Norbert W. Schlinkert
Treffen / Zwei / Sich
Heft II
Fortlaufende Übertragung der handschriftlich verfassten Erzählung in ein Typoskript
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– Eine Wüstenei –
[1] Ich spreche mit Ihnen. Stellen Sie sich vor, einen Durchgang zu passieren, einen Torbogen vielleicht. Stellen Sie sich vor, auf der anderen Seite zu sein. Sie wissen, sage ich, dass Sie nicht mehr zurückkönnen. Sie zeigen sich verwundert, ob wegen des Nichtzurückkönnens oder wegen mir, der ich so plötzlich wieder neben Ihnen stehe, weiß ich nicht. Ihr Blick wechselt zwischen dem Torbogen und mir hin und her. Das ist der Anfang der Geschichte. Ob ich mir Sie vorstelle oder Sie sich mich, weiß ich nicht. Auch Sie wissen es nicht. Am einfachsten ist es sicherlich, wir stellen uns uns gegenseitig vor. Vielleicht denken Sie das Selbe wie ich, ich weiß es nicht und sie auch nicht. [2] Wir werden uns verständigen müssen, so denken wir. Zu beiden Seiten des Torbogens ist Heide, Kraut und Moos. Nichts leichter als links oder rechts des Torbogens diesen zu passieren und ihn somit rechts oder links liegen zu lassen. Ich sehe es Ihrem Blick an, dies versuchen zu wollen. Kein Graben und kein Bach trennt das Diesseits und das Jenseits. Ignorierte man den Torbogen, so gäbe es weder Diesseits noch Jenseits. Ich denke wie Sie, wir haben beide recht, und dann sehe ich in Ihren Augen und den sich minimal verändernden Fältchen um die Augen herum, wie komisch Sie es fänden, ginge ich etwa links am Torbogen außen vorbei und Sie rechts, oder eben andersherum. Doch dann sehen Sie wie ich ganz leicht den Kopf schüttele und ganz leicht die Augen zukneife, so als wollte ich sagen, wie leid es mir tut, weder links noch rechts [3] am Torbogen vorbei gehen zu können noch den Torbogen durch ihn hindurch zu passieren. Es geht nicht, sage ich. Der Torbogen ist nichts weiter als ein verbliebener Rest der Mauer, die den einen Teil des Landes vom anderen Teil des Landes trennte. Reste der Mauer selbst sind mit bloßem Auge nicht erkennbar. Der Torbogen ist alt und verwittert, er hat die Form eines quadratischen, zweistöckigen Hauses aus dem 11. oder 12. Jahrhundert, nur dass sich statt des Erdgeschosses mit einer Stube der Durchgang befindet. Die Torbögen, denn imgrunde handelt es sich ja eigentlich um zwei Torbögen, sind oben rund, wie es sich für Torbögen nunmal ziemt. Die Decke dazwischen ist kein Tonnengewölbe, sie ist eben und stellt die Zimmer- [4] decke des darüberliegenden Zimmers von unten dar. Sie haben, sage ich, sicher nicht so genau auf diese Details geachtet, als sie durch das Torbogenhaus hindurchgingen, weil sie diesem Gang keine besondere Bedeutung beigemessen haben. Wohl haben Sie den Kopf etwas angehoben und etwa gedacht, die Höhe ist die, die nötig ist, damit Fuhrwerke und Kutschen unbeschadet hindurchfahren können mitsamt dem Kutscher. Von der einen Seite zur anderen Seite hindurch, mit Waren oder mit Reisenden. Ich sehe die Frage in Ihren Augen, ob eine Kutsche wieder hat zurückfahren können, hat zurückfahren dürfen zu der Zeit, als hier noch Kutschen fuhren und das Torbogenhaus Teil war einer Mauer, die die Landschaft teilte in ein Diesseits und ein Jenseits der Mauer. Wir müssen los, sage ich. Wir haben die Wahl und können sowohl nebeneinander gehen als auch hinterein- [5] ander oder versetzt. Wie wir wollen. Nur in Sichtweite müssen wir bleiben. Wollen wir uns etwas erzählen, so gehen wir nebeneinander. Das wird das Beste sein, denke ich. Ich sehe, Sie nicken. Sind wir zwischen zwei Toren, fragen Sie, ja sicher sind wir das, sage ich, und kreuzen sich die Wege, selbst wenn sie nicht sichtbar sind, so fragen sie, weil zwei weitere Tore zur Linken und zur Rechten in der Landschaft stehen, insgesamt also vier Stadttore einer nicht existenten überdimensionierten Stadt. Jetzt ist es an mir zu nicken. In der Tat sind wir, wenn auch die Mauern geschleift, abgetragen worden sind, innerhalb auf dem Gebiet einer urbanen Landschaft, die nunmehr eine Art Heidelandschaft ist, in die man durch vier Torbögen, oder Stadttore, gelangt. Ob wir wieder hinaus zu gelangen