Oktoberbrief 2009

Der erste Oktober des Jahres 2009 ist in den Prenzlauer Bergen nass, doch so lange noch die andere Hofseite zu sehen ist (…). Wie auch immer, selbst wenn ich wollte, cool draußen rumsitzen und Maulaffen feilhalten ist wegen der Wetterlage nicht möglich. Sitze ich eben in meiner Bibliothek (auch Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer – nicht aber Arbeitszimmer) und studiere Sören Kierkegaard. Das nämlich ist ein Vorteil des schlechten Wetters in den Prenzlauer Bergen, dass nämlich anderer Leute Brut nicht rumlärmt, wenigstens nicht im Hof, andernfalls man in die außerhäusige Bibliothek ausweichen müsste. Dass nebenan eine Grundschule ist, auf dessen Schulhof hordenweise dumme Kinder lärmen, lässt sich allerdings nicht ganz ausblenden – welch eine ekelerregende Vorstellung zudem, dass jedes dieser Geschöpfe einem fleischlich-tierischen und damit völlig geistlosen Akt entsprungen ist. Horden von Professoren, das ist mir klar, wären aber wohl auch nicht angenehmer, und das selbe gilt auch für Bauarbeiter, IT-Spezialisten, Tierpfleger, Verwaltungsangestellte und Bäckereifachverkäuferinnen, und überhaupt. Der Mensch als Masse ist überwiegend Instinkt, und das hört man nicht nur, das spürt man als Verzweiflung tief in den Eingeweiden des Geistes. Es regnet nicht mehr.

Morgen ist der dritte Oktober. Man hört schon die Bässe wummern – Volksbelustigung durch Lärm, Currywurst und Zuckerwatte. Wem’s gefällt!

Die Hauptstadt ist unbeeindruckt von den politischen Entscheidungen der Bundestagswahl, vielleicht weil kaum ein Berliner sich jemals allen Ernstes im Regierungsviertel aufhält – man muss nicht hin, man muss nicht durch, jedweder Verkehr läuft drumherum. Dann ist es natürlich auch egal, ob die anstehenden politischen Entscheidungen in einer Entfernung von 500 Metern oder 500 Kilometern stattfinden. Das zum Thema Hauptstadt.

Wäre es nicht, frage ich mich, weitaus eleganter gewesen, sich nicht zu äußern, zu was auch immer! Natürlich, wäre es. Aber da mich niemand gefragt hat und ich mich demzufolge selbst hab‘ fragen müssen, konnte ich nicht schweigen. Das wäre unhöflich gewesen.

Die Wiederkehr des Immergleichen ist ein immerwährend wiederkehrendes Ärgernis, das hat schon Nietzsche erkannt. Doch nur der Mensch sitzt an der Sollbruchstelle, und das Werden jedes Einzelnen ist keines mit Notwendigkeit, sondern mit Bewusstsein; Kierkegaard würde vielleicht nicht Werden sagen sondern Krankheit zum Tode. Die Söhne streng protestantischer Väter haben das Denken der Welt verändert, was man von den Söhnen etwa der katholischen Pfarrer nicht sagen kann – nicht mal in den Prenzlauer Bergen.

Das Belohnungsprinzip funktioniert natürlich auch in den Prenzlauer Bergen, keine Frage. Manchesmal bin ich selbst dafür zuständig, eine Belohnung zu verabreichen, denn selbst im Oktober sitzt der Prenzlauerberger gerne im Außenbereich einer Bar, die innen meistens wie eine Kneipe aussieht. Natürlich gebe ich den dort Sitzenden kein Geld, „vielen Dank, dass Sie hier so anmutig sitzen – darf ich Ihnen dafür eine kleine Belohnung geben“, so läuft es natürlich nicht. Vielmehr liegt der Effekt in meinem Blick, den ich verabreiche, wenn ich etwa auf dem Weg zu abendlichem Kaufhallenbesuch zwecks Einkauf vorbei haste. Nicht etwa, dass ich Bewunderung in meinen Blick legte ob der geschmackvollen Bekleidung, der attraktiven Begleitung oder des exquisiten Getränks mit Naturstrohhalm, nein, vielmehr blicke ich böse, so böse ich kann, ja ich lege ein gehöriges Maß an Verachtung hinein. Warum tue ich das? Ganz einfach, damit sich der Prenzlauerberger besser fühlt, er sich seiner Kernkompetenz sicher sein kann. So liegen die Dinge. Und das Beste ist, ich komme auf dem Rückweg noch einmal vorbei, und es wäre sicher besonders fies, nun all die Kernkompetenzler anzulächeln und so das zuvor Gewährte wieder zu entziehen. Doch das verkneife ich mir – meistens jedenfalls.

