem erst einmal eine Ohrfeige. Was bildete der Kerl sich ein! Keine Spur mehr von dem schüchternen und höflichen Tischler, der er mal gewesen ist. Lächelnd küsste sie ihn auf die knallrote Wange, lief in die Schenke und bat Johann, gehen zu dürfen. Gregor, er wisse schon, warte auf sie. Der taperte derweil im Hof unruhig auf und ab. Als er bemerkte, wie aus einem Fenster im ersten Obergeschoß ihn jemand beobachtete, ein dunkler, übel dreinschauender Kerl, ging er langsam, als habe er nichts bemerkt, zur nächsten Ecke und wartete dort. Endlich kam Monique, sie hatte sich umgezogen, und hakte sich lachend bei ihm unter. Die Nacht war noch jung.

Heinrich dachte an die nackt auf dem Bett liegende Monique, doch da quasselte der Deibel persönlich schon wieder auf ihn ein, kaum dass er mal ein paar Minuten schweigend am Fenster gestanden hatte. Er schien alles ihn und Adam Bernd Betreffende bereits zu wissen, auch dass er dem Prediger in die Vorstadt zum Hospital gefolgt war. Ich muss in Zukunft vorsichtig sein, dachte Heinrich, sehr vorsichtig! Und zu unterwürfig durfte er natürlich auch nicht sein, das war klar. Also nahm er allen Mut zusammen und verlangte für heute Nacht nach einem Mädchen, am besten Monique.

„Ich bringe Euch eine“, erwiderte Meister Urian grinsend, „Monique hat Ausgang. Und so wählerisch seid ihr ja nie gewesen, nicht wahr, Herr Heinrich Holzkötter aus Schwerte an der Ruhr.“ Dann verschwand der Meister und kam nach wenigen Minuten mit einer jungen Göre zurück.

„Nehmt diese“, sagte er, „aber hängt mir das Mädchen nicht auf, gleich wie herum!“ Daraufhin verschwand er laut lachend, während Heinrich missmutig das Mädchen betrachtete. So hatte er nicht gewettet!

 

DRITTES BUCH

DIE SCHRIFTEN DES ADAM BERND

Statt des Predigers fand Heinrich am nächsten Vormittag den Nachbarsjungen in der Wohnung vor, der sich eben über eine Schale Rosinen hermachte. Auf die Frage, wann Adam Bernd käme, sagte der Junge, der Schreiber solle warten, das habe er auszurichten. Er stopfte sich die letzten Rosinen in den Mund und warf die Tür hinter sich zu, die Heinrich wieder einen Spalt öffnete. Warten sollte er also. Er sah sich um. Auf einem Bord standen Flaschen und Tiegel unterschiedlichster Art. Er zog die Korken heraus und roch vorsichtig daran. Ein Stoß Papier auf dem Stehpult. Das oberste Blatt schlicht mit Der Selbstmord. Eine Schrift des Oberkatecheten und Predigers der Peters-Kirche, Magister Adam Bernd überschrieben. Darunter fanden sich in einer sehr kleinen Handschrift ein paar Dutzend Stichworte, Zorn-Bild, Buß-Kampf, nimio pietatis studio / excessu versus defectu, Actum reflectum des Unglaubens, Störung des gesunden Schlafes und so weiter. Unter dem Pult ein Stapel mit Drucken, darunter Flugblätter mit allerlei kleinen Geschichten, die die Gläubigen vom Selbstmord abhalten sollen, etwa die eines Melancholicus, der sich aus dem Fenster direkt in die Hölle stürzt. Ein Bild illustrierte die Angelegenheit mitsamt der Flammen und dem Kessel mit siedendem Öl. Heinrich selbst hatte viele solcher Flugblätter und Broschüren in der Hand gehabt. Er nahm seinen Zeitungsausschnitt über den holländischen Prediger heraus, schob ihn in den Stapel, ging zum Fenster, öffnete es und sah hinüber zum Peterskirchhof. Wenn er sich hinausreckte, war ein kleines Stück des Platzes zu sehen. Auch von dort würden die Menschen herangelaufen kommen, dachte er, wenn Adam Bernd unten in der Gasse mit verrenkten Gliedern seinen letzten Atemzug tun würde. Die starren Augen auf ihn, Heinrich, gerichtet. Das Letzte, was der Magister auf Erden sehen würde, wäre das lachende Antlitz seines Schreibers.

„Ah, da seid Ihr ja“, hörte er plötzlich hinter sich sagen. Er hatte den Prediger nicht kommen hören. Heinrich drehte sich um und begrüßte den Prediger, der bester Laune zu sein schien.

„Ich hoffe“, begann er, „Ihr seid firm, wenn es um das Thema des Selbstmords geht. Es schadet nichts, wenn Ihr es wünscht, ein wenig über die Sache zu sprechen, bevor wir mit dem Diktat beginnen. Sagt mal, habt Ihr die Rosinen gegessen?“

Die Aufgeräumtheit des Predigers war eine zur Schau gestellte. Er hatte angenommen, Heinrich vor dem Hause wartend anzutreffen, nicht in der Wohnung. Wie er da so am Fenster stand, gab es ihm einen Stich. Nicht nur, dass er ihm nicht trauen mochte, nein, da war zu allem Überfluss auch noch die Sache mit der Zeichnung. Er sah sich seinen neuen Schreiber, der eben dabei war, sorgfältig einige Federn zurechtzuschneiden, noch einmal genau an. Ohne die Bartstoppeln und mit etwas feineren Zügen ist ohne Zweifel eine gewisse Ähnlichkeit mit Emilia festzustellen! Doch genug davon! Er nahm seine Notizen zur Hand, blätterte in ihnen herum und las. Die letzten Tage war ihm vor allem ja die Frage, ob die Natur in ihrer Gesamtheit Gott ist, Gott sein könne, durch den Kopf gegangen. Er hat einiges dazu notiert. Ein holländischer Jude, ein philosophierender Linsenschleifer, hatte dies geschrieben. Das jedenfalls war ihm von einem reisenden Großkaufmann, der zwischen Zweifel und Bewunderung hin und her schwankte, recht ausführlich berichtet worden. Es gäbe da eine umfangreiche lateinisch verfasste Schrift dieses Menschen, die ein Freund von ihm besitze und die noch nicht öffentlich sei, weil der Verfasser Verfolgung und Tod befürchte. Gegen die Ansichten des Juden spricht vieles, überlegte Adam, das war leicht einzusehen, doch manchem stimmte er dennoch ausdrücklich zu! Es sind zwar nicht die heidnischen Götter, die ihr Unwesen treiben in der Welt, so weit würde er nicht gehen, doch der Mensch ist ja durchaus auch Natur, besitzt seine ihm eigene und ist beseelt auf seine eigene Weise. Wird denn nicht der eine Baum, überlegte er, groß und stattlich, der andere aber klein und krüppelig, selbst wenn sie im selben Wald stehen und in die selbe Erde ihre Wurzeln strecken? Ich selbst bin ja, dachte er, oft ein krüppeliges Wesen, nicht stark genug, um zum Licht hin emporzuwachsen. Gelegentlich allerdings habe ich die Kraft, sogar mein geistliches Amt auszuüben und die Menschen zu leiten und zu trösten. Der Mensch kann wohl immer beides sein, stark und schwach. Vor allem aber schwach! Man denke nur an all die unschuldigen Seelen, wie Schilf im Wind schwanken sie. Nur der Mensch allein ist zu solch einem Sein in der Lage, nur der Mensch! Und dann ein falscher Schritt, ein verwegener Sprung, ein kurzes Verweilen in der Gefahr, mehr bedarf es nicht, seine Seele zum Teufel zu schicken! Aber er verlor sich in Gedanken, statt sich an die Arbeit zu machen.

„Lasst uns nun beginnen“, sagte er zu Heinrich, der im selben Augenblick ganz unvermutet ein Hochgefühl durchlebte. Er schrieb nun nicht mehr einfach Dokumente ab, nein, er war nun wirklich und wahrhaftig Schreiber! Längst vergangene Bilder tauchten in ihm auf, der Marktplatz in Schwerte, seine Mutter, die blöde und mit stierem Blick umherging, dann auch Andreas Alberti, schließlich Thorbecke, seine Frau und die Tochter, für die er Liebesbriefe zu schreiben hatte.

„Was lächelt ihr?“

„Nichts weiter“, sagte er, „wir können beginnen.“

Der Prediger hob, die Notizen in der Hand, mehrere Male zum Diktat an, stockte aber immer wieder.

„Wir beginnen auf eine andere Weise“, sagte er endlich, aufstehend und zum Fenster tretend, „lasst uns zunächst über das Thema sprechen, Herr Daubenfuß. Habt Ihr einen Menschen gekannt, der Selbstmord verübte?“ Heinrich steckte die Schreibfeder zurück in die Vase. Er sah zu Boden. Das war die Gelegenheit, die Geschichte Emilias, soweit er sie kannte, oder zu kennen glaubte, zu erzählen. Doch sollte er dies tun, sollte er ihren Namen nennen, jetzt sofort, um dann dem Prediger endlich die Schuld am Tod der Schwester zu geben? Es ihm deutlich zu sagen?

„Ja“, begann er schließlich mit seltsam belegter Stimme, „ich kannte ein junges Mädchen, das von einem Unmenschen in andere Umstände gebracht worden ist. Sie hat sich ertränkt. Ihr Name war Anna.“

Hatte er nicht Emilia sagen wollen?

„Erzählt mir davon“, sagte Adam Bernd mit ernstem Gesicht.

Eine halbe Stunde später beendete der Prediger das Gespräch, er müsse zur Kirche. Er bat Heinrich, morgen gegen Mittag zu ihm zu kommen. Dann werde er versuchen, ein Vorwort zu diktieren, allein schon, um wenigstens einmal begonnen zu haben. Wie Heinrich aus ihrem Gespräch sehen könne, sei die Angelegenheit schwierig. Die Drucklegung der Schrift, eigentlich schon terminiert, müsse ohnehin verschoben werden. Eine andere, weit fortgeschrittene Schrift werde vorgezogen werden müssen, eine, die er bereits zu seiner Zeit an der philosophischen Fakultät begonnen habe und die er einem Herrn Hacke diktiere, den er lange schon kenne.

„Ich bin also in der beneidenswerten Situation, zwei Schreiber zu haben, für jede wichtige Schrift einen“, sagte er lächelnd, sich die Perücke überstülpend und sie vor dem kleinen Spiegel zurechtzuppelnd. Nun aber müsse er los. Wenn Heinrich dem Verleger Heinsius noch die Nachricht überbrächte, dass die Schrift über das Übel des Selbstmords sich verzögere, während die andere Schrift zu dem eigentlichen Termin der ersteren abgegeben werden könne, wäre er ihm sehr dankbar. Heinrich versprach es, verabschiedete sich unten in der Gasse vom eilig davongehenden Prediger und schlenderte langsam Richtung Markt. Er dachte scharf nach, immer wieder stehenbleibend und sich das Kinn reibend. Er war durchaus nicht sicher, ob er all die neuen Informationen an Meister Urian weitergeben sollte. Wüsste Urian zum Beispiel über die Sache mit der anderen Schrift bereits bescheid, überlegte Heinrich, so würde ich ihm meine Zuverlässigkeit beweisen können. Weiß er jedoch nichts darüber, so sorgt meine Information womöglich dafür, den Prediger bald schon aus Leipzig auszuweisen. So wäre ich meine Stelle als Schreiber gleich wieder los. Und sage ich nichts, während er von der Sache weiß und zudem womöglich erfährt, dass ich Kenntnis darüber habe, bin ich die längste Zeit in Diensten Meister Urians gewesen. Und müsste womöglich selbst Leipzig verlassen!

„Heijeijei“, sagte Heinrich laut vor sich hin, völlig verwirrt durch diese für ihn ungewohnte Gedankendichte, „das ist alles nicht so einfach. Mein armer Kopf.“ Am besten, er ginge erstmal in ein Wirtshaus, Leib und Seele zu stärken.

Heinrich überbrachte wie gewünscht die Nachricht Adam Bernds noch am selben Abend und fand in dem Verleger Johann Samuel Heinsius keineswegs, wie er ziemlich sicher erwartet hatte, einen mürrischen Buchhändlertypus vor, sondern einen herzlichen, zu Späßen aufgelegten Kautz, der ihn sofort hereinbat, um ihm seine neuesten Errungenschaften zu zeigen, nämlich Druckplatten für allerlei Kartenspiele.

„Sieht die Obrigkeit wahrlich nicht gern“, sagte er, „doch es lässt sich so mancher Taler damit verdienen. Nennt mich übrigens einfach Samuel. Ein Gläschen gefällig?“ Dass die Schrift über den Selbstmord sich verzögere, nähme er übrigens nicht allzu tragisch, sagte Heinsius, da müssten die Selbstmörder eben noch ein wenig warten!

Erschöpft betrat Adam Bernd seine Wohnung und warf sich in einen Stuhl. Es war überhaupt kein guter Tag gewesen, beileibe nicht. Ein Stündchen aber wollte er sich, trotz seiner Müdigkeit, noch seinen Notizen zuwenden, um dem Täubenfüßer morgen diktieren zu können. Denn was sollte sein neuer Schreiber sonst von ihm denken! Aus der Wohnung unter ihm war Stimmengewirr und Gesang zu hören. Das konnte eine Weile fortdauern. An Schlaf war also ohnehin nicht zu denken. Zwar hatte ihm der Apotheker Soderberg ein Pulver aus Mohn und Alraune bereitet, doch zuletzt erst war er keineswegs davon eingeschlafen, sondern von seltsamen Gedanken und Gesichten heimgesucht worden. Er stand auf und nahm einen Packen Papier aus einer kleinen Truhe, die unten im Kleiderkasten stand, zog wahllos einige Blätter heraus und las ein wenig. Auf einem Schmierblatt ganz zuunterst fand er den Entwurf zu einer Predigt.

„Und wenn“, las er laut, „die Huren alle solche Furcht vor der Hurerei kriegten, so dass sie ihr Hab und Gut hergäben, nur damit sie versichert wären, dass sie diese Sünde, vor welcher sie sich so sehr fürchten, nicht begehen würden, so wie andere Leute Furcht vor dem Selbstmord haben, so sollten die Huren gar bald alle werden in Leipzig.“ Er lächelte schief, denn er war sich ganz und gar nicht mehr sicher, ob nun jede Hure Furcht vor der Sünde der Hurerei hätte. Doch um diese Furcht ging es ihm nicht, sondern um die vor dem Selbstmord, die er ja weiß Gott selbst nicht selten verspürt hatte. Die Furcht, sich unwillkürlich aus dem Fenster oder in ein reißendes Gewässer, in einen Abgrund, vor eine heranrasende Kutsche oder in ein Mühlrad zu stürzen. Wäre ich nicht, dachte er, als Melancholicus selbst betroffen, so ließe sich leicht eine gelehrige Schrift verfassen, auch ohne Schreiber, der, ja – der auf ihn aufpassen würde! Das wurde ihm jetzt erst richtig klar! Griffe ihn das Thema zu sehr an, denn wer weiß, vielleicht käme der Impuls während des Diktats über ihn, dann konnte ihn doch nur sein Schreiber davon abhalten, sich aus dem Fenster in die Tiefe zu stürzen! Oder war das übertrieben? Dieser Täubenfüßer wäre dann in gewisser Hinsicht seine Lebensversicherung! Ausdrücklich auftragen wollte er ihm natürlich nichts. Undenkbar! Er würde mich für wahnsinnig halten, dachte er, nahm dann noch einmal die Zeichnung hervor, verdeckte mit der gekrümmten Hand die Haare, und tatsächlich sah ihn Heinrich Daubenfuß an. Nahm er die Hand fort, war es Emilia. In der Wohnung unten verabschiedete man sich lautstark.

„Er will mir eine Schrift über das Übel des Selbstmords diktieren“, sagt Heinrich. Er nimmt einen Schluck Bier und sieht von unten durch die eigenen Augenbrauen hindurch sein Gegenüber an. Das mit der anderen, weit fortgeschrittenen Schrift und diesem Schreiber namens Hacke erwähnt er nicht. Das konnte warten. Meister Urian nickte unfreundlich und sagte keinen Ton. Was hat er erwartet, dachte Heinrich, nach so kurzem Dienst. Überhaupt war nicht einmal von einem Lohn die Rede gewesen. Als Lampenwächter konnte er schließlich nicht mehr arbeiten. Wo er doch nun Schreiber Adam Bernds war. Und zugleich dem Meister Urian zu Diensten. Dieser saß ihm nun schon länger schweigend gegenüber und paffte seine Pfeife, den Rummel im Goldenen Hahn beobachtend. Dann aber wandte er sich plötzlich Täubenfüßer zu.

„Seid ihr“, fragte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, „zufrieden gewesen mit unserer Berliner Göre?“

Heinrich nickte vage.

„Ach ja, und noch was“, sagte der Meister, schon im Aufstehen begriffen, „haltet mir diesen jungen Kerl vom Leib, mit dem unsere kleine Französin angebändelt hat. Ich möchte nicht, dass dem Früchtchen etwas zustößt. Eifersucht und jugendlicher Überschwang sind im Spiel, Ihr versteht schon.“

Damit war er verschwunden.

Wenige Stunden später quält Heinrich sich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett. Bei seiner Rückkehr aus der Schenke hatte er eine versiegelte, nicht unterzeichnete Nachricht vorgefunden. Sein Stubengenosse schnarchte noch selig, als er das Haus verließ. Müde und innerlich fluchend ging er zum Alten Neumarkt, wo er sich, so die Aufforderung, beim Knopfmacher einzufinden hatte. Im Treppenflur kam ihm der Herr Draten auch schon mit seinen kleinen trippeligen Schritten entgegen. Heinrich stellte sich sogleich als Schreiber des Oberkatecheten und Predigers Adam Bernd vor. Er wurde von Draten sehr höflich auf einen Kaffee hereingebeten, und ob er schon etwas zum Frühstück gehabt habe.

„Nun, es geht, wenigstens in sekundärer Weise, um den hochverehrten Herrn Prediger“, begann Draten gestelzt, nachdem er, der Kaffee komme gleich, zwei dicke Scheiben Brot und eine halbe Blutwurst vor Heinrich hingelegt hatte, „der ja nun, wie ihr wisst, im obersten Stockwerk meines Hauses eine Wohnung bezogen hat, weil das Pfarrhaus noch hergerichtet werden muss. Ein Prediger hat es schwer, und so ist es nicht verwunderlich, dass man manchmal meinen könnte, der Herr Bernd ringe mit dem Deibel persönlich. Kurz und gut, das junge Paar nebenan hat Beschwerde eingelegt. Die Lebensfreude würde er ihnen vergällen. Ah, da ist ja meine Tochter mit dem Kaffee.“ Es entstand eine Pause. „Nun gut“, fuhr Draten schließlich fort, der Prediger sei ein berühmter Mann, da könne er, ein kleiner Knopfmacher mit einem alten Haus, nichts tun. Das Paar jedenfalls sei inzwischen ausgezogen, weil der Prediger halbe Nächte vor sich hin proklamiere, zudem feiere man ständig im Stockwerk unter ihnen, in den Wänden seien die Mäuse und so weiter. Er sei, fügte Draten noch hinzu, sehr froh, solch unzufriedenes Pack los zu sein, und da nun die Wohnung neben der des Predigers leer stünde, könne er, Heinrich, heute noch einziehen.

Heinrich starrte Draten an. Das also war der Grund, warum er hierherbestellt worden war!

„Wegen der Miete macht Euch keine Sorgen“, schloss der Knopfmacher lächelnd, „die ist bereits für ein halbes Jahr im Voraus bezahlt.“ Heinrich staunte und verstand, blickte Draten sicherheitshalber aber verständnislos an. Dieser zuckte nur mit den Schultern. Zwei Bedienstete der Universität hätten ihm die Summe im Namen der theologischen Fakultät ausgezahlt, gegen eine Quittung selbstverständlich, so dass alles in Ordnung sei, er müsse sich wirklich keine Sorgen machen. Heinrich schnitt sich noch ein Stück von der Wurst ab. Nein, Sorgen machte er sich nicht. Für Adam Bernd aber sieht es nicht gut aus, dachte er und kaute vor sich hin.

Heinrich hätte Wetten darauf abgeschlossen, Meister Urian hier oben vorzufinden. Er sah sich um. Ein rohes Bettgestell mit Matratze, ein altes Kissen und eine Decke, Nachtgeschirr, Truhe, zwei Stühle und ein Tisch, dazu ein Krug und zwei Becher. So gut hatte er sein Lebtag nicht gewohnt. Selbst der Ofen sah aus, als würde er im Winter seine Funktion erfüllen. Das einzige Bild an der Wand zeigte unter Glas ein verblasstes Wappen, irgendeines, er kannte es nicht, mit einem lateinischen Spruch, Cooperatores veritatis. Nun gut, dachte er, man muss die Dinge nehmen wie sie kommen, legte sich aufs Bett und schlief ein.

Gegen Mittag kam der Magister die Treppe hochgestapft und traf Heinrich, der ihn hatte kommen hören, vor der Tür wartend an.

„Herr Draten sagte mir bereits alles“, begann er, „das vereinfacht unsere Arbeit erheblich.“ Heinrich fragte sich, ob der Knopfmacher ihm die selbe Version erzählt hatte und ob der Prediger nun folglich ahnte, dass sein Schreiber auf ihn angesetzt war? Leid aber sollte ihm Adam Bernd nicht tun, dachte Heinrich, denn war er nicht mehr oder weniger ein Scheinheiliger, der Wasser predigte und Wein soff! Der Emilia in den Tod getrieben hat! Er sah sie wieder wie ein Häuflein Elend in der Stube des dritten Predigers in Schwerte liegen. Wer weiß, wie er das arme Mädchen dazu gebracht hatte, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen! Doch selbst wenn sie auch nur eine Hure gewesen ist wie all die anderen, sie war doch seine Schwester!

„Wollen wir also zunächst mit einigen Briefen beginnen“, sagte der Prediger, „und danach, mit Gottes Beistand und Segen, das Tractat angehen.“

„Das soll mir recht sein“, erwiderte Heinrich beflissen und trat zum Pult.

„Habt ihr übrigens die Nachricht über die Verzögerung Heinsius überbracht?“

Sie sprachen eine Weile über Heinsius und seine Eigenheiten, dann erklärte Adam Bernd plötzlich, die Briefe könnten warten, das Tractat habe Vorrang. Heinrich zog den Kork aus dem Tintenfass und nahm eine Feder zur Hand.

„Nummeriert die Seiten bei jedem Diktat neu und schreibt auf jedes Blatt das Datum“, sagte der Prediger, „denn ich werde immer das diktieren, was mir eben in den Sinn kommt. Das wird das Beste sein. Am Ende fügen wir alles zusammen.“ Er atmete tief ein und aus, tat ein paar Schritte, blätterte und las in einem Manuskript, schritt noch ein wenig hin und her und blieb dann mitten in der Stube stehen.

„Nun“, sagte er endlich, „schreibt also: Ich erlitt einen Rückfall in schwere Anfechtungen, die von der Magd der Frau Schultzin, die auf dem roten Collegio ihre Stube neben der meinen hatte, ausgelöst wurden. Ob sie in Kleinigkeiten untreu gewesen sein mochte, wie einige später sagten, weiß ich nicht, und kann das auch nicht glauben. Sie sorgte sich aber über das Zukünftige und machte sich ängstliche Gedanken, wenn die Frau Schultzin sterben oder sie selbst beständig krank sein sollte, wer sie dann aufnehmen würde. Diesen und anderen Gedanken mehr hatte sie so lange nachgehangen, bis ihr Herz wie ein Stein und ihr Haupt ganz verwüstet war. Sie bekam Gedanken vom Selbstmord, was ich aber nicht sofort erfahren habe. Und obgleich sie schon nach einigen Wochen wieder ausging, so trug sie doch das Gift bei sich, womit sie sich vergiften wollte, und sie erzählte herum, ohne dass ich davon Kenntnis hatte, wie sie sich oben im roten Collegio hatte herunterstürzen wollen, sie aber immer auf eine wunderbare Weise und durch gutes Zureden daran gehindert worden sei. Auch ich selbst hatte dergleichen Plage schon oft gehabt, vor allem zu Beginn meiner Studien, war aber, so glaubte ich bis dahin, davon geheilt. Doch als ich hörte, dass die Magd von solchen Gedanken und Verwirrungen betroffen war, durchfuhr es mich, wenn ich sie nur sah, ja ich bekam selbst die größte Angst und musste mich fernhalten von den Fenstern, rasenden Kutschen und den Mühlrädern.“

Der Prediger schwieg eine Weile und setzte sich dann an den Tisch. „Verzeiht mir, Herr Daubenfuß“, sagte er schließlich leise mit belegter Stimme, „die Erinnerung an eigene Nöte ist schwer zu ertragen. Es mutet an wie ein Sturm in meinem Kopf. Gebt mir einen Moment.“ Heinrich nickte ihm ernst zu und begann damit, weitere Federn zurechtzuschneiden. Er bebte innerlich und hatte große Mühe, ruhig zu erscheinen. Was wollte er denn mehr, fragte er sich, als dass dieser Mann hier litt wie kein zweiter. Seit jenen Tagen in Schwerte wünschte er sich, Adam Bernd möge sich eines Tages aus dem Fenster stürzen, sich ein Messer in den Leib rammen oder Gift saufen und elendig krepieren. Doch jetzt hatte er fast Mitleid mit ihm, wie er dort saß mit erloschenem, inwendigem Blick! Nicht mit der bravsten Hure hatte er Mitleid gehabt, auch nicht mit Jean, dem Schwein. Oder mit Knu. Er hatte überhaupt nie Mitleid gehabt, mit niemandem. Wie käme er dazu! Er stellte sich ans Fenster und wartete, dann lief er, auf die Bitte des Predigers, die Treppen hinunter, um Dratens Tochter, dieses blatternarbige, hässliche Weibsstück, das er kaum anzusehen vermochte, so hässlich war sie, um einen Aufguss von Sassafras zu bitten.

Während er in der Werkstatt beim schweigend vor sich hinarbeitenden Knopfmacher wartete, dachte er nach über das eben Erlebte. Er musste einen klaren Kopf bekommen. Wie sehr nur ein Gedanke, überlegte er, eine Erinnerung den ganzen Menschen ins Wanken bringen kann! Und wie überaus schwer musste es sein, über seine eigene Vergangenheit nachzusinnen und zu schreiben, alles noch einmal in Gedanken und im Gemüt zu durchleben? In der Bibliothek waren ihm etliche Lebensbeschreibungen untergekommen, einige sehr alte, die kaum mehr als ein durch und durch gottgefälliges Leben aufzeigten, wer’s glaubt wird selig, hatte er immer wieder gedacht, dann aber auch einige neuere Werke, die ein wenig Einblick in das Seelenleben gaben. Eines Tages, so dachte er, würde er selbst sein Leben aufschreiben, bliebe ihm nur die Zeit dazu!

„Herr Magister?“ Keine Antwort. Heinrich stellte die Kanne auf den Tisch. Sein Herz schlug schnell und heftig. Das Fenster weit offen. Er rief noch einmal. Wieder nichts. Sollte sich der Prediger etwa hinuntergestürzt haben? Doch dann müsste doch Aufruhr sein dort unten, dachte er. Aber was wusste er schon! Vielleicht trat ja auch Totenstille ein, wenn so etwas geschah. Er riss sich zusammen und ging die paar Schritte, steckte den Kopf mit geschlossenen Augen hinaus, öffnete sie. Eine Kutsche fuhr langsam Richtung Markt, zwei, drei Kinder, die, sich jagend, Richtung Peterskirchhof liefen, ein Handwerksbursche mit einer Magd, die einen leeren Korb bei sich trug. Nein, da liegt niemand tot auf dem Pflaster, dachte er.

Ein Hüsteln. Der Prediger stand bitter lächelnd hinter ihm. Man müsse, so Bernd ganz geschäftsmäßig, den Kontrakt noch unterschreiben. Heinrich setzte also seinen Daubenfuß auf das Dokument und Adam Bernd ein A.B., Prediger, dann diktierte er weiter:

„Weil die Magd aber“, begann er leise und zögerlich, „nach einigen Monaten wieder schreckliche Dinge redete, ersuchte man mich nach einer Gastpredigt, die ich in Neuen Kirche gehalten hatte, ich möchte doch kommen und ihr, meiner Nachbarin, einen Trost zusprechen. Ich ging also hin, doch ihre entsetzlichen Reden, als wenn der Satan in ihr wäre, erneuerten meine Plagen, die ich schon überwunden glaubte. Ich erschrak also über sie, dass mir alle Glieder meines Leibes zu zittern und zu beben anfingen. Es war, als spräche der Satan selbst zu mir: Du unterstehst dich andere zu trösten und steckst selbst im Kot der Sünden bis über die Ohren. Ich will sie verlassen und besser dich plagen! Ich konnte fast kein Wort mehr reden, besonders, da sie weiter abscheuliche Gotteslästerungen ausstieß. Ich blieb bei der Schultzin zum Essen, aber kein Bissen wollte mir schmecken, ging auch bald, am selben Tag noch, zu einer Predigt, konnte aber vor Angst kaum in der Kirche bleiben, ja ich fing schon an zu erschrecken, wenn mir Leute von hässlichem Angesichte entgegenkamen und dachte, dass es der Teufel selbst wäre. Ich wusste wohl, dass dem nicht so ist, doch ist es bei erfahrenen Lehrern eine bekannte Sache, dass man zu solcher Zeit und in dergleichen Zustand vor allen ungestalten Gesichtern erschrickt und dabei auf traurige und schreckliche Gedanken verfällt.“ Der Prediger hielt atemlos inne und schwieg eine Weile. Dann sagte er leise, er habe falsch angefangen mit der Begebenheit, das müsse noch geändert werden, beizeiten. Schließlich bedankte er sich und entließ Heinrich bis zum Abend oder zum nächsten Tag, er gäbe ihm Bescheid.

Nun ist der Prediger bereits da, wo ich ihn haben wollte, dachte Heinrich, der hinüber in seine eigene Wohnung gegangen war, und zwar ganz ohne mein Zutun.

„Der Mode der Selbstmörderei sei Dank“, murmelte er halblaut vor sich hin und grinste. Doch wer wäre schon so dumm und schickte seinen Dukatenscheißer zur Hölle! Wenn er es sich recht überlegte, so wurde er ganz anständig entlohnt, hatte auch zum ersten Mal im Leben eine gute Wohnung und konnte sich nun sogar gelegentlich eine Hure nehmen, wenn es ihn zwickte, selbst wenn diese Schlampampe von Monique ganz offensichtlich Meister Urian vorbehalten blieb. Was also wollte er für den Augenblick mehr! Es war einiges erreicht, fast von heute auf morgen, und es wäre denkbar ungünstig, wenn der Prediger nun überführt, aus dem Amt und aus der Stadt gejagt würde! Wenn ich also schlau bin, dachte er, so halte ich alles in der Waage, das nutzt mir am meisten!

Früh am Abend ging Adam Bernd eiligen Schrittes ins Hallische Viertel, um Peter Hacke, den er aus seiner Breslauer Jugendzeit kannte und mit dem er oft schon gearbeitet hatte, persönlich davon in Kenntnis setzen, dass er ihm die geplante theologisch-philosophische Schrift Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und in das ganze Leben des Menschen bald schon würde weiter diktieren wollen. Hacke war zwar papistischen Glaubens, fühlte sich aber in Leipzig dennoch recht wohl, wie er immer wieder betonte. In jedem Fall war er eine vertrauenswürdige Person und bestens geeignet, als Schreiber für diese Schrift zu fungieren, denn die Vermengung des Theologischen und des Philosophischen war in dieser Stadt noch immer ein Risiko, anders als etwa in Breslau. Hacke würde ganz sicher nichts davon nach außen dringen lassen. Doch er traf Hacke nicht an. Der Hauswirt berichtete, der Herr Hacke sei spurlos verschwunden, mitsamt seinem wenigen Hab und Gut, vor Tagen schon. Gestern habe ein Universitätsdiener gefragt, ob der Papist Hacke schon abgereist sei. Das alles sei ihm und seiner Frau ein Rätsel, aber er wäre doch der Prediger der neu eingeweihten Peters-Kirche, ob er nicht auf ein Glas hereinkommen möchte.

So kam Adam an diesem Abend, nach einem sorgenvollen Gedankenaustausch mit dem Hauswirt, erst recht spät und ziemlich missmutig zurück in seine Wohnung. Was sollte er jetzt nur tun, fragte er sich. Die Schrift lag ihm am Herzen, denn sie fasste all das zusammen, was er in seinen philosophischen Kursen über die Jahre hin gelehrt hatte, und die Gedanken flossen nun mal besser, wenn er diktierte oder vortrug, als wenn er sich selbst ans Schreiben machte. Und ausgerechnet diese Schrift diesem Täubenfüßer zu diktieren, den er kaum kannte und der zu allem Überfluss die Wohnung nebenan bezogen hatte, konnte ihm keinesfalls recht sein. Das Gefühl, man wolle ihm übel mitspielen, verstärkte sich mehr und mehr.

Er ging zu Bett, schlief auch ein, erwachte aber mitten in der Nacht. Dass ihn bloß nicht wieder dieses Gefühl ergriff, dachte er, in einer Gruft zu liegen, in völliger Stille und Dunkelheit. Er stand auf, trat zum Fenster und blickte hinaus. Vom Peterskirchhof her war ein Schimmer zu erkennen, dort standen mehrere Straßenlaternen, die auch des Nachts brannten. In wenigen Stunden würde er aufstehen müssen, um sich auf die morgendliche Predigt vorzubereiten. Ich sollte versuchen, noch ein wenig schlafen, dachte er, bis Dratens Tochter an die Tür klopft. Vorsichtig tappste er zurück und legte sich wieder hin. Er musste an seinen Schreiber denken, nicht an Heinrich, Gott bewahre, nein, an Peter Hacke, der ihm noch vor Augen stand als Junge, der in der Breslauer Vorstadt Siebenhufen allerlei Dienste verrichtete, auch mal Wasser vom Brunnen holte oder dergleichen, der aber, wie er selbst, bald zu ein wenig Bildung gekommen war. Es hatte ihm leid getan, ihn nicht weiter gefördert zu sehen, doch als er ihn vor Jahren in Leipzig zufällig wiedersah, versuchte er sogleich, ihm bessere Arbeit zu verschaffen. Auch als sein Schreiber hatte er gute Dienste getan, und nun kam es ihm mehr als spanisch vor, dass er verschwunden war. Konnte es sein, dachte Adam, dass er wegen meiner geplanten Schrift aus Leipzig ausgewiesen worden war, nur weil sie ihm diktiert wurde? Doch dann hätte Hacke selbst es den falschen Leuten erzählen müssen, und dies wird er nicht getan haben, niemals, dazu war er, als Papist in Leipzig, zu vorsichtig. Die Angelegenheit blieb, egal wie man es drehte und wendete, mysteriös.

So grübelte Adam Stunde um Stunde. Schon drangen die ersten frühmorgendlichen Geräusche herauf, doch heute war es nicht Gepolter und Geschrei, wie sonst so oft, diesmal summte jemand ein Liedchen, sicher eine junge Frau, dachte Adam. Die Melodie erkannte er als die von Es geht ein dunkles Wölklein herein, ein Wanderlied. Er dachte sich ein hübsches, dralles Mädchen dazu, die in der Stadt umherging und ihr kleines Lied in alle Stuben sandte. Und schon fiel ihm Hacke wieder ein, der sicher nicht fröhlich wanderte, wenn er denn der Stadt verwiesen worden war. Davon musste er ausgehen, es konnte nicht anders sein, ansonsten Hacke sicher eine Nachricht hinterlassen hätte.

Das Knarzen der Treppe verriet ihm, dass Dratens Tochter im Anmarsch war. Er ging ins Treppenhaus und trug ihr auf, ihm einen starken Kaffee sowie Brot und Butter heraufzubringen. Wortlos stapfte sie wieder hinunter.

„Danke, du hässlicher Drache“, murmelte Adam, ging zurück in seine Wohnung und trat ans Fenster. Die Melodie war nicht mehr zu hören.

Nun klapperten auch schon die ersten Marktwagen über das Pflaster, Hunde bellten, Männer sprachen laut in einheimischen und fremden Dialekten miteinander. Der Tag konnte beginnen, auch für Adam. Eine Weile würde er mit seiner Müdigkeit zu kämpfen haben, das kannte er zur Genüge, doch es mochte schon gehen. Die Predigt war zu halten, die Katechismus-Schüler, aus deren Kreis er bald einen Frühprediger rekrutieren würde, kämen zusammen, der Tischlermeister Schwan wollte ihn sprechen wegen der Sitzbänke, die in der Peters-Kirche aufgestellt werden sollten, danach würde er Heinrich den Text zum Übel des Selbstmords weiter diktieren, ja, und anschließend wäre ein weiteres Diktat des anderen Textes bei Peter Hacke geplant gewesen. Hacke war es auch, fiel ihm jetzt ein, der ihm geraten hatte, den Text unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, was er jedoch nicht wollte, selbst als sich auch Heinsius dafür aussprach. Adam erinnerte sich an lange Diskussionen, doch er war zu sehr Breslauer, das versuchte er Heinsius klar zu machen, um sich mit einem Text zu verstecken. Von unten war plötzlich wieder diese Melodie zu hören. Adam eilte zum Fenster, und tatsächlich erkannte er eine junge Magd mit langen Zöpfen, die vor sich hin summte.

Heinrich roch stark nach Tabak und Alkohol. Er habe gestern, da er nicht mehr habe schreiben müssen, im Goldenen Hahn ein wenig über den Durst getrunken, entschuldigte er sich beim Prediger. Auch war seine linke Wange geschwollen, was er sich aber, wie er beteuerte, nicht erklären konnte. Adam wies ihn streng zurecht, er erwarte von seinem Schreiber ein tadelloses Benehmen, worauf Heinrich sich nochmals mit den selben Worten entschuldigte, als sei er ein Automat, um sich dann trotzig mit durchgedrücktem Rücken an das Stehpult zu stellen, den Kork aus dem Tintenfass und die Feder in die Hand zu nehmen und zu warten. Auch als Adam nichts sagte, blieb er in eben dieser Haltung, stocksteif, mit Blick auf das gestern begonnene Blatt.