vermögen, wird [6] sich zeigen. Eine weitere Frage, sage ich, ist zudem unbeantwortet, nämlich ob die Mauer zwischen den einzelnen Torbögen oder Torbögenhäusern gerade ausgeführt worden ist oder ob sie etwa kreisförmig verlief. Auch Mischformen sind möglich, jedoch unwahrscheinlich, so scheint mir wenigstens. Nun schweigen Sie eine Weile im Rhythmus unserer Schritte, um schließlich zu erläutern, die Stadtmauer sei sicher rund ausgeführt worden, denn gewinnt man auch Raum durch eine gerade Ausführung, so ist die runde Form doch von Vorteil, weil keine toten, verlorenen Räume dort erzeugt werden, wo Mauern winklich aufeinander stoßen. Ich stimme dem zu. Wir schreiten weiter voran. In leichten Wellen dehnt sich die Heide bis zum Horizont. Hinter uns das Torhaus in einiger Entfernung. Vor uns hier und da einige Birken oder ein Birkenhain, [7] Stauden und Büsche. Die Wolken am Horizont täuschen ein Gebirge vor, doch da ist kein Gebirge, nur Wolken, mächtig, weiß und hellgrau, türmen sie sich. Der Himmel in einem dunklen Blau. Wir müssen weiter. Sie fragen mich, ob wir denn auf das gegenüberliegende Tor zugehen, ob nun geradeaus oder unmerklich in einem Bogen. Und könne es nicht sein, so fragen Sie weiter, dass wir ohne es zu bemerken die nicht mehr vorhandene Mauer passieren und so plötzlich außerhalb sind, so wie wir vor dem Passieren des Torbogens außerhalb waren. Ich sage nur, sein kann alles und dass wir weiter müssen, Obdach zu finden für die Nacht. Verließen wir aber den Bereich versehentlich und gerieten ins Außen, so können wir nur durch eines der Tore wieder ins Innere gelangen, sage ich, doch das ist, füge ich hinzu, keineswegs sicher. [8] Wir müssen weiter in die Wüstenei, sage ich, die Heide vor Augen, dort findet sich alles.
– Ein Pendel –
Ich spreche mit Ihnen. Stellen Sie sich ein Metronom vor, das uns, gingen wir ein paar Schritte um den [9] Block, begleitete. Da es nicht neben uns gehen oder über uns zu schweben vermag, wird es wohl am besten sein, es uns in Funktion vorzustellen, gewissermaßen in unserem Kopf tickend. Sagen wir mit 75 Schlägen in der Minute, das entspräche einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa dreieinhalb Stundenkilometern, einem nicht übermäßig hohen Gehtempo. Jeder Schritt, wir sollten synchron gehen, entspricht einem Klack in unserem Kopf. Es sollte nicht lange dauern, uns daran zu gewöhnen, sodass wir schließlich wie automatisch mit jedem Klack einen Schritt setzen. Der Kopf wird umso freier sein, je besser wir den Rhythmus antizipieren. Sie geben mir, denke ich, sicher recht. Ich sehe Sie nicken, und nun sehe ich Ihnen geradezu an, wie Sie Ihr Metronum in Ihrem Kopf installieren. Ich tue es Ihnen gleich, sehen Sie. Zum Einstellen der Schlagzahl sollten wir uns allerdings auf den Weg machen. Das pendelt sich dann schon ein, Sie werden sehen. [10] Auf geht’s. Bevor wir jedoch in eine Landschaft geraten, schließlich gehen wir buchstäblich auf’s Geratewohl los, bewegen wir uns in eher unruhigem Umfeld, einem urbanen, sodass wir nach jeder Unterbrechung unseres Ganges froh sein dürfen, ein Metronom im Kopf zu haben, einen Rhythmus vorgegeben zu bekommen. Stehen wir an einer Fußgängerampel, so nicken wir uns kurz zu, bevor es weiterzugehen hat. Ich für meinen Teil sehe das Pendel, selbst wenn wir stehen, deutlich vor mir, so als schwebe es halb durchsichtig vor meinen Augen. Ergeht es Ihnen auch so, frage ich. Ja. Das freut mich. Endlich erreichen wir freies Gelände. Ein Damm führt durch eine weite Landschaft mit kleinen Gruben und Löchern, oft ist die Erde kohlenschwarz, manchesmal fettbraun und mit dicken Grasbüscheln bewachsen. Der Damm ähnelt in seiner Anlage einem Bahndamm. Wir gehen in unserem Rhyth- [11] mus schweigend, und sicher rechneten Sie damit, stur vorwärts zu schreiten und nicht damit, dass Ihr Nebenmann stehenzubleiben die Möglichkeit hätte. Das Metronom in seinem Kopf ausschalten könnte. So bleibe ich also stehen, das Klacken, der Takt in meinem Kopf endet im selben Augenblick, während Sie weiterschreiten, den Damm entlang. Das Pendel in Ihrem Kopf schlägt den Takt dazu. Unaufhörlich.