Mein Gott, nein, bin ich altmodisch. Kann mir jeder ohne weiteres vorwerfen. Doch da bin ich hartnäckig, ich freu‘ mich trotzdem. Zum Beispiel weiß ich nichts von Dingen, mit denen ich nichts anfangen kann, wobei „Dinge“ für Dinge steht, deren Namen ich mir partout nicht merken kann und die mir eben deswegen auch nicht einfallen können, oder allenfalls als Ding. Das Ding mit dem Ding, da gibt es ganze Kulturgeschichten drüber, und is‘ ja auch wichtig. Gut, dass die Prenzlauer Berge weit ab sind vom Schuss, denn hier hat man ganz allgemein keine Zeit, sich um Dinge zu kümmern, mit denen man nichts anfangen kann, denn neben der Tag- und Nacht- bzw. 24h-Beaufsichtigung der Kinder, gut für die ethisch-moralische Rente, muss auch noch Abend für Abend ein Parkplatz für dieses Ding, wie heißt es denn noch, gefunden werden, dann noch schnell beim Gemüse-Ming was eingekauft, Kinder ins Bett, Überwachungskamera und Bewegungsmelder eingeschaltet, vor die Glotze, ordentlich sich langweilen, ärgern oder totlachen, dann ins Bett. Wo soll da noch Platz sein für diese Dinger, na wie heißen sie denn gleich – nee, fällt mir nich‘ ein.

Is there anybody out there? In den Prenzlauer Bergen muss die Antwort Nein lauten, es sei denn, Hase und Fuchs, die sich hier Gute Nacht sagen, sollen beachtet werden. Nun ja, es mögen zehntausende Hasen und Füchse sein, wer soll sie zählen, und sie mögen sich zehntausendfach Gute Nacht sagen: die Leere dort draußen füllt sich nicht.

Berlin ist ja so toll, man muss nur kreuz und quer mit dem Fahrrad durchfahren, es gibt viel Wald und Wasser, ein, zwei „Berge“, die aber eher zu den vielen Hügeln gehören. Kennt man irgendwann alles. Heute wollte ich deswegen, weil noch nicht gesehen, mir auf dem Rückweg von den Müggelbergen die Null-hoch-zwei-Halle ansehen, und ich war auch ganz in der Nähe und darauf gefasst, sie zu erblicken. Ich muss sie dann aber doch irgendwie übersehen haben. Nächstes Mal, vielleicht.

Die Berliner Glocken sind schrecklich! Zitat aus „Die Familie Selicke“, Drama in drei Aufzügen von Holz und Schlaf, 1890. Was soll man dazu sagen, stimmt! Überall in Berlin wird Sonntag für Sonntag die Bevölkerung aus anspruchs- und gesichtslosen Backsteinkirchenbauten heraus terrorisiert, dazu kommt der tägliche Beschuss zu ausgewählten Uhrzeiten. Kirchenbauten zu Lampenläden, sag ich da nur, je eher desto besser. Wie wär’s mit ’nem Volksentscheid!

Das soll der Goldene Oktober sein? Sieht eher nach einem übergangslosen Novembereintritt aus. Natürlich werde ich an dieser Stelle nicht über das Wetter schreiben, sähe ja so aus, als fiele mir nichts mehr ein. Nun, wen ich ehrlich bin, es fällt mir tatsächlich nichts mehr ein, beruflich zwar schon, nicht aber auf diesem Glossenniveau. Nicht mal ein Gedicht.