„Hört zu, Heinrich“, sagte Adam Bernd endlich, „wir wollen heute an der Schrift über das Übel des Selbstmords weiterarbeiten, morgen aber, und danach immer im Wechsel, eine andere Schrift angehen. Letztere muss bis auf weiteres geheim bleiben. Wollt ihr mir Euer Ehrenwort geben, nichts von dieser Schrift verlauten zu lassen?“

„Ja“, sagte er tonlos, den Anderen kurz anblickend, „mein Ehrenwort darauf.“

Während des Diktats blieb die Stimmung frostig, doch eben dies half Adam, zu seiner eigenen Überraschung, klar und deutlich zu formulieren. Als sie nach der Arbeit noch bei einem Kaffee saßen, Adam hatte den davoneilenden Heinrich mit eben der Aussicht darauf aufgehalten, versuchte der Prediger, mit seinem neuen Schreiber ins Gespräch zu kommen und wieder Frieden zu schließen. Ob es richtig war, ihn für die geplante Schrift über den Willen und die Vernunft des Menschen zu engagieren, war ihm auch jetzt nicht ganz klar. Doch was blieb ihm anderes übrig, das Diktieren ging nun einmal besser und schneller als das Schreiben. Also erzählte er, um Heinrich ein wenig ins Bild zu setzen, von seinen philosophischen Kursen, berichtete von der Methode eines gewissen Cartesius und schließlich dem Denken des Thomasius, der, wie er vielleicht wisse, vor Jahren schon aus Leipzig ausgewiesen worden sei und nun in Halle lebte. All dies spräche er in seinem Tractat an, welches er übrigens, das habe er jetzt entschieden, in jedem Fall unter einem Pseudonym erscheinen lassen würde.

Heinrich nickte und goss sich ein wenig Kaffee nach. Allzu viel hatte er von der langen Rede des Predigers nicht verstanden. Allein mit dem Begriff des Decorums konnte er ein wenig mehr anfangen, davon hatte er schon gehört. Bald wurde ihr Gespräch allgemeiner und Heinrich gab sogar zu, sich gestern eine allzu deftige Ohrfeige eingefangen zu haben von einer Hure, so einer rothaarigen Schlampampe. Da sei er wohl, betrunken wie er war, zu frech gewesen. Das komme nicht mehr vor, versprach er. Adam nickte und erzählte, um das Thema zu wechseln, von jener Melodie, die er heute morgen in aller Frühe gehört hatte, von einer Magd ganz unschuldig gesummt. Heinrich kannte die Melodie nicht. Adam summte sie ihm vor. Heinrich lächelte matt. „Nennt Euch doch“, sagte er, nachdem er sich noch einmal Kaffee nachgegossen hatte, „Melodius. Wegen der geheimen Schrift, meine ich. Christian Melodius! Wäre das nicht ein guter Name?“

KREUZWEGE

Johann Samuel Heinsius hatte eben eine Liste der Schriften zusammengestellt, die bis zum nächsten Frühjahr in Druck gehen sollen, und so war er bester Laune. Die Spielkarten verkauften sich überdies, unter der Hand gewissermaßen, sehr gut, ebenso wie einige Predigtsammlungen hiesiger Geistlicher, darunter auch Texte Adam Bernds. Dieser würde ihm beizeiten noch die Schrift über das Übel des Selbstmords abliefern, und dann war da ja noch das Tractat Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und in das ganze Leben des Menschen, welches allerdings nun doch nicht unter dem wirklichen Namen des Autors erscheinen soll, wie ihm Heinrich Daubenfuß mitgeteilt hatte. Ein lustiger Kerl, ohne Zweifel. Aber gleichviel, eine Veröffentlichung unter dem Pseudonym Christian Melodius würde in jedem Falle Ärger vermeiden, denn die Stimmung in der Stadt war, was Religionsdinge anbelangte, in der Tat sehr angespannt. Die Leipziger Messen allerdings, dachte er weiter, liefen prächtig, die Bürger kamen wieder zu Geld und gaben es auch aus, nicht zuletzt für Bücher, darunter viele Lebensbeschreibungen. Dass nun auch noch dieser Daubenfuß oder Täubenfüßer eine eigene Schrift solcher Art bei ihm veröffentlichen wollte, er habe viel zu erzählen und arbeite bereits daran, amüsierte ihn allerdings eher, als dass es ihn wirklich interessierte. Nun ja, vielleicht würde er es sogar drucken, wenn es nur kein Verlustgeschäft würde. Derzeit schien überhaupt alle Welt schreiben zu wollen. Aber so lange die Leser nicht weniger würden, war das ja keine schlechte Sache und nur gut für’s Geschäft!

Meister Urian sei nach Königsberg abgereist. Nachrichten gäbe es keine. Johann stellte einen Krug Bier auf den Tisch und verschwand wieder. Auch gut, dachte Heinrich, so habe ich meine Ruhe. Er schielte zu Monique hinüber, die vorne im Ausschank aushalf, ihn jedoch nicht einmal gegrüßt hatte. Er nahm einen tiefen Schluck. Nach diesem Bier würde er gehen müssen. Er hatte sich strikte Zeiten angewöhnt, seit er fest in den Wochenplan des Predigers eingebunden war. Er kannte so gut wie Bernd selbst die Zeiten für den Katechismusunterricht, die vielen Predigten und die Krankenbesuche. Das Diktat nahm inzwischen täglich vier, fünf, manchmal sechs Stunden in Anspruch. Zum Glück hatte Bernd wenigstens für seine Predigten einen anderen Schreiber finden können, einen Theologiestudenten, ein junger, ehrgeiziger Bursche, der nun oft auch als Frühprediger einsprang. Aus der Schrift über den Selbstmord war inzwischen überdies eine eigene Lebensbeschreibung Adam Bernds geworden, in den die ursprünglich geplante Schrift zum Selbstmord eingefügt werden sollte.

„Heinrich“, hatte der Prediger urplötzlich ausgerufen, „niemand wird begreifen, was ich sagen will, erörtere ich nur die Fragen des Selbstmords. Nein, ich muss den Menschen begreiflich machen, wie es in meiner eigenen Seele aussieht! Ich muss ihnen zeigen, wie sich der Teufel auch in meinem Herzen einnistete. Warum sonst sollten die Menschen mir glauben?“ Gleich am nächsten Tag begann er mit dem Diktieren von Kindheits- und Jugenderlebnissen, und seitdem, also einer ganzen Weile schon, dachte Heinrich, geht es um Breslau, das Gymnasium, das Elternhaus, die Geschwister und so weiter. Von Emilia aber war bisher nicht die Rede gewesen, dafür aber von allerlei Ängsten, schlimmen Träumen und Gebrechen. Diktierte der Prediger allerdings das Tractat, so war er wie ausgewechselt. Den philosophischen Gedanken der Schrift konnte Heinrich allerdings nicht immer folgen. Klar war ihm aber, dass der Verstand sich der Argumente bemächtigte, die ihm etwa in einer Predigt dargelegt wurden, und so den Willen im besten Falle zu guten Taten zwingen könne, was umgekehrt nicht galt. Das führte Adam Bernd deutlich aus. Dazu kam noch eine so genannte mittlere Kraft der Seelen, deren Bewandtnis Heinrich aber nun ganz und gar nicht begriff. Er machte sich, kaum in der eigenen Wohnung, jeden Abend Notizen, um Meister Urian etwas liefern zu können, aber auch, um selbst etwas zu lernen.

Monique stand zwischen zwei Männern. Der eine, Gregor, war inzwischen Tischlergeselle geworden und zuversichtlich, die Zustimmung seines Meisters zur Heirat zu bekommen, nicht von heute auf morgen zwar, dennoch aber in absehbarer Zeit, während der andere, Meister Urian, neuerdings viel Zeit mit ihr verbrachte, und durchaus nicht ausschließlich im Bett, wie anfangs. Er schenkte ihr Kleider, Parfüm und sogar Schmuck, selbst wenn er ihr immer noch gelegentlich drohte, wie zuletzt erst. Sollte sie etwas von ihrer Verbindung verlautbaren lassen, sagte er, so reiße er sie mit in den Abgrund, denn unter der Folter würde sie Dinge gestehen, an die sie bisher nicht einmal gedacht hätte. Darauf könne sie sich verlassen. Meister Urian war allerdings keineswegs in Königsberg, mitnichten, vielmehr pendelte er zwischen Halle und Leipzig hin und her. Seine Spitzel hatte er hier wie dort. Auf halbem Wege stand ihm eine Kammer auf einem Hof zur Verfügung, in der er oft schlief und wo er sich um- und verkleiden konnte, denn selbstverständlich trat er in Halle als ein anderer Mensch denn in Leipzig auf. Von der ganzen Sache wusste, außer den verängstigten Bauersleuten und dem Kutscher, nur Monique, die er in letzter Zeit ganz gerne um sich hatte. Meine Hugenottenbraut, so nannte er sie still für sich, obgleich er wusste, dass sie Papistin war oder das jedenfalls behauptete. Es war ihm auch ganz gleich. Die hohen Herren der theologischen Fakultät in Leipzig hatten allerdings keinen blassen Schimmer von all dem, und keiner dieser Herrschaften besaß auch nur eine Vorstellung davon, so dachte Urian oft, wie groß der Aufwand ist, nur einen einzigen Pietisten in Leipzig aufzuspüren, geschweige denn ihn anhand irgendeiner Untat zu überführen. Doch so lange die Herrschaften bezahlten und ihn für einen der ihren hielten, war alles in bester Ordnung.

Vom Rat der Stadt war ein offizielles Anschreiben gekommen mit der Aufforderung, weitere Predigten wider die Unzucht zu halten, denn die Zahl der nichtehelichen und auch elternlosen Kinder nähme beständig zu, schon bald müsse ein weiteres Waisenhaus vor den Mauern der Stadt gebaut werden. Nun ja, er würde sein Bestes tun, dachte Adam Bernd, helfen aber würde es wenig, selbst bei denjenigen nicht, die ihm in die Hand versprachen, ihr Leben zu ändern. Der Mensch als solcher ist eben schwach, dachte er, und wer wüsste das besser als er selbst! Diktiere ich denn nicht tagtäglich all meine eigenen Sünden dem Teufel, das fragte er sich manchmal, wenn er sich diesen Täubenfüßer so ansah, wie er, am Schreibpult stehend, schrieb und schrieb, so als führe er Protokoll! Und das waren ja nicht einmal die schlimmsten Sünden seiner Jugend und der ersten Jahre der Männlichkeit, die er diktierte, durchaus nicht, und würde er ganz und gar ehrlich sein wollen, so müsste er selbst noch vieles einfügen, was in seinen Tagebüchern stand. Wichtiger als seine Lebensbeschreibung war allerdings das Tractat, aber auch hier war er sich nicht sicher, ob nicht etwa der Deibel in seinem eigenen Herzen hockte und ihm die Zunge lenkte. Zwar bin ich, überlegte er, überzeugt von den Lehren des Cartesius, doch mag es auch sein, dass sie den Menschen Schaden zufügen und sie dazu verführen, von Gott abzurücken. Cogito ergo sum, ich denke, also bin ich! Darüber grübelte er stundenlang nach, und manchmal wusste er nicht ein noch aus, wusste nicht mehr, was wichtig und was weniger wichtig war und konnte sich zu keiner endgültigen Ansicht durchringen.

Heinrich hatte Federn, Tinte und Papier vom Prediger erbeten und auch bekommen. Auf die Nachfrage, was er denn schreiben wolle, hatte er offen bekannt, die eigene Lebensgeschichte zu verfassen.

„Sie ist sicher nicht so aufregend wie die Eure“, hatte er noch gesagt, „doch die Menschen lesen so etwas gern, scheint mir. Auch Heinsius ist dieser Ansicht.“ Adam Bernd hatte ernst genickt und ihm zugestimmt, war zugleich aber auch ein wenig amüsiert über solch ein Vorhaben. Sicher, immer mehr Menschen schrieben Tagebuch, nicht nur Pietisten, keineswegs, und manche auch ihre eigene Lebensbeschreibung. Aber dass die Schrift eines armen Schreibers gedruckt würde, war dann doch eher unwahrscheinlich. Ein Buchhändler und Verleger musste einen Gewinn erzielen, ein Heinsius arbeitete nicht für Gotteslohn. Aber sollte Heinrich tun, was ihm beliebte, denn wer fleißig schrieb, der soff eben auch weniger in den Schenken der Stadt, dachte er. Auch konnte er sich kaum vorstellen, wie Heinrich dieses ganze Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen würde. Doch da tat er seinem Schreiber unrecht, denn der war wild entschlossen und setzte sich so oft wie möglich an seinen klapprigen Tisch und diktierte sich seine Schrift gleichsam selbst. Oft flüsterte und schrieb er stundenlang, bis tief in die Nacht hinein. Begonnen hatte er mit der Beschreibung seiner Mutter. Knapp zählte er auf, was er wusste, ging dann aber gleich über zu all diesen Dingen, die sich auf dem Bauernhof ereignet hatten und kam schließlich zu seinem Leben als Gehilfe des Kaufmanns Thorbecke in Schwerte. Emilia aber hatte er bisher vollkommen ausgelassen, nicht einmal erwähnt hatte er sie! Gut dreißig Seiten Lebensbeschreibung, ohne ihren Namen überhaupt niederzuschreiben. Emilia! Am besten würde es wohl sein, zunächst das Verschwinden Emilias zu beschreiben, doch ihm fiel nichts ein, er fand keine Worte. Schließlich schrieb er nur das hin, was der dritte Prediger gesagt hatte über die Teufel aus Breslau, die sie mitgenommen hatten an jenem Tag. Das aber war nun auszuführen.

„Das muss doch gehen, verdammt noch mal“, rief er ungehalten. Viel mehr blieb aus der Schwerter Zeit ja nicht zu berichten, denn die Jahre auf dem Bauernhof mit Andreas Alberti, das Erlernen des Lesens und Schreibens, die Sache mit dem angeschwollenen Fuß, das Verschwinden Annas und der Tod dieses Ungetüms von Knu, all das war bereits aufgeschrieben, ebenso die Begebenheiten in seinem Dienst bei Thorbecke und seine Flucht nach Leipzig. Natürlich musste er das alles noch ausschmücken, das wusste er wohl. Adam Bernd füllte oft ein Dutzend Seiten mit der kleinsten Begebenheit.

Eines Tages wird Adam Bernd gegen Mittag zu einem Sterbefall gerufen, so dass Heinrich in seine Wohnung geht. Er setzt sich an den Tisch, übersät mit Blättern kreuz und quer, von beiden Seiten beschrieben, bekritzelt. Das Verschwinden Emilias hatte er inzwischen ja wenigstens erwähnt, auch wenn er nur bekannt gab, sie sei plötzlich weg gewesen, damals, er selbst noch ein kleines Kind, von den Teufeln geraubt, und er mit der Mutter allein. Zu allem Weiteren hatte er nur Stichworte. Ihr Freitod in der Ruhr, sie war ins Wasser gegangen, davon war er überzeugt, sollte am Ende nur wenige Zeilen einnehmen. Eine Feststellung ohne Beiwerk, zur Erschütterung des Lesers. So sein Plan. Auch zu ihrem Leben in Breslau im Haus des Predigers Acoluth, diesen Namen hatte er nicht vergessen, würde er wenig nur sagen. Dass sie von einem dort wohnenden Gymnasiasten, der Prediger werden sollte, in andere Umstände gebracht worden sei, worauf sie mitten im Winter die Stadt floh und zu Fuß bis nach Schwerte ging. Den folgenden Teil seiner Schrift war der Leipziger Zeit zu widmen, bis hin zu dem Tag, als er das Flugblatt zur Hand nahm, das die Antritts-Predigt Adam Bernds ankündigte. Doch würde es nicht unklar bleiben, warum er überhaupt damals von Schwerte weggegangen ist, wenn er nicht die Rache erwähnte, die er im Sinn hatte und hat? Wie schwierig das alles war! Seine Achtung gegenüber den Autoren stieg von Minute zu Minute. Es konnte keine Rede davon sein, alles einfach nur niederzuschreiben. Verzweifelt warf er einen Blick auf den Wust von Blättern und wischte alles vom Tisch. Er würde das bisher Geschriebene verbrennen und neu beginnen müssen. Aber zunächst musste er sein Vorhaben noch einmal durchdenken, er musste auf das Genaueste wissen, was er schreiben wollte. Ob er etwa, so fragte er sich, seine Träume schildern sollte, so wie Adam Bernd das tat, all diese feuchten und schlüpfrigen Gespinste, an die er sich oft bestens erinnerte. Wie dumm war es überdies gewesen, über Jahre einfach anzunehmen, sein erklärter Feind sei immer noch in Breslau. Sollte er darüber, über seine eigene Dummheit, etwa auch schreiben! Würde man ihn deswegen nicht auslachen? Er suchte die ersten Seiten seines Lebensberichtes heraus und las darin.

„Über mir sah ich die verkrüppelte Hand meiner Mutter selig“, murmelte er, „als ich eines Gegenstandes ansichtig wurde, den ich heute noch besitze. Ich verbarg ihn unter meinem zerschlissenen Rock, damit niemand ihn mir wieder entwenden konnte. Es war ein Messer, noch recht neu und scharf, mein einziger Besitz für lange Jahre.“ Das waren gute Sätze, fand er. Direkt daran anschließend sollte er nun auf die Figuren eingehen, die er in der Kammer des dritten Predigers schnitzte, die er für diesen Gymnasiasten und angehenden Prediger aus Breslau nahm und denen er die Köpfe abbrach. Doch wie war das zu schildern?

Heinrich schrieb so jeden lieben langen Tag für Adam Bernd, für sich selbst und bald auch für Meister Urian, der ihn schriftlich aufforderte, in einem versiegelten Umschlag täglich Notizen zum Stand der Dinge in der Coffee Bille zu hinterlegen. Der Knopfmacher brachte ihm Siegelwachs, einen Siegelring, Schwefelhölzer und Papier herauf, das sei für ihn abgegeben worden. In der Bille bekam Heinrich jedes Mal eine Quittung ausgestellt, lieferte er den Umschlag ab, denn Ordnung, so die Hausdame, müsse schon sein. In den Schenken ließ er sich somit kaum noch blicken, er hatte keine Zeit mehr zum Trinken, und in den Goldenen Hahn durfte er ohnehin nicht einmal mehr hinein, denn Johann Chantin war von seiner Frau auf die Straße gesetzt worden, so dass nun ein neuer Wirt den Betrieb führte, der Heinrich als eine seiner ersten Amtshandlungen gleich die Tür wies. Hurer und Huren seien nicht mehr willkommen, es wehe ein neuer Wind. Monique aber durfte als Bedienung bleiben, und da mochte, so nahm Heinrich an, Meister Urian seine Hände im Spiel gehabt haben.

An die Berliner Göre dachte er indes noch oft, die nun, nach allem was er hörte, bei einer Theatertruppe gelandet und mit dieser nach America gezogen war, nicht ohne ihm allerdings einen juckenden Ausschlag am Unterleib zu hinterlassen, der sich stetig verschlimmerte. So saß Heinrich also in seiner Wohnung und schrieb, während er sich den Sack kratzte, obgleich ihm dies vom Medicus August Quirinus Rivinus verboten worden war, denn die Hurenkrätze sei auch schon ohne die Kratzerei eine langwierige Angelegenheit. Mal würde es besser, dann unversehens wieder schlechter, darauf müsse er sich gefasst machen. Die schwarze, stinkende Paste, die er Heinrich verkaufte, linderte zwar die Beschwerden, doch nicht nur stank sie zum Himmel, er konnte, wenn er sie auf die Wunden geschmiert hatte, auch keine Hosen tragen. So lief er nicht selten mit einem langen Mantel über seiner Blöße breitbeinig durch Leipzig.

Adam Bernd fiel wie tot auf sein Bett, erschöpft wie selten. Die Gedanken wälzten sich nur so herum in seinem Kopf. Seit er seine Lebensbeschreibung dem Täubenfüßer diktierte, quälte er sich mit der Frage, ob dieser nicht zu viel erführe von seinem Leben. Erst gestern hatte er einen Absatz diktiert, in dem es um seine Angst ging, sich selbst zu töten, weil sich ja auch der Vater ersäuft hatte. Dann hatte er entschieden, den Absatz wieder zu streichen, doch wusste Heinrich jetzt natürlich darum und würde sich seine Gedanken machen. Ein Schreiber ist ja kein Automat und begreift von dem, was er schreibt, das Meiste. Vor allem, wenn Allzumenschliches verhandelt wird. Aber auch über seine anderen Schriften machte er sich Sorgen. Heinsius würde nun zunächst das Tractat veröffentlichen und sowohl die Lebensbeschreibung als auch die Schrift über den Selbstmord erst später drucken – ob Letztere als Teil der Lebensbeschreibung oder separat, war ihm gleich. Doch um ein solches Tractat gut verkaufen zu können, musste er all die selbst gewonnenen Erkenntnisse noch mit denen anderer Autoren aller Zeiten vergleichen, Pro und Contra abwägen, Argumente erläutern, Fußnoten einfügen und so weiter. Allein aus diesem Grund saß er fast täglich in einer Bibliothek, oft in der eines Ratsherren, der ihn dann meist noch zu einem Essen bat und in lange Gespräche verwickelte, was ihn von anderen Pflichten abhielt. Seit Wochen war er nicht mehr vor den Toren der Stadt gewesen, hatte weder im Waisenhaus noch im Hospital seine Besuche gemacht, ja er vernachlässigte sogar den Katechismusunterricht mehr und mehr und gab viele Aufgaben an seinen anderen Schreiber ab, der aber noch nicht Priester, sondern immer noch Student war. Auch ein Aderlass stünde wohl bald wieder an, er fühlte geradezu, wie sein Blut immer dicker wurde. Und zu all dem kam noch der unwiderstehliche Drang, die Lebensbeschreibung auf eine Art zu verfassen, dass nun wirklich nichts verschwiegen würde, was es auch sei, ein Drang, von dem er annehmen musste, er sei ihm vom Teufel persönlich eingepflanzt worden.

Die Tochter des Knopfmachers hatte Kaffee gebracht. Schweigend tranken ihn die beiden Männer und sahen hinaus in den Leipziger Regen. Das Poltern der Wagen war nur gedämpft zu hören. Adam Bernd überlegte, langsam seinen Kaffee schlürfend, was er seinem Schreiber am heutigen Tage diktieren sollte, denn das, was ihm für seine Lebensbeschreibung einfiel, war durchaus delikat. Niemand schrieb so etwas auf, überlegte er, auch wenn es wohl kaum sein konnte, dass nur er allein Albträume zu den wichtigen und schicksalhaften Dingen im Leben zählte. Träume, so sagten viele, seien vom Satan selbst den Menschen eingegeben, sie wiesen hin auf ein nicht gottgefällig geführtes Leben, auf Sünden der schlimmsten Art. Doch konnte ein Kind bereits derartig sündigen? Viele seiner Träume waren seit seiner frühsten Jugend die selben, sie veränderten sich kaum, so wie jener, der in der Beschreibung seiner Zeit vor dem Eintritt in das Elisabeth-Gymnasium nicht fehlen durfte und der ihm seitdem bis heute manche Nacht zur Hölle werden ließ. Als ich ihn das erste Mal erleiden musste, dachte Adam, sich noch einmal Kaffee nachschenkend, lebte der Vater noch, er lag des Nachts, seinen Rausch ausschlafend, neben dem Ofen, während ich nahe der Tür zum Stall neben Elisabeth schlief. Sie war es auch, die mich damals immer wachrüttelte und tröstete. Ich weiß es noch wie heute, überlegte er weiter, wie ich ihr flüsternd berichtete geträumt zu haben, in einem Teich zu ertrinken, doch ich sagte ihr nicht, dass es mitnichten Wasser gewesen ist, in dem ich zu ersaufen drohte, sondern Kot. Es schüttelte ihn, als er jetzt daran dachte. Heinrich blickte kurz auf, sagte aber nichts. Nein, dachte Adam, die Welt soll es zwar zur rechten Zeit erfahren, denn ein jeder Mensch hat Albträume, und es soll ihnen ein Trost sein, solche Beschreibungen zu lesen, aber Heinrich Daubenfuß zu diktieren, dass ich in einem Pfuhl von Exkrementen um mein Leben rang, bis mir der Dreck in den Mund lief, das kommt nicht infrage. Solcherart Dinge werde ich, so entschied er, eigenhändig aufschreiben und in das Manuskript einfügen. Er stand auf und gab Heinrich einen Wink, man wolle mit der Arbeit beginnen.

DER DOPPELTE HEINRICH

Heinrich schrie auf vor Schmerz, doch es half nichts, er musste trotz des entzündeten Handgelenks schreiben. Dabei war das noch das geringere Übel, verglichen mit den eitrigen Pusteln, die nach Wochen stetiger Besserung nun wieder an seinem Unterleib aufgetaucht waren und jeden Schritt zur Hölle werden ließen. Er war in die Wohnung des Predigers, während dieser eine Predigt zu halten hatte, hinübergegangen, ganz so, als sei es das Normalste der Welt, um noch etwas für Meister Urian herauszuschreiben. Adam Bernd selbst hatte Heinrich erzählt, es bestünde die Gefahr, dass sein Tractat als gegen die Rechtfertigungslehre gerichtet angesehen würde, doch natürlich sei Gott nicht durch Verstandesleistungen zu bestechen, und das behaupte er auch nicht, wie selbst jene in dieser Stadt wohl erkennen würden, die ihm Übles wollten. Nur Gott allein könne entscheiden, den einen Menschen am jüngsten Tag freizusprechen und den anderen nicht. Heinrich hatte nicht genau verstanden, was Bernd ihm zu erklären versuchte, und ob er nun also etwas Passendes herausschrieb oder nicht, konnte er nicht wissen. Er schrieb. Vielleicht hatte er ja Glück. Vor kurzem war ihm eine recht hohe Geldsumme zugegangen, er musste wohl etwas Wichtiges geliefert haben. Ausgerechnet Monique war bei ihm erschienen und hatte ihm grinsend den Beutel hingeworfen. Er entdeckte einen Absatz, in dem von Justificatio die Rede war. Er schrieb ihn ab, verstand jedoch nichts davon. Das ging entschieden über seinen Horizont hinaus, und auch die Erklärungen, die der gute Heinsius kürzlich eben die Justificatio betreffend versucht hatte, stifteten nur Verwirrung in seinem armen Kopf. So übertrug er also wie immer einfach die Absätze in sein Heft, in denen Worte wie Papsttum und Katholizismus nahe beieinanderstanden.

Für heute wollte er es aber gut sein lassen, auch musste der Prediger bald zurück sein. Er legte die Blätter wieder an ihren Platz. Da fiel sein Blick auf das zuunterst liegende Blatt eines anderen Papierstapels, von dem ein Zipfel herausragte, und da es sich offensichtlich um dickeres und gröberes Papier handelte, wurde er neugierig. Vorsichtig zog er es hervor, und wie überrascht war er, als er eine Zeichnung sah und sich selbst in ihr erkannte, mit frisiertem Haar wie bei einer Frau! Ob wohl Adam Bernd dieses Porträt, denn das war es, gemacht hat, fragte er sich, es weiter wie gebannt betrachtend. Ja natürlich, dachte er, das bin ich, wenig schmeichelhaft gezeichnet, böse den Betrachter ansehend, dazu mit Frauenhaaren! Oder sollte das eine Perücke sein? Plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, Adam Bernd sei womöglich Sodomist! Er wäre ja beileibe nicht der erste Priester, der in Sünde lebte! Oder nein, unmöglich, sagte er sich, das kann nicht sein! Oder etwa doch? Er schob das Blatt wieder unter den Stapel, nahm das Abgeschriebene und die Feder und ging hinüber in seine Wohnung. Da hatte er nun was zum Grübeln, und er würde sicher, das wusste er ja selbst am besten, seinen ganzen, so leicht in Verwirrung zu bringenden Verstand aufbieten müssen, um zu einem klaren Urteil zu kommen. So eine Zeichnung musste doch etwas zu bedeuten haben! Aber was? Er zog die Hosen aus, wickelte ein Tuch um seinen Unterleib und begann auf und ab zu gehen. Adam Bernd, überlegte er, wird bald seine Lebensgeschichte drucken lassen, und er fügt eigenhändig geschriebene Absätze in das Manuskript ein. Das wusste Heinrich und das war kein Geheimnis. Doch würde der Prediger wohl kaum etwas hineinschreiben, das gegen Gott und seine Gebote gerichtet ist, selbst wenn es wahr sein sollte! Das würde Heinsius, dachte Heinrich, nicht drucken! Aber was hatte das jetzt mit der Zeichnung zu tun? Schon war er wieder durcheinander. Die Zeichnung! Ist sie wirklich ein Hinweis auf sündiges Verlangen, überlegte er weiter, so müsste Adam Bernd vor Angst doch vergehen? Angst davor, sich unwillkürlich zu Tode zu stürzen oder sich ein Messer in den Leib zu stoßen! Erst letztens bekam ich ja mit, fiel ihm ein, wie er Dratens Tochter befahl, alle Messer mit hinunter zu nehmen und wegzuschließen. Sollte dies von der Sünde herrühren, mit Männern verbotenen Umgang gehabt zu haben? Aber dann, daran dachte er erst jetzt, ein Beweis mehr, wie schlecht sein Kopf funktionierte, würde er doch Emilia nicht in andere Umstände gebracht haben! Das konnte doch nicht sein! Die Gedanken wirbelten alle zugleich in seinem Kopf herum. Nach einer Weile aber beruhigte er sich. Adam Bernd, so entschied er, ist kein Sodomist, das ist unmöglich, denn Emilia sagte doch, sie habe mit ihm zusammengelegen. Warum denn hätte sie lügen sollen, ja und überhaupt, er stieg in seine Hosen und lief hinüber in des Predigers Wohnung, um sich die Zeichnung noch einmal anzusehen, ist das denn nicht viel eher Emilia als ich! Natürlich! Wie hatte er sich nur so täuschen können.

Heinrich hielt das Blatt in der Hand, so als erwarte er, Emilia täte den Mund auf, um zu ihm zu sprechen. Das Abbild, das doch nur der Prediger selbst angefertigt haben konnte, ließ seinen Hass wieder aufflammen! Sein Blick lag wie gebannt auf diesem Gesicht, doch nun schienen ihm die Augen nicht etwa böse, wie zuvor, sondern lieblich, die Gesichtszüge nicht grob, sondern fein. Er legte das Blatt wieder zurück und schlüpfte im letzten Augenblick aus der Tür, kurz bevor Adam Bernd, in einen dicken Mantel gehüllt und mit ganz rotem Gesicht, den obersten Treppenabsatz erreichte.

„Eben wollte ich“, brachte Heinrich hervor, „Dratens Drachen um Kaffee bitten.“ Der Prediger lächelte.

„Eben dies habe ich, lieber Heinrich, schon getan, nicht ohne ihr so etwas wie eine Beichte abnehmen zu müssen. Die arme Seele. Das Mädchen hat, im Vertrauen gesagt, manch böse Gedanken.“ Sie gingen in die Wohnung, wo sie schweigend auf die Bewirtung warteten. Täubenfüßers Gedanken verwirrten sich, er kannte sich selbst nicht mehr. Flammender Hass gegen den Prediger wechselte ab mit dem Gefühl, ihm so etwas wie ein Bruder sein zu müssen, ein Weggefährte. Das ging wie ein Riss durch ihn hindurch. Wie er diesen Kerl hasste, oder hassen wollte! Er dachte an Anna, der ein vornehmer Herr ein Kind gemacht hatte, und sicher war auch sie in die Ruhr gegangen. Viele ehrlose Frauen gingen ins Wasser, das wusste man in Schwerte, wenn auch einige bis hinauf zur Syburg liefen, um sich von dort in die Tiefe zu stürzen. Begingen in Leipzig weniger Frauen die schwerste aller Sünden, weil es Armenhäuser und auch Waisenhäuser gab? Würde Emilia noch leben, wäre sie nicht nach Schwerte gegangen, sondern in Breslau geblieben? Half Stadtluft, Schande zu ertragen? Doch wie oft wurden nicht auch Frauen in Leipzig auf das Rathaus diktiert und einer peinlichen Befragung unterzogen! Und wehe, sie gaben etwas zu. Manche verließen aber dennoch mit dickem Bauch die Stadt und waren nicht mehr gesehen. Über all diese Dinge nachdenkend beobachtete er den Prediger, der jetzt in sich versunken hin- und herstiefelte, jetzt einige Male ansetzte, etwas zu sagen, dann aber wieder abwinkte. Das kannte Heinrich schon, er würde die Feder erst eintunken, wenn ein vollständiger Satz zu schreiben war. Dann wurde endlich der Kaffee gebracht.

Adam, der von Heinrichs Gefühlswirrwarr nichts bemerkte, wollte, das hatte er sich für heute fest vorgenommen, in das letzte Kapitel des Tractats noch einen zweiten Paragraphen hineinschreiben. Das war überaus wichtig. Der Wille, eben dies würde er noch einmal betonen, könne durchaus böse Neigungen bewirken, doch wenn der Mensch selbst dem Guten zugeneigt sei, würde auch der Wille, das schien ihm sicher, seine Grenze darin erfahren. Doch wie das formulieren? Mehrmals hob er zum Diktat an, unterbrach sich aber immer wieder, nachdem er „Paragraph römisch zwei“ in den Raum gerufen hatte, setzte sich auf einen Stuhl, stand wieder auf, setzte sich wieder, stand auf, hob zu sprechen an, schwieg dann aber dennoch und so weiter und so weiter. Heinrich war eben zum dritten Male im Begriff, die Feder einzutunken, denn irgendwann musste es ja losgehen, als ein schon älterer Mann, ganz durchnässt, seit Wochen wechselten sich Schneefall und eiskalter Regen ab, schwer keuchend um Luft ringend, vor der Tür stand. Endlich brachte er mit langen Pausen zwischen den einzelnen Worten hervor, der Apotheker Soderberg lasse grüßen, er bringe eine Arznei, sie sei bereits bezahlt, und ob ein Heinrich Holzkötter hier zu finden ist, ihm müsse er die Sendung persönlich übergeben. Den Namen Holzkötter betonte er ganz besonders. In der Hand hielt er einen Tiegel aus Steingut, einem großen Tintenfass nicht unähnlich. Als er den Boten den Namen so auffallend deutlich aussprechen hörte, durchlief den Prediger ein Zittern, noch bevor er begriff, was hier geschah. Holzkötter ist doch der Familienname Emilias, dachte er endlich. Ich selbst habe ihn Emilia zu schreiben gelehrt, überlegte er, und da fiel ihm auch wieder seine Zeichnung ein und die Ähnlichkeit Emilias und Heinrichs, die er durch eben diese Zeichnung bemerkt hatte und die ihm so unerklärlich war. Darauf musste man erst einmal kommen, dachte er, Holzkötter, Heinrich Holzkötter. Von wegen Herr Daubenfuß!

Der Bote wusste nicht recht, wie ihm geschah und blickte zu Boden. Vor ihm stand zitternd dieser Mensch, der dem Habit nach der Prediger sein musste, also sollte doch wohl der Kerl am Schreibpult Holzkötter sein, doch eben dieser rührte sich nicht und starrte ihn an. Beide Herren starrten ihn an, als sei er der Verderber persönlich! Dabei war doch nur eine Arznei abzugeben, die er auf Geheiß einer jungen Dame bei Soderberg abgeholt hatte. Sollte man ihm einen Obolus geben oder nicht, das war ihm gleich, doch ihn hier stehen zu lassen und anzustarren, war nicht recht. Endlich aber rührte sich der Mann im Hintergrund und tat einen Schritt auf ihn zu.

„Guter Mann“, sagte dieser, „ich bin Heinrich Daubenfuß, die Arznei mag schon für mich sein, das hat seine Richtigkeit.“ Da Heinrich aber keine Anstalten machte, den Tiegel in Empfang zu nehmen, die Arme hingen ihm wie tot am Leib herab, reichte der Mann das Gefäß schließlich dem Prediger, der es nahm, auf den Tisch stellte, ein Geldstück hervorkramte und den Mann, ihm Gesundheit und Glück wünschend, aus der Tür schob.

„Wo waren wir stehengeblieben?“, sagte er, die Türklinke noch in der Hand und ohne seinen Schreiber anzublicken, der sich nun wieder an sein Pult stellte und die Feder eintunkte.

„Ihr wolltet“, sagte Heinrich leise, „den Paragraphen römisch zwei diktieren.“

Wenig später brachte Dratens Tochter noch einmal frischen Kaffee und man setzte sich an den Tisch. Als Heinrich ihnen beiden eingoss, zitterte er ein wenig, sein Herz klopfte wie wild, und natürlich bemerkte Adam das Zittern, sagte jedoch nichts. Auch ihm wummerte das Herz im Leib, denn nun war aus einer Ahnung Gewissheit geworden. Wie hatte er nur annehmen können, Daubenfuß sei der wahre Familienname Heinrichs! Er musste also der Bruder Emilias sein, er musste wissen, wie es ihr ergangen war und wo sie lebte. Vielleicht hätte er Heinrich umgehend gefragt, ihm die Geschichte, oder einen Teil der Geschichte, erzählt, die ihn mit Emilia verband, doch da sein Schreiber weiß wie die Wand war und zu Boden starrte, verschob er es auf später. Heinrich fragte sich indessen, warum Meister Urian oder Monique dem Boten offensichtlich eingeschärft hatte, in jedem Fall den Namen Holzkötter laut und deutlich auszusprechen, damit der Prediger, selbst wenn Heinrich in seiner Wohnung gewesen wäre, das in jedem Fall hörte. Warum? Was versprach sich Urian davon? Was alles wusste er? Wichtiger aber war jetzt die Frage, was er selbst tun sollte, was sagen, wenn Adam Bernd ihn befragen würde?

Heinrich entschloss sich, von den naheliegenden Fragen abzulenken und seinem Gegenüber zu erklären, diese Arznei solle wohl endlich die Folgen seiner Sünden lindern, in dem Tiegel sei sicher eine neue Salbe gegen die Hurenkrätze, die er sich eingefangen habe. Sie sprachen eine Weile darüber, auch dass auf eine Besserung immer wieder eine Verschlechterung folgte. Adam hatte Mühe, nicht in den Predigerton zu verfallen. Dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Adam diktierte, und wer weiß, ob er ohne diesen Vorfall ihn so verfasst hätte, diesen Teil des Paragraphen II des letzten Kapitels seiner Schrift über den Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und das ganze Leben des Menschen.

