Das poetische Ich (Essay- /Vortragsentwurf)

Mit ungeahnter Plötzlichkeit war sie da, die Möglichkeit und damit die Wirklichkeit des poetischen Ich. Die Perpetuierung dieses neuen irdischen Seins wird, einmal angestoßen, nicht wieder zu beenden sein, so wenigstens sieht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus. Es begegnet dem Leser von qualitativ hochwertiger Literatur auf Schritt und Tritt, und es kann – selbstverständlich – offen darüber gesprochen werden. In einem Interview äußert sich der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier bezüglich seines Romans Abendland auf die Frage nach dem Eindruck von Wahrhaftigkeit in diesem Text: „Wenn die Geschichten, die Personen, die darin auftreten, mir beim Schreiben als rein erfundene Dinge gegenüberträten, an die man – berufsbedingt – zwar glauben muss, aber in Wahrheit nicht glauben kann, dann würde es nicht gehen, nein, dann wäre der Wurm drin. (…) Man zeigt diktatorisch in eine Richtung, die Geschichte kümmert sich nicht darum und folgt ihrem eigenen Weg. Wenn man das zulässt, kann es zu einem guten Ende führen. Wenn man sich dagegen sträubt, scheitert man, immer. (…).“ [1]

Auch Jean Giraud, Zeichner sowohl der berühmten Westernserie Blueberry als auch von Science-Fiction-Comics (unter dem Pseudonym Moebius), sieht eine ähnlich enge Bindung von Schöpfer und Figur. In einem Interview bemerkt er zu der Feststellung, seine Arbeitsweise bei experimentellen Werken [2] erinnere an eine der zentralen Ideen des Nouveau Roman, nicht auf das Erzählen eines Abenteuers komme es an, sondern auf das Abenteuer des Erzählen, folgendes: „Das ist völlig richtig. In gewisser Weise existiert die Figur, der etwas passiert, nicht nur auf dem Papier; sie ist zugleich die Person, die zeichnet. Und diese Person assoziiert wiederum den Leser, der das Abenteuer betrachtet. In einem metaphorischen Sinne geht es um die Abenteuer wirklicher Menschen.“ [3]

Der Schriftsteller Georg M. Oswald nimmt dazu hingegen eine andere Position ein und sieht im Autor den alleinigen Lenker der zu erzählenden Geschichte. Oswald schreibt: „Der Autor wählt den Stoff, erfindet Figuren, eine Handlung, und hat jegliche Freiheit, sie wissen zu lassen, was immer er will. Das Geschehen seines Romans liegt allein in seinen Händen, er kann es nach seinem Belieben lenken.“ [4]

Diese technisch korrekte Arbeitsbeschreibung läßt keinen Zweifel daran, wer das Heft in der Hand hat. Angesichts der Unmöglichkeit, mit erfundenen Figuren tatsächlich zu kommunizieren wie mit leibhaftigen Menschen, ließe sich die davon abweichende Sichtweise Köhlmeiers sogar als Attitüde entlarven, wenn da nicht der Sprung von der Idee zur Wirklichkeit zu berücksichtigen wäre, der immer auch ein Sprung hin zu einer Belebung ist, die am Ende des Prozesses in der Praxis des Lesens nicht bezweifelt werden kann, ohne die Imagination zu zerstören. Und warum sollte dann dieser Sprung hin zur Lebendigkeit, zur poetischen Wirklichkeit einer Person, nicht bereits beim Schreiben eine Rolle spielen? Dies allerdings hätte ein Ringen mit dem zu erzählenden Stoff zur Folge, einen Kampf um Inhalt und Form, der in der oswaldschen Herangehensweise schon in einer früheren, planenden Arbeitsphase geleistet worden ist, während Köhlmeier trotz „diktatorischer“ Planung diesen Strauß im Schreibprozeß auszufechten hat. Am Ende steht ohnehin immer allein die Frage nach der Qualität des Textes, nach der Wahrhaftigkeit des Erzählten im Ganzen und der der poetischen Ichs im Einzelnen, die der Leser zu entscheiden hat. Über die Wahrhaftigkeit etwa eines in der ersten Person erzählten Textes sagt Köhlmeier: „(…) Dem auktorialen Erzähler vergibt man keinen Fehler. (…) Wenn da aber einer sagt „Ich“, dann kann ich ihn am Kragen fassen, er gibt mir die Möglichkeit zu bezweifeln, was er mir erzählt. Merkwürdigerweise verringert das nicht seine Glaubwürdigkeit, sondern steigert sie.“ [5]