Eine Schabracke und eine Matrone kommen auf mich zu. Zum Glück kann ich ausweichen. Doch es sind nicht allein die Schieberinnen, die an Krieg denken lassen, es sind diese Gehwegpanzer, besetzt mit kleinen, gewalttätigen Monstern, die rechtschaffenden Menschen Angst einjagen. Wie diese Schabracken und Matronen überhaupt einen Besamer gefunden haben, wird kurz darauf klar. Sie haben sich ein glatzköpfiges, schmalschulteriges Männchen ausgesucht, das jetzt mit einem ebensolchen Männchen plaudernd hintendrein geht. Denen muss ich nicht ausweichen, ich geh mittendurch, sie huschen schüchtern zur Seite. Die Front ist weiter vorne. Wo sich das alles abspielt? In den Prenzlauer Bergen, wo sonst, Gehwegzone.

Um da mal überhaupt keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: ich war nie auf der Seite von A- und B-Hörnchen, ich bin auf der Seite von Donald. Nur die wenigsten wissen, dass Donald nicht nur hochintelligent, sondern auch leidlich gebildet ist. Diese Kombination führt zu der Notwendigkeit, sich sowohl der Muße als auch der Muse hingeben zu müssen, damit geniale Gedanken, die ja bekanntlich überall herum schwirren, im Kopf des Denkenden landen können. Tja, Geld liegt auf der Straße, der Gedanke jedoch im Hirn. Mit Arbeit ist sowohl das Geldauflesen als auch das Gedankenausbrüten verbunden, aber ein gleichzeitiges Geldbekommen und Denken ist selten; da muss man schon seine eigene Kunst ohne Rücksicht auf Verluste zu Markte tragen. Donald könnte das nicht, selbst wenn er wollte, und gelegentlich will er ja sogar, meist ohne jeden Erfolg, den dafür seine Neffen oder sein Onkel Dagobert einheimsen, von Gustav Gans mal ganz zu schweigen. Der Denker benötigt eben Ruhe, Geduld und Gelassenheit, und Donald ganz besonders, so dass ich dem Gerücht, er wolle in die Prenzlauer Berge ziehen, keinen Glauben schenken kann; A- und B-Hörnchen gibt es hier nämlich massenweise.

Die Menschen in den Prenzlauer Bergen leben so dicht aufeinander, dass dazwischen kaum Platz bleibt. Zum Glück aber wohnt man hier im Regelfall übereinander, getrennt durch Fußboden und Zimmerdecke, die auch übereinander liegen, und zwar direkt. Das mit dem Dichtwohnen hat auch Nachteile. So hat eine Frau, die schräg unter mir im Seitenflügel gewohnt hat, sich vor dem Fenster stehend tagtäglich die Pickel ausgedrückt. Und diese neue Manier, Badezimmer mit Fenster in Altbauwohnungen einzubauen: nicht jeder Prenzlauer Berger hält blickdichte Vorhänge für notwendig, und da ja nicht nur ausgesprochen schöne Zeitgenossen und Genossinnen die Prenzlauer Berge bewohnen …, und selbst bei solchen … – aber was rege ich mich auf. Mein Badezimmer hat kein Fenster.

Die größten Moralapostel sind ja manchmal diejenigen, die sich dann in flagranti erwischen lassen, bei Diesem und Jenen, die also Was lieben, obwohl sie gemeinhin dagegen agitieren, die erst angreifen und demütigen, und dann aber kuscheln wollen. Bei mindestens einer der Volksparteien ist es umgekehrt, doch das spielt in den Prenzlauer Bergen keine Rolle mehr, seit hier ein Freiluftversuchslabor eingerichtet worden ist, in dem zwischen je zwei Boutiquen eine Bar und zwischen je zwei Bars eine Boutique installiert worden ist. Wer sich mal so richtig erwischen lassen will, der muss hinunter ins Urstromtal. Das ist die Wahrheit.

Adam und Eva saßen nackig im Paradies und träumten vom Nichts. Das machte ihnen Angst. Dann wurden sie auf sich selbst zurückgeworfen, weil Gott vom WG-Leben die Schnauze voll hatte. Seine beiden Mitbewohner waren ihm einfach zu doof, da hat er ihnen wegen Nichteinhaltung einer Vertragsklausel gekündigt. Dann war es zwar relativ einsam im Paradies, doch immerhin ist Gott eine ganze Weile später auf die Idee gekommen, einen Sohn zu zeugen, der, nachdem er Selbstmord begangen hat, zu ihm kommen durfte. Ob das die Wahrheit ist? Ach was!