„Die kurioseste Wirkung des Willens in die Wahrheiten“, so diktierte er, „ist wohl auch die stärkste, obwohl sie öfters zufälligerweise den Menschen eher in Irrtum stürzt, als dass sie ihm zur Wahrheit verhelfen sollte. Das ist diejenige Wirkung, nach welcher der Mensch, daferne er seinen Vorteil oder Schaden erkennt, im Fall etwas wahr oder falsch sein sollte, eine heftige Neigung des Willens hat, dass nur dies, oder jenes wahr, und jenes oder anderes falsch sein möchte, so dass eine heimliche Neigung ihn die Sache nur so vorstellen lässt, wie er sie gerne beschaffen haben wollte. Ein geiler Mensch, der einmal durch ein falsches Urteil von der Vortrefflichkeit der venerischen Luft verführt und so einen heftigen Willen und Neigung hat, Hurerei zu begehen, verblendet seinen Verstand und verleitet die Seele dazu, lauter Ausflüchte auszukünsteln, aus denen sie die angenehme Erkenntnis zieht, dass wenn der Verstand keine Sünde erkenne, auch keine begangen ist. So künstelt er so lange, bis er Gründe genug erfindet, welche ihm die sündige Sache als etwas Gutes und Erlaubtes vorstellt.“

Er hatte mit fester Stimme diktiert, sich aber sehr zusammennehmen müssen. Nun hieß es, da Heinrich in seine Wohnung hinübergegangen war, über die ganze Sache nachzudenken, die Frage zu beantworten, wie er mit Heinrich zu sprechen habe, um herauszubekommen, ob es Zufall ist, dass dieser bei ihm Schreiber geworden war. Er dachte an jene Szene in dem Wirtshaus, an jenen Tag, an dem er Heinrich zum ersten Mal sah. Lange Jahre war das her, doch damals hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit Heinrichs mit Emilia erkannt, und erst jetzt, mit der Nennung des Familiennamens Holzkötter, war ihm wirklich ein Licht aufgegangen. Er dachte an die erste Begegnung mit Emilia im Hause Acoluths, kaum dass sie ihn ansehen und ihren Namen sagen wollte, doch schließlich sagte sie, sie heiße Emilia Holzkötter und stamme aus Schwerte in Westphalen, dort sei auch noch ihr kleiner Bruder. Das hatte sie gesagt.

Die schwarze, streng riechende Paste vertrieb keineswegs den Schmerz, aber sie veränderte ihn, machte ihn binnen kurzer Zeit stumpf und ein wenig erträglicher. Nie wieder würde er eine Hure auch nur ansehen, das hatte er sich bereits geschworen, als die ersten Pusteln und Bläschen zu sehen waren. Er würde nie wieder schwach werden, sein Entschluss stand für alle Zeit fest. Dabei war die Berliner Göre nicht einmal eine der üblichen Schlampampen gewesen, sie war ein sauberes und langweiliges Ding, nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem, zur Hölle mit ihr, dachte er, indem er sich noch ein wenig der Paste auf sein bestes Stück schmierte, zur Hölle mit all den Weibern! Dann stand er auf und ging breitbeinig ans Fenster. Eine Gruppe stramm ausschreitender Stadtsoldaten kam eben die Gasse herunter, behände wichen ihnen Männlein wie Weiblein aus. Niemand von denen scheint Probleme mit dem Gehen zu haben, dachte Heinrich, an sich selbst herunterblickend, wie er ohne Hosen und schwarz eingeschmiert dastand, wie ein halber Mohr, dachte er, wie ein Unikum, das auf dem Jahrmarkt die Menschen belustigt. Es war gar nicht daran zu denken, sich nun ankleiden und hinausgehen zu können.

„Zur Hölle mit allen Huren, zur Hölle, zur Hölle, zur Hölle!“

Adam wusste, dass Heinrich von dem Tractat nicht viel begriff. Das sah er an einigen typischen Schreibfehlern, aber auch an der Miene seines Schreibers, die jedoch eine ganz andere war, diktierte er ihm die Lebensbeschreibung. In diese würde er nun die Emilia betreffenden Passagen in jedem Fall selbst einfügen, in welcher Form auch immer. Heinrich sollte, bevor alles gedruckt vorlag, nichts von all dem erfahren, vor allem nichts von der Liebschaft und nichts von der schrecklichen Nacht, in der sie von diesen Teufeln in Menschengestalt überfallen worden waren. Oder sollte Emilia ihrem Bruder davon berichtet haben? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Natürlich würde er Heinrich auch nichts über die Taubheit seines Unterleibes diktieren, die ihn seit dieser Nacht in der Gegenwart einer Frau befiel. Ja, auch dies musste er selber aufschreiben, ein wenig verklausuliert, doch deutlich genug, all jene zu trösten, denen ebenso Gewalt angetan worden ist. Warum nur ließ Gott dies alles zu, das Böse, das die Menschen sich antaten, und all die Unglücke und Unfälle? Auch einen Text über eben diese Frage wollte er noch verfassen, auch das hatte er sich fest vorgenommen. Natürlich durfte sein Amt, das er nun schon fast zwei Jahre innehatte, dadurch nicht Schaden nehmen. Doch was hinderte ihn daran, für seine tägliche Arbeit alte Gastpredigten, die er in den Dorf- und Stadtkirchen gehalten hatte, wieder hervorzuholen? Auch würde er bald schon zwei oder drei seiner besten Schüler regelmäßig für Predigten einsetzen können. Das würde ihm Zeit verschaffen. Doch jetzt stand erst einmal die Lebensbeschreibung an, die wollte geschrieben und beendet sein! Kurzentschlossen nahm er eine Feder zur Hand, schnitt sie zurecht und begann.

„Eines Tages“, murmelte er schreibend vor sich hin, „war ein noch ganz junges Mädchen im acoluthschen Haus in Breslau erschienen, wenig gelitten doch geduldet. Sie sagte mir, der ich damals noch Gymnasiast auf dem Elisabeth-Gymnasium war, sie sei Emilia Holzkötter aus Schwerte in Westphalen und mit geistlichen Herren in diese Stadt gekommen.“ Er stockte. Sollte er nun Heinrich erwähnen, überlegte er, weil sie damals kurz von ihrem kleinen Bruder gesprochen hatte? Im Treppenhaus plötzlich Lärm, jemand kam schnell die Treppe heraufgelaufen. Er drehte das Blatt um und wandte sich zur Tür. Wer mochte das sein? Dieser Jemand klopfte jedoch bei Heinrich und trat dort ein, ohne auf Antwort zu warten. Schallendes Lachen einer Frau. Dass Heinrich nicht mitlachte, konnte Adam gut nachfühlen, denn wahrscheinlich lief der arme Kerl, nachdem er die neue Salbe aufgetragen hatte, jetzt nackt durch seine Wohnung und suchte sich zu bedecken. Schade, dachte Adam, dass so etwas nicht für eine Predigt taugte, es wäre ein gutes Exempel, um den Huren und Hurern die Leviten zu lesen.

Monique lachte frei auf, als sie Heinrich nackt in der Stube stehen sah. Die schwarze Paste bedeckte den halben Unterleib. Sie wusste, dass Täubenfüßer litt, doch es sah eben zu komisch aus. Heinrich warf sich eine Decke um und blickte Monique böse an.

„Heute seid ihr nicht recht in Form, scheint mir“, sagte sie in ihrem Singsang, „dann wird es wohl wieder nichts mit uns.“ Sie stolzierte durch die Stube, hockte sich breitbeinig auf den Stuhl und sah ihn lüstern an. Dann jedoch stellte sie die Beine brav nebeneinander und wurde ernst.

„Wie Ihr wohl ahnt“, flüsterte sie übertrieben leise, „ist der Meister bereit, den Vogel abzuschießen.“ Ihr Blick wanderte zu einem Stapel Papier.

„Ihr seid also auch unter die Autoren gegangen! Komme ich vor in euren Geschichten?“ Heinrich antwortete nicht und wies auf die Kiste unter dem Bettgestell. Alles Wertvolle, was er besaß, war darin verwahrt. Die Abschriften der Texte Adam Bernds lagen obenauf in einem Umschlag ohne Aufschrift. Monique würde sie nun einfach Meister Urian bringen, der damit gegen den Prediger vorgehen konnte. So, dachte Heinrich, ist wohl der Lauf der Dinge. Inzwischen wusste er aber auch, dass gegen jeden Einzelnen der jüngeren Leipziger Prediger der grundsätzliche Verdacht gehegt wurde, er könne unter Umständen zu den Pietisten, den hallischen Teufeln zu rechnen sein. Monique hatte ihm kürzlich, so gut sie es selbst verstand, erläutert, dass Meister Urian Adam Bernd besonders beachte, da er aus Breslau stamme, wo man es mit der Feindschaft gegenüber den Papisten, den Calvinisten und den Pietisten nicht gar so genau nahm. Jede seiner Predigten, jede seiner Schriften sollte untersucht werden, auch wenn diese nicht einmal gedruckt seien. Heinrich hatte verstanden, und ja, es war ihm im Grunde recht, wenn Bernd sein Amt verlor und in Verzweiflung stürzte – wenn da nicht dieses seltsame Gefühl wäre, das Gefühl der Zuneigung, das ihn in dessen Gegenwart geradezu überfiel. Aber was sollte er tun? Das Geld hatte er angenommen, die Stube, die beste Wohnung, die er je bewohnt hatte, wurde bezahlt, selbst die Zugsalbe für seine Beschwerden bekam er kostenfrei geliefert. Würde Monique, würde Urian ihm glauben, wenn er behauptete, von dem Tractat noch keine weitere Abschrift verfertigt zu haben? Und wer ahnte schon, aus welchen Quellen dieser Kerl noch schöpfte! Vielleicht wusste er sogar längst von all den anderen Plänen des Predigers, mehr als er, Heinrich, selbst. Die wichtigste Frage aber ist doch, dachte er, ob ich, sollte der Prediger aus dem Amt gejagt werden, dies alles verlieren würde, vor allem die Wohnung. Darüber hatte er oft schon nachgedacht. Vielleicht also hätte er die Abschriften doch noch einmal durchsehen sollen, bevor sie in die Hände Meister Urians fielen! Doch dazu war es jetzt zu spät.

„Sind es diese?“, fragte Monique barsch. Heinrich nickte. Sie nahm den Umschlag und wandte sich zur Tür. Der Meister lasse ausrichten, er hoffe bei Gott, die Salbe sei hilfreich, rief sie noch grinsend, bevor sie die Tür hinter sich zuwarf. Fast hätte sie Adam Bernd umgerannt, der eben aus seiner Türe trat. Irgendwo, dachte Adam sofort, habe ich diese Frau schon einmal gesehen. Was sie wohl ausgerechnet beim Täubenfüßer, bei Heinrich Holzkötter gewollt haben mochte? Er ließ ihr mit einer vagen Geste lächelnd den Vortritt. Das Thema seiner heutigen Nachmittagspredigt würde die Putzsucht und die Eitelkeit sein, da wäre, dachte er, diese Frau ein gutes Exempel!

Der Katechismusunterricht war wenig aufregend. Adam wusste um die Angst seiner neuen Schüler, denn bald schon würden sie bei der theologischen Fakultät eine erste Prüfung ablegen. Er fühlte mit ihnen, wenn sie mit glänzenden Augen und zugleich besorgt vor ihm saßen, um bloß nicht auch nur ein Fitzelchen zu verpassen vom dem, was er sagte. Eine schlechte Prüfung allerdings, dachte er, fällt nicht auf die Prüflinge zurück, sondern auf mich als deren Katechet. Bin ich überzeugend genug, wenn es um die Punkte geht, wie unser Glauben von dem der Papisten zu unterscheiden ist? Das fragte er sich. Er selbst dachte ja, dass im Grunde doch eine Wiedervereinigung beider Lager die beste Lösung sei, doch er hütete sich natürlich, auch nur die kleinste Andeutung zu machen. Unter seinen Predigten allerdings, die Heinsius vor wenigen Jahren in einem Konvolut veröffentlicht hatte, fand sich eine, in der er eben dies befürwortete, und er konnte nur hoffen, dass niemand sie fand und las. Doch nicht nur diese Fragen beschäftigten ihn, sondern auch die naheliegende, wo er jene Frau schon einmal gesehen hatte, die mit Papieren aus Täubenfüßers Wohnung gekommen war. Ich werde Heinrich fragen müssen, beschloss er und versuchte, sich auf seinen Unterricht zu konzentrieren.

„Meine Lieben“, hob er also an, „wir wollen alle Punkte von Wichtigkeit noch einmal erwägen.“

ROLLENSPIELE

Die Bürger der Stadt Leipzig und solche, die es gerne wären, machten sich neuerdings einen Spaß daraus, an Feiertagen die Stadt zu verlassen, die vor den Stadtmauern angelegten Gärten und die Vorstädte vollends zu durchqueren, um dann am Ufer der Elster entlang zu spazieren oder auf einer Wiese hockend mitgebrachte Speisen zu verzehren. Sie nahmen sogar ihre Kinder mit, damit diese, so war zu hören, den Frühling vom Herbst zu unterscheiden lernten. Heinrich Holzkötter, genannt der Täubenfüßer, tat indes seit einer Weile keinen Schritt mehr als notwendig. Langsam, sehr, sehr langsam verheilten die Wunden, die die Hurenkrätze ihm im Schritt geschlagen hatte. Der Medicus August Quirinus Rivinus hatte ihm prophezeit, es würden noch Monate ins Land gehen, bis er geheilt sei, selbst mit den besten ausländischen Methoden. Vor dem Herbst jedenfalls sei damit nicht zu rechnen. Statt der schwarzen Paste sollte Heinrich nun bald aber einen weißen Puder benutzen.

„Eben dies ist schon ein Fortschritt“, sagte Rivinus, der sich auch heute wieder viel Zeit damit ließ, die Wunden mittels einer Lupe anzusehen, Eiter herauszudrücken, Proben zu nehmen und so weiter. Zugleich diktierte er den Befund in aller Ausführlichkeit auf Latein einem jungen Studenten, der immer auch eine Zeichnung in vergrößertem Maßstab anfertigte, da Rivinus’ Sehkraft sehr nachgelassen hatte. Man munkelte in der Stadt, er beobachte die Sonne, um Flecken auf ihr zu untersuchen, woraufhin er langsam erblinde.

Kaum wieder allein machte sich Heinrich an seine eigene Lebensbeschreibung. So wie der Prediger ein langes Kapitel dem Selbstmord widmete, so wollte Heinrich, das war seine neueste Idee, in seiner Schrift eines dem Hass, oder der Rache, oder eigentlich beidem, widmen. Doch mehr als drei, vier Blätter waren es noch nicht geworden. Es fiel ihm schwer, seine Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen. Außerdem wiederholte er sich auf den wenigen Seiten ein ums andere Mal, bemerkte dies aber erst nach einigen Tagen, wenn er alles noch einmal durchlas. Zufrieden war er beileibe nicht, denn es konnte keineswegs die Rede davon sein, so formulieren zu können wie der Prediger. Die Beschreibung seines Lebens auf dem Bauernhof bei Schwerte empfand er inzwischen indes als gut gelungen, die sollte Heinsius in jedem Fall drucken.

Plötzlich stand Monique bei ihm in der Wohnung! Er hatte sie nicht einmal kommen hören. Das passierte ihm in letzter Zeit öfter.

„Der Meister lässt fragen“, begann sie unvermittelt, „ob ihr bald wieder laufen könnt oder ob Euch der Arsch am Ende ganz abfaulen wird.“ Sie wirkte müde und gereizt und beachtete nicht einmal, dass Heinrich halbnackt, den Unterleib mit dem weißen Puder bedeckt, auf dem Bett lag. Ohne ihn anzusehen begann zu erzählen. Sie sei, berichtete sie, in aller Herrgottsfrühe mit einer Kutsche aus Halle gekommen, wo sie Meister Urian zu Diensten gewesen sei.

Heinrich griff sich die Decke und setzte sich auf.

„Als ein Prediger aus Osnabrück“, fuhr sie fort, „ist er dort bekannt, redet in einem fremden, schweren Zungenschlag und sucht die Nähe eines gewissen August Hermann Francke, der dort ein Waisenhaus leitet, Kirchenlieder dichtet und eine Position in der Cansteinschen Bibelanstalt erringen will. Wusstet Ihr davon, Täubenfüßer?“ Heinrich schüttelte den Kopf. Natürlich wusste er nichts davon. Der Meister sei oft in Halle, erzählte sie weiter, eine gewisse Empörung lag in ihrer Stimme, und dort sei er also ein ganz anderer Mensch, und dies nicht nur, wenn er ausginge. In den Nächten fluche er über Francke und den Freiherrn von Canstein, doch er fluche leise und flüsternd und gerate oft so in Rage und zittere derart, dass sie es mit der Angst zu tun bekäme, ja Todesangst hätte sie. Sie selbst bleibe dort Tag und Nacht meist in einer kleinen Stube und gehe nicht aus, weil viele Menschen in Halle schlecht zu sprechen seien auf modische Kleidung, mehrfach sei sie angefeindet worden, doch eben dies sei ein gutes Exempel dafür, was ein Gelehrter der dortigen Universität öffentliche Meinung nenne, so habe Meister Urian ihr das erklärt.

„Doch eben dieser Gelehrte“, fuhr sie fort, „schert sich nicht um diese Meinung, sondern gestattet es seiner Frau, sich herauszuputzten wie die Gräfin von Königsmarck! Mich aber sperrt Urian tagelang ein und …, ach, ihr wisst schon, Täubenfüßer!“ Heinrich hörte, überrascht von ihrer Redewut, interessiert zu. Der Geruch von Urians Pfeifentabak haftete an ihr. Der raucht natürlich nicht solch ein Kraut wie das gemeine Volk, dachte er.

„Dieser Gelehrte mit der herausgeputzten Frau“, setzte Monique wieder an, „ein gewisser Thomasius, ist aber der einzige vernünftige Mensch in Halle, das sagt der Meister, weil er Distanz zu Francke und seinem Lumpenpack hält. Sie haben gestern gemeinsam bei Urian gespeist und einen Discours gehalten, wie sie das nennen, doch obgleich sie Französisch sprachen, habe ich nicht ein Wort verstanden!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf.

„Nicht ein Wort!“ Ihre grünen Augen funkelten. Den schweren Tonfall habe er übrigens auch im Französischen beibehalten und später auch noch ausführlich auf Deutsch über Osnabrück gesprochen, obgleich er dort nie gewesen sei, wie er ihr später gestanden habe. Heinrich musste grinsen, denn eine Hure, die sich über einen Betrug empört, erlebte man nicht alle Tage. Dann ging sie wieder, kaum dass sie ihm noch zugenickt hatte. War sie etwa nur bei ihm aufgetaucht, um ihm all das zu erzählen?

Kurz darauf ließ sich Monique von Chantins Exfrau, es reichte gemeinhin, Grüße von Meister Urian auszurichten, um allerlei Dienstbeflissenheit auszulösen, ein Frühstück herrichten. Sie zitterte ein wenig vor Müdigkeit, denn sie war mitten in der Nacht von Halle aus aufgebrochen. Der Meister schlief da schon in seinem Sessel und ließ sich vom Vollmond bescheinen. Auch nur ein Mensch, hatte sie gedacht, während sie sich wieder anzog und ihre Kleider zusammenraffte. Auf das verabredete Zeichen des Kutschers war sie schließlich zur Hintertür hinausgehuscht, ohne ihn aufzuwecken. Ich hätte ihm die Kehle durchschneiden können, überlegte sie, dem Herrn Prediger aus Osnabrück. Selbst mit mir, das dachte sie immer wieder, spricht er in Halle mit anderer Zunge. Als sei er der Deibel persönlich!

Adam Bernd verabschiedete seine Schüler und zog sich in die Sacristei zurück. Er dachte wieder an diese Frau, die mit einem Umschlag in der Hand aus Täubenfüßers Wohnung gekommen war. Als ein Exempel für die Putzsucht hätte er sie ja gleich mitnehmen können in die Kirche, das war sein erster Gedanke gewesen. Sie hatte eine Entschuldigung in einem komischen Akzent gemurmelt und war dann vor ihm die Treppe hinuntergegangen, so dass er an jedem Absatz ihr Gesicht studieren konnte. Einmal noch hatte sie ihm zugelächelt. Hatte sie womöglich eine Auftragsarbeit abgeholt, fragte er sich. Insistieren würde er nicht, überlegte er, denn damit löse ich womöglich nur irgendwelche Kalamitäten aus. Sicher waren das Abschriften, der ein oder andere kleine Auftrag von einem Kaufmann oder einem Handwerksmeister. Der Schreiber eines Predigers zu sein hob das Ansehen, warum also sollte Täubenfüßer, Heinrich Holzkötter, dies nicht nutzen? Und die Frage, ob Heinrich wirklich Emilias Bruder ist, stand ja auch noch im Raum! Inzwischen ging er davon aus, dass ein unglaublicher Zufall ihn mit Heinrich hatte zusammentreffen lassen, und es wäre wahrscheinlich am besten einfach abzuwarten, bis Heinrich von sich aus etwas erzählte über sich und sein Leben. Unwahrscheinlich aber, dachte er nicht zum ersten Mal, dass er etwas weiß über Emilia und mich und das Unglück des Überfalls damals in Breslau.

Auch Monique dachte nach, ja das Denken hinderte sie daran, endlich einzuschlafen. Und schlafen musste sie ganz dringend nach der durchwachten Nacht. Das kurze Zusammentreffen kürzlich mit diesem Adam Bernd, auf den Urian nun fast seine ganze Aufmerksamkeit richtete, ging ihr nicht aus dem Kopf. Er hatte ihr freundlich zugenickt und, das war das Verstörende, sie hatte im selben Augenblick Mitleid für ihn empfunden. Die Antrittspredigt hatte ihr gut gefallen, auch wenn sie eigentlich nur dort gewesen war, um diesen Täubenfüßer zu beobachten. Damals wusste sie nicht mehr, als dass dieser dem Meister in sekundärer Weise, so hatte er das ausgedrückt, zu Diensten gewesen war und nun vielleicht wieder gebraucht würde. Urian hatte sehr gelacht, als sie ihm von der kleinen Nummer in der Peters-Kirche erzählte, die sie vollführt hatte, ungeplant allerdings, denn zum Pinkeln hinauszugehen wäre ja unmöglich gewesen. Wie auch immer, Täubenfüßer war auf den Prediger angesetzt und dessen Schreiber geworden, und sie musste die Abschriften und die in der Coffee-Bille hinterlegten Notizen Täubenfüßers abholen und nach Halle bringen. Ins Teufelsnest, wie Urian selbst sagte. Sonst weiß ich nichts, dachte sie, überhaupt nichts, von dem wenigen abgesehen, das ich heute dem kleinen Hurenbock erzählt habe. Ob der Prediger aber nicht doch eine gute Seele ist und zu Unrecht verdächtigt wird! Von all diesen als so wichtig erachteten Unterschieden von Orthodoxie und Pietismus und Calvinismus verstand sie ohnehin nichts. Sie selbst war jedenfalls dem Papst treu, und das hatte sie dem Meister auch gesagt, und zwar gleich bei der ersten Zusammenkunft.

„Umso besser, umso besser“, hatte der erwidert, weiter nichts. Und dann war da auch noch die Sache mit Gregor, der alles viel zu ernst nahm und sie heiraten wollte! Ihren Einwand, dies sei doch wohl unmöglich, schon allein wegen der unterschiedlichen Bekenntnisse, ließ er nicht gelten, dann würden sie eben nach America auswandern, dort herrsche Freiheit in solchen Dingen. Sie würde ihm das ausreden müssen! Endlich aber schlief sie über all ihren Sorgen ein.

Gregor stand derweil an der Hobelbank und ärgerte sich. Die beiden Altgesellen hatten es wieder einmal nicht lassen können, spöttelnd zu bemerken, er habe es ja bereits weit gebracht, denn nachdem er zunächst nur Türen für die Toten gebaut habe, eben jene als sein Gesellenstück zu den Grüften in der Peters-Kirche, dürfe er nun ja sogar schon solche für die Lebenden bauen. Sie nahmen ihm seinen Ehrgeiz krumm und seine schöne Freundin, das wusste er, und dass Meister Schwan viel auf ihn hielt. Er atmete tief durch, nahm den Profilhobel zur Hand, prüfte die Schärfe des Eisens und setzte an. Er hatte eine prächtige Eingangstür in Arbeit, ein Beweis mehr, wie sehr ihn Meister Schwan schätzte. Auf die Heiratspläne hatte er den Meister indes nicht mehr angesprochen. Monique hatte recht, die unterschiedlichen Bekenntnisse stünden dem nun mal im Wege. Außerdem war sie ein ganzes Stück älter als er und zudem Französin. Hinzu kam noch, dass keiner der Gesellen, auch nicht die älteren, verheiratet waren, wie sollte Schwan da ihn unterstützen, ohne andere zu verärgern. Die Unzuverlässigkeit Moniques war ein weiterer Punkt. Wie oft war sie tagelang unauffindbar! Er legte den Hobel aus der Hand. Nicht auszudenken, er ruinierte das teure Eichenholz, weil er an eine Frau dachte! Ein wenig Holzhacken sollte ihm die Gedanken vertreiben, bevor er sich an feinere Arbeit machen würde. Dem Lehrling trug er auf, die Hobelbank aufzuräumen und die Stechbeitel zu schärfen, dann ging er in den Hof. Wahrscheinlich ist sie bei diesem Meister Urian, dachte er, einen kräftigen Hieb ausführend, auch wenn sie immer wieder über ihn spottet. Manchmal, wenn er über all das nachdachte, hatte er gute Lust, sie zu erwürgen, er wusste dann überhaupt nicht wohin mit seiner Wut, doch wenn sie ihm gegenüberstand, wurde er jedes Mal butterweich – und ärgerte sich später eben darüber. Der Meister riss ihn aus seinen Gedanken, er solle das Holzhacken den Holzknechten überlassen und weiter an der Tür arbeiten. Er tat noch einen letzten Hieb, mitten hinein in den Schädel Urians, dann ging er wieder zu seiner Hobelbank.

Am selben Abend noch machte sich Monique wieder auf nach Halle. Warum Meister Urian sie immer hin- und herschickte, war ihr nicht ganz klar, denn es war keineswegs so, dass sie immer Abschriften mitzubringen hatte. Ihr schien es manchmal, als wolle der Meister sie nur müde machen, unendlich müde, und mit ihr zugleich den armen Kutscher, der halsbrecherisch genug unterwegs sein musste, um seinen Auftraggeber nicht in Rage zu versetzen. Auch die Bauern auf halber Strecke, dort wurden die Pferde gewechselt, kamen oft genug um ihre Nachtruhe. Doch es war nicht zu ändern, und so stieg sie, nach ein paar Stunden Schlaf, wieder in diese verfluchte Kutsche und ließ sich die Knochen durchrütteln. Mitten in der Nacht erreichten sie Halle. Am Galgtor hielt sie den ihr von Urian ausgehändigten Brief mit mehreren Unterschriften und Siegeln dem Torwächter vor die Nase und wurde in die Stadt eingelassen. Den Meister fand sie pfeiferauchend und trinkend vor. Er habe, damit begrüßte er sie, von weither einen wunderbaren neuen Tabak erhalten, die Mischung eines gewissen Herrn Motzek. Dann machte er umstandslos Anstalten, sich an Monique zu versuchen, öffnete seinen Hosenstall und hatte seine Hände auch schon an den Bändern.

„Ich habe gestern, oder war es vorgestern, Adam Bernd im Haus des Herrn Draten getroffen“, sagte Monique statt sich auszuziehen, und da knöpfte sich der strenge Meister Urian sofort wieder zu.

„Ah, erzählt mir, meine Teure, was unser guter Prediger Euch zu berichten hatte“, flüsterte er, und da nichts weiter geschehen war und kein Gespräch stattgefunden hatte, musste sie nun wohl oder übel eines erfinden.

„Setzt Euch doch, meine Liebe“, sagte Urian und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Er habe nur Schnaps da, allerdings etwas ganz Neues, nämlich einen aus Kartoffeln gebrannten, den lasse er sich von seinen Bauersleuten immer in seine italienischen Flaschen füllen, und da das Schnapsbrennen ihnen nicht erlaubt sei, obwohl sie doch hochoffiziell den Kartoffelanbau erprobten, hätten sie nun noch mehr Angst als ohnehin schon. Lachend setze er sich und füllte die Gläser. Er sprach in seinem üblichen Duktus, nicht im sonst hier in Halle von ihm gepflegten Osnabrücker Dialekt.

„Nun“, begann er wieder, „was berichtete der Magister der Theologie?“ Urian stopfte seine Pfeife neu, stürzte ein Glas Branntwein hinunter und sah sie neugierig an. Jetzt ist wieder einmal eine Fähigkeit gefordert, dachte sie, die von größter Wichtigkeit ist, nämlich das Erfinden von Geschichten während des Sprechens, und so berichtete sie zunächst erst einmal vom Täubenfüßer und seinem sonst immer schwarz beschmierten, nun aber weißgepuderten Unterleib, sie sei, das wisse er ja, kurz bei ihm gewesen, um nach weiteren Abschriften zu fragen. Urian goss sich nach, wie immer schief grinsend, wenn es um diesen Täubenfüßer ging.

„Nun, was diesen Prediger angeht, es war ein Gespräch im Treppenhaus“, begann Monique wieder, „wir trennten uns in der Gasse.“ Sie stockte, trank ihr Glas leer und hielt es ihrem Gegenüber zum Nachfüllen hin. Er müsse zur Kirche, fuhr sie fort, habe er gesagt, seine Schüler zu unterrichten und eine Predigt zu halten. Sie stockte, aber dann fiel ihr ein, was Gregor erzählt hatte, und so berichtete sie Urian, Adam Bernd habe davon gesprochen, wie er sich im Frühjahr des Jahres 1711 bereits entschieden hatte, Leipzig zu verlassen, worauf er dann aber bei einem Besuch der Baustelle in der Kirche hängengeblieben sei. Urian goss nach.

„Was meint Bernd mit diesem Hängeblieben“, fragte Urian, sich vorbeugend, „welche Umstände bewogen ihn, seinen Entschluss zu ändern?“ Er reckte den Kopf noch ein wenig weiter vor und sah sie scharf an.

„Nun“, rief er, als Monique schwieg, „ein so schlauer Kopf wie unser Prediger sagt dies nicht einfach so daher, also heraus damit! Oder ist es ein Geheimnis, dass ihr beiden Täubchen teilt, du und dieser Prediger?“ Monique kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut.

„Nein, nein“, stotterte sie, „er sagte mir, wie es vor sich gegangen war.“ Und da erzählte sie die ganze, von Gregor ihr mehr als nur einmal zu Gehör gebrachte Geschichte so gut sie konnte in einer Weise, als habe Adam Bernd es ihr erzählt.

„Ah“, sagte Urian, „abergläubisch ist unser Freund auch noch! Und wer mag wohl den Nagel eingeschlagen haben? Der Teufel persönlich vielleicht?“ Er starrte Monique an, seine Pupillen flatterten ein wenig.

„Nun“, sagte er, sie am Kinn fassend, „du weißt es, nicht wahr!“ Da berichtete sie, ihr Gregor habe diesen Nagel in die Holzverkleidung eines Pfeilers eingeschlagen, jedenfalls erzähle er das, um Adam Bernd, der ihm zuvor sein ganzes Herz ausgeschüttet hatte, zu halten und an die Kirche zu binden als den zukünftigen Prediger. Urian grinste. In ihrer Angst hatte Monique mal wieder Ochs und Esel beim Namen genannt.

Meister Urian dachte lange nach. Er war keineswegs sicher, ob all das der Wahrheit entsprach. Warum sollte der Prediger Monique, die er nicht einmal kannte, von solch abergläubischen Dingen erzählen, fragte er sich. Er goss ihr Glas wieder voll.

„Wenn du gelogen hast“, sagte er endlich leise, „hänge ich dich gleich hier auf“, er wies zur Decke, „und wenn du nicht gelogen hast, überlege ich es mir noch einmal.“ Er bedeutete ihr, das Glas zu leeren. Er füllte es erneut. Monique probierte ein Lächeln. Vielleicht hatte sie Glück und er würde wieder müde werden vom Trinken.

„Erzähl mir von diesem Gregor“, sagte Urian, plötzlich wieder im Tonfall des Osnabrücker Pietisten. Monique schlug die Augen nieder. Jetzt nichts Falsches sagen!

ZUSAMMENKÜNFTE

Die eigentliche Arbeit am Tractat, es würden immerhin gut fünfhundert oder mehr Buchseiten im Octavformat werden, war abgeschlossen. Längere Abschnitte aus älteren Schriften Bernds waren noch eingefügt worden, dazu die ein oder andere Stelle aus Schriften berühmter Autoren, damit die berndschen Thesen nicht allein im Raum stünden. Nun lag alles bei Heinsius, der es aber erst im nächsten Jahr drucken wollte.

„Ich bin“, sagte er, „Gott sei’s geklagt, nun mal abergläubisch.“ Also 1714, nicht 1713. Man würde aber, da war man sich einig, bei dem Pseudonym Christian Melodius bleiben. Die Lebensbeschreibung Bernds war indes noch abzuschließen. Sie sollte enden mit der Berufung in das Amt des Oberkatecheten und Predigers der Peters-Kirche.

„Den zweiten Teil, lieber Heinrich“, sagte Adam eines Tages, „diktiere ich Euch, wenn wir dereinst alt und grau sind“, worauf der Angesprochene lächelnd genickt, gleichwohl aber gedacht hatte, dazu werde es wohl nicht kommen, denn bald schon würde alle Welt wissen, wer nämlich das Tractat geschrieben hat und wer sich hinter dem Pseudonym Christian Melodius verbirgt. Ein von Meister Urian erdachter Plan war allerdings misslungen, nach dem Heinrich das Manuskript auf dem Weg zu Heinsius in eine Stube zu bringen hatte, wo mittels mehrerer Schreiber möglichst viel in kurzer Zeit herausgeschrieben werden sollte. Daran, dass der Prediger Heinrich die fertige Schrift nicht anvertrauen würde und sie selbst zum Verleger bringen könnte, hatte Urian nicht gedacht. So musste er sich also mit dem von Heinrich Abgeschriebenen begnügen und daraus eine Anklageschrift entwerfen, die dann nur noch zu ergänzen wäre, läge erst einmal das vollständige Tractat im Druck vor. Aber da Urian fest davon ausging, den Prediger des Angriffs auf die Rechtfertigungslehre überführen zu können, käme es auf ein paar Wochen oder Monate ja nicht an. Wer es den Menschen schmackhaft zu machen versuche, so hatte Urian es Heinrich gegenüber erklärt, sich über den Verstand her Gott zu nähern, ja sich sozusagen für den jüngsten Tag lieb Kind machen zu wollen, hatte im Predigeramt nichts zu suchen, mal ganz abgesehen davon, dass es nicht statthaft sei, sich mit philosophischen Argumenten in die Religion zu drängen. So jedenfalls sähen das auch alle Mitglieder der theologischen Fakultät. Und was dieses lächerliche Pseudonym anging, so würde er kurz nach Erscheinen Gerüchte streuen lassen, die den sauberen Herrn Prediger als Autor des Werks in Verdacht setzten. Christian Melodius! Er hatte sehr gelacht, als er zum ersten Mal davon hörte. Und als Täubenfüßer schüchtern bemerkte, er selbst habe diesen Namen damals dem Prediger eingegeben, da belobigte ihn Urian ausdrücklich, was er doch für ein Hundsfott sei, der brave Täubenfüßer! Er hatte ihn sogar aufgefordert, mit ihm zu speisen, er wolle ihm bei Tisch noch das ein oder andere erklären.

Vollgefressen und betrunken stapfte Heinrich spät an diesem Abend breitbeinig die Treppen des Knopfmacherhauses hinauf. Zum Glück war alles glimpflich abgelaufen. Was hätte er auch tun sollen, als der Prediger darauf bestand, das Tractat selbst zu Heinsius zu bringen? Das hatte der Meister zum Glück eingesehen. Die Dinge nahmen also ihren Lauf. Von der Eigenen Lebensbeschreibung, die Bernd ihm diktierte, schien Urian allerdings keine besondere Notiz nehmen zu wollen, und von sich aus auf diese zu sprechen zu kommen, fiel Heinrich gar nicht erst ein. Seine neue Aufgabe, die ihm Urian an diesem Abend gegeben hatte, war indes leicht. Er sollte Monique mit dem Prediger bekannt machen, denn wenn dieser ein wenig Vertrauen fassen würde zu ihr, so könne man mehr erfahren als durch alles Horchen und Abschreiben der Welt. Monique, das war ganz wesentlich, der Meister erklärte es ihm noch bevor der Wein auf dem Tisch stand, sollte nicht gezielt vorgehen oder auch nur irgendeine konkrete Absicht verfolgen, denn dass Adam Bernd auf Heinrich hereingefallen sei hieße nicht, ihn unterschätzen zu dürfen.

Meister Urian stand am Morgen nach diesem Gespräch sehr früh auf, puderte eigenhändig seine beste Perücke und lief dann eilig zur Paulinerkirche, die Frühmesse zu besuchen. Anschließend war er mit zweien der besonders aufmerksamen Herren der theologischen Fakultät verabredet. Wie erwartet hatten sie unwiderlegbare Beweise verlangt, wenn sie gegen den Katecheten und Prediger der Peters-Kirche vorgehen sollten. Sie selbst nämlich seien zufrieden mit ihm, er fülle sein Amt gut und vollständig aus. Nun, es gab, wie Urian wusste, viele Mitglieder der Fakultät, die das anders sahen und auch schon einen Nachfolgekandidaten in der Hinterhand hatten. Dennoch aber musste er mit allen reden und Rechenschaft ablegen. Er selbst würde jetzt erst einmal abwarten, bis jene Schrift auf den Markt käme, und im Notfall wäre ihm eine ältere Predigt Bernds, in der er von der Wiedervereinigung der Kirchen spricht, sicher hilfreich. Heinsius verkaufte das Konvolut, in dem sie gedruckt ist, ja immer noch, dachte Urian, da habe ich in jedem Fall ein schönes Argument in der Hand. Ohnehin ist alles nun auf das Beste eingefädelt, ganz gleich, was Monique noch anbringen mag. Nur diesen Gregor, dachte er, den sollte ich auch noch anwerben, denn wer weiß, für was man so einen verliebten Tischler in Zukunft noch gebrauchen kann.