– Ein Fauchen –
Ich spreche mit Ihnen. Sie erinnern sich, wir trafen uns bereits einige Male an einem bestimmten Ort, dem Bahnsteig. Ein elektrisches Ungeheuer, kantig, dunkelrot mit schmutzig-weißem Brustring, fuhr ein jedes Mal, so wie auch jetzt in diesem Augenblick, mit einem ohrenbetäubenden Fauchen ein und stoppte, wie auch jetzt, seine Einfahrt auf unserer Höhe, sodass wir inmitten [12] des Fauchens kaum ein Wort wechseln können. Ich bin nicht sicher, auch wenn Sie mich ansehen und nicken, ob Sie mich verstehen. Womöglich lesen Sie von meinen Lippen ab. Ja oder nein, frage ich in das Brüllen und Fauchen hinein, doch Sie zucken nur mit den Schultern und verziehen keine Miene. In die Waggons steigen Menschen ein, auch wir, Sie und ich, sind Reisende, und wie die Male zuvor werden auch wir in den Zug einsteigen, uns dabei aber aus den Augen verlieren. Ich erinnere mich, Sie während der gesamten Reise gesucht zu haben. Sie nicken. Ohne ein weiteres Wort gehen wir gemeinsam ein paar Meter und steigen ein. Ich zuerst. Dieses Mal, sage ich, bleiben wir zusammen und steigen gemeinsam wieder aus. Am Zielort der Reise. Sie nicken und scheinen sogar zu lächeln. Dann aber suche ich Sie abermals und kann Sie nicht finden. Wo nur sind Sie geblieben, frage ich mich. [13]
– Die Treppe –
Ich spreche mit Ihnen. Gehen wir ein paar Schritte. Ich würde vorschlagen, wir gehen die Treppe hinauf bis zur Kirche der Heiligen Jungfrau. Sie lächeln. Also los. Obgleich auf beiden Seiten des die Treppe mittig teilenden Geländers ausreichend Platz ist für zwei nebeneinander Gehende, gehen Sie nun links des Geländers die Treppe hinauf, ich hingegen rechts. Eine Absprache oder eine Verständigung mit den Augen fand nicht statt. [14] Ich sehe und erkenne, dass wir synchron die Treppe hinaufgehen, und eben dies teile ich Ihnen mit, worauf Sie mir einen leidvollen Blick zuwerfen. Ja, sage ich, die Treppe ist steil, und sicher wäre es besser gewesen, auch Serpentinen anzulegen, die die Treppe durchschneiden würde. So hätte man die Wahl. Platz wäre ausreichend gewesen, denn nach meiner Kenntnis baute man zunächst die Treppe, dann die Kirche der Heiligen Jungfrau, während die Häuschen links und rechts der Treppe Jahre später folgten. Welche Häuschen, fragen Sie sich, ich sehe es Ihnen an, da sind keine Häuschen, denken Sie, also gut, sage ich, Sie haben recht, also keine Häuschen, ich habe mich getäuscht, sondern steile Wiesen mit Sträuchern, Büschen und den Trampelpfaden all der Wochenendausflügler, die hier, beschützt von der Heiligen Jungfrau, picknicken und ihren Übermut nähren angesichts der im Tal liegenden Stadt, die ihnen den Übermut die [15] Woche über schon wieder austreiben wird. Jetzt aber liegt, wie Sie sehen, nasser Dunst über den Wiesen. Kein Mensch zu sehen und die Kirche der Heiligen Jungfrau im Nebel verborgen. Doch selbst wenn der Nebel dort oben sehr dick sein sollte, so ist es doch nur leichtes Wasser. Geradeaus gehend erreichen wir nach wenigen Metern die Pforte der Kirche der Heiligen Jungfrau, sodass wir die schwere Kirchentür aufziehen werden können, um ins Innere zu gelangen, schwach erleuchtet durch in den Nischen stehende Kerzen. Denken Sie nicht auch, dass sie angezündet worden sind mit Einbruch der Dunkelheit? Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit! So frage ich Sie, ich sehe Sie nicken, während sie stur, und ich möchte hinzufügen tapfer, Stufe um Stufe gleich mir in die Höhe steigen, während der Nebel immer dichter [16] zu werden scheint, so als kletterten wir auf unserer Treppe in eine Wolke hinein, in der die Kirche der Heiligen Jungfrau, Sie lächeln wieder, Sie müssen das Selbe denken wie ich, schwebt, eine schwebende Kirche, stellen Sie sich das vor. Doch ich fürchte, statt einer solchen wunderbaren Angelegenheit werden wir nichts weiter finden als ein sogenanntes Gotteshaus und in ihm nur die üblichen Dinge, einen Altar, einen Beichtstuhl, einige figurative Darstellungen Marias, Bänke, dazu ein Weihwasserbecken und ein Taufbecken, ein mehr oder weniger großes Holzkreuz mit dem Gekreuzigten, und ja, sicher werden zwischen den vorderen Bänken und auf den Stufen zum Altar Kokos- oder Sisalläufer zu finden sein, die kleine faserige Fehlstellen aufweisen, die Gleichmäßigkeit der Bindung störend, ohne dass jemand, der Pfarrer, der Küster, auch nur im entfentesten daran denkt, die Läufer dieser kleinen Fehler wegen auszutauschen. Sie werfen die Stirn in Falten, wie ich sehe, und ich hoffe doch sehr, eben weil Sie mir zustimmen müssen. Jetzt legen Sie, weiter tapfer Stufe um Stufe nehmend, den Kopf schief in die Luft, [17] das Kinn in meine Richtung gereckt, und nun weiß ich noch weniger, ob Sie mir in der Sache der beschädigten Läufer, seien sie aus Sisal, aus Kokos, nun zustimmen oder nicht. Aber da ist mir plötzlich, als seien Sie mir ein paar Stufen voraus, als erreichten Sie das Ende der Treppe v0r mir, als schritten Sie in diesen hellichten, dicken Nebel hinein, um in ihm zu verschwinden, noch bevor ich die letzte Stufe erreiche. Hören Sie mich, rufe ich, ich spreche mit Ihnen. Der Nebel aber verschluckt ein jedes Geräusch.
– Die Kirche –
Nicht mehr mit Ihnen zu sprechen, fällt mir schwer. Nehmen wir, ich sage: wir, einmal an, Sie wären vom Nebel tatsächlich, wie man so sagt, verschluckt worden und ich hätte am Ende der Treppe auf Sie gewartet. Unmöglich, dass Sie von mir unbemerkt die Treppe hinunter verschwunden sind. Wahrscheinlich sind Sie in der Kirche der Heiligen Jungfrau, haben sowohl die Zeit als auch mich vergessen und betrachten hingebungsvoll die Gemälde, die Skulpturen und die Altäre. Ich sollte entweder ebenfalls in die Kirche der Heiligen Jungfrau eintreten, oder Sie am Portal erwarten. [19] Ich gehe, watteweich ummantelt, und ich spüre, wie der Nebel mich durchnässt, sich mir zu eigen macht, so denke ich, Schritt für Schritt auf die Kirche der Heiligen Jungfrau zugehend, lautlos schreitend, ohne etwas anderes zu erwarten als: Nichts. Gerade eben noch sehe ich meine Hand vor Augen. Wüsste man es nicht besser, so müsste angenommen werden, der Nebel sei aus sich selbst heraus matt erleuchtet. Ich gehe. Dann endlich stoße ich mit dem Fuß gegen eine Stufe. Ich steige die Stufen hinauf und trete schließlich, eine weitere erwartend, einmal ins Leere. Ich gehe einige Schritte, eine weitere Treppe folgt, dann sehe ich, in trübem Licht gut zu erkennen, die schwere, zweiflügelige Tür, die Pforte zur Kirche der Heiligen Jungfrau. Ich blicke zurück und sehe nichts als Nebel, vor mir jedoch in aller Deutlichkeit das jahrhundertealte Holz der Türe. Ich lege [20] meine Hand auf den Türgriff aus Messing. Später dann spreche ich mit Ihnen. Wo in aller Welt, frage ich, waren Sie, ich konnte Sie in der dunklen Kirche, in der keine Kerze brannte, nicht finden. Nicht hören, nicht riechen, nicht sehen. Ein ewiges Licht auf dem Altar in einer Ampel mit rotem Glas, purpurrot, ein kleiner roter Lichtpunkt in der Ferne zunächst, reichte nicht aus. Mit Mühe fand ich endlich zur Eingangstüre zurück und stieß mehrmals gegen etwas, ich ertastete das Taufbecken, lief geben einen Pfeiler, gegen eine Bank, um am Ende erleichtert die Tür ins Freie aufstoßen zu können, wo ich Sie schließlich fand, vor dem Portal in fast völliger Dunkelheit stehend. Ich trat sehr nah an Sie heran. [21]
– Die Sterne –
Wir befinden uns, sage ich, jetzt auf dem Platz vor der Kirche der Heiligen Jungfrau, hoch über der Stadt, von der nichts zu sehen und zu hören ist, so als sei sie nicht existent. […]