Erinnerungsmessis sind Menschen, die überall Erinnerungshaufen und Erinnerungsstapel liegen haben, an denen sie nur schwer vorbeikommen. Erinnerungen wegzuwerfen kommt ihnen nicht in den Sinn, manche werden sogar noch als Kopie eingelagert, in Fotoalben, auf Festplatten und USB-Sticks. Wahrscheinlich sind diese Menschen erinnerungssüchtig und sie müssen so häufig wie möglich sagen: „Das da bin ich!“ Sie sagen ja nicht, das da bin ich gewesen, nein, sie behaupten steif und fest, Ich zu sein. In ihrem Kopf sind wahrscheinlich auch Erinnerungen an die Zukunft gespeichert, nur dass es davon noch keine Abbildungen gibt, die als eine Art Sicherungskopie fungieren. Aber das erfinden wir auch noch, keine Bange!

Eigentlich fällt mir im Moment nichts (sprich: nix) ein, doch da einem gewieften Autor immer was einfällt, fällt mir eben was ein. Kleingeister verstehen das sicher nicht, doch das ist ohne Belang. Im DeutschlandRadio Kultur hat eine Film-Kritikerin letztens um den heißen Brei herumgeredet, weil sie nicht einfach hat sagen wollen, dass die Doofen den zu beurteilenden Film ohnehin nicht sehen werden, was allerdings auch für die mit dem Film zusammenhängende Kritik gilt. Natürlich, die Kleingeister werden nicht weniger, aber im Ernst: wer will in einem Betrieb arbeiten, in dem der Personalchef Kriterien auf dem Niveau von George W. Bush anlegt? Ist vielen egal, Hauptsache, sie haben den Job!? Mhm. Da fällt mir jetzt aber nix mehr zu ein.

Das richtige Leben findet anderswo statt. In den Prenzlauer Bergen streunen immer mehr Gestalten herum, die direkt aus den Lifestyle-Magazinen herauskopiert worden sind. Das geht! Funktioniert bestens. Die Originale sind allerdings stumm, ein Riesenvorteil. Zustände wie anderswo, wo große Firmen ihre Lohnsklaven einfach an die Agentur für Arbeit weiterverscherbeln, kommen hier nicht vor. Das hat den Vorteil, dass man hier nicht solidarisch sein muss, denn in einer Wohngegend, deren Attraktivität gemessen wird an Anzahl und Art der Bewirtungsbetriebe, benötigt so etwas nicht. Letztens habe ich übrigens eine junge Mutter mit eingebautem Handy gesehen und mir gleich gedacht, das, genau das ist die Zukunft! Die Rettung vor all diesem Ungemach ist dann aber eine speziell deutsche, angereichert mit gallischem Pragmatismus, denn es hat sich als hilfreich herausgestellt, sich seine Umwelt nicht als urbanes Wohn-, sondern als Waldgebiet vorzustellen, wo eben alles Leben seinen natürlichen, vorbestimmten und notwendigen Gang nimmt. Muss man einmal gegen diese Naturnotwendigkeit vorgehen und zum Beispiel ein paar Wölfe vermöbeln, tut man das am besten mit dem obelixschen Spruch auf den Lippen: „Mistviecher, nicht mal essen kann man euch!“ Das befreit ungemein.

Wenn unsere Zeit besonders ist, dann doch wegen der fehlenden Untergründigkeit, den fehlenden Geheimnissen, der allgemeinen Gleichheit. Ob wir wohl in einigen Jahrzehnten als Neo-Biedermeierlinge enttarnt werden werden? Hängt natürlich davon ab, wann es wieder kracht, die Grundfesten erschüttert werden, das Blut wieder fließt. Und es wird vollkommen anders sein, als wir es uns heute vorstellen können. Den nächsten Monat, den November, kann ich mir vorstellen, er ist kalt und ehrlich, aber wie es in den Prenzlauer Bergen in einigen Jahrzehnten aussieht, nicht. Wird es heller sein, wird es dunkler sein? Ich meine damit nicht die Straßenbeleuchtung. Sicher ist nur, dass es die Prenzlauer Berge eines schönen Tages nicht mehr geben wird, oder sagen wir, es wird sie noch geben, aber nur als tote Erinnerung ohne Sprache, als eine gewesene Möglichkeit, die sein durfte. So sieht es aus, liebe Biedermeierlinge, und ab morgen ist November.

© und alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus bei Norbert W. Schlinkert 2009

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