Monique war froh, nicht mehr ständig nach Halle und wieder zurück fahren zu müssen. Sie war erschöpft wie noch nie. Zwei Tage hatte sie überdies auf ihre Monatsblutung gewartet. Nicht auszudenken, sie würde schwanger, denn ob sie dann einen kleinen Tischler oder einen kleinen Teufel gebären würde, wüsste sie nicht zu sagen. Ein Mädchen mit den Gesichtszügen Meister Urians sollte man wohl gleich ertränken, dachte sie. Sie arbeitete wieder im Goldenen Hahn, in der es nun wirklich und wahrhaftig gesittet zuging. Ihr war das recht, sie hatte ihr Auskommen und niemand ging ihr an die Röcke. Nur dass Gregor ständig den Romeo spielen musste, fiel ihr wirklich auf die Nerven. Fast jeden Abend stand er unter ihrem Fenster und wollte hinauf.

„Ich will nicht nach America, nur um die Ehe eingehen zu können“, hatte sie eines Abends zu Gregor in den Hof hinuntergerufen und das Fenster zugeknallt. Am nächsten Tag hatte er ihr das Buch eines gewissen Ludolph Berckenmeyer schicken lassen. Der Titel, Allerhand außerlesene Geographische und Historische Merckwürdigkeiten, so in America zu finden. Aus Berühmter Männer Reisen zusammengetragen, den sie stirnrunzelnd las, war ihr schon abschreckend genug, doch da sie nun mal leidlich lesen konnte, selbst diese fürchterliche deutsche Schrift, las sie das ein oder andere, wollte aber dann erst recht nicht in dieses America. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als bald ernsthaft mit Gregor zu sprechen, nicht nur wegen seiner kruden Pläne, sondern auch, weil sie um seine Eifersucht wusste und ein Zusammentreffen Gregors mit Meister Urian unbedingt zu verhindern war.

Adam lehnte sich auf das Fensterbrett und sah dem Treiben in der Gasse zu. Er war für den Augenblick zufrieden, denn Heinsius hatte ihm nun brieflich das Erscheinen seines Tractats für Anfang des nächsten Jahres bestätigt und sich für die Verzögerung, die nicht zuletzt aus seinem Aberglauben herrühre, entschuldigt. So aber habe er, das sei ein Vorteil, immerhin noch ausreichend Zeit, selbst einen Blick auf die Schrift zu werfen und Stellen zu finden, die den Prediger angreifbar machten. Wer wolle schon schlafende Hunde wecken! Deswegen auch sei das Pseudonym unabdingbar. In Breslau aber, dachte Adam, würde ich das Tractat in jedem Fall unter meinem eigenen Namen veröffentlichen, dort fand sich mehr Verstand und weniger Engstirnigkeit. Er erinnerte sich an das Erstaunen der Studenten, als er in einem Seminar einmal jenen Satz des Cartesius, cogito, ergo sum, in den Raum geworfen hatte. Der denkbar einfachste Satz, der sich von selbst erklärt, indem der einzelne Mensch über ihn nachdenkt. Auf dem Abort fand sich kurz darauf Ich defäkiere, also bin ich in die Wand geritzt, und das war natürlich ebenso richtig, hatte aber nichts mit dem Verstand zu tun. Er lächelte und dachte an seine eigene Studienzeit, die trotz der Unwägbarkeiten, der mäßigen Bezahlung und der Krankheiten, die ihn in der Zeit immer wieder befallen hatten, recht schön gewesen war. Wenn Gott, dachte er, ihn in dieser Zeit hatte prüfen wollen wie Hiob, so war er diesen Prüfungen jedenfalls gewachsen gewesen. Nur dass ich, dachte Adam weiter, im Gegensatz zu Hiob Sünde über Sünde auf mich geladen habe, kleine und lässliche ebenso wie die eine unverzeihliche, die er mir jeden Tag ins Gedächtnis ruft, sehe ich nur eine schöne Frau, um die ich nicht werben kann, weil ich ihr nicht beiwohnen könnte. Eine Scheidung aus eben diesem Grunde, das wusste Adam, diese Fälle kamen vor, wäre unvermeidlich und würde ihn sicher sein Amt kosten. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen, denn eben diese Sünde, das Zusammenliegen mit Emilia, würde ihm Gott am jüngsten Tag vorwerfen, da konnte er nun denken und tun, was immer er wollte. Schon wirkten die Menschen dort unten weniger fröhlich, schon sah Adam hässliche Fratzen wie jenen teuflisch dreinblickenden Menschen, der zu ihm heraufblickte und ihn zu fixieren schien. Im selben Augenblick klopfte es. Als er die Tür öffnete, riss er erstaunt die Augen auf, denn es war jene Frau, die er vor einer Weile aus Heinrichs Wohnung hatte kommen sehen. Sie entschuldigte sich mit niedergeschlagenen Augen und bat um Einlass, sie benötige dringend einen Rat.

Heinrich hatte die Schritte als die Moniques erkannt und war schnell in seine Hosen geschlüpft. Als sie jedoch beim Prediger klopfte, zog er sie wieder aus. Wenn Adam Bernd, dachte er, eine welsche Hure in seine Wohnung einließ, sollte schon ein gut beleumundeter Zeuge hinreichen, ihm kräftig zuzusetzen. Wie leichtsinnig das war! Er legte das Ohr an die Wand.

„Es geht“, hörte Heinrich Monique sagen, „um einen jungen Mann, Gregor, der mir den Hof macht und mich heiraten will. Er ist Tischler in Diensten Meister Schwans, derjenige, der die Kirchenbänke herstellt.“

„Ja“, sagte Adam, „es ist ein anderes Predigen, wenn die Menschen sitzen.“

Monique schwieg.

„Nun“, fuhr er fort, „ich kenne Meister Schwan, seine Gesellen aber nur vom Sehen. Von wem sprecht Ihr also?“ Heinrich ging jenseits der Wand derweil ein Licht auf. Monique hatte Angst, denn wenn ihr Tischler Meister Urian in einem Eifersuchtsanfall attackieren würde, fände der sich bald vor den Toren der Stadt wieder, wenn nicht sogar Schlimmeres geschehen würde.

Monique sprach mit großer Dringlichkeit, grad so, wie es ihr einfiel. Heinrich stellte sich vor, wie Adam Bernd knallrot wurde wegen der drastischen Begriffe, und tatsächlich stieg jenseits der Wand Adam das Blut keineswegs nur zu Kopf. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Und das in Gegenwart einer Frau! Er zuppelte an seinen Beinkleidern herum, das Offensichtliche zu verbergen und sagte schließlich streng, oder versuchte es wenigstens, sie solle sich auf das Wesentliche konzentrieren und ihm sagen, wie er ihr würde helfen können. Sie entschuldigte sich, sie wolle nichts weiter, als dass der Prediger zu Meister Schwan ginge, unter dessen Dach Gregor wohne, damit dieser ihm die Eifersucht ausrede. Besonders gegen einen schon älteren und sehr gelehrten Mann richte sich sein Groll, ohne jeden Grund natürlich. Adam nickte, doch warum gerade er das tun sollte, müsste sie ihm noch erklären, sie könne doch selbst mit Meister Schwan sprechen.

„Nun“, erwiderte Monique, „es war Gregor, der den Nagel einschlug, an dem Ihr hängengeblieben seid, was Euch doch veranlasst hat, Prediger der Peters-Kirche zu werden.“ Urplötzlich standen Adam die Bilder vor Augen, die Betstube, der junge Tischler, die Peinlichkeit mit dem Nagel. Sein vermaledeiter Aberglauben! Eine kleine Weile herrschte Schweigen, dann fragte Adam Monique, ob dieser Gregor ausdrücklich gesagt habe, den Nagel wegen ihm eingeschlagen zu haben.

„Qui“, flötete sie, „das hat er.“ Nach einer weiteren Pause hörte Heinrich den Prediger sagen, er werde mit dem Tischlermeister Schwan und auch mit Gregor selbst sprechen, an einem der nächsten Tage, wenn es sich einrichten ließe. Dann fragte er Monique wegen ihres Lebenswandels aus, ob sie sündig lebe und gar der Hurerei nachginge. Stockend, in einem Gemisch aus Französisch und Deutsch, berichtete sie. Er hörte aufmerksam und ernst zu, ohne sie zu unterbrechen. Er wusste, dass er in diesem Augenblick selbst sündigte, nicht wegen des Zuhörens, des Abnehmens einer Art Beichte, sondern deswegen, weil er seiner Erregung wegen zuhörte.

Gregor freute sich, wegen der Überarbeitung einiger Kirchenbänke zur Peters-Kirche geschickt worden zu sein. Der Prediger war zwar nicht anwesend, doch er würde am Abend eine Predigt halten und sei, so die Frau des Kupferschmieds, oft schon recht früh in der Sacristei anzutreffen. Das wäre die Gelegenheit, ihm das Gespräch vor zwei Jahren ins Gedächtnis zu rufen, auch wenn Gregor ihm gegenüber sicher nicht erwähnen würde, dass tatsächlich er es war, der den Nagel eingeschlagen hat. Monique hatte ihn deswegen ausgelacht, doch er spürte, dass sie ihm insgeheim glaubte. Eigentlich wollte er mit Adam Bernd jedoch seinen Plan besprechen, mit Monique nach America auszuwandern und dort mit ihr die Ehe einzugehen. Er hoffte, der Prediger rate ihm zu. Ein Prediger, sagte sich Gregor, soll doch Gottes Wille befördern. Außerdem lasteten die Verfehlungen auf ihm, die er wegen Monique begangen hatte – es gingen ihm einfach immer öfter die Gäule durch. Nun aber waren zunächst einmal einige Bänke zu reparieren, deren Rückenlehnen sich gelockert hatten, was selbstverständlich nicht sein Fehler gewesen war sondern der des Lehrlings, eines blöden, stotternden Kerls aus der Vorstadt.

Meister Urian ließ es sich selten nehmen, den Beschuldigten selbst zu observieren, wenn dieser kurz vor der Überführung stand. Er besaß mehrere vollständige Kostüme für solche Zwecke, so dass er ohne weiteres Kaufleute oder sonstige Fremde aus aller Herren Länder darstellen konnte. Schon als Kind hatte er die Theateraufführungen in den Gaststätten besucht und dafür sogar derbe Prügel in Kauf genommen, und auch wenn er heutigentags unterwegs war, so besuchte er nach Möglichkeit die Theater, zuletzt vor einigen Monaten die Häuser in Hannover, Wolfenbüttel und Braunschweig. Jeder Schauspieler hatte seine eigenen Kniffe, und wenn er mit diesen nach der Vorstellung zusammentraf, so staunte er immer wieder über das, was sie ihm verrieten. Er selbst übte seine Rollen penibel ein, den Gang, die Art Gesten auszuführen und natürlich auch die Sprache, denn die war am wichtigsten. In Leipzig war es zudem notwendig, sich einen falschen Bart anzukleben, unter dem er jetzt wie immer unangenehm schwitzte und der ihm Pickel verursachen würde.

So stand er also in perfekter Verkleidung als schwedischer Kaufmann vor des Knopfmachers Haus, nachdem er Monique bis hierher verfolgt hatte. Eben noch war Adam Bernd am Fenster erschienen, doch die kleine Hure würde jede Sekunde bei ihm klopfen. Es lief also alles wunderbar. Die von der theologischen Fakultät ausgelobte Belohnung für die Aufdeckung pietistischer Umtriebe in Leipzig war ihm sicher. Zudem würden die nächsten lukrativen Aufträge nicht auf sich warten lassen. Je mehr die Orthodoxie gegenüber dem Pietismus an Boden verlor, desto mehr Geld würde in seinen Säckel fließen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er jedenfalls hatte sich nichts vorzuwerfen, ganz im Gegenteil, war doch eine saubere Trennung der unterschiedlichen Lager besser als ein offener Krieg. Er tat nichts weiter, als notwendige Dinge ins Laufen zu bringen. Der Prediger war jetzt nicht mehr zu sehen und Monique würde ihn sicher eine Weile beschäftigen. Er könnte sich also die neu hergerichtete Peters-Kirche endlich einmal ansehen. Der Haupteingang war jedoch, wie er feststellen musste, verschlossen, worauf ihm der Torwächter zurief, er müsse durch das Haus des Kupferschmieds. Dieser wies ihm den Weg, die Treppe hinunter am Abort vorbei, dann rechts die Treppe hoch, die kleine Tür führe in die Kirche. Urian bedankte sich freundlich.

Gregor erkannte ihn sofort! Das war der Kerl, den er einmal gesehen hatte oben am Fenster in diesem Hurenhaus im Goldhahngäßchen. Urian! Monique hatte von ihm erzählt, wenn auch widerwillig. Doch was sollte dieses Kostüm und der dunkelblonde Bart, der in seltsamem Kontrast stand zu den schwarzen Augenbrauen? Meister Urian! Ein falscher Name natürlich. Langsam kam er vom Altar her auf ihn zu. Den Stechbeitel in der Hand wartete Gregor.

„Nun, ich wollte Euch nicht stören“, sagte Urian in einem eigentümlichen Akzent, doch er bemerkte, dass der Tischler wusste, wer er war. Er warf also den Hut auf eine Kirchenbank und zog den Bart von einem Ohr zum anderen ab, seinem Gegenüber dabei in die Augen schauend.

„Ihr seht“, sagte er, sich mit spitzen Fingern die Klebereste abzuppelnd, „dass ich Euch vertraue. Schenkt Ihr mir, wo doch der Zufall uns zusammengeführt hat, einen Augenblick Zeit?“

„Was wollt Ihr“, fragte Gregor barsch, „denn wie ihr sehen könnt, arbeite ich.“

Urian lächelte.

„Auch ich“, sagte er, „tue meine Arbeit, wenn ich mit Menschen spreche, die der guten Sache dienen können. Ich kenne Euch, ich weiß, wer Ihr seid, ein aufrichtiger junger Mann mit großen Plänen.“ Noch bevor der Angeredete etwas erwidern konnte, schlug Urian im freundlichsten Ton vor, einen gemeinsamen Spaziergang im Rosenthal zu machen. Gegen Abend suche er dort oft Erholung, und da grad heute der Mond fast voll sei und das Wetter noch gut, wäre es doch schön, sich einmal ausführlich zu unterhalten, er würde ihm einige Vorschläge unterbreiten wollen.

„Oder seid Ihr etwa mit Eurer Verlobten verabredet“, fragte er, was Gregor stumm verneinte. Urian setzte Zeit und Ort fest, mit dem Beginn der Dämmerung wolle man sich am Ranstädter Tor treffen. Dann klopfte er dem Tischler mit gönnerhafter Freundlichkeit auf die Schulter, nahm seinen Hut und den falschen Bart an sich und verschwand am Altar vorbei die Treppe hinunter.

Den Teufel werde ich tun, alter Mann, dachte Gregor, ich habe meine eigenen Pläne, denn wenn auch der Prediger mir zurät, mit Monique auszuwandern, nach America, dem gelobten Land, dann habt ihr mich alle mal gesehen. Er schüttelte sich. Allein dieser Blick! Diese zitternden Pupillen! Und dann noch dieser Name, Urian, den er wohl selbst benutzt, wie Monique sagt, obgleich doch niemand einem solch sprichwörtlichen Herrn Urian begegnen will! Und wie widerlich auch der Gedanke, dass Monique ihm zu Diensten sein muss, auch wenn sie sich oft über ihn lustig macht. Dass er harmlos ist und nur böse tut. Doch allein der Gedanke, der Hundsfott rühre sie nur an, machte ihn rasend, und dann noch diese Selbstherrlichkeit, einfach zu verlangen, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Gregor riss sich zusammen und ging wieder an die Arbeit.

Ob er sein Werkzeug über Nacht hier unterstellen dürfe, fragte Gregor den eben eingetroffenen Prediger, die Reparatur der Kirchenbänke müsse er morgen beenden, es sei schon zu dunkel. Adam hatte den jungen Mann erst auf den zweiten Blick als denjenigen erkannt, mit dem er damals, und wie lange war das schon her, in der Betstube gesessen hatte. Ob diese Monique wohl gewusst hat, dass ich grad ihn heute hier treffen werde, mit dem ich doch sprechen soll seiner Eifersucht wegen, fragte sich Adam. Von einer Reparatur wusste er  nichts, da musste Meister Schwan wohl auf eigene Rechnung einen Gesellen geschickt haben. Gregor erklärte, nur wegen einer noch nicht erfolgten Holzlieferung die Arbeit, die eigentlich Aufgabe des Lehrlings gewesen wäre, heute selbst in Angriff genommen zu haben. Also ein Zufall? Wie jetzt aber das Thema auf diese Französin lenken? Sollte ich ganz allgemein davon sprechen, mir also nur den Rat eines jungen Mannes erbitten für eine geplante Predigt? Das würde wohl angehen, dachte er, während der andere ihn kaum anzusehen wagte. Schließlich aber fragte Gregor, dem Prediger zuvorkommend, geradeheraus, ob es wohl eine gute Idee wäre, mit seiner Verlobten, die anderen Glaubens sei, nach America auszuwandern, um dort als Mann und Frau zu leben. Adam war überrascht, denn davon hatte Monique nichts erzählt! Das müsse jedenfalls wohl überlegt sein, sagte er nach einer Weile, denn ohne Risiko sei solch ein Unterfangen nicht, so eine Überfahrt sei teuer und man höre schlimme Dinge über den Untergang von Schiffen und von grausamen Überfallen der Ungläubigen auf die, die Land in Besitz nehmen. Denn trotz eines Friedensvertrages zwischen den Engländern, den Franzosen und Indianern gäbe es viele Landstriche, in denen Gottes Wort nichts gälte, so jedenfalls habe er gelesen. Er würde ihm also nicht zuraten wollen, auch weil er doch hier in Leipzig gute Arbeit habe. Dann sprachen sie noch eine Weile über die neuen Kirchenbänke und einen Schrank, den Adam gerne noch für die Sacristei hätte. Als Gregor schließlich auf den Peterskirchhof trat, dämmerte es bereits.

GESPRÄCHE und WANDLUNGEN

Die Wesensart des jungen Tischlers hatte sich verändert, das war Adam Bernd sofort aufgefallen. Die so fröhliche und hoffnungsfrohe Leichtigkeit, er erinnerte sich, war einer kalten Ernsthaftigkeit gewichen. Und die Idee, nach America auszuwandern, um dort heiraten zu können, schien ihm absonderlich. Was würde er anfangen in der Neuen Welt, noch dazu mit einer sicher zehn Jahre älteren Frau? Er müsste dem Kerl wohl erst einmal diesen Plan ausreden, bevor er auf seine Eifersucht zu sprechen kam, die diese Monique für so gefährlich erachtete. Nun aber sollte er sich all dies aus dem Kopf schlagen, eine Predigt war zu halten. Das Bild der plappernden Monique, das sich mit dem des ernsten Gregor überlappte, wollte sich allerdings nicht so einfach vertreiben lassen. Sie hatte ganz züchtig und gut gekleidet vor ihm gesessen, niemand würde sie für eine Hure gehalten haben. Und doch hatte es ihn erregt, sie in seiner Nähe zu haben. Wirklich erregt! Er stürzte noch ein Glas Wein hinunter und betrat kurz darauf das Kirchenschiff. Etwa zwei Dutzend Gestalten. Alle standen im Gang zwischen den Bänken und wagten nicht, sich zu setzen. Ängstlich starrten sie ihn aus der nur durch eine Laterne und ein paar Kerzen gemilderten Dunkelheit an. Habe ich dafür Theologie studiert und so vieles auf mich genommen, dachte er, während er zur Kanzel hinaufstieg, um allein den Kranken und Gedemütigten zu predigen? Selbst wenn sie etwas begreifen, so prügeln sie doch bald schon wieder auf ihresgleichen ein, saufen, huren und betrügen, was das Zeug hält, ohne sich auf irgendetwas zu besinnen von dem, was ich sage. Die hohen Herrschaften kamen natürlich nur zu den Feiertagen in die Peters-Kirche. Die begriffen zwar, was er ihnen predigte, auch wenn sie, da machte er sich keine Illusionen, kaum besser waren als die Armen. Doch war er selbst nicht auch einer von denen, überlegte er weiter, die im Kot des Lebens herumwühlten und sich vergebens zur Sonne streckten? Trotz seines Amtes. Alle Sünden, die ich diesen armen Gestalten hier vorwerfen könnte, habe ich die nicht selbst schon begangen, ganz und gar wirklich oder auch in Gedanken, was nicht einen Deut besser ist! Spürte ich denn heute nicht Wollust in mir und freute mich insgeheim, in meiner eigenen Wohnung einer Hure gegenüber zu sitzen?

Er holte tief Luft.

„Die Hölle“, hob er laut an, so laut, dass alle zusammenzuckten, „wird weit schlimmer sein als all das, was Ihr in Eurem hiesigen Leben zu ertragen habt. Doch wenn Ihr Euch fortan eines Lebens in Gott befleißigt, so wird er Euch freisprechen am Jüngsten Tag!“ Dieses Mal hatte er nicht damit begonnen, all die armen Menschen aufzufordern, sich zu setzen, denn warum ihnen Gefälligkeiten erweisen, die sie nicht zu schätzen wissen. Er fuhr laut donnernd fort und malte ihnen die Qualen der Hölle aus. Besonderes Gewicht legte er auf die Gier, die Wollust und die Trunksucht, denn diese Begierden würden weiter in ihnen lodern, stärker noch als im jetzigen Leben, ohne aber jemals befriedigt zu werden in der Hölle, nackt und bloß lägen sie hungernd und dürstend neben- und übereinander, ohne sich rühren zu können, während sie in weiter Ferne die lustwandeln sähen, die gottgefällig gelebt hätten, die keine Huren und Hurer, keine Betrüger und Schinder gewesen seien. Die Glücklichen jedoch müssten keineswegs die Qualen der Gestürzten ansehen, der Blick gehe nur in eine Richtung. Er redete sich in Rage, seine Zuhörer anstarrend, von denen keiner aufrecht stand, der Schelte und Mahnung Brust und Stirn zu bieten. Was würde passieren, überlegte er, würde ich ihnen heute einmal jedes tröstliche Wort verweigern?

Ja, er habe in der Tat eine Predigt gehalten voller Wut, sagte er später zum Kupferschmied, und dass sie sogar draußen auf dem Kirchhof zu hören gewesen war, sei ihm ganz recht. Ein Lampenwächter, eben dabei das Öl aufzufüllen, habe längere Zeit innegehalten und gelauscht, hatte der Schmied berichtet, auch er selbst habe nicht anders können als zuhören. Adam lächelte. Es ging ihm jetzt besser, denn allein den Nachsichtigen zu mimen und allerwelts Diener zu sein, ließ ihn oft mit düsteren Gedanken zurück. So als hätten tatsächlich alle ihre Sorgen und Nöte auf ihm abgeladen. Er warf die Perücke auf den Tisch.

„Schmied“, sagte er, „holt einen Krug Wein und Brot und Wurst, denn Gott will seine Kinder nicht darben lassen.“ Er drückte ihm einen guten Groschen in die Hand, den ihm letztens erst ein Papist aus Meißen gegeben hatte für den Rat, dem Papst treu zu bleiben. Das Geld hatte er angenommen, um es der Armenkasse zu spenden, doch nun verspürte er eine seltsame Lust, schlecht zu handeln und es buchstäblich zu versaufen und zu verfressen.

Im Rosenthal gingen derweil im fahlen Licht des Vollmondes zwei Männer spazieren. Der eine, der Ältere, hatte am Ranstädter Tor pfeiferauchend eine gute Stunde geduldig auf den Jüngeren gewartet. Dann war man schweigend bis zur Rosenthalbrücke gegangen, und erst als diese überquert war und sie einen der vielen Wege entlanggingen, vor wenigen Jahren erst waren Schneisen in den Wald geschlagen worden, richtete Meister Urian das Wort an den Tischler.

„Wie ich höre“, begann er, „plant Ihr die Auswanderung nach America, und Ihr wollt jemanden mitnehmen. Nun, meinen Segen habt ihr.“ Dann schwieg Urian wieder, tastete aber nach dem Messer, das er wie immer in der rechten Manteltasche mit sich führte. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich war, so musste er doch einen Angriff Gregors in Betracht ziehen. Eifersucht war schwer zu bändigen. Im Notfall würde er jedenfalls handeln und schneller sein müssen als der Bursche neben ihm, und da der Rat der Stadt oft vor Räubern im Rosenthal warnte, würde man einen Toten im dichten Unterholz schon zuzuordnen wissen.

Doch Gregor tat nichts, er sagte auch nichts, wenngleich er mit sich zu kämpfen hatte. Allein die Vorstellung, dieser alte Sack betatsche seine Monique, war ihm unerträglich, selbst wenn noch so viele andere Männer dies getan hatten. Natürlich war es denkbar blöde von ihm gewesen, sich in sie verliebt zu haben, das wusste er selbst, aber auch jetzt, wo sie offen verkündete, keinesfalls mit ihm gehen zu wollen, konnte er nicht von ihr lassen. Dabei würde die Tochter Meister Schwans in wenigen Jahren im heiratsfähigen Alter sein, und wenn auch bisher niemand eine Andeutung gemacht hatte, so könnte er, sofern er weiter fleißig arbeitete, wohl in die engere Auswahl kommen. Auch der Prediger hatte ihm ja geraten, der Vernunft zu gehorchen und im Lande zu bleiben. Was aber nun dieser Urian mit ihm zu bereden haben mochte, war ihm keineswegs klar.

„Was wollt Ihr nun von mir“, fragte er endlich. Seine eigene Stimme erschien im fremd. Urian ließ das Messer zurück in die Tasche gleiten.

„Nun, ich habe“, begann er, „im Auftrag der hohen Geistlichkeit und auch des Rates gelegentlich das Trachten und Treiben der Leipziger zu untersuchen, und da ihr sicherlich für die Überfahrt nach America einige Taler beiseitelegen wollt, und auch eine Frau sich leichter mit ein wenig Geld überzeugen lässt, so dachte ich, ihr könntet für mich arbeiten. Ich weiß, Ihr seid keineswegs einem Irrglauben verfallen und eine treue Seele. Habt übrigens keine Sorge, niemandem soll Schaden zugefügt werden.“ Das also ist der springende Punkt, dachte Gregor, für solch eine Art Tätigkeit will er mich werben. Nun, warum sich die Sache nicht mal durch den Kopf gehen lassen.

Sie traten aus einem kleinen Waldstück heraus und hatten eine vom Mond hell erleuchtete Wiesenfläche vor sich.

„Oft sind es“, begann Urian wieder, „weitreisende Kaufleute, die eine verruchte Ware im Gepäck haben. Viele haben lange in den nördlichen Ländern geschäftehalber gelebt und bringen die Lehren eines Spener oder eines Francke mit, obgleich es dafür auch reicht“, er lachte bitter, „nach Halle zu fahren.“ Ob er schon einmal von der Buttlarschen Rotte und einer gewissen Margaretha von Buttlar gehört habe, eine Pietistin, die mit jungen Männern durchs Land ziehe und ihre Geilheit offen zur Schau stelle? Man müsse den Papisten im westphälischen Münster wirklich dankbar sein, wenn sie streng gegen diese Umtriebe vorgingen, sagte er leise, obgleich ihnen Christian Thomasius, ein sonst vortrefflicher Mann, vor Jahren den entscheidenden Prozess verdorben habe.

„Das wäre ein Zeichen, ein Menetekel gewesen“, rief er. Gregor verstand immer weniger, je mehr Urian ins Detail ging. Eine Anzahlung auf zu leistende Dienste, die Urian ihm anbot, als sie gemeinsam wieder die Stadt betraten, lehnte er ab. Gut, dachte Urian, alles läuft bestens.

Satt und ein wenig betrunken sitzt Adam Bernd spät in seiner Wohnung und trinkt ein Glas Wein, nachdem er schon beim Kupferschmied zwei Gläser getrunken hatte. Er dachte nach. Die Übergabe des großen Tractats an Heinsius hatte ihn zwar zu dem Gedanken verleitet, eine Weile ein wenig kürzer treten zu können, doch nun beherrschte ihn trotz seiner Erschöpfung die noch zu beendende Lebensbeschreibung über alle Maßen, vor allem da nun auch die Schrift zum Selbstmord endgültig in diese eingefügt werden sollte. Ebenso wie beim Tractat wäre noch Selbstverfasstes hinzuzugeben, das er keinem Schreiber der Welt hätte diktieren wollen. Er musste also bald entscheiden, was in der Schrift zu verbleiben hatte und was in den Ofen zu werfen war. Manches war einfach zu grausam, und zudem durfte er seinen Gegnern nicht die Munition in die Hand geben, die sie benötigten, ihm zu schaden.

Anderntags eilt Gregor direkt nach seinem Tagewerk zum Goldenen Hahn. Als erstes musste er Monique hoch und heilig versprechen, sie bestand darauf, das Thema America und Heirat ein für alle mal fallen zu lassen und vernünftig zu sein. Entweder er versprach es, oder er würde sie nie wiedersehen. Also versprach er es. Sie war eben dabei, Kakao zu bereiten.

„Jetzt sitzen sogar schon Kinder mit ihren Eltern in den Gaststätten“, sagte sie. Gregor nickte, küsste sie flüchtig aufs Haar und verschwand wieder. Als sie den Kakao auftrug, ertappte sie sich aber dennoch dabei, von einer Ehe mit Gregor zu träumen, schalt sich aber selbst eine dumme Kuh. Sie hielt die Augen offen und wusste natürlich längst von Tischlermeister Schwans junger Tochter, und da musste sie doch nur eins und eins zusammenzählen! Sie würde Gregor vergessen müssen. Noch war er natürlich in sie verliebt, keine Frage, doch wenn jeder junge Kerl gleich die heiraten wollte, die ihm als Erste über den Weg läuft, na dann gute Nacht! Doch warum überhaupt nachdenken über dererlei Unsinn, sagte sie sich, denn am Ende käme sie womöglich noch auf den Gedanken, doch nach America mitzuwollen. Gott bewahre!

Eines Morgens sah Monique auf den Kalender und bemerkte, dass sie überfällig ist. Chantin hatte von ihr immer als der besten Hure der Welt gesprochen, weil er sie nicht ein einziges Mal in den Wald zur Engelmacherin schicken musste. Sie war eben nicht so leichtsinnig wie die anderen, das war alles. Wollte einer wirklich einmal das ganze Theater, so hatte sie im richtigen Augenblick einen English Overcoat zur Hand, die ihr der Altgeselle des Metzgers aus Schafsdärmen für kleines Geld herstellte. Doch jetzt war es geschehen, so sah es aus. Sie rechnete hin und her, machte Strichlisten und suchte sich zu erinnern. Sollte das am Ende ein Fingerzeig Gottes sein? Würde sie mit Gregor nun doch in die Neue Welt auswandern? Sie blieb den ganzen Tag über im Bett und behauptete, krank zu sein, ließ sich Kaffee und Gebäck bringen, versuchte zu lesen und die Zeit totzuschlagen, bis sie sich endlich gegen Abend anzog und ausgehfertig machte. Sie musste den Prediger aufsuchen, sie konnte nicht anders. Als nähme, dachte sie, eine höhere Macht die lose liegenden Schnüre meines Daseins auf und lenkte mich wie eine Marionette durch den strömenden Regen hindurch zu Dratens Haus und das Treppenhaus hinauf. Heißt mich den rechten Arm zu heben. Die Hand zur Faust zu schließen. Und leise an des Predigers Tür zu klopfen.

„Herein“, rief es mit müder Stimme.

Sie jedoch blieb, wo sie war und wartete, bis ihr geöffnet wurde. Sie erschrak. Er bat sie herein. Nur eine Kerze auf dem Schreibpult erleuchtete matt die Stube. Es war eiskalt. Adam entschuldigte sich, er sei nicht wohlauf, sicher der Wetterwechsel und die ungewohnte Dunkelheit, nun, wo der Schnee geschmolzen sei. Er würde erst einmal einheizen, er sei eben erst gekommen, ob sie sich nicht setzen wolle und ein Glas Wein trinken. Schon war die Kerze auf den Tisch gestellt, der Krug und zwei Gläser geholt, und bald auch breitete sich ein wenig Wärme aus.

Adam setzte sich zu ihr. Im selben Augenblick klopfte es. Dratens Tochter brachte das Nachtmahl. Aus dem Treppenhaus zog der Gestank angebrannten Essens in die Stube. Sie versicherte, das sei nur das Essen für den Vater gewesen, der habe sie durch ein Gespräch abgelenkt, so dass die Nieren ein wenig angebrannt seien. Die Suppe aber sei in Ordnung und ob der Besuch auch etwas wolle. Dabei blickte sie Monique an, als würde sie lieber zur Hölle fahren als dieser von ihrem Essen zu geben, doch Adam nickte und so holte sie zwei Teller und zwei Löffel, warf noch einen abschätzigen Blick auf den Weinkrug und war verschwunden.

„Ich fürchte, der Drachen hat heute wieder keinen guten Eindruck von mir“, sagte Adam leise, „doch darf ich fragen, was Euer Anliegen ist?“

Das Schreibpult, der Vorhang vor dem Bett, der Kleiderkasten und das Regal mit den Büchern, all das hatte sich langsam aus der Dunkelheit herausgeschält, während sie dem Prediger beim Feuermachen zusah. War ihr die Wohnung beim ersten Besuch nicht gut eingerichtet erschienen? Mit schönen Möbeln, Teppichen und Stoffen? Eine klare Sicht auf die Dinge, das hatte ihr Gregor einmal erklärt, werde durch die Vernunft bewirkt, das lehre die Aufklärung, die sei wie der helle Tag gegenüber der dunklen Nacht. Das hatte sie verstanden. Nun aber saß sie, zum zweiten Mal, bei Adam Bernd, Oberkatechet und Prediger der Peters-Kirche zu Leipzig, einem hohen Herrn also, sie, eine ehemalige Hure, eine Papistin. Da war es wohl mehr als passend, dachte sie, wenn nur eine Kerze den Raum erleuchtete und alles so armselig wirkte.

Als Adam vor nicht einmal einer Stunde mit viel zu vielen Gedanken in seinem armen Kopf zurückgekommen war, hatte er als erstes, sich zu beruhigen, das soderbergsche Pulver aus Mohn und Alraune eingenommen. Und dann stand plötzlich, statt Dratens Tochter, diese Monique vor der Tür. Immerhin hatte er ja schon mit ihrem Tischler gesprochen, wenn auch nicht über dessen Eifersucht. Ob er sie nicht trotzdem, dachte Adam, auf morgen vertrösten sollte? Kein Reiz ging dieses Mal von ihr aus, zum Glück. Nicht der geringste. Er fragte sich manchmal, was ihn diese Dinge überhaupt angingen. Reichte es nicht, über all das Unglück der Menschen zu predigen? Musste er auch noch deren Probleme lösen?

„Ich habe“, begann Adam endlich leise, „Eurem Tischlergesellen ins Gewissen geredet, seine gute Stellung nicht aufzugeben und im Lande zu bleiben, denn er sprach mir von Auswanderung nach America. Ihn wegen seiner Eifersucht zu ermahnen hat sich keine Gelegenheit ergeben.“

„Auch ich habe eine gute Stellung“, sagte Monique nach einer Weile, blickte ihr Gegenüber aber nicht an, „ich serviere in einer Gaststätte mit einem guten Ruf.“ Wie sich das anhörte! Ihr war unwohl, sie fror in den nassen Kleidern. Sie sollte nun gehen, entschloss sie sich, denn ihr saß nicht der Adam Bernd gegenüber, den sie auf der Kanzel oder auch bei ihrem ersten Besuch erlebt hatte. Ja, dachte sie, die Wohnung verlassen! Die Angelegenheit mit mir selbst ausmachen! Sie wusste jetzt nicht einmal mehr, warum sie überhaupt Vertrauen gehabt hatte zu diesem Mann, der zwar eine stadtbekannte Persönlichkeit ist, dennoch aber Huren auf seiner Stube empfängt. Wie schnell machte so etwas die Runde! Wusste er denn nicht, dass er Feinde hat! Ahnte er denn nicht, dass dieser Täubenfüßer ihn ausspionierte!

Sie stand abrupt auf, sie wolle nicht weiter stören, sie danke und käme ein anderes Mal wieder. Die Kerzenflamme neigte sich wie erschrocken zur Seite und erlosch fast. Der Prediger rührte sich nicht. War er eingeschlafen? Einen winzigen Augenblick dachte Monique, er sei tot. Sie erschrak, als er sie leise bat, das Fenster für einen Moment zu öffnen, der Gestank von angebrannten Nieren sei doch wirklich unerträglich. Also öffnete sie das Fenster. Nasskalte Luft drang herein, dann sah Adam sie zum Ofen gehen und Holz nachlegen, das arme Ding friert sicher wie ein geschorenes Schaf, dachte er, doch warum nur war diese Frau bei ihm, ja warum war sie mehrere Male bei Heinrich gewesen, was hatte sie von seinem Schreiber gewollt, was wollte sie von ihm? Sie schloss das Fenster wieder und lächelte ihn an, ging zum Ofen zurück und hob mit einem Ruck ihre Röcke, die Wärme unter sie zu lassen. Adam schreckte auf. Schon legte sie den Mantel ab. Warm wird es in der Stube. Jetzt sieht er, sie trägt ein einfaches Aufsteckkleid, nein sogar zwei, zwei übereinander, scheint ihm, sie dreht sich vor dem Ofen wie eine Tänzerin, die Wärme verteilt sich im Raum, das ist angenehm, sehr, sehr angenehm, und je mehr sie sich dreht, desto wärmer wird es. Wie gern würde er jetzt ins Bett fallen und schlafen, vielleicht war die Dosis des soderbergschen Pulvers ein wenig zu hoch gewesen, der Apotheker hatte zur Vorsicht geraten, doch wie sollte er zu Bett, so lange sich die Französin vor seinem Ofen dreht und dreht, schon steigt sie aus ihren Kleidern, so warm ist es, aber warum geht sie nicht einfach zur Tür hinaus, jetzt singt sie sogar leise ein Lied, und mit jedem Refrain knöpft sie ihr Mieder weiter auf, singt, lächelnd singt sie Strophe um Strophe, ein französisches Lied, im spitzenbesetzten Hemdchen und knielangen Hosen, dann schon zieht sie sich das Hemd langsam über den Kopf, bückt sich, öffnet die Schuhe, zieht sie aus, Teufel noch mal, die Hosen gleiten zu Boden, nackt und bloß ist sie und dreht sich leise singend mit geschlossenen Augen mitten auf seiner Stube, ist hier der Teufel im Spiel, fragt er sich, ich muss dem Einhalt gebieten, denkt er, aber seine Zunge gehorcht nicht, und dann spürt er, obwohl er sie fünf Fuß entfernt tanzen sieht, ihre warme Hand in seinem Nacken, ihm schwindelt, schon sitzt sie auf seinem Schoß, leise, flüsternd singend, dabei im Rhythmus mit dem Zeigefinger ihm auf die Nase stupsend, schelmisch sieht sie ihn an, lacht, nimmt seine Hände und legt sie auf ihren Hintern, langt unter sich und nestelt an seinen Hosen, greift entschlossen nach seinem Glied und führt es ein. Ihr Gesang geht in ein Summen und in ein Seufzen über, alles dreht sich, heiß durchfährt es ihn, und der Teufel schlägt mit der Hufe den Takt dazu.

