Ein guter Roman packt den Leser am Schlafittchen und zieht ihn in sich hinein, worauf der Leser, zugleich hocherfreut und zu Tode erschreckt, gleich damit beginnt, sich sowohl weiter hinein- als auch wieder hinauszulesen. Was, darüber denkt er unwillkürlich nach, wenn er nie wieder hinauskäme? Was aber, ebenso wichtig, wenn er sofort wieder hinaus müßte und nie wieder hinein dürfte? Beides dünkt ihn, den Leser, eine Katastrophe. In einer Kurzgeschichte steckt man nur kurz mal fest, das weiß er, das ist wie Probeliegen in der Bettenabteilung eines Kaufhauses, doch so ein Roman hat es in sich. Soll man also tatsächlich, das fragt er sich, Sympathien vergeben und Antipathien hegen, also tätig Anteil nehmen, mitlachen und mitleiden – oder aber doch auf Distanz bleiben und dieses Roman genannte Kuriosum einfach kurios sein lassen? Grauenvolles Dilemma! Er weiß natürlich auch, daß alles andere außer einer kolossalen Vollverweigerung unweigerlich dazu führt, die eigene menschliche Hülle als ein in ein Buch glotzendes Etwas in der Welt zurückzulassen, sich selbst des Schlafes beraubend, seine Haltestelle verpassend, warnende Rufe mißachtend und so allerlei Unbill auf sich ladend. Keine schöne Situation. Doch heißt es nicht auch „no risk no fun“, jaja, und das ist ja auch nicht falsch, selbst wenn Generationen von Lesern sich das wirkliche Leben ruinierten durch ausdauerndes Lesen, während so manch ein Nichtleser reich und mächtig wurde. Sehe man sich doch nur mal die Welt an, die ist doch nicht von Lesern gemacht, sondern eindeutig von Nichtlesern! Und haben sie, die Leseverweigerer, nicht absolut recht – da könnte man ja gleich versuchen, nur so als Beispiel, sich mit Tagträumen den Lebensunterhalt zu verdienen! „Tagträume zu verkaufen, drei Stück zu neunundneunzig Euro, oder nehmen Sie doch gleich die Vorratspackung mit zwölf Stück für nur zweihundertneunundneunzig Euro!“ Wahrscheinlich könnte man froh sein, alle paar Wochen einen für neunundneuzig Cent loszuwerden! Neinnein, so geht’s nicht, das ist mal klar. Aber wo läge die Lösung? Vielleicht darin, überlegt er, die Romane selbst zu schreiben? Der Leser denkt einen Moment darüber nach, knapp über die Schmerzgrenze hinaus, verwirft den Gedanken dann aber schnell wieder, denn aus der Nummer käme er dann nun wirklich nicht mehr heraus!
Leser und Nichtleser
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Ein chinesischer Maler soll sich doch, einer Legende nach, selber in sein Bild hinein- und somit aus dem Leben herausgemalt haben. Von einem Autor ist selbiges noch nicht überliefert. Wie wäre denn diese Variante?
So fiele dann also Leben und Tod des Autors in eins als eine besonders gewiefte Form des Selbstmords! Er oder sie würde sukzessive weniger im Leben und mehr im Text? Hat es nicht Sören Kierkegaard genau so gemacht? Wäre drüber nachzudenken.
„Morels Erfindung“ von Bioy Casares kommt dem Ganzen ziemlich nahe.
Ich habe “Morels Erfindung” vor über 25 Jahren mal gelesen, aber es steht noch in meinem Bücheregal. Vielleicht sollte ich mich noch einmal hineinwagen, in das Buch …