Der Telegraph, das Telephon, das Faxgerät, das Internet: in den letzten 150 Jahren ist auf den Flügeln des elektrischen Stroms immer mehr Sprache versendet worden. Zunächst achtete man noch sehr auf das einzelne Wort, auf Klarheit, handelte es sich doch oft genug um Anweisungen oder sogar Befehle. Heutzutage hingegen ist die Sprach- und Schriftübertragung allumfassend und ein weltumspannender Strom, man denkt gleich an das Weltbild der alten Griechen und auch daran, nicht zweimal in den selben steigen zu können. Der Weltalltag als Roman – das ist möglich, als sprachgewordenes Äquivalent der in den Blick genommenen Geschehnisse, die wiederum weitere Erzählungen generieren, weil auch das Nebensächlichste einen „Bedeutungshof“ hat (Alban Nikolai Herbst spricht in seiner Theorie davon, daß nebensächliche Bestimmungen den Bedeutungshof der wesentlichen Aussagen bilden. S.70).
Der Aufklappen des Buches ist das selbe wie der Klick in das Literarische Weblog, wo das Leben als Roman faßbar werden kann. Das Privateste wird Kunst, auch das Peinlichste kann so Kunst sein, wenn es denn im Medium oder durch das Medium vermittelt wird, doch dies war natürlich schon immer so, ob nun Agaue in orgiastischer Raserei ihrem Sohn den Kopf abreißt oder Leopold Bloom angesichts der sich zeigenden Gerty McDowell am Strand von Sandymount onaniert. Die Scham danach, auch die des Lesers, ist die Fortsetzung der Erzählung, nie das Ende, erst recht nicht in Zeiten des Internets, wo das Lesen nicht mehr nur ein Blättern ist, sondern zusätzlich auch wieder ein Abrollen – der Begriff scrolling kommt ja direkt von Schriftrolle. Der Lebenslauf nun also auch als Verschriftlichung im Netz, als Netzroman, aus dem heraus die Phantasie der Leser beflügelt wird und der eigentlich Alban Nikolai Herbst erst zu dem macht, was er ist – das eigene lebendige poetische Ich seiner selbst, das ohne seine Leser nicht mehr existieren könnte. Das jedenfalls scheint die Wahrheit zu sein …
[Mit dem zwölften Teil schließe ich das gezielte Lesen der Theorie und die daraus entstehende Gedankenableitung erst einmal ab, wenn auch bei jedem Hineinlesen dann sicher wieder eine Thematik auftaucht, die es zu bedenken gilt – doch auch ich habe im Moment einen Roman zu schreiben, der täglich seinen Tribut fordert, am Ende allerdings seinen Platz zwischen zwei Buchdeckeln finden wird, denn auch das ist nach wie vor eine Möglichkeit – die schönere, wie ich finde. (Nein, nein, das Bild unten stellt nicht den Herbst dar!)]
Norbert W. Schlinkert: „Kommunikation Maschine–Mensch“ (1996)