Er erkannte den Medicus nicht sofort.

„Ich bin es, Rivinus, wir hatten bereits miteinander zu tun. Ihr erkennt mich doch?“ Adam versuchte zu sprechen, doch es wollte nicht gelingen, der Mund war trocken und die Zunge wie taub. Der Medicus lächelte.

„Habt ein wenig Geduld und bleibt einen Tag im Bett, das wird wieder werden. Und seid in Zukunft vorsichtig mit dem Pulver.“ Adam nickte, der Medicus drückte ihm die Hand und verabschiedete sich. Jetzt erst sah Adam Heinrich am Fenster stehen.

„Ich habe“, sagte er, „nach Rivinus geschickt, als ihr nicht aus Eurer Ohnmacht erwachen wolltet.“ Adam nickt.

„War dieses Weib bei mir?“, fragt er mit bleischwerer Zunge, doch Heinrich hört nur ein Krächzen, füllt ein Glas mit Wasser und reicht es ihm. Er probiert es noch einmal, die Zunge wie taub. Wieder versteht sein Schreiber ihn nicht. Mühsam richtet Adam sich auf. Die Kerze, wie um Luft ringend, flackert wild. Auf dem Tisch die Suppenterrine und zwei Teller. Also kein Hirngespinst, denkt Adam, diese Monique ist hier gewesen! Im selben Moment erlischt die Kerze. Heinrich wünscht eine gute Nacht, tastet sich zur Tür und geht hinaus.

Eine Woche darauf bekommt Adam Bernd, der immer noch krank ist, einen Brief zugestellt. Er ist in französischer Sprache verfasst. Adam hat Probleme, den Inhalt zu begreifen, denn es ist ein Brief mit durchaus blumiger Ausdrucksweise, unterschrieben ist er nur mit einem „Merci, M“. Nach mehrmaligem Lesen und einigem Nachschlagen französischer Begriffe begreift Adam endlich, dass Monique ihm eines nur mitteilt, dass sie nicht schwanger ist und sich bedankt für seine Aufmerksamkeit. Er wirft den Brief in den Ofen und schläft wieder ein. Er würde diese Frau vergessen müssen!

EKEL, GERÜCHT und GERECHTIGKEIT

Adam Bernd liegt weiterhin krank zu Bett. Kälte und Hitze des ganzen Leibes wechseln sich ab, dazu kommen Taubheitsgefühle in den Armen und Beinen. Rivinus ist der Ansicht, das Pulver des Apothekers habe, um dies volkstümlich auszudrücken, die Säfte in Unordnung gebracht. Er verordnet zunächst einmal täglich rohes Fleisch und einen Krug Bier, am Abend eine kräftige Hühnersuppe. Das werde schon wieder, Geduld, nur Geduld, doch leider gibt Bernd, wenn er das Essen hinuntergewürgt hat, es bald schon ebenso würgend wieder von sich. Vor lauter Kotzerei ist sein Gesicht mit roten Pünktchen übersät. Die Predigten werden von seinen Schülern übernommen und der Katechismusunterricht fällt aus. Genesungswünsche treffen von vielen Seiten her ein, auch ganz offiziell aus dem Rathaus, doch sie helfen natürlich nicht gegen den Gedankenwust in seinem Kopf. Wenn er wenigstens die überall herumliegenden Stapel von Manuskripten durchsehen könnte, einiges müsste aussortiert und verbrannt werden, doch kaum steht er einmal auf und macht sich an die Arbeit, befällt ihn Herzrasen und der Schweiß bricht ihm aus allen Poren. Rivinus, der täglich kommt, verabreicht ihm auf Wunsch das ein oder andere Mittel, rät aber weiterhin von einem Aderlass ab, es gäbe Zweifel an der Wirksamkeit, wie aus den Schriften eines gewissen Malpighi hervorginge, die er mit großem Gewinn gelesen habe. Ein wenig tägliche Arbeit, nicht zu viel, würde aber wohl nicht schaden. So diktierte Adam, wenn es ihm denn für einen Moment besser ging, seinem Schreiber alle paar Tage einige notwendige Briefe und auch immer wieder Teile der Eigenen Lebensbeschreibung. War er aber allein, so grübelte er nur hin und her und verfiel auf seltsame Vorstellungen, so etwa der, er würde in seinem Bett einfach immer weniger werden, bis er ganz verschwunden sei. Tatsächlich war er bereits ziemlich abgemagert. In jungen Jahren, noch in Breslau, war ihm dies schon einmal vorgekommen, auch damals hatte er wochenlang kaum etwas bei sich behalten können. Eines Morgens aber war er aufgewacht und hatte wieder Appetit. So würde es auch diesmal sein, das hoffte er wenigstens.

Mitte März taucht Heinsius dann mit der, wie er sagt, frohen Botschaft am Krankenbett auf, dass nämlich das Tractat Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und in das ganze Leben des Menschen nun in Druck gegangen sei und bald schon unter dem Pseudonym Christian Melodius erscheine. Das Jahr 1714 würde überhaupt ein gutes Jahr, der Prediger, das prophezeie er kraft seiner Wassersuppe, bald genesen und auf die Kanzel zurückkehren, das Buch gut verkauft werden und so weiter. Der Verleger schien bester Dinge zu sein, und tatsächlich hellte sich auch die Stimmung Adams ein wenig auf. Er fühlte sich sogar tatkräftig genug, ein wenig zu arbeiten. Kaum war Heinsius gegangen, quälte er sich aus dem Bett, um die Unterlagen und Notizen zu seiner Lebensbeschreibung noch einmal durchzugehen. Sollte nämlich das Tractat ein Erfolg werden, wollte er so bald wie möglich die Eigene Lebensbeschreibung auf den Markt bringen, um dann vielleicht sogar das Geheimnis seines Pseudonyms zu lüften. Ein Diskurs um die Thesen seines Tractats, verbunden mit der Offenbarung seiner eigenen Schwächen und Anfechtungen, mochte dazu führen, dass die Menschen mehr nachdachten über sich und ihr Tun, ganz im Sinne der Aufklärung. Nicht nur fremder Leuts Exempel sollten fortan die Wirkung seiner Predigten und Schriften ausmachen, sondern eigenes Erleben und Erleiden, und auch das leidige Thema des Selbstmords würde in der Lebensbeschreibung ja nicht zu kurz kommen. Vor kurzem erst hatte er Heinrich aus dem Krankenbett heraus zu erklären versucht, wie die bösen Gedanken mittels des eigenen Willens wirksam würden, und eben das dadurch bewirkte Böse sei wiederum nur durch den Verstand abzuwehren. Heinrich hatte gefragt, ob denn dieser eigene Wille dann nicht der Teufel selbst sein müsse, der im Menschen niste. Er hatte dies der Einfachheit halber bejaht und von der Notwendigkeit gesprochen, eben deswegen immer bei klarem Verstand zu sein. Wirklich begreifen tat dies sein Schreiber nicht, das war Adam nur zu deutlich, aber eben darum sollte ja die Lebensbeschreibung mitsamt der Schrift über den Selbstmord gedruckt werden, damit die Menschen, denen das Tractat über den Verstand ging, sich umfänglich mit dem Kampf gegen das Böse in sich selbst, im eigenen Herzen beschäftigen können. Das erschien ihm überaus wichtig.

Ihm schwindelte, wie er jetzt so vor sich hin sinnend mitten in seiner Stube stand. Langsam ging er zum Fenster und öffnete es. Recht laue Luft drang herein, wenn auch der Frühling noch eine Weile auf sich warten lassen würde. Immerhin, der Winter hatte seinen Stachel verloren. Er atmete tief ein, packte dann einen der vielen Stapel, legte ihn auf den Tisch und ließ sich auf den Stuhl sinken. Diese Flugblätter gegen den Selbstmord hatte er über Jahre gesammelt, viele sich zusenden lassen, einige waren teils eng bedruckte Abhandlungen, andere wiederum Bildergeschichten. Am Ende aber packte fast immer der Teufel zu und schleuderte den Selbstmörder in die Hölle, ein Bild zeigte eine Magd am Drehspieß über einem Feuer, der feixende Satan steht hörnerbewehrt kurbelnd daneben. Doch trotz all dieser Warnungen, dachte Adam, bringen sich immer noch viele Menschen vom Leben zum Tode, stürzen sich in Flüsse oder von Felsen hinab, erdolchen sich oder saufen Gift. Er dachte an jenen Mann im Hospital, den er an diesem seltsamen Tag besucht hatte, als er Heinrich im Baum hockend entdeckte. Und zuletzt erst war ihm von einem Dichter aus Wien berichtet worden, der sich, bettlägerig und krank, die eigene Kehle durchschnitten hatte, worauf er in Bewusstlosigkeit fiel und tags darauf verstarb.

Blatt um Blatt sah er sich an, murmelte manchen Satz halblaut vor sich hin, als er mit einem Mal einen Zeitungsausschnitt vor sich zu liegen hatte, den er nicht kannte. Er war sofort sicher. Neugierig las er den Bericht über den Selbstmord eines Predigers in Holland, der sich im Arrest, wo er wegen der Vergewaltigung einer jungen Magd einsaß, selbst henkte. Adam durchfuhr schon während des Lesens ein Zittern. Das Erstürmen des Gefängnisturms, das Hinabwerfen des Leichnams in die Gasse, das Hinschleifen zum Ufer des Meeres und das Versenken mit zwei großen Steinen zur Beschwerung, dies alles stand ihm sofort lebhaft vor Augen. Auch das allgemeine Spektakel und den Lärm glaubte er fast zu hören. Noch dazu soll, so las er, die schwangere Frau des Predigers kurz darauf ins Wasser gegangen sein. Wie elend doch das Leben sein konnte, und wie gering die Mittel des Verstandes! Nun, auch er selbst hatte, ohne solch fürchterliche Taten begangen zu haben, oft mit sich gekämpft. Jede heranrasende Kutsche, jeder Fluss, einmal sogar ein brennender Bauernhof ganz in der Nähe, führte unwillkürlich zu dem Gedanken, zu der Idee, sich das Leben zu nehmen, ganz gleich, ob es ihm zu der Zeit gut ging oder schlecht. Oft auch fiel ihm dieser Albtraum ein, es war seine erste Nacht in Leipzig gewesen. Am offenen Fenster stehend war er aufgewacht! Er musste also geschlafwandelt sein. In seiner Lebensbeschreibung sprach er davon. Er schüttelt sich, wie um den Gedanken loszuwerden. Mühsam steht er auf. Vier, fünf Schritte noch zum Bett, denkt er, und wieder eben so viele zum Fenster. Er sieht sich in seiner Wohnung um. Ich stehe auch jetzt, überlegt er, um Atem ringend, zwischen Leben und Tod, doch heute habe ich den Leib eines Greises, und das schützt mich. Er macht einen Schritt, doch nicht zum Bett hin, sondern zum offenen Fenster. Er tut noch einen Schritt und noch einen. Schon lehnt er sich schwer atmend mit dem Bauch gegen das Fensterbrett. Sollte es diesmal soweit sein? Obgleich mich alles zum Bett zog, denkt Adam, jetzt mehr verstört als ängstlich, gehe ich doch zum Fenster! Oder ist eine Stimme in mir, die mir nicht deutlich ist, dennoch aber alle Macht hat? Plötzlich hört er Heinrich rufen, er musste ohne anzuklopfen in die Stube getreten sein.

„Erkältet euch nicht, es ist noch kalt und nass und der Winter nicht ausgestanden. Mit dem Beginn des Frühlings wird es Euch besser gehen, Ihr werdet sehen.“

Sein Blick fällt auf die Zeitungsnotiz über den holländischen Prediger.

Der Drucker ist der erste, der eine Ahnung bekommt von der Brisanz der melodianischen Schrift. Meister Urian selbst ist es, der am Morgen des 4. April 1714 in der Verkleidung eines Landadligen die Druckerei betritt, in der Heinsius bevorzugt arbeiten lässt. Er wolle, so beginnt Urian das Gespräch, sich angelegentlich nach Preisen erkundigen, denn er plane ein Werk über die Gartenkunst zu verfassen. Geschickt lenkt er schließlich das Gespräch auf ein philosophisches Werk, welches sich mit dem menschlichen Willen beschäftige und bald schon in Leipzig erscheinen solle, von einem bekannten hiesigen Prediger verfasst. Der Drucker gibt vor, er wisse nichts darüber. Er ist vorsichtig aus schlechter Erfahrung heraus Fremden gegenüber. Natürlich denkt er sofort an den Auftrag von Heinsius und an den Namen Christian Melodius, ohne Zweifel ein Pseudonym. Genaueres wollte er allerdings nicht wissen, denn schon einmal vor Jahren hatten Stadtsoldaten die Druckerei besetzt und Bücher konfisziert, obgleich der Druck derselben zuvor genehmigt worden war. Er bleibt also gegenüber dem Gartenfreund dabei, er wisse nichts von so einem Werk, worauf der schließlich geht. Am Abend erzählt der Drucker seiner Frau von der Sache.

„Es war mir“, berichtet er, „als hätte der Teufel persönlich in der Werkstatt gestanden.“ Seltsame Augen habe der Kerl gehabt, die Pupillen zitterten und das eine Auge war blau und das andere braun oder grün, und außerdem habe der Kerl auch noch gehumpelt. Ihm sei es jedenfalls heiß und kalt den Rücken heruntergelaufen, und jetzt brauche er erstmal einen Schnaps, und wenn dieses Tractat des Melodius wirklich von einem hiesigen Prediger stammte, dann gute Nacht, sagte er, dann hat nicht nur Heinsius die Obrigkeit im Hause.

Ohne sich umzukleiden geht Urian, das linke Bein ein wenig nachziehend, von der Druckerei zur Werkstatt Meister Schwans, um mit Gregor zu sprechen. Dieser baue, so wird ihm mitgeteilt, einer Kaufmannswitwe, die zwischen Grimmaischem Tor und der Paulinerkirche zwei Etagen eines Hauses bewohne, ein neues Bett, wie es zurzeit in Mode sei. Bis morgen sei er dort anzutreffen. Umso besser, dachte Urian und ging pfeifend und humpelnd quer durch die Stadt, da konnte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn Witwen sind oft die besten Nachrichtenüberbringer – man muss sie nur darauf hinweisen, das Gehörte doch bitte auf keinen Fall weiterzutragen. Die Frau lud ihn, der Tischlergeselle könne warten und habe ja auch zu arbeiten, gleich einmal zu Kaffee und Gebäck ein, erzählte viel dummes Zeug, hörte aber interessiert zu, als Urian von der Schrift eines bekannten Predigers berichtete, die bald unter einem Pseudonym in Leipzig erscheinen werde. Die Witwe, eine noch recht junge Frau mit feingliedrigen Händen, sie goss den Kaffee selbst ein, so dass dies auffallen musste oder gar sollte, zählte prompt alle ihr bekannten Prediger auf, nicht ohne sie als gut, annehmbar oder grässlich langweilig zu kennzeichnen. Adam Bernd vergaß sie, wenn sie ihn denn überhaupt kannte. Schließlich bat Urian, ihr den Tischler für eine Weile entführen zu dürfen.

Auch diesmal erkannte Gregor Meister Urian sofort. Er gab dem Lehrling mit strenger Miene einige Aufgaben, dann folgte er Urian. Gemeinsam schlenderte man durchs Grimmaische Tor hinaus in den Großbosischen Garten, wo eben Gärtner die ersten Arbeiten nach dem Winter begannen. In einen Vogelbauer in Kutschengröße hatte man bereits wieder Vögel gesetzt. Urian hatte eine seltsame Lust, diesem Gregor alles genau auseinanderzusetzen. Er könnte ihm natürlich einfach den Auftrag erteilen, er solle wie nebenbei verbreiten, die neu erschienene Schrift eines gewissen Christian Melodius zum Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen sei die des Predigers Adam Bernd, und dieser vermische verbotenerweise Theologisches und Philosophisches und stelle die Rechtfertigungslehre infrage. Stattdessen sagte er dem jungen Mann, er halte viel von ihm, er habe mehr Verstand als alle anderen Mitarbeiter zusammen, und so wolle er ihm die Angelegenheit um die melodianische Schrift genau auseinandersetzen. Damit wäre er, wenn diese in den nächsten Tagen im Laden des Verlegers Heinsius zum Verkauf stünde, einer der wenigen Menschen in Leipzig, die bereits Genaueres wüssten, sowohl über die Person des Verfassers als auch über den Inhalt.

„Ich selbst habe“, sagte er, „nur Ausschnitte lesen können, doch so gescheit die Schrift ist, sie bringt Unfrieden und Streit in die Stadt. Lasst uns den Weg zur Orangerie nehmen, dann will ich es euch erklären, so gut ich kann.“

Gregor fühlt sich einerseits geschmeichelt, andererseits hat er Angst, nichts zu begreifen. Warum sollte er, ein einfacher Tischler, der hier und da mal ein Buch zur Hand genommen hatte, einen galanten Roman etwa, mehr Verstand haben als andere? Zunächst aber erzählte Urian von seinem eigenen Werdegang, er wolle ganz offen sein, von seinen Studien der Jurisprudenz, über die er auch in Kontakt gekommen sei zur theologischen Fakultät, und nachdem vor einigen Jahren ein gewisser Christian Thomasius wegen seiner Nähe zum Pietismus untragbar geworden und der Stadt verwiesen worden sei, habe er, Urian, die Gunst der Stunde genutzt, denn die Vorsicht der Fakultät wuchs dadurch deutlich. Thomasius sei übrigens ein hervorragender Gelehrter, der inzwischen Abstand genommen habe zu den Pietisten in Halle, obgleich er dort noch wirke.

„Doch gleichviel“, fuhr er fort, „ich habe seit einigen Jahren eine beratende Funktion, und da in eben dieser Zeit der sogenannte Pietismus an Stärke gewonnen hat und für ganze Königreiche zur tragenden Religion wurde, bin ich hier in Leipzig zumeist mit der Aufgabe beschäftigt, unsere Stadt vor solchen Irrlehren zu schützen. Ihr versteht?“ Gregor nickte.

„Für mich“, fuhr der Andere fort, „arbeiten Menschen jeder Couleur, hochangesehene Bürgersleute ebenso wie verkommene Gestalten. Letztere kommen mir eher mal abhanden, denn das Saufen, Huren und Betrügen lassen sie nicht, doch eben jene wissen auch nie mehr als das, was sie wissen müssen. Sie kosten mich nichts, eine Mahlzeit, eine Flasche Branntwein, gelegentlich schicke ich ihnen den Zahnausreißer oder den Medicus und auch mal eine Hure. Ich hoffe, Ihr versteht, dass solcherart Tun oftmals notwendig ist. Euch wird eine andere Art der Belohnung zuteil werden, dessen seid gewiss.“

Gregor staunte, wie redselig dieser Urian sein konnte, doch ganz geheuer war ihm dieser Mensch immer noch nicht. Außerdem mochte die Erwähnung der Huren als Bezahlung für geleistete Dienste eine Anspielung auf Monique sein. Ein Schmerz fuhr ihm durch die Eingeweide. Sah es nicht so aus, als überlasse Urian ihm Monique als eine Art Vorauszahlung! Wut stieg in ihm auf, die er nur mühsam niederkämpfte. Urian war inzwischen schon bei der Rechtfertigungslehre angelangt, die dieser Adam Bernd infrage stelle, und er wolle nun versuchen, ihm, Gregor, diese Lehre zu beschreiben, so gut er könne.

„Auch mir musste dies damals erklärt werden“, fuhr er fort, „obgleich ich doch schon Rechtsgelehrter war und dachte, vom Theologischen ausreichend viel zu verstehen. Zuerst sagte man mir nur, als einem Fakultätsmitarbeiter unter vielen, diese Lehre sei ad hominem angewandte Theologie, weil die Frage, wie der Mensch an der Gottesgerechtigkeit teilhabe, schlechthin die Grundfrage menschlicher Existenz sei. Doch so einfach liegen die Dinge natürlich nicht, wie Ihr Euch denken könnt.“

Sie hatten die Orangerie erreicht, auch hier wurde fleißig gearbeitet, und wendeten sich nach rechts, den Weg an der Mauer entlang nehmend. Urian leitete seine Rede nun zu dem Punkt der Gerechtsprechung, durch die der vor Gott schuldige Mensch in den Stand des Friedens mit sich selbst versetzt werde, und eben dies geschähe allein aus Gnade, allein durch Christus und allein durch den Glauben. Gregor nickte. Das hatte er in manch einer Predigt schon gehört, nicht aber als so wichtig erachtet. Waren dies nicht Gedanken, die erst am Ende des Lebens anstünden? Seine Pläne, mit Monique nach America zu gehen, wurden davon nicht berührt, er wusste nicht einmal, ob die Papisten an die selbe Lehre glaubten.

„Sagt mir“, unterbrach er Urian mitten in seinen Ausführungen, „ob ich durch Euch vollständig die Mittel erlangen kann, nach America zu gehen.“ Sie blieben stehen. Die beiden Männer sahen sich an.

„Sobald die Causa Adam Bernd zu einem Ende gekommen ist“, sagte Urian, seinem Gegenüber starr in die Augen blickend, „werdet Ihr einen gewissen Teil der Mittel bekommen. Den ein oder anderen Dienst werdet Ihr jedoch noch übernehmen müssen. Bedenkt aber auch, dass Eure Braut selbst nicht vollkommen mittellos ist.“

Statt sich zum Grimmaischen Tor hinzuwenden, gingen sie wieder in den Garten hinein.

„Es ist wichtig“, fuhr Urian nach einer Weile fort, „noch etwas deutlich zu machen. Unser Glaube verbietet alles Streben nach einer Selbstrechtfertigung. Wir sind rein Empfangene. Die Macht Gottes ist uneingeschränkt, der Glaube darf nicht als eine in sich selbst Rechtfertigung begründende menschliche Anstrengung verstanden werden. Versteht ihr“, fragte er lächelnd. „Ich gebe zu“, fuhr er, wieder ernst, nach wenigen Augenblicken fort, „das habe ich noch heute morgen gelesen, um nichts Falsches zu sagen, denn auch ich bin eher Weltenbürger, mehr als ihr denkt. Nun, jedenfalls, führt der Weg zu Gott nicht über den Verstand, und eben dies will uns dieser Prediger weiß machen mit seinem Tractat. So als sei die Zustimmung zu Gottes Heilsordnung allein ausreichend, um dereinst von allen Sünden, die der Mensch trotz alledem begeht, freigesprochen zu werden. Ich werde Euch diese Schrift zukommen lassen. Und nun Schluss mit dieser Angelegenheit, ich werdet bei der Witwe erwartet, ihr ein prächtiges Lotterbett zu bauen.“

Gregor schossen die Gedanken nur so durch den Kopf, vor allem fragte er sich, warum ihn Meister Urian mit solch einem Aufwand anwerben wollte, wenn er ihm doch bald schon, nach nur wenigen weiteren Aufträgen, alle Mittel für die Überfahrt nach America zur Verfügung stellen würde. Das machte doch keinen Sinn! Beim Haus der Witwe angelangt, verabschiedete sich Urian mit den Worten, er solle das Bett so stabil als möglich bauen, denn die Witwe sei ja eine noch junge Frau und habe einiges an Vermögen. Noch bevor Gregor etwas erwidern konnte, war Urian freundlich nickend verschwunden. Erst als er fast am Rathaus war, ließ er sein Messer, das er in der Faust gehalten hatte, wieder in die Tasche gleiten. Die Bemerkung am Ende hatte er sich nicht verkneifen können, doch dieser Tischler sollte, selbst wenn er ihm nützlich sein kann, durchaus nicht glauben, er könne ihm das Wasser reichen. Für den Fall Adam Bernd brauchte er ihn ohnehin nicht mehr, doch so lange nicht der letzte Pietist aus der Stadt verwiesen worden ist, würde es an Aufträgen schließlich nicht mangeln.

WER IST MELODIUS?

Die höflich formulierte Anfrage des Rates der Stadt Leipzig, wie es denn mit seiner Gesundheit stünde, erschreckt Adam Bernd zunächst keineswegs. Umgehend diktiert er Heinrich die Antwort und bekundet, bereits auf dem Weg der Besserung zu sein und bald schon sein Amt wieder vollständig ausfüllen zu können. Wenige Tage später aber hielt er ein weiteres Schreiben in der Hand, in dem er in gewählten Worten aufgefordert wurde, sich auf das Rathaus zu begeben, um einige Fragen zu beantworten, gleich am nächsten Tag zur Mittagsstunde. In dem Schreiben war mit keinem Wort erwähnt, um was es sich handelte. Eine Respektlosigkeit. So stand Adam, nach unruhiger Nacht, am Morgen darauf schwer atmend auf seiner Stube und wusste nicht, wie beginnen. Natürlich, er würde sich zunächst waschen müssen, dann vielleicht die Perücke herrichten, ja er musste im Habit seines Amtes erscheinen, daran ging kein Weg vorbei. Perücke und Halskrause gab er dem Drachen zur Reinigung mit hinunter, als sie wie immer schwer missgestimmt das Frühstück brachte. Was man wohl von ihm wollte? Das Schlimmste wäre sicher, ihm die Besuche dieser Monique vorzuhalten, dachte er. Darauf musste er gefasst sein. Im alleräußersten Falle würde er wohl einen bösen Sturz in seiner Jugend und eine Unterleibsverletzung andeuten müssen, um klar zu machen, dass diese Frau als Christin zu ihm gekommen war, um sich Rat zu holen. Allerdings war sie Papistin und noch dazu Französin, eine welsche Hure, und überhaupt, woher sollte sie denn wissen, dass er… Gebe also Gott, dass es nicht darum ging! Oder sollte man, überlegte er weiter, ruhelos auf- und abgehend, von seinem großen Tractat gehört haben und wissen, dass er und kein anderer dieses verfasst hatte? Aber konnte das sein? Dann müsste Heinrich oder auch Heinsius dies ausgeplaudert und das Pseudonym verraten haben! Oder geht es womöglich um seine Eigene Lebensbeschreibung? Oder gar um beide Schriften? Oder um die Schriften und um diese Monique? Wollte man ihn vernichten? Ihm wurde ganz schlecht. Wie auch immer, er würde auf alle etwaigen Vorwürfe eine Antwort finden müssen. Wer schweigt, gilt allzu schnell als schuldig.

Es ist kalt an diesem Apriltag des Jahres 1714, wenn auch sonnig bei klarem Himmel. Adam steht, nachdem er in der Knopfmacherwerkstatt den Kragen umgelegt und die frisch gepuderte Perücke aufgezogen hat, vor dem Haus und wartet auf die Sänftenträger. Die Rosinen für den Knaben, der wie wild losgeschossen war, um sie hierherzubeordern, hatte er in der Tasche, in einem kleinen Beutelchen aus Wachstuch. Einige Vorübergehende grüßten ihn, doch er kannte diese Menschen nicht. Sie grüßen wohl mehr den Prediger denn mich, dachte er. Er tat einige Schritte und stellte sich in die Sonne, die nur wenig wärmte. Was wäre, überlegte er wieder, hätte der Rat der Stadt tatsächlich, aus welcher Quelle auch immer, Kenntnis erhalten von dem Vorhaben, mein Leben bis zur Übernahme des Predigeramtes aufzuschreiben und die Schrift zu veröffentlichen. Mit welchen Argumenten würde man mir dies womöglich als dem Amte unwürdig darzustellen suchen, und wie würde ich darauf reagieren müssen? Immerhin schreibe ich nicht aus Eitelkeit, dachte er weiter, sondern will den Menschen, die Ähnliches erleiden wie ich, die sündigen und freveln, mit bösen Gedanken herumgehen oder gar Gefahr laufen, sich selbst vom Leben zum Tod zu befördern, eine Stütze sein. Eben fuhr mit lautem Getöse eine Kutsche vorüber, in ihr einige Damen und ein greisenhaftes Männlein, das neugierig heraussah. Endlich kamen die Sänftenträger, er warf dem Knaben das Beutelchen zu, und schon ging es den kurzen Weg zum Rathaus, den er den beiden Männern mit vier Groschen bezahlte. Im Rathaus wurde er, nachdem er langsam und mit Bedacht die Treppe hinaufgegangen war, von einem Diener empfangen und gebeten, zu warten oder zu späterer Stunde wieder zu erscheinen, denn der Ratsherr Lucas Scholler, der mit ihm habe sprechen wollen, sei wegen des plötzlichen Todes seiner Tochter vor wenigen Minuten zu seiner Familie geeilt, ein anderer Ratsherr aber noch nicht abkömmlich. Adam überlegte. Er kannte diesen Scholler nicht. Schließlich fragte er nach Gottfried Wagner, doch der sei, so der Diener, nach Straßburg gereist, wo er den Bau einer Bibliothek zu verantworten habe. Was also tun? Unschlüssig setzte er sich und wartete. Der Diener, der ihm einen Tee brachte, schlug schließlich vor, er könne doch, da es Mittwoch sei und somit die Ratsbibliothek am Neumarkt geöffnet ist, dorthin gehen. Sobald Ratsherr Scholler wider Erwarten zurückkäme oder ein anderer der Herren Zeit habe, würde er ihn holen lassen. Adam war einverstanden, das war eine gute Idee.

Der Bibliothekar, ein noch recht junger, feingliederiger Mensch mit einer ganz weichen Aussprache, stellte sich als Samuel Irmisch vor, er sei kürzlich erst von Aachen nach Leipzig gekommen, um diese Stelle anzutreten. Adam stellte sich seinerseits förmlich als Oberkatechet und Prediger der Peters-Kirche, Magister Adam Bernd vor und erklärte, er wolle sich die neu eingerichtete Bibliothek endlich einmal ansehen. Erschien es ihm nur so, oder zuckte der Bibliothekar bei der Nennung des Namens zusammen? Wenn es so war, so hatte er sich schnell wieder im Griff und bat den Prediger, sich alles in Ruhe anzusehen. Wenn er Fragen habe oder sich die Bücherschränke mit den wertvollen Büchern wolle aufschließen lassen, so stünde er zur Verfügung. Der große Büchersaal, in den Adam nun eintrat, war, so schätzte er, etwa 120 Schuh lang und gut 50 breit. Einige kleinere Studierkabinette, in denen zwei, drei Gelehrte über Karten oder Büchern saßen, gingen von ihm ab. Adam schlenderte durch die Reihen, betrachtete die Globusse und die astronomischen Instrumente, warf einen Blick auf die auf den Bücherschränken und Büchergestellen stehenden Gipsbüsten der Gelehrten aller Zeiten, nahm auch das ein oder andere Buch zur Hand, doch er war nicht recht bei der Sache. Warum war dieser Mensch, der doch kaum viel von ihm wissen konnte, bei der Nennung des Namens Adam Bernd zusammengezuckt? Sollten etwa irgendwelche Gerüchte im Umlauf sein? Ich muss sofort zurück zum Rathaus, entschied er, irgendetwas geht vor.

Wenig später schon saß Adam dem Ratsherrn Scholler in dessen Kabinett gegenüber, einem wohlbeleibten Mann in den Vierzigern mit einem grauen Bart und einer ebenfalls grauen, aufwendig gearbeiteten Perücke. Wenn er tatsächlich seine Tochter verloren hatte, dachte Adam, so ließ er sich nichts davon anmerken. Oder habe ich etwas falsch verstanden? Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

„Ich bin beauftragt, lieber höchst verehrter Magister Bernd“, begann Scholler nun ganz freundlich, „Euch einige Fragen zu stellen. Aber zunächst: Möchtet Ihr etwas trinken?“ Augenblicke später stand der Kaffee bereits auf dem Tisch. Scholler schenkte selbst ein, nahm dann vorsichtig mehrere kleine Schlucke und lächelte.

„Meine Tochter“, begann er wieder, „der Diener wird Euch von der Angelegenheit erzählt haben, ist übrigens auf dem Wege der Besserung. Sie galt bereits für tot. Stellt Euch vor, welch ein Schrecken mir und meiner Frau in die Glieder gefahren ist, doch der Medicus brachte sie zurück ins Leben, indem er sie immer wieder an empfindlichen Stellen zwickte und ihr Schlagbalsam unter die Nase hielt. Es war wohl eine besonders tiefe Ohnmacht gewesen, ich habe die Erklärungen allerdings nicht ganz verstanden. Wusstet Ihr, dass sich neuerdings manch Bürger schriftlich versichern und beglaubigen lässt, nur mit einer speziellen Vorrichtung beerdigt zu werden, die einerseits Luft in den Sarg einlässt und andererseits dazu dient, mittels einer Glocke und einem Glockenzug Rettung herbeizuholen? Andere wollen das Herz durchstochen bekommen, verfügen das Öffnen der Pulsadern oder wollen erst begraben werden, wenn schon Verwesung eingetreten ist.“ Adam nahm einen Schluck des starken Kaffees. Der Schweiß lief ihm an den Schläfen herunter bis in den Kragen hinein. Scholler schien dies nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen und goss dem Prediger noch einmal nach. Wartete er darauf, dass ich von mir aus eine Frage stelle, überlegte Adam. Schließlich räusperte sich der Ratsherr, beugte sich ein wenig vor und begann ohne jede weitere Einleitung, leise von der Stimmung in der Stadt zu sprechen, vor allem der religiösen, denn durch den Messebetrieb und den sonstigen Handel und Wandel kämen, wie der Prediger wüsste, Menschen aus aller Herren Länder und verbreiteten ihren Glauben in Leipzig. Um so wichtiger sei es, den eigenen Glauben so fest als möglich zu vertreten und jede Störung zu vermeiden. Adam nickte. Er schwitzte noch immer, außerdem musste er dringend Wasser lassen, doch zunächst einmal sollte er wohl besser etwas sagen, schließlich bin ich der Prediger der Peters-Kirche, dachte er, ich muss zu allen religiösen Obliegenheiten eine feste Ansicht haben. Doch Scholler fuhr bereits fort, es sei dem Rat zu Ohren gekommen, dass bald schon eine Schrift mit dem Titel Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und das ganze Leben des Menschen erscheinen werde, die das Philosophische und das Theologische vermische und zudem, soweit man das jetzt schon wissen könne, die Rechtfertigungslehre infrage stelle, was den besagten religiösen Frieden durchaus gefährde und die Menschen anrege, über Dinge nachzudenken, die allein Angelegenheit der Theologen seien.

„Eine Stadt voller Synergisten, das hätte uns grad noch gefehlt“, rief Scholler nach kurzem Schweigen noch aus, so dass Adam erschreckt zusammenzuckte, „Menschen, die glauben, mit Gott feilschen zu können!“ Darum also geht es, dachte Adam, es geht um meine Schrift! Es durchbebte ihn geradezu, doch auch dies schien Scholler nicht zu bemerken, der einfach weiter redete. Die Prediger der Stadt jedenfalls wurden, so sagte Scholler, alle einzeln zu einem Gespräch eingeladen, denn gerade sie seien ja besonders zur Wachsamkeit verpflichtet und also aufgefordert, in ihren Predigten die Gläubigen vor solcherart Schriften zu warnen.

„Ohne dadurch Neugierde zu erwecken, versteht sich“, fuhr Scholler nach kurzer Pause fort, „wenn auch die besagte Schrift sicher ohnehin verboten wird.“ Es gäbe zwar auch die Auskunft, ein auswärtiger Philosoph habe diese verfasst, doch die theologische Fakultät forsche vor allem in Leipzig selbst nach dem Autor, der sich Melodius nenne.

„Das nun wäre meine Bitte an Euch, in dieser Angelegenheit, wenn Ihr denn wieder ganz hergestellt seid, segensreich zu wirken. Ein Schreiben der theologischen Fakultät wird Euch noch zugesandt werden.“ Adam, schweißgebadet und weiß wie eine Wand, brachte nur heraus, er werde, sobald er ganz gesundet sei, alles in seiner Macht Stehende tun, worauf sich Scholler mit Danksagungen verabschiedete, er müsse zu seiner Familie.

Rivinus wurde gerufen. Abermals riet er von einem Aderlass ab. Warum Adam Bernd aber in seinem Zustand durch die Weltgeschichte gewandelt sei, das müsse er ihm noch erklären, denn der Genesungsprozess sei nun unterbrochen.

„Nun ja“, verabschiedete er sich, „warten wir auf die ersten warmen Tage und die Sonne, dann wird’s wohl wieder werden.“ Der Drachen brachte am Abend einen Krug Bier herauf, damit der Prediger besser einschlafe, doch es wollte ihm nicht gelingen, denn in seinem Kopf gingen die Gedanken drunter und drüber. Warum war er, das wollte ihm nicht einleuchten, zum Rathaus bestellt worden, anstatt ihm das Ganze schriftlich mitzuteilen? Das fragte er sich. Außerdem war ja inzwischen der von Scholler angekündigte Brief der Fakultät sogar schon eingetroffen, in dem nichts anderes stand als das, was er nun schon gehört hatte. Wollte man ihn übertölpeln, weil man schon um seine Autorschaft wusste? Hatte man ihn im Rathaus zum Narren gehalten? Und wurden tatsächlich alle Prediger der Stadt einbestellt? Er musste dringend mit Heinsius sprechen. Doch würde ein Besuch des Verlegers nicht diejenigen auf die Spur bringen, die diesen gewissen Melodius suchten? Und dort hinzugehen kam natürlich auch nicht infrage. Was also tun?

Irgendwann war er in den Schlaf gesunken, doch er wachte bereits in aller Frühe wieder auf, kaum dass es dämmerte. Er fühlte sich schwach und schlechter als gestern. Die ersten Gedanken drehten sich gleich um das Tractat. Es muss in jedem Fall unbedingt verhindert werden, überlegt er, dass von dem Pseudonym auf mich geschlossen werden kann, denn wenn die theologische Fakultät Anstoß nimmt, ist es um mich geschehen. Worin diese einen tatsächlichen Angriff auf die Rechtfertigungslehre sehen könnte, wusste er allerdings nicht zu sagen, es gab ihn einfach nicht. Doch es ließ sich ja immer etwas konstruieren. Später am Vormittag schaute der Medicus vorbei. Konnte er ihm trauen? Oder sollte er doch Heinrich bitten, dem Verleger ein Billet zu überbringen? Allerdings war Heinrich eben auch derjenige, der ihn am ehesten verraten könnte, der Gedanke war ja nicht neu. Wenn er nur in der Lage wäre, aufzustehen und das Haus zu verlassen. Er bat Rivinus, ihn zur Ader zu lassen, aber der lehnte das erneut ab. Gegen Abend allerdings stand der junge Student, der Rivinus meist begleitete, vor der Tür und legte selbst Hand an. Er benötige Geld, er habe ein Mädchen kennengelernt, der Herr Prediger verstünde schon, und so gab ihm Adam einen großzügigen Obolus. Die Schwäche seines Leibes wich jedoch auch nach dem Aderlass nicht. An ein Aufstehen war nicht zu denken. Einige Male setzte er sich auf die Bettkante, doch es hatte keinen Sinn, ihm wurde sofort schwindelig. Das ist mein Ende, dachte er immer wieder, das Gesicht in den Händen begrabend, das ist mein Ende.

Nachdem er spät am Abend murmelnd ein langes Gebet verrichtet hatte, verfällt er in eine Art Dämmerschlaf. Ein Traumbild verdichtet sich. Er selbst, Adam, steht in einer Kirche inmitten von Menschen, einfaches Volk, alte Frauen und Männer, auch Kinder, und er hört, wie ein Mann immer und immer wieder laut und hallend Christian Melodius ruft, Christian Melodius, nur diesen Namen, sonst nichts. Alle bleiben stumm und blickten gesenkten Kopfes zu Boden, wie geduckt stehen sie da, auch er selbst, niemand rührt sich, während der unsichtbare Mann weiterhin ruft und immer wieder ruft, ganz monoton. Schließlich will Adam sehen, wer der Mann ist, er hält es nicht mehr aus, er muss wissen, wer da ruft, er nimmt allen Mut zusammen, hebt den Kopf und blickt in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und da steht jemand auf der Kanzel, mit schweifendem Blick, und dieser Jemand ist niemand anderes als er selbst. Die Blicke treffen sich. Ich bin entdeckt, denkt Adam verzweifelt und will sich wieder in der Menge verstecken, verschwinden in ihr, niemand mehr sein, doch da bemerkt er, dass sie ihn anblicken, die Männer, Frauen, Kinder, mit schräggelegten Köpfen sehen sie ihn an, die Münder leicht geöffnet, den Kopf langsam von einer Seite zur anderen wiegend, und dann macht ein Kind, ein Junge mit bloßen Füßen und Lumpen am Leib, einen kleinen Schritt auf ihn zu und berührt ihn vorsichtig mit dem Zeigefinger, ganz leicht nur. Ein Schmerz durchzieht ihn, unerträglich, zerreißen tut es ihn geradezu, er schreit auf. Da hebt ein Rufen um ihn herum an, er versteht zuerst nicht, was sie rufen, doch dann, ja, jetzt, jetzt versteht er, Christian Melodius rufen sie im Chor, immer lauter und lauter, Christian Melodius, Christian Melodius, Christian Melodius. Mit einem Schrei wacht er auf. Es ist heller Tag. Heinrich sitzt am Bett und sieht ihn besorgt an. Von der Gasse her ist das Poltern der Marktwagen zu hören.

Auch Heinsius ist krank, er huste sich die Seele aus dem Leib, so sagt er, als er Heinrich empfängt. Den ganzen Winter kerngesund, und nun das. Doch ins Bett legen könne er sich nicht, die Geschäfte müssten schließlich weitergehen. Heinrich berichtete, auch Adam Bernd läge krank zu Bett und habe Fieberphantasien, in dessen Verlauf er immer wieder laut Christian Melodius rufe. Zudem gäbe es Gerüchte, die Schrift stamme aus der Feder eines hiesigen Pfarrers. Heinsius erschrak und fragte, ob der Medicus den Prediger noch einmal untersucht habe. Die melodianische Schrift sei indes schon am ersten Tag recht gut verkauft worden, Anfragen wegen des Verfassers habe er nur vage beantwortet, wie immer, wenn es sich um anonyme Schriften handelt. Dies solle Heinrich doch Adam Bernd mitteilen, vielleicht helfe ihm das wieder auf die Beine. Heinrich nickte.

„Das werde ich ausrichten“, sagte er, „doch sagt einmal, wie steht es um meine eigene Schrift?“ Eben diese Art von Überfall hatte der Verleger befürchtet. Sicher, im Moment laufen die Geschäfte gut, dachte er, das Tractat des Melodius ist nicht das einzige Buch, das sich annehmbar verkaufen wird, doch habe ich nicht genug Ladenhüter? Und auch das noch, hat der Kerl sein Manuskript doch tatsächlich dabei! Was sagt er, es ist gänzlich überarbeitet und für die Zensur unverdächtig? Die Geschichte eines Waisenknaben aus Westphalen! Ich sollte nein sagen, überlegte Heinsius, doch hatte er nicht bereits ja gesagt, als er es dem armen Kerl in Aussicht stellte? Er ließ Kaffee für Heinrich bringen und für sich selbst einen Kräuteraufguss mit Honig. Da lag es also, das Manuskript. Natürlich kein Vergleich mit den Schriften Adam Bernds oder anderer gebildeter Menschen, und die, die sich für Täubenfüßers Lebensgeschichte interessieren mochten, würden wohl kaum ein Buch kaufen, wenn sie denn überhaupt lesen konnten. Der Schreiber eines angesehenen Predigers schreibt wie dieser eine Lebensbeschreibung! Die Leute werden sich totlachen, halten sie die eine Schrift gegen die andere. Oder doch nicht? Vielleicht sollte er, fiel ihm ein, die Geschichte Heinrichs der Adam Bernds, die doch wohl im nächsten oder übernächsten Jahr erscheinen könnte, beibinden! Das war eine gute alte Praxis, kostete nicht viel und gab dem Käufer das Gefühl, mehr für seine Taler zu bekommen. Die ersten Exemplare der berndschen Schrift müssten selbstverständlich ohne die Beibindung verkauft werden, doch bei einem kleinen Teil des zu erhoffenden Nachdrucks käme dann Heinrichs Schrift dazu. Warum nicht! Oder er band sie einer anderen Schrift bei, da würde sich schon etwas finden. Schnell überschlug er die Geschäftslage und die vorhandenen Kapazitäten. Unter Umständen würde es sogar Sinn machen, dachte er, die Schrift Heinrich bereits jetzt zu drucken, die Preise waren gesunken und der ein oder andere Drucker war ihm schließlich auch noch etwas schuldig.

„Gut“, sagte Heinsius, „lasst mir Eure Schrift hier, ich werde sie in Druck geben. Habt aber noch Geduld bis ins nächste oder auch bis in das darauffolgende Jahr, dann soll sie erscheinen. Die Hand drauf!“

Was Heinsius nicht ahnte war, dass das Tractat Adam Bernds, die melodianische Schrift, auch von Strohmännern Urians gekauft wurde. Die meisten Bücher aber gingen über einen Zwischenhändler in andere deutsche Gegenden, nach Hamburg und Berlin, einige sogar nach Köln, und wenn es weiter so lief, dachte er, würde er weitere drucken lassen müssen, nicht zuletzt auch wegen der Nachfrage im nahe gelegenen Halle. Dass es tatsächlich Gerüchte in der Stadt gab, der Verfasser sei mit einiger Sicherheit ein hiesiger Prediger, hatte er allerdings erst durch Heinrich erfahren, denn wegen seines hartnäckigen Hustens hat er auf seine Spaziergänge und damit auf manchen Umtrunk verzichtet. So war er dann, es war bereits Mitte Juli, zwar nicht vollkommen überrascht, dafür aber umso besorgter, als er durch den Rosinenjungen einen versiegelten Brief Adam Bernds erhielt, der, so schrieb er einleitend, lange und vielleicht zu lange gezögert habe, dies niederzuschreiben, doch da er selbst immer noch bettlägerig sei, bliebe ihm nun nichts anderes übrig, ihm auf diesem Wege mitzuteilen, dass die Gerüchte sich verdichteten, er selbst sei dieser Christian Melodius und damit der Verfasser des Tractats. Heinrich habe ihm dies berichtet. Vernichtet dieses Schreiben, so endete der Brief, und macht Euch auf das Schlimmste gefasst.

Ein paar Tage später stand der Rosinenjunge wieder auf der Matte. Heinsius ahnte Böses. Tatsächlich schrieb der Prediger, die theologische Fakultät leite womöglich ein Verfahren gegen ihn ein, das zur Suspendierung führen könne. Ihm sei mitgeteilt worden, er solle verbindlich erklären, das besagte Tractat nicht verfasst zu haben. Wahrscheinlich bekämen alle Prediger solch ein Schreiben, führte er weiter aus, doch er allein müsse lügen, wenn er es beantwortete, der Brief brenne wie ein Menetekel in seinen Augen. Er schlafe kaum noch und könne nichts zu sich nehmen, ja er fürchte buchstäblich um sein Leben. Anderntags schon wurden die restlichen Exemplare des Tractats konfisziert. Heinsius bekam eine Quittung ausgehändigt. Sonst geschah nichts, kein Schreiben ging ein, keine noch so versteckte Andeutung oder gar Drohung erreichte ihn, keinerlei Aufträge wurden storniert, es war, als sei nichts weiter geschehen.

ZUSPITZUNGEN

Heinsius war endlich wieder gesund, die Husterei hatte ein Ende. Dennoch aber wagte er es nicht zum Prediger zu gehen, um ihn über die Konfiszierung des Tractats zu unterrichten. Er hoffte ohnehin inständig, die Affäre sei mit dem Abtransport der Bücher, der tagsüber unter aller Augen stattfand, nun beendet. Heinrich berichtete zudem, Adam Bernd läge schwer krank zu Bett, er fiebere beständig, schlechte Nachrichten würden es nicht besser machen. Der Medicus sei jeden Tag bei ihm. Nun gut, dachte Heinsius, atmete tief durch und setzte sich an den Tisch im Hinterzimmer seines Buchladens, warten wir es ab. Alle Papiere, die das Tractat betrafen, lagen auf dem Tisch, Bestellungen, Lieferungen, eingegangene Zahlungen, Rechnungen, beglichene und nicht beglichene. Er prüfte alles noch einmal und stellte wiederum fest, mit dem Tractat trotz allem einen kleinen Gewinn gemacht zu haben, den Zwischenhändlern sei Dank. Eine segensreiche Idee war das gewesen, darauf hätte er selbst kommen können, denn wie sonst sollten seine Bücher in weit entfernte Städte gelangen, ohne dass er allein das ganze Risiko trug. Geld musste verdient werden! Auch die neue Mode, Kochbücher zu schreiben, schien ihm bestens geeignet, seinen Säckel zu füllen, und wenn dann Adam Bernd hoffentlich bald seine Eigene Lebensbeschreibung fertiggestellt haben würde, stünde womöglich die nächste Mode ins Haus.

Der arme Adam verlor indes mehr und mehr jeden Lebensmut. Er wollte nur liegen, nichts hören und nichts sehen. Das besagte Schreiben der Fakultät mit der Aufforderung, sich bezüglich der melodianischen Schrift zu erklären, las er indes immer wieder, konnte sich aber nicht zu einer Antwort durchringen. Ob ich nun lüge und damit eine Sünde begehe, oder aber die Wahrheit mitteile, wird am Ende ganz gleichgültig sein, so sagte er sich, denn wenn alle Prediger der Stadt dieses Schreiben erhalten haben und ich als einziger nicht antworte, haben sie mich ohnehin im Fangnetz, keine Frage. Und auch wenn Heinsius und Heinrich nichts verlautbaren ließen, so war es doch nur, davon war er mehr und mehr überzeugt, eine Frage der Zeit, bis man ihm auf die Schliche kam. Heinrich wusste derweil nicht, wie ihm geschah, denn einerseits sollte es ihm doch gefallen, Adam Bernd leiden zu sehen, andererseits aber tat ihm der Prediger auch leid, der zusehends abmagerte und immer verzweifelter wurde. Sollte all dies also die Strafe Gottes sein dafür, dass er Emilia in andere Umstände gebracht hatte? Dass er die Schuld trug an ihrem Tod? Heinrich fand keine Antwort auf diese Fragen.

Die melodianische Affäre ebbte keineswegs ab. Jeder wollte nun das Tractat lesen. Nicht wenige Exemplare des Buches wurden durch die selben Stadttore hereingeschmuggelt, durch die sie zuvor hinaustransportiert worden waren. Mit jedem Tag wurde es somit für die Obrigkeit dringlicher, den Verfasser der Schrift zu entlarven. Nach wie vor aber wussten nur drei Männer sicher um die Autorschaft Adam Bernds: Meister Urian, Heinrich Daubenfuß und Heinsius. Alle anderen, mochten sie eine noch so hohe Position im Rat oder der theologischen Fakultät einnehmen, tappten im Dunkeln und ahnten allenfalls, wer der Autor sein könnte, auch nachdem schon einige Antwortschreiben eingegangen waren, in denen jeder einzelne Prediger seine Unschuld beteuerte, teils in knappen Worten, teils wortreich und empört. Es war somit alles noch in der Schwebe, und zwar auf unabsehbare Zeit, denn Urian selbst war viel zu schlau, seinen Trumpf zu früh auszuspielen, während Heinrich weder seine Stellung noch seine Wohnung verlieren wollte. Und dass der gute Heinsius seinen Autor nicht verriet, war Ehrensache und diente nicht zuletzt seinem Geschäft, denn wer wusste schon, wie viele Autoren noch an ihn herantreten würden mit der Bitte, ihre Schriften, welcher Art auch immer, anonym zu veröffentlichen?

In diesem Sommer des Jahres 1714 wurde das Tractat Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und in das ganze Leben des Menschen in mehreren Dutzend Exemplaren von Halle nach Leipzig geschmuggelt. Es verursachte die allergrößte Aufmerksamkeit und fand womöglich größere Verbreitung, als wenn es nicht konfisziert worden wäre. Die meisten der heimlichen Leser überblätterten ungeduldig die Vorrede und stießen sogleich auf die Frage, was denn die Wahrheiten seien. Behauptete doch dieser Christian Melodius tatsächlich, es gäbe zweierlei Wahrheiten! Nämlich die an und für sich bestehenden und die, die in die menschliche Seele gelangten und von dieser besessen würden! Nun ja, dachten die meisten, wenn das nicht Philosophie ist, was dann! Immerhin ließe sich das diskutieren und durfte auch niedergeschrieben werden, nur eben nicht von einem Theologen, wenn denn der Autor wirklich ein solcher sein sollte. Einige argumentierten, so lange man nicht wirklich wisse, ob der Autor ein Philosophicus oder eben doch Theologe sei, sollte man über die Sache selbst reden, wenn auch natürlich der Verdacht der unangemessenen Vermischung theologischer und philosophischer Fragen nicht ad acta gelegt werden dürfe. Bald schon war es ganz alltäglich, neugierig jedem bekannten Priester ins Gesicht zu starren, ob er sich verrate, ja man besuchte sogar möglichst viele Predigten mit der Hoffnung, den Autor auf diese Weise zu entlarven. Zu der Angelegenheit selbst predigte übrigens vorerst niemand, das Thema blieb ganz und gar außen vor, was die Frage aufwarf, ob einer der vielen unbekannten zweiten oder gar dritten Prediger die Schrift verfasst hatte? Vorstellbar war vieles, nicht zuletzt auch, dass ein Anhänger des Cartesius mit einem Prediger gemeinsame Sache machte, oder dass die hallischen Pietisten ihre Hand im Spiel hatten. Von dort, von Halle nämlich, kam sehr schnell auch eine weitere, vier Bögen starke Schrift von einem gewissen Christian Maledicus, der die melodianische kurz zusammenzufassen sich bemühte, für alle geschrieben, so hieß es in der Vorbemerkung, die die ganze Schrift nicht besäßen oder nicht Zeit genug hätten, sie zu lesen. Dieser Maledicus, wer immer dahinterstecken mochte, Meister Urian trieb seine Spitzel an, das herauszubekommen, schien das Tractat immerhin nicht nur gelesen, sondern auch verstanden zu haben. Er schrieb, in einfachem Deutsch fast ohne lateinische Worte, es gehe Melodius um die Durchsetzung des gottgefälligen Lebens, denn da die größten Irrtümer der Menschen mit Gottlosigkeit ebenso verbunden wären wie die wichtigsten Grundwahrheiten mit der Gottgefälligkeit, so müssten Irrtümer erkannt werden, indem die wichtigsten Fragen nicht nur aufgezeigt, sondern auch von jedem Menschen selbst beantwortet würden. So müsse man vor allem mit dem eigenen Kopf nachdenken, ohne alle Hitze, bei klarem Verstand. Hierzu sei, so Maledicus, laut Melodius eine Freiheit der Seelen vonnöten als eine besondere und dritte Kraft, doch eben diese Freiheit sei nicht im Willen, der den Verstand beherrsche, zu suchen, sondern vielmehr im Verstand selbst, der auf den Willen einwirke, denn könne sonst überhaupt mit Argumenten gearbeitet werden, die doch ohne Zweifel vom Verstand aufgenommen würden? Melodius mache also den Verstand ganz eigentlich zu einem gewaltsamen Zuchtmeister und Zwinger des Willens. Nun, das war allerdings für gebildete Menschen nur bedingt etwas Neues, und bis hierher mochten die Leipziger Leser dieses erläuternden Tractats wohl eher enttäuscht sein. Las man jedoch weiter, so wurde man immerhin aber überrascht von der kurzgefassten, gesperrt gedruckten Mitteilung, Melodius bitte die Leser, ihn keinesfalls in eine Klasse mit den Hallischen Theologis, den Pietisten zu setzen, auch wenn manch Könige und Fürsten weit lieber friedliebende als unruhige und zanklustige Theologen sähen. Wenn das nicht gegen die theologische Fakultät in Leipzig gerichtet war! Kein Wunder also, wenn diese das Tractat aus dem Verkehr gezogen hatte, vor allem, da dieser Melodius noch weiter ging und eine Einheit von römischer Kirche und moderaten Lutheranern befürwortete – dies richte sich, so stand es geschrieben, gegen diejenigen Orthodoxen, die rasend seien und selbst Religionskriege zu führen und Köpfe abzuschlagen bereit wären! Da stockte manchem Leser der Atem. Von hier an lasen aber nur diejenigen weiter, die an den weiteren theologisch-philosophischen Fragestellungen ein tatsächliches Interesse hatten, doch wollten nicht wenige von denen dann doch lieber das melodianische Tractat lesen als die im Ganzen etwas wirre und unklare Zusammenfassung. Dies steigerte wieder die Nachfrage und führte vor allem an Markttagen zu Verzögerungen des üblichen Ablaufs, da an allen Toren die Fuhrwerke nach diesen Büchern durchsucht werden mussten. Die Exemplare, die man fand, meist Nachdrucke des Tractats auf schlechtem Papier, wurden an Ort und Stelle öffentlich zerrissen und in den Dreck getreten. Allerdings gelangten immer noch genügend Exemplare in die Stadt, und bald schon waren so viele im Umlauf, dass ein jeder, der wollte, die Schrift in aller Ruhe und Heimlichkeit lesen konnte. Alles in allem wäre das also, wenn er denn nichts zu verlieren gehabt hätte, ein schöner Erfolg für Adam Bernd gewesen, denn was will ein Autor mehr, als begierig gelesen zu werden. Doch da er nun mal in Leipzig ein wichtiges Amt innehatte, war dies eine Existenzbedrohung, wie sie schlimmer kaum sein konnte. Aber was hätte er anderes tun sollen, das dachte er nach wie vor, denn er sah es als seine Pflicht an, seine Gedanken zu Aufklärung und Glauben den Menschen mitzuteilen. Das war sein Amt!

Ende August des Jahres 1714 war es dann so weit, es kam zu dem von Adam schon lange befürchteten direkten Angriff. Meister Urian ließ der theologischen Fakultät seinen immer noch vorläufigen, aber durchaus stichhaltigen Bericht zur melodianischen Affäre zukommen. Urian unterbreitete den Vorschlag, gegen Adam Bernd, Oberkatechet und Prediger der Peters-Kirche, zu ermitteln des Verdachts wegen, er sei der Verfasser der verbotenen und konfiszierten melodianischen Schrift. Gegen drei andere Theologen sollte zwar der Form halber auch ermittelt werden, diese jedoch waren, obwohl bei der Fakultät ebenso wenig gelitten, als im Grunde arme Tröpfe nicht wirklich verdächtig, so etwas überhaupt schreiben zu können. So war es allen Mitgliedern der Fakultät sofort klar, dass es ausschließlich gegen Adam Bernd ging. In aller Frühe wurde ihm schließlich ein offizielles Schreiben überbracht. Er quittierte, zitternd in seinem Bett liegend, den Empfang. Ihm wurde, so las er, in aller Form nahegelegt, sich zu den Vorwürfen zu äußern, er selbst habe die Schrift Einfluss der göttlichen Wahrheiten in den Willen und in das ganze Leben des Menschen verfasst. Bis zu einem Entscheid sei er, dazu sehe sich die theologische Fakultät in Übereinstimmung mit dem Rat der Stadt Leipzig gezwungen, von seinem Amt suspendiert.

Der Medicus kam nun mehrmals am Tag, trotz der anhaltenden Hitze, die auch ihm zusetzte, die Treppen heraufgestapft. Er tat, was er konnte, doch es schien so, als würde der nicht einmal vierzigjährige Prediger bald schon das Zeitliche segnen, so schwach war er. Anstelle des dratschen Drachens brachte nun eine Witwe aus der Nachbarschaft das Essen. Er wurde trotzdem immer weniger und weniger. Um so erstaunlicher war es, dass er trotz seiner Schwäche, mit einem fiebrigen Funkeln in den Augen, Heinrich nun weiter diktierte, um ihn herum all seine Tagebücher und unzählige Zettel, von denen er vieles ablas, was er bei guter Gesundheit sicher nicht diktiert, sondern selbst in das Manuskript eingefügt hätte, nämlich all das zu seinen Träumen und Ängsten und Beklemmungen. Kaum waren die Diktate beendet und Heinrich fort, schrieb er zudem alles auf, was Emilia und ihn betraf und das grausame Geschehen damals in Breslau. Es war wie ein Zwang, es musste niedergeschrieben werden.

Meister Urian ist nach der Suspendierung Adam Bernds derart zufrieden mit sich, dass er schon am Mittag des Tages, an dem diese dem Prediger bekannt gegeben wurde, zur Tat schritt und bei der theologischen Fakultät vorsprach, um sich die zugesagte Belohnung auszahlen zu lassen. Dafür müsste er freilich schriftlich bekunden, so sagte der überraschte Schatzmeister mit Nachdruck, die Autorschaft Adam Bernds zweifelsfrei belegen zu können, denn dieser würde dies womöglich bestreiten. Als das entsprechende Dokument mitsamt einer Klausel zur unbedingten Schweigsamkeit beider Seiten aufgesetzt und schließlich von ihm und drei Zeugen unterzeichnet war, Beweise gab es ja genug, warum sollte Urian sich Gedanken machen, nahm er die vier Beutelchen mit Goldmünzen in Empfang, ließ sie in die Taschen seines leichten Übermantels gleiten und ging, schalkhaft den Hut lüftend und sich für weitere Aufträge empfehlend aus der Tür des Kabinetts, sprang die Treppe hinunter und trat beschwingt ins Freie. Das hatte sich gelohnt, ohne Zweifel! Was sollte er nun anfangen? Das kleine Vermögen, das seinen Mantel ein wenig unvorteilhaft nach unten ausbeulte, musste zunächst einmal in Sicherheit gebracht werden. Wie andere schlaue Köpfe auch legte er sein Geld bei unterschiedlichen Handelshäusern an, solchen die mit Holz handelten oder mit Fellen und Häuten oder Haushaltswaren, denn die meisten dieser Häuser betreiben nebenbei noch eine Privatbank. Und da sich alle diese Häuser untereinander Geld liehen, ganz nach Marktlage mal das eine vom anderen oder das andere vom einen, so sank auch das Risiko des Einzahlers, sein Geld zu verlieren. Deswegen hatte er sich seine Belohnung ja in vier Beutelchen geben lassen. Gut kennen sollte man seine Kaufleute natürlich trotzdem, so gut zumindest, um deren kleine Schwächen im Hinterkopf zu haben, für alle Fälle. Zunächst aber ließ Urian sich mit einer Sänfte zu einem Gasthaus bringen, um dort ordentlich zu speisen. Schon auf dem Weg brach ein Gewitter los und durchnässte die Träger, denen er gönnerhaft einen Groschen extra in die Hand drückte. Jetzt wollte er sich erstmal einen Braten schmecken lassen und was Ordentliches trinken! Danach würde er sein Gold einzahlen, am Abend dann vielleicht das Opernhaus am unteren Zimmerhof besuchen, oder vielleicht sollte er einfach im Rosenthal herumspazieren, oder nein, sich herumfahren lassen! Er würde sehen.

Das Sommergewitter wollte und wollte nicht weiterziehen. Gregor stand schon eine ganze Weile im Vorraum einer Gastwirtschaft, den Sieben Brettern, und wartete auf das Ende des Infernos. Es blitzte und donnerte nur so, Hagel prasselte nieder, überall klapperten die Läden, Hunde bellten wie wild. Schließlich gab er es auf, setzte sich in eine Ecke und bestellte Bier und eine Mahlzeit. Würde er eben weiter warten müssen. Vor knapp zwei Jahren wäre die Wirtschaft wegen Betrugs und Hurerei fast geschlossen worden, daran konnte er sich noch gut erinnern, so dass es ihn nicht überraschte, ein Mädchen am Nebentisch zu entdecken, die Wein in kleinen Schlucken trank und ein Kleid flickte. Er wich ihrem Blick aus. Wenn er nur daran dachte, dass auch Monique so die Männer angesehen hatte, als es im Goldenen Hahn noch ebenso lief wie hier, kam ihm die Galle hoch. Er ließ sich noch einen Krug Bier kommen.

Am anderen Ende der Stadt trank Meister Urian ein gutes Glas Wein. Am Nebentisch saß eine der ersten Damen der Stadt mit ihrem Gemahl. Er wusste, dass die Dame dem Herrn oft schon Hörner aufgesetzt hatte. Doch das wussten viele, daraus konnte man kein Geschäft machen. Urian ließ sich noch einen Krug Wein bringen, es gewitterte weiterhin heftig, und rief einen Boten heran, dem er einen Extrabonus in die Hand drückte.

„Bestellt aus dem Goldenen Hahn eine junge Frau herbei, Monique geheißen,“ gab er in Auftrag, sie solle sich zurechtmachen und dann einen Wagen oder eine Sänfte nehmen. Der Bote wagte nicht, den Auftrag abzulehnen, denn so freundlich und aufgeräumt der Kerl auch zunächst wirkte, so böse waren seine Augen. Also stürzte er sich in den prasselnden Regen hinaus, während Urian Nachtisch bestellte und Pläne schmiedete, denn sobald dieses vermaledeite Unwetter vorbei sein würde, wollte er feiern. Eine kleine, süße Mahlzeit mit vielen Desserts nach französischer Art im Rosenthal, danach stand ihm der Sinn. Zusammen mit Monique! Ein weiterer Bote machte sich bald schon auf den Weg, eine Kutsche samt einem kräftigen, ehrlichen und waffenfähigen Kutscher für den Abend zu mieten.

Die Sonne kam heraus und strahlte mit dem leicht trunkenen Meister Urian um die Wette, der nun einen dritten Boten losschickte, noch ein hübsches Mädchen herbeizuschaffen, damit sich diese Monique, die so gefällig neben ihm stand, bloß nicht zu viel einbildete. Urian schrieb ein paar Zeilen für einen ihm bekannten Wirt. Das Mädchen, eine kleine Person auf hohen Hacken, erschien ganz erhitzt eine halbe Stunde später, dann endlich traf auch die offene Kutsche ein. Man fuhr los in Richtung Rosenthal. Die Gassen und Dächer dampften nur so, eine schwüle Hitze schien sich der Stadt bemächtigen zu wollen, und während sie langsam vor sich hinrumpelten, sprach keiner ein Wort. Am Eselsmarkt mussten sie eine Weile warten, da einige der unruhigen Tiere weggeführt werden sollten. Es gab Lärm, worauf Urian aus einem Dämmerschlaf aufschreckte und sich umsah. Ist das da nicht der gute Gregor, dachte er und blinzelte ein paar Mal, aber ja, das musste er sein. Er rief ihm einige Worte zu, ob er nicht, denn so ein Zusammentreffen könne ja kein Zufall sein, mit hinausfahren wolle, zu Brot, Wein und Spielen. Ob nun Urian nicht damit gerechnet hatte oder es sogar eigentlich nicht wirklich wollte, jedenfalls war er ziemlich erstaunt, als der Tischler, nach einem kurzen Blick zu Monique und der anderen Frau, die er als jene aus den Sieben Brettern erkannte, ohne viel Federlesens in die Kutsche stieg und sich schwer neben den Meister auf die Bank fallen ließ. Er sprang aber wieder hoch, denn er hatte sich auf eines der Säckchen in Urians Sommermantel gesetzt.

„Was habt ihr da in der Tasche“, fragte er, „Steine?“

„Goldstücke“, erwiderte Urian gutgelaunt, den Mantel wegziehend, „nun aber setzt euch, die Gefahr ist vorüber.“

So ging es mit der nunmehr vollbesetzten Kutsche durch das Ranstädter Tor und über die Brücke hinaus aus der inneren Stadt. Auch hier dampfte und brodelte es. Die Sonne stach. Kurz darauf passierte man das Rosenthaltor, worauf Urian eine Flasche Wein öffnete und Becher aus einem der Körbe kramte. Dem Kutscher gab er die Anweisung, im Rosenthal kreuz und quer, aber langsam herumzufahren. Den ersten Becher stürzte er nur so hinunter, dann richtete er an Gregor die Frage, ob er von der Sache mit seinem Prediger gehört habe, diesem Adam Bernd, dem nun vorgeworfen werde, er habe diese unselige Schrift gegen die Rechtfertigungslehre verfasst. Doch er wartete eine Antwort des Tischlers gar nicht erst ab. „Der Prediger“, rief er laut, „ist ab heute suspendiert und am Ende wird er sein Amt verlieren, das ist sicher. Darauf einen Becher Wein!“

Urian genoss es, betrunken zu sein. Das hier war seine Kutsche, seine Feier! Er konnte machen und reden, was und wie er wollte! Und er hatte Lust zu reden!

„Die Hauptthese unseres Freundes Adam Bernd“, begann er also, sie waren eben in ein Waldstück hineingefahren, „lautet nämlich“, aber solle man nicht schon einmal mit dem Essen beginnen, er bitte darum, „die Hauptthese also ist, der Mensch muss die Wahrheit selbst als seine eigene besitzen, da sie sonst keinen Einfluss hat auf sein Tun. Der Mensch nämlich, das sagt unser Prediger, ist grundsätzlich fähig, Wahrheiten zu erkennen, und diese machten dann Eindruck auf seine Seele. Das hat der Kerl von den Pietisten, und die haben es von den Griechen. Alles geklaut! Aber Prost!“

Er stieß mit Gregor an, nickte den beiden Frauen zu und griff sich eine Hühnerkeule aus dem Korb. Daraufhin fuhr er kauend und nagend fort, wieder zum Tischler gewandt, es sei also wichtig, dass die Seele des Menschen mit seinen Wahrheiten übereinstimme, wenngleich der Mensch die Welt nun mal sinnlich auffasse und die Freiheit habe, sich zu täuschen. Er goss sich und Gregor nach, ein nicht ganz einfaches Unterfangen, denn die Wege waren nicht selten recht uneben, während die beiden Mädchen, die bisher kaum Notiz voneinander genommen hatten, sich einander zuwandten.

„Wo war ich stehengeblieben“, fragte Urian, „ach ja, tabula rasa, die Seele, die Wahrheiten und so weiter.“ Er holte tief Luft. „Es ist also, sagte er, „dem Menschen nie richtig klar, ob er nun die Wahrheit erkannt hat oder nicht, denn die Sinne können täuschen, so wie ein Spiegel die Dinge nur abbildet, ohne von ihnen zu wissen. Das Bild aber, dass sich der Mensch von den Dingen macht, ist kein reines Abbilden, es bleibt nicht in den Sinnen, sondern wird von der Seele geprüft, ob es sich um die Wahrheit handelt, ob also der Eindruck und die Objekte außerhalb deckungsgleich sind. Ha! Nun möget ihr fragen, mein lieber Gregor, wo denn der Verstand dabei bliebe, und hier schlägt unser Prediger vor, Ihr seht, ich kenne die Schrift unseres Freundes durchaus, schlägt also vor, dass dieser nur eingreift, wenn Zweifel am ersten Urteil bestünden, etwa wenn die Dinge bei Tageslicht oder aus der Nähe betrachtet würden. Adam Bernd benutzt das hübsche Beispiel eines Turms, der von weither rund erscheint, dann aber, je näher man kommt, als viereckig erkannt wird.“

Gregor sagte nichts, denn wenn auch Urian betrunken war und selig lächelte, so waren doch seine Augen noch immer kalt und mit flatternden Pupillen auf sein Gegenüber gerichtet.

Wieder wurde Wein nachgeschenkt. Die Mädchen unterbrachen ihr Gespräch. Gregor glaubte herausgehört zu haben, dass sie über Wirtinnen und deren Gemeinheiten sprachen. Der Kutscher bog nun links ab und fuhr die Elster entlang, an der hier und da ein Angler unter den regennassen Bäumen saß.

„Doch unser Herr Theologe ist noch schlauer“, sprach Urian weiter, „denn nun bringt er den Willen vollends ins Spiel, der die Eindrücke, und sind sie auch noch so falsch, weiter verstärkt. Was der Mensch als wahr erkennen will, erscheint ihm somit auch als wahr, es sei denn“, hier reckte Urian den Zeigefinger der rechten Hand empor und blickte Gregor tief in die Augen, „das Gehirn überprüft die Eindrücke, auch solche aus der Vergangenheit, und verknüpft dies alles, ohne aber, hört, hört, nun schon die Wahrheit erkennen zu können.“ Urian lachte, vielleicht verwechsele unser guter Freund hier etwas, rief er, doch soviel könne er sagen, dass Bernd schließlich und endlich die Seele frei entscheiden lasse, ob etwas wahr sei oder nicht, ja er setze die menschliche Freiheit als die Mitte zwischen dem Objekt der Wirklichkeit und den Bildern des Verstandes.

„Es gäbe also, sagt unser Prediger, man stelle sich das vor, eine Freiheit der Seele als die edelste Kraft, worin wir Gott am ähnlichsten seien. Ha! – Nun gut, dort wollen wir rasten. Kutscher!“

Meister Urian hatte ein Plätzchen zwischen der Elster und einem kleinen Wäldchen ausgemacht. Der Kutscher lenkte seine beiden Gäule langsam vom Weg auf die noch feuchte Wiese. Alles kletterte vorsichtig aus dem Gefährt, Urian ging pinkeln, während Gregor und die Frauen die Wachsdecke ausbreiteten und die Speisen auspackten. Dem Kutscher, der in das Waldstück hineingefahren war und es sich dort gemütlich machte, brachte man Wein und ein paar Leckereien. Urian saß derweil mit geschlossenen Augen inmitten der weiteren Vorbereitungen auf der Decke und schwankte ein wenig vor und zurück.

„Und dann“, rief er plötzlich, so dass alle erschraken, „nennt Adam Bernd den Glauben eine dunkle Erkenntnis! Mit der Vernunft nicht zu erfassen! Die Freiheit aber, sagt er, besteht aus der Kraft, sich den Dingen zuzuwenden und in ihrem Zusammenhang zu betrachten! Zu einem Urteil zu kommen! Es wieder ändern zu können! Und hört, das habe ich mir wörtlich gemerkt: Die menschliche Freiheit besteht darin, dass der Mensch die völlige Erleuchtung und Erkenntnis des Guten haben kann, und doch nach seiner Freiheit das Gute verwerfen und das Böse erwählen und wider dieser Erkenntnis sündigen kann. Ha! So ist es! Und nun her mit dem Wein, den Törtchen und den hübschen Dingern!

Das Mädchen aus den Sieben Brettern verstand kein Wort von alledem, sie hatte weder von Adam Bernd noch von irgendwelchen Schriften je etwas gehört. Ihre größte Sorge war, immer in schönen Kleidern gehen zu können. So hoffte sie einfach nur, dass der betrunkene und offensichtlich reiche Herr sich als großzügig erweisen würde. Er kam ihr bekannt vor, gesehen hatte sie ihn sicher schon einmal. Gregor begriff indes recht genau, von was Urian sprach, der seinerseits nun schweigend aß und trank und vergnügt der Kleinen zuzwinkerte. Mit Monique, die nun ein wenig abseits saß, hatte Gregor noch kein Wort gewechselt. Sie dachte eben daran, mit welchem Nachdruck Gregor vor einer Weile noch seine Idee vertreten hatte, der Freiheit wegen nach America auszuwandern. Und dann kein Wort mehr darüber. Sie fragte sich außerdem, warum er in die Kutsche gestiegen ist. Sie selbst konnte sich nicht dagegen wehren, wenn Urian sie sehen wollte, doch Gregor würde doch wohl selbst entscheiden, was er tat. Er hätte nein sagen und seiner Wege gehen können, dachte sie. Sie sah ihn an, doch er wich ihrem Blick aus, wie schon während der ganzen Kutschfahrt. Sie rückte heran und setzte sich neben Urian, der eben an einem Törtchen mampfte, auf die Decke, schloss die Augen und machte innerlich die Kehrtwende hin zu einer ausgelassenen und fröhlichen Stimmung. Gelernt ist eben gelernt! Nur so hatte sie allein in Leipzig überleben können! Das war das Los armer Mädchen. Sagte Urian etwas auch nur ansatzweise Lustiges, so würde sie strahlen wie ein Honigkuchenpferd, ganz gleich, was Gregor dann denken mochte. Sollte er doch zum Teufel gehen!

Auch die Kleine war jetzt wie ausgewechselt. Bald schon ließ sie sich lachend von Urian füttern und Wein einflößen, der ihr aus beiden Mundwinkeln wieder herauslief und vom Kinn in den Ausschnitt tropfte. Sie dachte einen Moment an die Rotweinflecken und dass ihr Kleid nun verdorben sei. Hoffentlich zahlte der Kerl gut. Notfalls würde sie den Kutscher, den sie ein wenig kannte, um Hilfe bitten. Da konnte ein noch so vornehmer Herr machen was er wollte, zahlen musste er doch. Sie nahm noch ein Törtchen und rückte weiter an Urian heran, weg von diesem Tischler, der brummelnd neben ihr saß und nicht am Schmaus teilnehmen wollte. Warum war er überhaupt mitgefahren, fragte sie sich. Gregor stellte sich die selbe Frage, denn solch ein Herumgemache mit den Mädchen hatte ihm noch nie zugesagt, all die abgeschmackten Scherze und Neckereien, ganz so, wie es selbst die Altgesellen machten, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Wasser predigen und Wein saufen! – das fiel ihm dazu ein.

Er stand auf und ging langsam davon Richtung Elster. Die kleine Prellung am linken Oberschenkel, gleich unter dem Hintern, schmerzte ein wenig. Ob das wirklich ein Säckchen mit Gold war in der Manteltasche? Es wäre diesem Kerl zuzutrauen, ohne Zweifel. Das Kichern der Mädchen war bis hierher zu hören. Er setzte sich ans Ufer in den Schatten einer Trauerweide, die ihre langen, weichen Äste im Wasser kühlte. Trotz der Sommerhitze war der Fluss ein wenig angeschwollen, wahrscheinlich gewitterte es jetzt überall im Land. Er blickte sich um. Am besten wäre es wohl, zur nächsten Brücke und dann in die Stadt zurück zu gehen. Er könnte auch durch den Fluss waten, gar so tief ist es an dieser Stelle nicht, dachte er. Oder sollte er später auf der Rückfahrt versuchen, mit Urian über America zu reden? Vielleicht ließe sich Monique auf diese Weise überzeugen. Die Überfahrt wagen und das Glück dort suchen, wo Gott sie hinführen würde – das konnte doch nicht falsch sein! Hier in Leipzig würde er warten müssen, dachte er, bis ihm Meister Schwan seine Tochter gab. Und wollte er diese Göre überhaupt! Als Tischler oder als Zimmermann würde er drüben in der Neuen Welt jedenfalls ein gutes Auskommen finden, ohne abhängig zu sein. Was haltet ihr davon, könnte er Urian fragen, wenn ich mit dieser schönen Frau namens Monique nach America auswanderte. Sicher würde er den Plan gutheißen. Betrunken wie er ist. Und warum auch nicht, dachte Gregor, es ist doch ein guter Plan. Verflucht noch mal!

Gregor blickte sich um. Die Kleine wackelte eben mit einem Korb in Richtung des Wäldchens, während Urian laut lachend irgendetwas erzählt, von dem Gregor aber nur Fetzen verstand. Monique lachte, doch es war kein fröhliches Lachen, sondern nur ein bezahltes, ein bestelltes. Wie sehr ihn das alles anwiderte! Seine Gedanken schossen hin und her. Dabei hatte er nichts gegen Scherze und auch nichts gegen das Trinken, doch alles zu seiner Zeit und mit dem rechten Maß. Er sah Urian wackelig aufstehen, Monique ungelenk um den Leib greifen, sie tanzten ein paar Schritte, dann lässt Urian sich unvermutet fallen und reißt sie, die aufquiekt, mit zu Boden und ins hohe Gras. Sicher will er sie befummeln, der alte Sack, denkt Gregor, und er müsste nun eigentlich eingreifen. Aber sollte er? Plötzlich eine schallende Ohrfeige. Stille. Das Lachen Urians, der sich mühsam hochrappelt. Das Lachen verebbt. Taumelnd steht er eine Weile da und blickt wirr um sich, taumelnd läuft er ein paar Schritte, greift eine Flasche, trinkt, lacht wieder, sieht Monique an, die ihn anstarrt, wütend, wie es scheint.

Was soll ich tun, denkt Gregor unschlüssig. Als eine einzelne Wolke die Sonne verdeckt und alles matt und farblos macht, auch die Wärme ist plötzlich wie weggezaubert, sieht er die Kleine und den Kutscher aus dem Wäldchen herauskommen. Sie gesellen sich zu Monique und reden mit ihr. Weint sie etwa? Müsste nicht ich dort sein, denkt Gregor. Schon gibt die Wolke die Sonne wieder frei. Urian betrachtet die drei, Monique, das Mädchen aus den Sieben Brettern und den Kutscher, leicht vor und zurück taumelnd, ohne etwas zu sagen und geht schließlich mit einem Ruck los und auf Gregor zu, während die anderen die Körbe und die Decke nehmen und zum Wäldchen gehen. „Die welsche Schlampampe“, bringt Urian lallend, kaum eine Handbreit steht er vor Gregor, heraus, „das blöde Weibsstück von einer Hure, was hindert mich daran, sie aufs Rathaus zu bringen! Sagt mir das, Tischler! Alt und schlaff ist sie, versteht Ihr, schleppt sie ruhig mit nach America, wenn es Euch gefällt, dort nimmt man es nicht so genau.“ Er atmet schwer.

„Lasst gut sein“, sagt Gregor so ruhig wie nur möglich, denn was konnte er schon tun gegen das Gerede. Es ekelte ihn vor diesem betrunkenen, alten Kerl.

„Nimm sie mit, die Hure“, lallt er wieder und wieder, „nimm sie mit.“ Er klimpert mit den Augen, holt tief Luft, rülpst, summt eine Melodie, beginnt einen Satz, den er nicht beendet, summt vor sich hin.

„Setzt Euch und wartet hier“, sagt Gregor endlich, „ich komme gleich mit der Kutsche, wir bringen Euch nach Hause oder wohin Ihr wollt.“ Statt einer Antwort gibt Urian komische Geräusche von sich, nestelt an seinen Hosen, tapst die paar Schritte bis zum Ufer und pinkelt, vor sich hin brummend, stoßweise in den Fluss.

„Die verfluchte Hure“, brüllt er plötzlich, Gregor sieht kopfschüttelnd zu ihm hin, und da gleitet Urian plötzlich aus und fällt ins Wasser, kopfüber, die Hand an seinem besten Stück, einfach hinein. Kein Prusten, kein wildes Umsichschlagen, und so schnell Gregor auch den Mantel ergreift und Urian ans Ufer zieht, der Mann bewegt sich nicht mehr. Das Herz, denkt Gregor sofort, um sich blickend, zum Wäldchen hin, niemand ist zu sehen, ja, das Herz hat versagt, es steht still, die Hitze, der Wein, er stupst den mit dem Gesicht nach unten im Matsch liegenden Mann an, er rührt sich nicht, und dann denkt Gregor plötzlich an das Säckchen, ja, das muss er jetzt wissen, ob das ein Scherz war oder die Wahrheit. Mit klopfendem Herzen, denn seines tut nach wie vor seinen Dienst, entdeckt er alle vier Beutelchen, und in allen vieren ist Gold, Goldstücke, mehr als er je in seinem Leben gesehen hat. Er steckt die Beutel ein, holt tief Luft und sieht sich noch einmal um. Niemand. Zu seiner eigenen Überraschung ist er die Ruhe selbst. Das nasse Bündel, das wenige Minuten zuvor noch ein machtvoller, wenn auch trunkener Mensch gewesen ist, liegt zu seinen Füßen. Der dünne Sommermantel zeichnete die Konturen des toten Leibes nach, die vier Beutelchen mit Gold beschweren nun die Taschen eines anderen. Kurzentschlossen packt Gregor Urian am Kragen und schiebt und zieht ihn ins Wasser. Der Mantel bläht sich auf, der tote Leib wippt ein wenig auf und ab und beginnt dann langsam sich um sich selbst zu drehen, gegen den Uhrzeigersinn, wie Gregor feststellt. Eine Weile betrachtet er das Schauspiel, bis dem Toten schließlich nichts anderes mehr übrigbleibt, als sich der leichten Strömung anheimzugeben.

Gregor begleitet die Leiche Meister Urians ein paar Schritte, wendet sich dann vom Fluss ab und beschreibt einen weiten Bogen über die Wiesen und durch zwei, drei kleine Wäldchen. Bald schon macht er die Kutsche zwischen den Bäumen aus. Die Pferde waren ausgeschirrt und standen am Waldrand, während Monique und die anderen auf dem Boden saßen und sich ruhig unterhielten. Alle drei nickten ihm freundlich zu. Er nahm ein Glas und füllte es, setzte sich und fand bald schon Zugang zu dem Gespräch, denn es ging um nichts Geringeres als ein gerechtes Leben. Nach einer Weile fragte der Kutscher, ob Gregor nicht wisse, wo dieser Herr sei, man habe angenommen, er sei mit ihm, Gregor, zusammen, doch wenn dies nicht der Fall sei, so würde man ihn suchen gehen müssen, denn bezahlt werden musste die ganze Chose ja doch noch, man sei ja nicht zum Vergnügen hier. Gregor ist noch immer die Ruhe selbst, sein Verstand ist klar. Er schlägt vor, er werde zunächst einmal die beiden Pferde zum Fluss führen, da wo er eine Weile gesessen habe sei eine gute Stelle zum Tränken, die armen Tiere bei dem Wetter, daran müsse man doch auch mal denken, und da die Mädchen und der Kutscher, der sich bedankt, träge sind von der Hitze und dem Wein, bleiben sie sitzen.

Es dämmerte. Man fuhr zurück in die Stadt. Am Ranstädter Tor meldete der Kutscher, ein Herr, der sich Meister Urian nenne, habe ihn mitsamt seiner Kutsche für eine Fahrt ins Rosenthal gemietet, sei dann aber verschwunden, ohne bezahlt zu haben. Die beiden jungen Damen und der Herr könnten dies bestätigen. Der Torschreiber fragte genauer nach, denn im Rosenthal sei es ja nicht selten zu Überfällen gekommen, und da berichtete der Kutscher, der Herr habe über die Maßen getrunken und sei irgendwann Richtung Elster verschwunden und dann nicht mehr gesehen worden. Hier mischte sich Gregor ein, er sei ein wenig herumgewandert und habe ihn auch nicht mehr gesehen, seltsame Gestalten allerdings noch weniger. Man fuhr bis zum Markt, Gregor gab dem Kutscher ein paar Münzen, auch die beiden noch vollen Weinflaschen solle er behalten und den Rest vom Essen, als Ausgleich, worauf aber die Kleine aus den Sieben Brettern protestierte und eine Flasche Wein und die Törtchen erhielt. Am Ende stehen Monique und Gregor auf dem Marktplatz, während um sie herum Kisten und Kästen auf Marktwagen verladen werden, Bäuerinnnen sich lauthals unterhalten und der ein oder andere Bürger für wenig Geld spät noch etwas zu kaufen sucht.

Heinrich, der vom Grimmaischen Tor kommend über den Markt geht, hält eine Ledermappe mit Papieren fest in der Hand. Er sieht Gregor und Monique und ist darauf gefasst, sie begrüßen zu müssen, doch die Beiden sind ganz einander zugewandt und bemerken ihn nicht. Heinrich versteht kein Wort von dem, was sie sagen, auch nicht, als er langsam und wie zufällig noch näher herantritt und schließlich mehrmals um sie herumläuft, mit kaum mehr als einem Abstand von drei, vier Schritten. Es ist, als sprächen sie eine fremde Sprache, deren Worte ihm zwar bekannt sind, ohne jedoch einen Sinn zu ergeben. Schließlich hakt sich Monique lachend bei Gregor ein. Sie gehen in Richtung Brühl davon und sind bald nicht mehr zu sehen. Heinrich zuckt mit den Schultern, schiebt die Ledermappe unter die linke Achsel und geht seiner Wege.

SCHLÄGE

Heinrich ahnt nicht, dass er Monique zum letzten Mal gesehen hat. Mit Gregor würde sie sich mit der nächsten verfügbaren Kutsche Richtung Nordsee aufmachen, um von dort aus mit ihrem Geliebten so bald wie möglich den Atlantik zu überqueren. Für Heinrich aber ist nichts wichtiger als das, was er in der Mappe mit sich führt, nämlich den Probedruck seiner eigenen Lebensbeschreibung, den er Heinsius abgeluchst hatte, um noch einmal alles durchzusehen und einiges zu verbessern. Seine eigene Schrift, gedruckt! Heinsius war wieder krank, er hatte Fieber und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Da war es leicht gewesen, den Probedruck zu erhalten.

„Nehmt alles mit“, hatte der Verleger matt gesagt, „in Gottes oder meinethalben auch in drei Teufels Namen, nehmt alles mit, aber bringt mir Euren Adam Bernd wieder auf die Beine, hört Ihr! Seht mir zu, dass er mir seine Lebensbeschreibung abliefert, so schnell wie möglich, bis Ende des Jahres. Nur so können wir aus der Suspendierung einen Gewinn ziehen! Er soll seinem erfahrenen Verleger nur vertrauen. Sagt ihm das! “

Der Täubenfüßer findet den Prediger in einer seltsamen Stimmung vor.

„Habt ihr gehört“, begrüßt Adam seinen Schreiber, „dass ein junger Prediger in das Haus in der Schlossgasse einziehen soll, das mir als Pfarrhaus versprochen war? Der Drachen hat es mir berichtet. Das Obergeschoss des Hauses muss wohl bezugsfertig sein, dabei hat es immer geheißen, es fehle an einem Beschluss und an Geld. Das ist das Ende, lieber Heinrich, das Ende.“ Schwer lässt Adam sich auf einen Stuhl fallen, nimmt die Gabel und beginnt zu essen, ganz so, als sei nun wirklich alles egal, als gelte es nur noch, die Henkersmahlzeit zu vertilgen. Dies wenigstens dachte Heinrich, der sich zu ihm setzte, und ja, in der Tat, der Prediger hatte recht, das dürfte wohl darauf hindeuten, dass aus der vorläufigen Suspendierung eine endgültige werden würde. Umso wichtiger wird es nun wohl sein, die Lebensbeschreibung weiterzuführen, das sollte er Adam Bernd klarmachen, denn ohne Amt kein Geld. Mit einem erfolgreichen Buch allerdings ließe sich recht ordentlich verdienen, besonders in Leipzig. Das sagte er seinem Gegenüber. Adam nickte.

„So wird es wohl sein“, erwiderte dieser, und als er die Mahlzeit ganz in sich hineingeschaufelt hatte, stimmte er auch dem von Heinrich überbrachten Plan, nämlich der Beendigung der Schrift bis zum Jahresende, vollends zu. Das sei er Heinsius schuldig.

Daraufhin diktierte Adam mit leiser Stimme einige Anekdoten aus seiner Kindheit und ließ dann Wein holen.

„Zum Teufel noch eins“, sagte er, nachdem sie eine Weile schweigend am Tisch gesessen hatten, „da hat man mir übel mitgespielt, Heinrich. Gestern noch in Amt und Würden, heute ein Feind der Orthodoxie, der die Rechtfertigungslehre infrage stellt. Mal sehen, was Gott am jüngsten Tag dazu zu sagen hat!“ Er lachte bitter, goss nach und ließ sich von Heinrich berichten, was in der Welt dort draußen, so drückte er sich aus, vor sich ginge, über was die Menschen sprachen, wenn sie nicht grade das Thema Melodius behandelten, denn das alles müsse er nun so genau wie möglich wissen, unbedingt, jetzt, wo es ihm schon ein wenig besser ginge.

Wieder in seiner eigenen Wohnung versucht Heinrich nachzudenken. Wann im Leben, überlegte er, bin ich mein eigener Herr gewesen? Nicht auf dem Hof, beim Kaufmann Thorbecke nicht und heute am allerwenigsten, auch wenn es mir nicht schlecht geht. Er sah sich um. Der Probedruck seiner Schrift lag auf dem Tisch, die Seitenzahlen fehlten, schon auf den ersten Blick fielen ihm all die Fehler des Setzers ins Auge. Doch es war sein Werk, keine Frage, denn warum sollte nicht auch er von seinem Leben berichten, statt dass immer nur die hohen Herren dies taten? In einer Truhe lagen Kleidungsstücke, die noch ganz und gar in Ordnung waren, er besaß sogar zwei Paar Schuhe. Warum sich also beklagen! Er hatte nie zuvor so viel besessen! Dennoch war ihm nicht wohl zumute. All diese Heimlichkeiten die Jahre über, dann die Angst, dies hier alles wieder zu verlieren, wieder in Löchern hausen zu müssen mit Galgenstricken und abgehalfterten Weibsbildern. Ein Wort Urians, und niemand mehr nähme ihn als Schreiber! Dazu kommt natürlich, dachte er weiter, das Ausspionieren des Predigers, denn dies könnte dieser Teufel ja ohne weiteres herumerzählen lassen. Hätte ich Adam Bernd nicht wenigstens vor der drohenden Gefahr warnen sollen, bald schon wegen des Tractats suspendiert zu werden? Doch er war lange Zeit ja gerne Spitzel gewesen, das sagte er sich immer wieder. Warum auch sollte es dem Mann gut gehen, der die Schuld trägt am Tod der Schwester? Und nun wollte er seine eigene Schrift in Heinsius’ Laden ausliegen sehen! Neben der Adam Bernds. Neben der des gestürzten Prediger! Doch brannte seine Rache überhaupt noch in ihm, seit er mit dem Verfassen seiner Lebensbeschreibung begonnen hatte? Und hätte er nicht deutlicher werden müssen? Er hatte keine Namen genannt, Emilia benannte er nur als seine Schwester und aus Breslau war einfach B. geworden und aus Adam Bernd einfach der Gymnasiast, von dem die Schwester berichtete und mit dem sie zusammengelegen hatte. Warum dann diese Schrift, wenn er nicht Ross und Reiter benannte? Der Kopf wurde ihm ganz wirr, denn es war doch sein Rachetraum gewesen, Adam Bernd die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wenn er am Abgrund hing, bis zum Hals im Sumpf feststeckte, oder was immer er sich vorgestellt hatte. Und jetzt tat er fast nichts! Sollte er es also gut sein lassen?

Jemand kam die Treppe hoch und klopfte nebenan. Ein Bote. Er gab etwas ab und verlangte die Unterschrift des Predigers. Heinrich setzte sich an seine Schrift und begann kurzentschlossen mit Korrekturen. Das B. für Breslau ersetzte er durch ein K. und das Wort Gymnasiast durch das Wort Schüler. Heinsius musste das unbedingt ändern, denn war es nicht seine, Heinrichs eigentliche Absicht gewesen, den Lesern aufzuzeigen, wie weit er es in seinem Leben gebracht hatte? Zum Teufel mit seiner Rache! Zum Schreiber des Oberkatecheten und Predigers der Peters-Kirche in Leipzig – dazu, dachte er, habe ich es gebracht! Wenn das sein Lehrer Andreas Alberti wüsste! Es klopfte. Hastig legte Heinrich den Stapel in die Truhe und öffnete die Tür. Adam Bernd, mit fiebergerötetem Gesicht, stand im Flur.

„Könntet Ihr bitte noch einmal für mich schreiben, Heinrich“, sagte er matt.

Der Bote hatte ein Schreiben gebracht, das Adam Bernd für die nächste Woche vor eine Konferenz zitierte, wo er seine Ansichten zu der Schrift des Melodius, dessen wahre Identität noch unklar sei, dem Actuarius in die Feder diktieren solle. Er könne sich aber auch zuvor schon schriftlich erklären und seine Meinung mitteilen. Das Schreiben schloss mit Genesungswünschen. Das alles war natürlich ein Hohn! Mit hochrotem Kopf ging Adam auf und ab. Endlich rief er überlaut, so dass vom gegenüberliegenden Dach die Tauben aufflogen, „nun Heinrich, hört und schreibt!“ Und Heinrich hörte und schrieb. War das nun doch noch die Vollendung seiner Rache? Oder wäre nicht alles auf die selbe Weise abgelaufen auch ganz ohne sein Zutun? Hätte nicht jeder andere den Prediger ebenso verraten? Doch er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Adam Bernd, mit dem Rücken zum Fenster stehend, diktierte mit geschlossenen Augen schneller als üblich und auch ein wenig wirr, ließ dann auch die ersten beiden Blätter zerreißen und setzte von neuem an. Der Prediger versuchte ohne Zweifel, das war auch Heinrich klar, seine Würde zu bewahren, indem er die Autorschaft jetzt offen zugab. Nachdem endlich der erste Teil mit der Anrede, den Formalien und ein paar Floskeln neu erstellt war, denn hier musste sorgfältig auf die Reihenfolge geachtet werden, diktierte Adam Bernd, nun ein klein wenig ruhiger, Heinrich den Hauptteil des Schreibens.

„Gott hat nun“, so diktierte er, „nach seiner Erbarmung mich wieder aufzurichten angefangen, und ich habe die Hoffnung, er werde mich auch noch ferner aufrichten. Ich bin durch mein Tun in die Tore des Todes und der Höllen gekommen, die Not hat mich zur Lesung der Lehr- und Trostbücher unserer Theologen angetrieben, so dass ich verdammen muss, was ich selbst geschrieben. Mir sind die Augen in vielen, ja in den meisten Dingen aufgegangen. Im übrigen bin ich bereit, mich auf die allerdemütigste Weise bei unserer Kirche und allen Lehrern in derselben zu entschuldigen, so ich was Hartes wider dieselbe geschrieben habe. Haben Sie Erbarmen mit mir armen Mann und fällen Sie den Beschluss, dass ich mit gnädiger Strafe angesehen werde, und es, wie es anders ja nicht sein kann, bei der bloßen Remotion verbleibe, die ich wohl verdienet habe.“

Der Prediger unterbrach sich.

„Nehmt es nicht so schwer, Heinrich“, sagte er. Dass sein so sturer Schreiber nun so traurig dreinblickte, ja Tränen in den Augen hatte, überraschte und rührte ihn. Heinrich selbst kämpfte schwer mit sich – der Prediger, dem er alles Böse an den Hals gewünscht hatte, tat ihm leid! Er wusste, dass auch dieses Schreiben ihn nicht retten würde. Kaum dass er mit Milde rechnen könnte. Wie er diesen Urian einschätzte, würde der wohl hinterrücks eine schwere Strafe durchzusetzen wissen, und zwar aus reiner Bosheit.

„Ich will“, diktierte Adam schließlich weiter, „treulich mein Versprechen halten, so lang ich lebe nicht das Geringste wider unsere Kirche zu schreiben, würde auch wider mein Gewissen handeln, wenn ich solches tun wollte. Kein besserer Zaum in dieser Sache wäre es, sofern ich in Leipzig gelassen würde, unter der Bedrohung, dass, wenn ich dergleichen ferner täte, ich von Stadt und Land sollte verjagt werden. Denn davor erschrecke ich mehr, als vor dem Tod selbst, denn obzwar ich das vierzigste Jahr grad erst erreicht, so bin ich doch ein schwacher, alter Mann. Wo sollte ich hin? Wer sollte mich annehmen? Keine Mittel zu leben sind vorhanden, ich würde der größten Versuchung und Trübsal unterworfen sein.“ Er machte eine Pause, ging ein paar Mal auf und ab, dann diktierte er eine Schlussformel und bat Heinrich, alles noch einmal sauber auf gutes Papier zu schreiben und ihm vorzulegen. Er gehe derweil zum ersten Mal seit langer Zeit aus dem Haus, er wolle in seine Peters-Kirche.

Stufe um Stufe ging Adam langsam das Treppenhaus hinunter, sich immer mehr wappnend, sich immer mehr straffend. Halte stand, das sagte er sich bei jedem Schritt, den er tat. Halte stand! Da war es nun geschehen, das Unheil war über ihn gekommen. Weil er das, was er über Jahre in seinen Seminaren für die philosophische Fakultät gelehrt hatte, unbedingt in einer großen Schrift bündeln und verlegen lassen musste. Aus der Werkstatt des Knopfmachers hörte er ein Schleifen, er schlich vorbei. Dass er bloß nicht gesehen würde. Wie aber nur, dachte er, in der Gasse stehend, ist das alles ans Tageslicht gekommen? Hätte ich einen Namen wählen sollen, der weniger nach einem Pseudonym aussieht? Er wandte sich nach rechts in Richtung der Peters-Kirche. Oder wäre es sogar besser gewesen, wenn er die Schrift in einer anderen Stadt herauszugeben hätte? Nun ja, jetzt war ohnehin alles zu spät und er musste auf die Gnade der theologischen Fakultät hoffen. Übertrieben hatte er nicht in seinem Schreiben, aus der Stadt verwiesen zu werden wäre in der Tat die schlimmste Strafe für ihn, denn so sehr er in Leipzig als Pietist galt, so sehr würde er in Halle und auch andernorts als ein Orthodoxer verschrien sein.

Die Peters-Kirche stand an ihrem Platz, als sei nichts geschehen. Alles wie gehabt, die Kirche, das Peters-Tor, die Schenken, das Leben und Treiben auf dem Platz. Wer wohl erkannte ihn von all den Passanten als den Prediger der Peters-Kirche, fragte er sich. Doch beachtete ihn überhaupt jemand? Sicher, er trug nicht die einem Prediger angemessene Kluft, er war gekleidet wie jedermann, so wie er es in Zukunft immer sein würde. Er blieb an der Laterne stehen, durch dessen Lichtkreis Heinrich damals gegangen war, immer hin und her, am Tag der Antrittspredigt war das gewesen. Nie wieder würde er eine Predigt dort halten noch auch Schüler unterrichten! Ich darf wirklich froh sein, wenn ich mit einer kleinen Pension ausgestattet werde und in Leipzig bleiben darf, dachte er. Dann ging er an der Kirche vorbei, nein, hineingehen würde er doch nicht mehr können! Nach einer Weile erreichte er den Markt, gelangte bis zum Brühl, ging dann zum Roten Collegio, wo er so lange Jahre gewohnt hatte, betrachtete vom Hof aus die Fenster seiner ehemaligen Wohnung, um dann langsam und schweren Schrittes zum Haus des Knopfmachers zurückzugehen. Schweißgebadet kam er dort an, doch auch jetzt, als er zitternd vor dem Haus stand, beachtete ihn niemand, so wie ihn überhaupt nicht ein Mensch angesehen hatte auf seinem Rundgang. Über Christian Melodius zerreißen sie sich sicher das Maul, dachte er, mich selbst aber sehen sie nicht.

Die Abschrift lag auf dem Pult. Heinrich war verschwunden. Auch nebenan war er nicht. Nun, das Schreiben konnte auch morgen zur Fakultät gebracht werden, zu dieser späten Stunde würde dort ohnehin niemand mehr anzutreffen sein. Er setzte seine Unterschrift unter den Text, schob ihn in einen Briefumschlag und siegelte. Wie immer wurde ihm vom Geruch des Terpentins ein wenig übel. Er trank ein Glas Wein, legte sich zu Bett, schlief bleiern und träumte schwer und erwachte am anderen Morgen mit Fieber. Der Medicus saß an seinem Bett. Im Hintergrund erkannte er Heinrich, der mit fragender Miene den versiegelten Brief in die Höhe hob. Adam nickte. Das ist das Ende, dachte er, das ist das Ende.

Die Konferenz wenige Tage später fand ohne Adam Bernd statt. Seine Schuld wurde nach Verlesung der Stellungnahme festgestellt. Er wurde vom Amt suspendiert, von allen weiteren Aufgaben entbunden, dennoch aber mit einer kleinen Pension versehen, für die sich alle aussprachen. Die in einer Pause von einem der Herren flüsternd gestellte Frage, wo denn der gute Meister Urian sei, sonst säße er doch immer inkognito hinten im Saal, wurde nicht beantwortet. Der ein oder andere der Herren lächelte wissend, zwei oder drei taten so, als hätten sie die Frage nicht gehört. Was brauchte man jetzt noch diesen schrecklichen Kerl in persona? Hauptsache war doch der schriftliche Bericht, der ihnen ja samt aller Zeugenaussagen vorlag, dazu die Stellungnahme des Predigers und natürlich das beanstandete Werk selbst, wenn auch dieses nach Ende der Sitzung nicht mehr aufzufinden war. Man setzte also noch Unterschrift und Siegel unter das längst vorbereitete, hochoffizielle Schreiben an Adam Bernd, dann ging man zu einer weiteren Frage über, nämlich der der Nachfolge. Diejenigen, die sich von Anfang an gegen Adam Bernd als neuen Prediger ausgesprochen hatten, konnten ihre Genugtuung kaum verbergen und waren sicher, ihren Kandidaten durchzusetzen. So war es dann auch.

Die Suspendierung selbst, als sie nun offiziell war, richtete Adam Bernd nicht etwa völlig zugrunde. Das nämlich hatte der Medicus befürchtet und Heinrich angewiesen, im Notfall sofort nach ihm zu schicken. Im Gegenteil setzte das Urteil neue Kräfte frei. Die Lebensbeschreibung, die er nach wie vor Heinrich diktierte, machte einige Fortschritte. Ein Mädchen jedoch, mit dem der junge Gymnasiast in Breslau, der Adam Bernd einmal gewesen ist, zusammengelegen hätte, wurde weiterhin nicht erwähnt. Zum ersten Mal überhaupt hatte Heinrich den Gedanken, Emilia könnte die Unwahrheit gesagt haben. Als ihm eines Tages ein von Adam Bernd selbst geschriebener und in das Manuskript bereits eingefügter Abschnitt in die Hände kam, wo von einem unglücklichen Fall in seiner Jugend die Rede war, weswegen er keine Familie gründen könne, war er sich sogar fast sicher, dass Emilia gelogen hatte! So war sie also nicht von Adam Bernd schwanger gewesen! Oder?

Die Lebensbeschreibung Adam Bernds war zu Beginn des Frühlings des Jahres 1715 nahezu beendet. Er würde noch einiges selbst einfügen, darunter das ganze neu geschriebene Tractat zum Selbstmord, so sagte er Heinrich, dann aber wäre es vollbracht und Heinsius könne es, sobald alles geordnet sei, drucken. Von dem zu erhoffenden Gewinn würde er seinem Schreiber einen gerechten Lohn zahlen für all seine Mühe, versprach er. Heinrich selbst nahm sich vor, seine eigene Schrift nun auch noch einmal zu bearbeiten und Heinsius nochmals an sein Versprechen zu erinnern. Er begann damit, alles noch einmal aufzuschreiben, was Emilia ihm über ihr Zusammenliegen mit Adam Bernd gesagt und wie er seine Rache geplant hatte und es doch auf Jahre hin nicht vermochte, nach Breslau zu reisen, und so weiter und so weiter, bis hin zu seinem Verbleib in Leipzig und der ganzen Spitzelei, die er schon im Auftrag Urians betrieb, obgleich er dachte, für Jean zu arbeiten. Lange war das her!

So schrieb er tagelang Stunde um Stunde, strich immer wieder halbe Seiten durch, versuchte es neu, verwarf etwas, schrieb neu, bis er eines Abends, es dämmerte bereits, auf den Gedanken verfiel, einen langen Spaziergang zu machen. Er musste den Kopf wieder frei bekommen, und es mochte wohl sein, dachte er, dass Gott auch mir einen Fingerzeig gibt. Womöglich war das neuerliche Aufschreiben, das Nennen von Ross und Reiter, ja sogar die Fron, die Gott ihm auferlegte als Buße allein schon für seine schlimmen Gedanken und die Rachepläne! Und am Ende würde er, wenn Gott ihm ein Zeichen gäbe, die ganze Schrift vernichten! Oder selbst ohne ein solches Zeichen würde er es tun! Als Buße schrieb er es auf, als Buße würde er es ins Feuer werfen!

Er betrat die Gasse und beschloss, direkt zu Heinsius zu gehen und ihn um Rat zu fragen. Ich frage ihn, überlegte er, ob er es etwa für sinnvoll ansähe, in meine Schrift die Erzählung eines Unbekannten hineinzunehmen, die Selbstmord und Rache, Bespitzelung und Untreue zum Inhalt hätte. Manche Autoren, das wusste er, gingen so vor. Er beschleunigte seine Schritte und ließ sich kurz darauf bei Heinsius melden, der ihn wohlgelaunt und bereits wieder ganz und gar hergestellt empfing und gleich auch zum Kartenspiel aufforderte, zu dem er in Kürze einige Freunde erwarte. Zu einem besseren Zeitpunkt hätte Heinrich nicht kommen können. Er habe das Kartenspiel übrigens selbst gedruckt, aber nun erstmal herein und was er trinken wolle.

Man spielte bis zum frühen Morgen. Erst bei aufgehender Sonne torkelte Heinrich mit zugekniffenen Augen durch die noch leeren Gassen zurück zum Haus des Knopfmachers. Nun bloß nicht dem Drachen in die Arme laufen, dachte er, erklomm mühsam das Gebirge des Treppenhauses, kam völlig erschöpft oben an und öffnete die Tür zu seiner Wohnung. Nur noch schlafen, das wollte er, nichts weiter. Grell und blendend fiel die Sonne durch dreckige Scheiben in seine Stube, schützend legte er die Hand vor die Augen, ging ein paar Schritte in Richtung seines Bettes, stieß gegen etwas Weiches, stürzte nach vorn, prallte mit der Stirn gegen den Tisch und verlor das Bewusstsein. Als er mit schmerzendem Kopf wieder erwachte, war es trübe in der Stube. Sich vorsichtig an die Stirn fassend sah er sich um. Kaum zwei Schritte entfernt lag ein Mensch, der ihn offenen Mundes und mit weit aufgerissenen Augen anzustarren schien. Heinrich schrie auf.

Der Knopfmacher blieb erstaunlich ruhig, ging wieder hinunter in seine Werkstatt und wies die Tochter an, den Medicus August Quirinus Rivinus zu holen. Heinrich blieb derweil allein mit dem Leichnam Adam Bernds, völlig regungslos saß er auf seinem Stuhl und sah immer wieder den Toten an. Die Augen waren noch starr geöffnet und die ganze rechte Gesichtshälfte hing herunter. Langsam erst begriff er, was geschehen sein musste. Wahrscheinlich hatte er etwas holen wollen und dann das Manuskript auf dem Tisch entdeckt und gelesen. Die ganze Geschichte, dass ich ihm die Schuld gab für den Tod Emilias, dass ich mich rächen wollte, all dies, dachte Heinrich, muss er gelesen haben. Und dann hat ihn der Schlag getroffen. Wie er nun dalag! Heinrich riss sich los von dem Anblick, er hörte Schritte und Stimmen vom Treppenhaus her, raffte kurzentschlossen die Blätter vom Tisch und steckte sie in den Ofen, legte einige dünne Holzscheite darauf und entzündete alles, eben als der Knopfmacher und der Medicus in die Wohnung traten. Der Ofen qualmte ein wenig, doch das beachtete niemand. Nach kurzer Untersuchung bestätigte Rivinus, dass der arme Adam Bernd an einem Schlagfluss gestorben war, und das, obwohl es ihm doch wieder deutlich besser gegangen sei in der letzten Zeit. Dann besah er sich die Wunde an Heinrichs Stirn, legte einen Kopfverband an und riet ihm zu einigen Stunden Bettruhe, wenn es ihm denn möglich sei. Kurz darauf wurde der Leichnam abgeholt.

Von da an beachtete niemand mehr Heinrich Daubenfuß, nicht einmal Fragen stellte man ihm. Die Beerdigung und alles weitere wurde, wie zum Hohn, von der theologischen Fakultät in die Wege geleitet. Erst eine Woche darauf suchte Heinsius dann Heinrich auf, denn zum einen wollte er das Manuskript Adam Bernds holen, zum anderen aber dem Täubenfüßer mitteilen, dass die von ihm verfasste eigene Lebensbeschreibung nun doch nicht der des Predigers beigebunden werden könne, das würde er sicher verstehen. Heinrich nickte, denn er hatte unter den Papieren des Predigers inzwischen jene Blätter entdeckt, in der Adam seine Liebe zu Emilia, dem schüchternen Mädchen aus Schwerte, beschrieb. Auch der Überfall, die Misshandlung und die Vergewaltigung, all das war vom ehemaligen Prediger aufgeschrieben worden, sogar peinlich genau, bis hin zu den Sorgen, die er sich gemacht hatte, als Emilia eines Tages verschwunden war und niemand etwas wusste über ihren Verbleib. Selbst seiner Unfähigkeit, danach mit einer Frau zusammenzuliegen, hatte er ausführlich Erwähnung getan. Heinrich hatte die Blätter verbrannt.

Nachdem der Verleger gegangen war machte sich Heinrich auf zu dem Pfarrhaus in der Schlossgasse, das tatsächlich nun endlich so gut wie instandgesetzt und auch bewohnt war. Er stellte sich dem neuen Prediger der Peters-Kirche vor, er würde gerne dessen Schreiber werden.

„Gut“, sagte dieser, „Ihr seid mir ohnehin empfohlen worden, kommt herein, es gibt einiges zu tun. Meine Frau macht übrigens hervorragenden Kaffee.“ Kein Wort über Adam Bernd. Keine Andeutung. Kein scheeler Blick. Er, Heinrich Daubenfuß, war nun einfach der Schreiber des neuen Predigers und Oberkatecheten der Peters-Kirche. Das war alles.

Ein halbes Jahr später brachte der Verleger Johann Samuel Heinsius mit großem Erfolg die noch einmal von ihm durchgesehene Eigene Lebensbeschreibung Adam Bernds auf den Markt. Ein Täubenfüßer ist in der Schrift nur ein einziges Mal erwähnt. Auf Seite 461 heißt es: Wo ich speiste, fing einer, mit Namen Täubenfüßer, den ich jetzt noch zuweilen auf der Gasse gehen sehe, von Blutreinigung an zu reden, und gab vor, es wäre keine bessere Blutreinigung, als wenn man eine Zeit lang puren Sassafras wie Tee tränke. Mehr nicht. Doch das sollte, dachte Heinrich, nicht alles sein, was die Welt über ihn erfahren sollte! Er würde so bald wie möglich mit Heinsius reden müssen!

EPILOG: DER TOD UND DAS MÄDCHEN

Mehr als drei Jahrzehnte später, ein Herbstabend des Jahres 1748. In der Peters-Kirche zu Leipzig ist es kalt und finster. Mühsam und ein wenig unsicher erhebt sich ein alter Mann, schwer auf eine Krücke gestützt, von einer der neuen Bänke, die erst letztes Jahr aufgestellt worden sind, nachdem die alten ihren Dienst getan hatten. Das rechte Bein will ihn kaum tragen nach einem Schlagfluss vor einigen Wochen, der ihn ereilte, als er in der Straße vor dem Korn-Magazin in ein Streitgespräch geraten war mit einem jener Reformierten, die sich hier immer noch zu behaupten wussten, weil sie ihre wahre Gesinnung gut, allzu gut zu verbergen vermochten. Immerhin blieb der Andere neben ihm hocken und redete ihm gut zu, um die Panik zu mildern, die den armen Herrn Daubenfuß erfasst hatte. Man brachte ihn in seine Stube. Der Medicus, Schüler des berühmten August Quirinus Rivinus, was er niemals vergisst zu erwähnen, war nach dreiviertel Stunden dann endlich gekommen. Er gab laut und herrisch Anweisungen, ohne Widerrede zuzulassen. Selbst ein Aufguss aus Sassafras und einigen Kräutern, die der Täubenfüßer gewöhnlich zur Blutreinigung zu sich nahm und den seine brave Wirtin Anna Catharina ihm hatte einflößen wollen, wurde ihm von den schon geöffneten Lippen gerissen. Dabei stieß der Kerl gottlose Flüche aus, derer er sich keineswegs schämte, wie es aussah. Später am Abend war er dann noch einmal in leicht trunkenem Zustand wiedergekommen und hatte Heinrich zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zu einem Aderlass geraten, den er auch sofort durchführen wolle, natürlich gegen einen kleinen Obolus, wie er sagte. Daran erinnerte sich der Alte später gut und erzählte es etwas lallend jedem, ob er es hören wollte oder nicht, denn er war ja am Ende allein mit Gottes Hilfe wieder aufgestanden und leidlich gesundet, ohne den vermaledeiten Medicus und auch nur einen seiner teuren Aderlässe.

Schwer atmend steht der Täubenfüßer nun also neben der Kirchenbank. Der Prediger, noch immer der direkte Nachfolger des seligen Adam Bernd, hatte ihn gebeten, hier auf ihn zu warten, er sei bald zurück. Kaum jedoch war er verschwunden, begannen auch schon wieder die Magenkrämpfe, mit denen der Täubenfüßer seit Jahren zu kämpfen hatte. Es waren nur wenige Schritte zum Abort, doch er plante gewissenhaft jeden einzelnen. Ein Sturz könnte die schlimmsten Folgen zeitigen. Die Tür zur Sacristei steht ein wenig offen, nur die Kerze auf dem Tisch wirft Licht in den Altarraum. Die Stufen hinunter zum Abort, den vor Zeiten ein sinniger Bauherr im Durchgang zwischen Kirche und dem Haus des Kupferschmieds hat einbauen lassen, kein Menschenschlag hat so sehr mit Harndrang zu kämpfen wie der Prediger, lagen jedoch in tiefem Schatten. Schritt für Schritt, mit der Krücke sich vortastend, der rechte Arm tat zum Glück wieder seinen Dienst, gelangte er schließlich heil hinunter und öffnete die Tür zum stillen Ort. Als der alte Schreiber dann endlich die Kerze entzündet, die Knöpfe seiner Hosen geöffnet und sich hingehockt hatte, sandte er ein Gebet gen Himmel, denn nichts flößte ihm mehr Angst ein, als tot auf dem Abort gefunden zu werden.

„Herr“, betete er also, „lass mich nicht während der Notdurft sterben, erweise deinem treuen Diener die Gnade.“ Dann tat er sein Bestes, um die Defäkation in Gang zu setzen, doch wieder einmal vergebens, auch wenn es im Bauch polterte und grollte wie beim Weltuntergang, es nutzte nichts! Wie viel mehr Qualen aber, dachte er, hat doch der selige Magister Adam Bernd ausstehen müssen, wenn ihn die Ahnung überkam, er müsse das ganze Opus naturae verrichten eben zu der Stunde, in der Minute, in der er mit seiner Predigt zu beginnen hatte. Der Prediger hingegen, der dem seligen Magister im Amt nachgefolgt war, schien solcherart Not nicht zu kennen, weder den Durchfall noch die Verstopfung noch die Angst davor, selbst jetzt nicht, wo auch er dem Alter nicht mehr entrinnen konnte. Einen Schreiber hat der nie benötigt, so sinniert der Täubenfüßer nun in dieser einsamen Stunde auf dem Locus, seine schalen Predigten schreibt er ohne große Mühe selbst und an so etwas wie eine eigene Lebensbeschreibung, oder gar an theologische oder philosophische Werke, denkt der nicht einmal, da er nichts zu berichten hat. Ein fader Mensch! Immerhin aber, dachte er, nahm er mich in Dienst, nachdem der gute Adam Bernd suspendiert worden war und dann wegen meines Geschreibsels gestorben ist. Über all diese Dinge dachte der alte Täubenfüßer nun nach und hieb sich immer aufs neue die Fingerspitzen in den Magen, doch es half weiter nichts, der Bauch blieb hart wie ein Brett. Nicht mal der Sud aus allerhand Kräutern und gegorener Milch, zu dem ihm seine Wirtin geraten hatte, nutzte also etwas, ja es war, als wolle die Verdauung den Dienst aufkündigen, noch bevor der Rest des Leibes dahinscheiden würde.

Als der alte Schreiber wieder zu sich kommt, liegt er auf seiner Stube in der Schlossgasse auf seiner einfachen Bettstatt. Die rechte Körperhälfte wie tot. Es ist also wieder geschehen, dachte er, trotz der Gebete, noch dazu auf dem Abort, mit runtergelassenen Hosen. Immerhin bin ich nicht tot, überlegte er weiter, sich umsehend, doch er konnte kaum etwas erkennen. Alles war wie in Dunst gehüllt. Er machte ein Murmeln und Wispern aus, irgendwo dort hinten, im Halbdunkel, und bald schon kommen die Gestalten näher, unförmig und kaum voneinander zu unterscheiden. Ein tiefer Bass spricht ihn an, sehr laut zuerst, dann wie aus weiter Ferne, dann wieder laut, doch er versteht kein Wort. Man zehrt schließlich an ihm herum, Gesichter sind noch immer nicht zu erkennen, man greift unter seinen Achseln hindurch, packt seine Füße und trägt ihn zu einem Stuhl. Jemand redet auf ihn ein, er vernimmt kaum mehr als eine Art perligen Rauschens, wie von Wellen, die unregelmäßig an ein flaches Ufer mit kleinen Kieseln laufen. Dann wird er ein wenig klarer, und als er das Wort Schröpfenschnepper heraushört, weiß er, was gespielt wird. Es ist sein zweiter Schlagfluss, niemand fragt ihn nach seiner Meinung, es wird getan, was getan werden muss. Heinrich spürt vage, eher hört er es, das Anritzen einer Ader, am Hals, es folgt ein langes Sausen und Sumsen im Kopf, dann eine Schwäche des ganzen Leibes, so als sei er leicht wie eine Feder. Endlich trägt man ihn zurück auf sein Lager und lässt ihn in Ruh. Ob nun der Tod kommt, so fragt er sich.

Täubenfüßer erwacht, er ist allein. Nach dem neuerlichen Schlagfluss glaubt niemand mehr, dass er je wieder aufstehen wird, das weiß er. Von der Gasse her dringen Stimmen in die Stube, und wie so oft hört er den Kaufmann Hohmann heraus mit seinem markanten Organ, der gutgelaunt über irgendeine Frau redet, als sei sie eine Mähre. An manchen Abenden hört man die Studenten betrunken zanken, ja sogar, wie sie leise mit den Huren feilschen. Sein Gehör ist gut wie eh und je, nur mit dem Sehen scheint es nicht besser werden zu wollen. Der Medicus oder sein Gehilfe werden sicher, denkt er, wieder täglich mit lautem Gepolter hier auftauchen und mir Arznei bringen, die nicht hilft, die aber mein kleines Vermögen nach und nach aufzehrt, so dass es nach Adam Ryse nicht mehr lange wird reichen können. Ich spüre doch die Gier in den Augen des Medicus. Er weiß schon, wie er es anstellt. Mit einem vormaligen Katecheten hier in Leipzig, dem guten Gottlieb Gaudlitz, hat er es doch ebenso gemacht, nach allem, was geredet wird, ja es scheint fast so, als hätte Gott dem Kerl die Aufgabe übertragen, die Prediger und ihre Gehilfen ohne jedes Vermögen zur Hölle zu befördern, damit der Teufel nicht etwa ein reicher Mann würde! Er lächelte schief vor sich hin und versuchte, eine etwas bequemere Position einzunehmen. Was mich angeht, ihr Herren, dachte er noch, bevor er wieder einschlief, so müsst ihr wohl denken, auch ich bin bald soweit. Wenn ihr euch da mal nicht täuscht!

Im Reich des Täubenfüßers, seiner kleinen Stube, war über die Jahre kaum etwas verändert worden, während das Hauses selbst kaum wiederzuerkennen ist, so fein war alles gestaltet worden. Am prächtigsten ist ohne Zweifel die Fassade mit den neuen Fenstern und dem schön verzierten Erker. Daran musste Heinrich jetzt oft denken, an all die Pracht, die auch während der Besetzung der Stadt durch die Preußen vor einigen Jahren kaum gelitten hatte. Wie schön wäre es, dachte er immer wieder, könnte ich im Frühling noch einmal durch die Groß- und kleinbosischen Gärten spazieren. Doch daran war nicht zu denken, selbst nicht mit dem Stock, den ihm seine Wirtin, die gute Anna Catharina, geschenkt hatte. Er käme nicht einmal heil die Treppen hinunter, und nun diente er ihm nur noch dazu zu klopfen, wenn etwas zu verrichten ist. So vergingen einige Wochen.

Der Täubenfüßer ist nach wie vor an sein Lager gefesselt, für den Rest seines Lebens, wie er annahm. Die Welt nahm er fast nur noch akustisch wahr, ja er spitzte geradezu die Ohren, um auch das kleinste Geräusch mitzubekommen. Heute war längere Zeit kaum etwas zu ihm heraufgedrungen, das seine Aufmerksamkeit hätte erregen können. Am späten Nachmittag aber setzte plötzlich ein Feixen, Kichern und Poltern ein. Der Medicus, sein Trampeln war ebenso unverkennbar wie seine Stimme, war wie so häufig in dem Augenblick erschienen, als die Wirtin eben das Haus verlassen wollte, während ihre Tochter Johanna Rosina noch in der Küche zu tun hat. Alle wissen natürlich um mein gutes Gehör, dachte Heinrich, das war kein Geheimnis. Aber da ich weder sprechen noch schreiben kann, so denken sie, kann ich wohl kaum etwas verraten. Und wirklich, unten in der Stube saß man auch heute mitnichten stumm in der Ecke.

„Denk an den alten Täubenfüßer dort oben“, sagte Johanna Rosina leise, er konnte nicht heraushören, ob sie es ernst meinte, „sonst stirbt er diesmal wirklich und noch dazu ganz natürlich.“ Den Medicus hingegen hörte er ernsthaft protestieren, im Tonfall eines Gelehrten, doch als er nicht aufhören wollte mit seinem Vortrag über die Kunst der Medizin, prustete Johanna Rosina irgendwann einfach los. Das arme Mädchen, dachte Täubenfüßer, warum fällt sie herein auf die Masche des Medicus, auf seine ganze armselige Turtelei. Am Ende läuft es doch immer auf das Selbe hinaus. Wie oft hatte er die Kleine gewarnt vor der Hurerei, freilich ohne dieses Wort zu benutzen, und wie oft hatte er sie gescholten, wenn sie aufreizend auf der Stiege saß, so dass man ihr unter die Röcke sehen konnte.

„Nicht wahr, Täubenfüßer,“ hatte sie dann immer gesagt, „ich bin hübsch, ich gefalle Euch.“ Er war jedes Mal an ihr vorbei in seine Stube gestiegen, dann aber immer wieder hinuntergegangen, um ihr die Leviten zu lesen. Ihm schoss jetzt noch das Blut zu Kopf, wenn er nur daran dachte, wie unschuldig sie dann immer tat, so als könne sie kein Wässerchen trüben.

Er musste wohl eingenickt sein. Es war wirklich stockfinster um ihn herum. Von der Schlossgasse her drang Lärm zu ihm herauf, und selbst vom Peters-Tor her konnte er gut einzelne Stimmen unterscheiden. Hören kann ich noch so gut wie eh und je, dachte er wieder. In seinen jungen Jahren, als er eben in Leipzig sesshaft geworden war, hatte er sich ja immerhin den ein oder anderen Obolus verdienen können, wann immer er nur die Talente, die Gott ihm mitgegeben hat, zu verbinden wusste, das Ohrenspitzen und das Heranschleichen. Lange ist’s her. Von unten aus dem Haus war derweil kaum etwas zu hören, doch ihn konnte man nicht täuschen. Ein Rascheln und Rauschen, das ungleichmäßige Atmen und der Herzschlag Johanna Rosinas, schnell und laut wie eine kleine Trommel, war ihm Anzeichen genug. Er hörte genau, was sich abspielte, ja er hörte weit mehr, als ihm lieb war, denn es geschah direkt zwei Stockwerke unter ihm, und wahrscheinlich war es nur ein letzter Rest Schamhaftigkeit, der das Mädchen daran hinderte, laut zu stöhnen. Nur vom Medicus hörte er nie etwas, nicht seinen Atem und nicht sein Herz, so als habe er weder das eine noch das andere.

Dann schläft der alte Schreiber wieder ein. Als er mit einem jähen, unartikulierten und in Wirklichkeit kaum zu hörenden Schrei aufwacht, sitzt die brave Wirtin Anna Catharina bei Kerzenlicht an seiner Bettstatt. Sie legt ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn und flößt ihm vorsichtig einen dünnen Aufguss von Sassafras und Kräutern ein, gegen den Rat des Medicus. Sie erzählt ihm vom Markt, von einem betrügerischen Bauern, den man ordentlich verdroschen hat, und dass am Grimmaischen Tor eine alte Frau einen Kobold gesehen habe, nachdem ein vornehmer Herr, der Großkaufmann Schellhafer, vierspännig in die Stadt eingefahren sei. Die Gute, dachte Heinrich, erzählt immer die selben Geschichten, und immer kommt mit dem Geld und dem Prunk etwas Böses in die Stadt. Und auch heute würde es wieder eine Weile dauern, bis sie jedem Menschen, dem sie begegnet war, einen Teufel oder einen Engel an die Seite gestellt hatte.

Er nickte und versuchte manchmal ein Lächeln, doch er hörte der Wirtin, die munter weitererzählte, nur mit einem Ohr zu, während er das andere Ohr in träumerischen Gedanken gegen irgendeine Holzwand presste, um jemanden zu belauschen, dem es bald schlecht ergehen sollte.

„Im Grunde war ich ja“, überlegte er, halblaut vor sich hin redend, „nur ein mehr schlecht als recht entlohnter Spion hier in Leipzig, der seine Aufträge von diesem Feldscherer bekam. Jean, dem Schwein. Ein windiger Bursche war das, der nicht nur manchem Soldaten den Kopf geschoren hat, sondern im Kriege sicher auch das ein oder andere Bein abgesägt haben muss. Jedenfalls prahlte er damit. Wenn du eine gute Mahlzeit nicht verschmähen willst, so sagte der Kerl ja immer mal wieder, so komm mit mir. Ich folgte ihm dann in ein bescheidenes Wirtshaus, wo er allerhand auftischen ließ, während er selbst mit einem kleinen Imbiss vorlieb nahm, dafür aber reichlich Bier soff.“

Die Wirtin bemerkte endlich, dass der arme Herr Daubenfuß ihr nicht zuhörte, sondern seinerseits leise etwas erzählte. Sie verstand zwar nicht alles, doch sie nickte und lächelte. So erfuhr Anna Catharina von einem gewissen Jean, der eines Tages des langen und breiten Mutmaßungen anstellte, warum Heinrich ein solcher Vielfraß sei, trotzdem aber keineswegs gutgenährt aussähe. Sie begriff auch ohne weiteres, dass der Kerl damals Streit suchte, keine Frage, jedenfalls verdarb sein Gequatsche und seine Fopperei dem armen Täubenfüßer den Appetit, so dass er Jean schließlich einen Sack auf Stelzen nannte, worauf dieser seine ohnehin nicht gute Kinderstube vergaß und ihm über den Tisch hinweg ins Gesicht schlug. Das war noch nicht alles, denn Täubenfüßer versetzte ihm daraufhin unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein, denn das konnte er sich unmöglich gefallen lassen. Jean schrie laut auf und langte wieder nach Täubenfüßer, der zurückwich. Doch noch bevor es zu einer Schlägerei hatte kommen können, so erfuhr es die Wirtin nun Jahrzehnte später zu ihrer nicht geringen Beruhigung, trat ein griesgrämig dreinblickender junger Mensch an den Tisch der beiden Streithähne und rief sie leise aber eindringlich und mit süßlichem Ernst in der Stimme zur Mäßigung auf. Auch der Wirt hatte wohl schon bereit gestanden einzuschreiten, war aber zufrieden, als die Beiden nicht weiter reagierten und sich also immerhin auch nicht prügelten.

„Der junge Kerl ging dann einfach“, so erzählte Heinrich der Wirtin leise weiter, „zu seinem Platz zurück, so als wäre nichts geschehen, schlang hastig seine Mahlzeit hinunter und verschwand.“ Die Wirtin lächelte und legte ihm ein frischgewässertes Tuch auf die Stirn.

 

Das, dachte Heinrich, war die erste Begegnung mit Adam Bernd gewesen, dem Menschen, dem ich damals Tod und Teufel an den Hals wünschte. Und dachte ich mir nicht bereits, dass er ein Theologiestudent und angehender Prediger sein müsse, wenn ich auch noch nicht wissen konnte, wer er in Wirklichkeit ist und wie sehr unsere Lebenswege bereits miteinander verwoben waren?

„Dieser Jean jedenfalls hatte sich damals“, hob Heinrich wieder an, „schnell wieder beruhigt gehabt und plapperte einfach weiter vor sich hin. Er schob meinen guten Appetit nun einfach auf meine Herkunft, denn die Westfalen, so sagte er, wissen nie, wann die nächste Hungersnot kommt, so dass sie auf der Stelle einen ganzen Ochsen verspeisen könnten.“ Heinrich lachte leise, mein Gott, wie lange das nun schon her war, und die Wirtin lachte mit.

„Damals aber habe ich nicht recht gewusst“, fuhr er fort, „ob ich das als Beleidigung auffassen muss. Aber lass den Hugenottenflegel mal quatschen, dachte ich mir schließlich, so lange er nur bezahlt. Nach der Mahlzeit trank ich einen Aufguss von Sassafras, und siehe da, er räumte wie erwartet den Magen auf. Über diese Wirkung sprach ich auch noch, ich erinnere mich gut, mit diesem jungen Kerl aus dem Wirtshaus, den ich draußen auf der Gasse wieder traf und quer durch Leipzig nach Hause begleitete. Ohne ihn nach seinem Namen zu fragen! Das nämlich hätte alles, aber wirklich alles verändert, liebe Anna Catharina, mein ganzes Leben und das seine auch.“ Die Wirtin nickte eifrig, so als wisse sie genau, um was es geht.

Der Medicus erschien einige Tage nicht. Johanna Rosina verrichtete derweil stumm ihre Arbeit. Leblos wie ein Automat ging sie durch die Stube, und wenn die Mutter keuchend nach oben gestiegen kam, lief sie ohne eine Erklärung und ohne jemanden eines Blickes zu würdigen hinunter, um sich weinend in einen Winkel zu verziehen. Der Täubenfüßer hörte das wohl. Vielleicht sollte ich zu Gott beten, dass das Kind nicht schwanger ist, dachte er, doch er brachte es nicht über sich, seinen Gott damit zu belästigen. Eher noch hätte er gebetet, dem Medicus möge sein Glied abfaulen, aber auch das tat er nicht. Er betete jetzt nämlich fast überhaupt nicht mehr, seit Gott nicht mehr antwortete. Sollten doch ohnehin alle zur Hölle fahren, und auch er selbst würde wohl kaum ins Himmelreich gelangen. Sein Gnadentermin, wenn es ihn denn gegeben hatte, lag lange, lange zurück. Schon als er den Magister in jener Wirtsstube zum ersten Mal sah, war es wohl bereits um ihn geschehen gewesen, dachte er jetzt. Das Gerede über einen von Gott gesetzten Termin, nach dem keine Rechtfertigung durch den Schöpfer mehr möglich sei, hatte er als junger Mensch allerdings für recht dumm erachtet. Auch der Magister war, wie er sehr viel später erfahren hatte, außerordentlich skeptisch gewesen, was diesen Punkt angeht. Der aber wusste sehr genau Bescheid und hatte all die Streitschriften gelesen mit dem ganzen Für und Wider. Doch sollte er jetzt noch zu jammern beginnen? Und überhaupt, reichte es nicht, fragte er sich, dass Gott ihm den Schlagfluss gebracht hatte? Sollte er nun auch noch leiden wie ein leibhaftiger Alleszergrübler, ein hallischer Teufel? Nein, dachte er, auch wenn das Leben vorbei ist, wenn die Sünden jetzt von anderen begangen werden, mir bleibt das ruhige innere Wort, ein Sprechen mit mir selbst, über mich selbst, über den unglücklichen Magister Adam Bernd und meinethalben auch über sich fleischlich vereinigende Geschöpfe, die sich zu Unrecht Mensch nennen, so wie ich mich zu Unrecht Mensch genannt habe, mein Leben lang. Doch habe ich denn nicht auch mehr als ein Leben gelebt? Das des Magisters immerhin habe ich nachempfunden, er hat es mir ja in die Feder diktiert als seine Eigene Lebensbeschreibung. Übel wurde es von manchen aufgenommen hier in Leipzig, nach der Affäre und dem Tod des armen Kerls, fast übler noch als die verbotene, die melodianische Schrift zuvor, während man in Berlin, nach allem, was man hört, beide Werke besser beurteilte und mit Interesse las. Und dabei hat das Publikum doch nicht einmal alles erfahren!

„Ich aber, dein Famulus, Herr Daubenfuß oder auch Täubenfüßer genannt“, dachte er jetzt laut, „ich weiß alles über dich, Adam Bernd, alles.“ Er schlief wieder ein.

Mein Leben, denkt Heinrich erwachend, ist nichts weiter als ein Circulus vitiosus deus. In einer Höllenspalte hocke ich und bald stürze ich. Von unten drang wieder das leise Wimmern Rosinas an sein Ohr, während sich in der Gasse die Burschen zanken. Ja, so denkt er weiter, ich werde mir selbst alles noch einmal erzählen müssen. Stumm mir selbst erzählen müssen, wie es gewesen ist. Ich werde mich gegenüber mir selbst zu rechtfertigen haben, ohne Hoffnung auf eine Erlösung durch einen sanften Tod. Plötzlich stehen, ohne dass er deren Kommen gehört hatte, und eben dies erschreckte ihn am meisten, der Medicus und die Wirtin, die gute, immerzu lächelnde Anna Catharina, an seinem Bett. Hinter ihnen, halb versteckt, entdeckt er Johanna Rosina. Alle sehen ihn an, als schwebe er oder als leuchte er von innen heraus. Dann sind sie unversehens wieder fort, und er kann weiter seinen Gedanken nachhängen. Was hatte ihn dieser Student, der Adam Bernd gewesen war, damals beim Abschied vor dessen Türe noch gefragt? Ja richtig, jetzt fällt es mir wieder ein!

„Wie könnt Ihr“, fragte er mich, „nur solche Portionen verschlingen, ohne dass Euch die Eingeweide zerreißen?“

„Nun“, hatte ich frech geantwortet, sicher noch immer gereizt wegen der Fopperei Jeans, „ich für meinen Teil habe einen prächtigen Stuhlgang.“ Ja, genau so ist es gewesen, dachte er lächelnd. Und nun steckt, als Strafe Gottes für mein Tun und Trachten, das ganze Leben jenes Menschen in meinem Kopf! Je älter ich werde, desto mehr fällt mir wieder ein! Ich hörte zu, ich schrieb es auf. Und trotzdem finde ich nur ein einziges Mal überhaupt Erwähnung in dieser berühmten Eigenen Lebensbeschreibung. Ein einziges Mal!

Ein Schreiber ist kein Mensch, er ist ein Automat, und so wird es für immer bleiben, dachte er, jetzt die Wirtin beobachtend, wie sie ein Tablett balancierend langsam näherkommt.

„Ich habe Euch ein wenig zubereitet“, ruft sie ihm zu, und dann redet sie, während er mühsam kaut, auf ihn ein, das Wetter ändere sich, es würde Frost geben, doch er hörte ihr wie immer nur mit einem Ohr zu und nickte, wenn sie Zustimmung erwartete, dachte aber weiter an den seligen Magister, den der Tod damals so plötzlich ereilt hatte. Aber eben diese Plötzlichkeit spricht dafür, davon war Täubenfüßer jedenfalls lange Zeit überzeugt gewesen, dass er keine Manuskripte vernichtet hatte, obwohl ich immer noch denke, dachte er, dass ich nicht alle gefunden habe, damals. Hätte ich unter den Dielen nachsehen sollen? Doch hätte ich welche gefunden, so würde ich sie doch ebenso vernichtet haben wie die, die ich fand! Oder nicht? Aber gleichviel, ich selbst werde nicht mehr auf die Suche gehen können nach verschollenen Schriften dachte er, während die Wirtin ihn jetzt mit ihren Pranken packte und auf den Bauch drehte, um ihm mit einem Schaber den Rücken zu säubern. Sie sprach jetzt in ärgerlichem Tonfall von Johanna Rosina, die auf der Gasse mit jedem hergelaufenen Handwerker oder Gehilfen sprach, sich aber ausgerechnet dem Medicus gegenüber schüchtern und zurückhaltend gab. Die arme Frau war ganz außer sich angesichts solcher Dummheit.

„Ist sie nicht hübsch und klug genug“, lamentierte sie, „um auch einem gebildeten Herrn zu gefallen, der seine guten Groschen sicher nach Hause bringt?“ Die Wirtin regte sich mächtig auf, und nur dem Umstand, dass jemand von unten nach ihr rief verhinderte, dass sie dem Täubenfüßer die Haut vom Rücken schabte. Gutes altes Mädchen, dachte er, während sie schon die Stiege hinunterpolterte, ohne ihn wieder in eine bequeme Position gebracht zu haben, du bist sicher auch mehr als einmal geraubt worden. Deine Tochter schlägt ganz nach dir, sie treibt es im selben Bett wie du in jungen Jahren mit jedem Hanswurst, und wärst du nicht jetzt eine alte Schachtel, du würdest es noch ebenso tun.

Mit einiger Mühe gelang es ihm, mit der linken Hand und dem linken Bein gegen die Wand gestützt, sich auf die Seite zu drehen und dann wieder auf den Rücken. Fast wäre er dabei auf den nackten Boden gerutscht. Von unten war derweil das Lachen der Wirtin und einer Nachbarin zu hören, unterbrochen schließlich von der voluminösen Stimme des Medicus, der aber keine Anstalten machte, zu Täubenfüßer hinaufzukommen. Stattdessen lachte er mit den Frauen, und es war nicht schwer zu erraten, dass er ihnen etwa vorführen wollte, ein sonores, ein um die Dinge des Lebens wissendes, männliches Lachen nämlich. Darüber schlief Täubenfüßer wieder ein, ihm fielen von einem Moment zum anderen die Augen zu, während unter ihm der Pulsschlag der beiden Frauen bemerkenswert hoch blieb.

Die Zeit verging. Ein plötzlicher Wintereinfall brachte über Nacht den ersten Schnee. In der Stube war es empfindlich kalt. Johanna Rosina hatte Heinrich versprochen, neues Stroh oder wenigstens Spreu zu besorgen, um die Matratze, die ihm als Unterlage diente, neu zu füllen. Noch aber war nichts zu bekommen gewesen, wie sie um Entschuldigung bittend berichtete. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wohlwollend zu nicken. Sie war aufgeräumter als noch vor einigen Tagen. Er selber versuchte, sich nicht von seinen schwarzen Gedanken niederdrücken zu lassen, denn noch immer hatte er nur sehr wenig Gefühl im rechten Arm und im Bein gar keines. Das Sprechen wurde zum Glück wieder besser, so nach und nach, aber schreiben konnte er nicht. Am schlimmsten jedoch bedrückte es den alten Täubenfüßer nun, da seine Tage gezählt waren, damals das eigene Leben eines Waisenbengels aus Westphalen zwar mühsam aufgeschrieben zu haben, am Ende aber nur zu einem kümmerlichen Probedruck gelangt zu sein beim guten Johann Samuel Heinsius, der nun auch wieder wie so oft in seinem Leben krank daniederliegt, nach allem, was er hörte. Aber vielleicht gewährt mir Gott doch noch eine Frist und lässt mich wieder gesunden, damit ich noch einmal alles aufschreiben kann, dachte er. Nicht nur mein eigenes kleines sündiges Leben wäre in einem neuen Versuch zu beschreiben, überlegte er weiter, weiß Gott nicht, denn was wäre das meinige ohne den Magister! Das Mädchen begann derweil ein frommes Lied zu singen, vielleicht um ihm eine Freude zu machen, während sie mit alten Lumpen versuchte, einige Ritzen an den Fenstern zu stopfen. Sie sah ihn immer wieder an, so als wollte sie etwas erzählen. Am Ende aber sagte sie nichts und sang stattdessen alle Strophen des Liedes.

Tage später. Heinrich fieberte stark. Man hatte ihn ausgezogen, er lag nackt auf dem Bett, doch er fror nicht. Der Medicus legte eben seine Gerätschaften auf einen Schemel. Täubenfüßer konnte nur mit Mühe die Dinge voneinander unterscheiden, er sah immer noch schlecht. Die Wirtin, das erkannte er aber, stand an der Treppe mit frischer Kleidung bereit, und Johanna Rosina kam ungelenk mit einer Schüssel Wasser gelaufen. Keiner sprach mit ihm, vielleicht hielten sie ihn für abwesend. Seine Gedanken aber waren klar. Vor allem schämte er sich, nackt und bloß hier zu liegen. Der Medicus trieb die beiden Frauen zur Eile an, der Patient müsse so schnell wie möglich wieder angekleidet und zugedeckt werden. Das Mädchen war dann bereits dabei, ihn zu waschen, wie er überrascht feststellte. Er spürte nichts, aber er schämte sich noch immer. Immer mehr! Wie sich die Zeiten doch ändern, dachte er. Vor einem halben Jahrhundert saßen manchmal Männer und Weiber noch nebeneinander, wenn sie ihre Notdurft verrichteten, während heutigentags peinlich darauf geachtet wird, Heimlichkeit zu pflegen. Der Medicus begann, den Bauch des Patienten abzutasten. Mit einem knappen Kopfnicken bat er endlich um die Klistierspritze, die ihm das Mädchen reichte.

Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich besser. Die Wirtin stand in fast völliger Dunkelheit am Fenster und betete leise, das Mädchen und der Medicus waren nicht zu sehen. Als Anna Catharina bemerkte, dass er wach war, stieß sie einen katholischen Stoßseufzer aus, so wie sie das manchmal tat, obwohl sie lutherisch ist. Sie fragte ihn, ob er Hunger habe, aber er schüttelte den Kopf.

„Läutet einfach, wenn Ihr etwas braucht“, sagte sie und deutete auf eine kleine Schelle, die derweil über ihm an der Wand angebracht worden war. Jetzt habe ich auf meine alten Tage noch eine Kordel zum Dranziehen, wie ein vornehmer Herr, dachte er, aber auch das hilft nicht, wenn ich nicht wieder zu Kräften komme, um meine Lebensgeschichte neu zu verfassen.

„Herr“, betete er flüsternd, auch wenn er wusste, dass Gott nicht antworten würde, „gib mir die Sprache wieder und die rechte Hand oder schicke mir einen Schreiber. Gib mir die Zeit, im Nachsinnen über mein Leben Buße zu tun und die Wahrheit der Welt mitzuteilen. Lass mich nicht sterben, bevor nicht alles erzählt ist, danach aber verfahre mit mir, wie du es für Recht empfindest.“ So betete er, doch statt einer Antwort Gottes, mit der er ja ohnehin nicht gerechnet hatte, vernahm er von draußen die schlurfenden Schritte seiner Wirtin, die Richtung Peters-Tor ging. Kurz danach schon drang ein deutliches Flüstern und Wispern zu ihm herauf, und Minuten darauf öffnete Johanna Rosina ihren Schoß, es knackte dabei immer ein wenig in ihrer Hüfte, das konnte er deutlich hören, ja er sah alles überdeutlich vor sich.

Monate vergehen. Johanna Rosina ist in anderen Umständen. Er hatte sie gewarnt. Der Medicus ist ständig um sie. Auch die Mutter. Der Täubenfüßer liegt zu Bett, ohne dass eine Besserung oder überhaupt eine Veränderung eingetreten ist. Er isst und trinkt, wacht und schläft, so als solle dies auf ewig so sein. Eines Nachts wacht er auf. Sicher ist frischer Schnee gefallen, denkt er erst, denn es ist ungewöhnlich hell. Doch das konnte nicht sein, es ist Sommer. Auch war es nicht kalt, ganz im Gegenteil. Im Haus ist nichts zu hören, nicht mal das Rascheln der Mäuse. Er legt beide Hände wie ein schützendes Dach auf seine Stirn, so hell ist es jetzt. Beide Hände? Er sitzt aufrecht auf seiner Bettstatt und blinzelt mit den Augen, so als müsse er direkt in die Sonne blicken. Er steht auf und geht einige Schritte. Verblüfft sieht er auf seine Beine und bloßen Füße. Er geht weiter. Das ist nicht mehr meine Kammer, denkt er. Legt er den Kopf in den Nacken, so kann er kaum die Decke des Zimmers erkennen. Irgendwo weiter vorne sieht er eine Chaiselongue und einen kleinen Tisch mit einem Stuhl, alles in weiß, es hebt sich kaum ab von den Wänden. Er geht darauf zu, ihm scheint eine ganze Weile, ohne jedoch näher heranzukommen. So hat er Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass er wieder gehen kann, barfuß auf einem sonnigen, warmen Boden aus glatten, hellen Steinen. Das weiße Gewand, das er trägt, ist leicht und angenehm. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, dass er tot sein muss, ja, dass er im Jenseits ist, im Reich der Seelen, und schon erfüllt dieser eine Gedanke seinen ganzen Leib, ihm wird schwarz vor Augen, neue, aber böse Gedanken prasseln auf ihn ein, er taumelt, er stürzt, er wird fallen, hinab und hinab bis zum jüngsten Tag, doch nein, es geschieht wie ein Riss, plötzlich ist es wieder hell wie zuvor, er steht auf beiden Beinen und blinzelt ins Licht.

Ein schöner alter Herr in höfischem, ganz weißem Gewand steht unversehens vor ihm und reicht ihm zur Begrüßung die Hände.

„Ich habe auf Euch gewartet“, sagt er strahlend, „wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, kommt!“ Dann gehen sie, wie alte Freunde, ein Stück schweigend durch den Raum. Sie gehen eine Weile, dann legt Heinrich sich auf die Chaiselongue, während der alte Herr sich an den Tisch setzt und eine Feder zur Hand nimmt.

„Nun“, sagt er, „ich bin bereit.“ Täubenfüßer muss all seine Kräfte zusammennehmen, um zu begreifen, was vor sich geht. Er ist sehr aufgeregt, sein Herz schlägt wie wild, und er weiß nicht, wie beginnen. So fragt er den alten Herrn, und er ist fast ein wenig befremdet, seine eigene Stimme zu hören, wer er denn sei, und welche Aufgabe denn zu bewältigen ist. Der Andere aber lächelt und tunkt statt einer Antwort die Feder in ein Tintenfass mit weißer Tinte.

„Wir sind uns“, sagt er, „schon häufig begegnet, und nicht immer war ich willkommen.“ Ein Tropfen Tinte fällt von der Feder auf das Papier und bildet einen schwarzen Fleck, der schnell größer wird und eine Silhouette bildet. Täubenfüßer steht auf und betrachtet den Fleck. Er denkt angestrengt nach, er ist nah dran, etwas zu begreifen, doch er kommt nicht drauf. Schließlich ist er so wütend auf sich, dass ihm die Tränen in die Augen steigen und er mit dem Fuß aufstampft. Der Andere lächelt freundlich.

„Was diese Aufgabe betrifft“, sagt er endlich, als Täubenfüßer sich wieder auf die Chaiselongue gelegt hat, „so habt Ihr doch um Hilfe gebeten. Ich habe es vernommen und bin ich zu Euch geeilt, um zu Diensten zu sein. Ihr wollt eine Schrift verfassen, in der Euer beider Leben, Eures und jenes des Magisters Adam Bernd, zusammengestimmt ist, nicht wahr?“ Täubenfüßer ist plötzlich sehr erschöpft. Ihm ist mit einem Mal, als habe er Stunde um Stunde gesprochen, einzig um nicht zugeben zu müssen, diese Silhouette nicht erkannt zu haben. Es ist natürlich die Adam Bernds, das ist ihm nun aber endlich klargeworden, doch es scheint eine Frage damit verbunden zu sein, auf die er keine Antwort weiß. Er wagt das Bild nicht mehr aufzusehen und schließt die Augen, doch alles bleibt hell und strahlend wie zuvor.

„Bringt mich“, sagt er endlich müde, „zurück in mein Sterbezimmer, es war ein unrechter und anmaßender Gedanke. Bringt mich zurück.“

Täubenfüßer will aufstehen. Er will zurück. Das hat er doch deutlich gesagt. Doch er kann sich nicht rühren, die Beine versagen ihm den Dienst. Noch einmal nimmt er all seine Kraft zusammen. Nichts. Er liegt wie gebannt. Da dringt von unten aus dem Haus ein Schrei an sein Ohr, kehlig, alles durchdringend, und nur einen Augenblick später und fast noch sich vereinigend mit dem erlösenden Schrei der Johanna Rosina, ertönt ein weiterer, ein Schrei ganz anderer Art, und das ist das letzte, das Heinrich Holzkötter, genannt der Täubenfüßer oder auch Herr Daubenfuß, in diesem Leben zu hören bekommt.

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© 2023 Norbert W. Schlinkert

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