Das persönliche Beharrungsvermögen mit allen Möglichkeiten eines Ich, das Köhlmeier hier anspricht, ist so immer auch in und mit der Zweifelhaftigkeit von Sprache angelegt, mit der das poetische Ich sich Raum zum Leben verschafft. Es ist nicht mehr, wie noch der wielandsche Agathon, vom Autor allein abhängig, denn es nimmt, ganz wie ein Ich „aus Fleisch und Blut“, seine Möglichkeiten im vorhandenen Kontext wahr. Es wird nicht wie eine Marionette geführt, wenn der Autor es für notwendig hält, vielmehr zwingt es ihm und anderen „Mitstreitern“ seine Präsenz nach Möglichkeit auf. Köhlmeier formuliert: „(…) Ich mag das, wenn in einem Roman Personen auftreten, die sich nicht gleich von vornherein unter die Dramaturgie des Protagonisten zwingen lassen, die stolz sind und sagen: Ich weiß schon, ich bin nicht die Hauptfigur, aber ich könnte die Hauptfigur sein. Eine Person besteht aus ihren Geschichten, aus ihrer Geschichte. Nur vor dieser Geschichte wird ein Charakter sichtbar. (…).“ [6]

Das hier angesprochene poetische Ich verhält sich, es hat Antrieb zu eigenem Handeln, mit dem es sich in Interaktion setzt mit seiner gesamten Umwelt [7], die sich aus dem „Geschriebensein“ und dem Geschriebenen zusammensetzt zu einer lebendigen Vorstellung im Lesenden, der nehmend und gebend teilhat und teilnimmt am vorgestellten Ich. Ein rein zweckdienliches Erfinden von Gesamtzusammenhängen ist, geht der Autor wie Köhlmeier vor, hier kaum noch möglich. Läßt der Autor somit vom normativen, vom angelegten Ich ab und sich auf ein poetisches Ich ein, so ist Schreiben immer im überwiegenden Maße Interaktion. Die Möglichkeiten im Schreiben sind so in einer Weise unendlich, wie sie von Raum, Zeit und Sprache konstituiert werden. Die sich daraus ergebende Leichtigkeit wird oft schon im einleitenden ersten Absatz einer Erzählung deutlich und reizt zum Weiterlesen.

Der Leser hat mit dem Lesen des ersten Satzes den ersten Schritt getan in eine Geschichte hinein, die ihm eben das abverlangt, was er bekommt; es handelt sich um ein fortgesetztes Tauschgeschäft, ein Ringgeschäft, letztlich um ein Kreisspiel, von dessen Schnittpunkt sich die Lesewirklichkeit, als Lesegegenwart, in alle Richtungen ausdehnt, in Vergangenheit und Zukunft und auch sonst über alle Grenzen hinweg. Daß der vom Autor gedachte fiktive, dann aber doch reale Leser sich auf dieser Basis fortwährend wenigsten vorläufig mit dem Gelesenen einverstanden erklären muß, ist eine Grundkonstante seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beispiels- und dann bei den Texten Jean Pauls auch noch auf eine besondere Weise. Während bei ihm das poetische Ich durch eine dem Schreibprozeß inhärente Wechselwirkung eine Teilautonomie erlangt, die der des Autors gleicht, ist der gedachte Leser jedoch oftmals umso abhängiger vom Autor,  je mehr er dem realen Leser entspricht. Hier, wo der Erfolg eines Textes sich entscheidet, wird deutlich, daß nicht nur die „Regeln des Spiels“ von beiden Seiten akzeptiert werden müssen, sondern daß auch das gegenseitige „Involviertsein“ das richtige Maß haben muß. Kommt der Leser der vom Autor anvisierten Schnittstelle aber nicht nah genug, so mißlingt der Lesevorgang mit der Folge, daß dem poetischen Ich durch den Leser kein Leben „eingehaucht“ werden kann. [8] Paul Heinemann schreibt zu der Vorgehensweise Jean Pauls: „Indem er den fiktiven Leser zum Komplizen erklärt, versucht Jean Paul schließlich, die Wirkungskraft der geschlossenen imaginativen Wirklichkeit, welche möglichst eng mit der Erfahrungswirklichkeit des tatsächlichen Rezipienten verknüpft werden soll, zu erhöhen. Nicht nur stattet der Autor den Erzähler und den Leser mit den gleichen Kompetenzen aus, sondern beide scheinen sich darüber hinaus den erfundenen Romancharakteren anzuverwandeln, da sie als ähnlich unvollkommene Geschöpfe auftreten. Schließlich informiert der Erzähler als Stellvertreter des Autors den Leser unmittelbar über die Genese der einzelnen Romane, so daß letzterer als Zeuge des kreativen Aktes „ständig in zwei Welten, in der Welt des Romans und in der Welt des Autors“ [9] lebt. Der Leser avanciert neben dem Erzähler zum eigentlichen Helden der Romane Jean Pauls, da er in den Binnenraum der Fiktion hineingezogen wird und ihm sich scheinbar die Möglichkeit eröffnet, das Verhalten einzelner Romanfiguren zu beeinflussen oder den Fortgang der Romanhandlung zu verändern.“ [10]

Auf diese hier beschriebene Weise fixiert Jean Paul den angesprochenen Schnittpunkt, von dem aus Lebendigkeit und Bewegung möglich ist, immer wieder neu. So führt er seinen Leser zu einer größtmöglichen Selbständigkeit im Nachvollzug beispielsweise des geschilderten Ich Siebenkäs, etwa wenn der plausible Wunsch nach Befreiung vom Joch der Ehe und aus der Enge eines Ortes wie Kuhschnappel zu der sehr speziellen Möglichkeit des Scheinsterbens führt. Der Leser vollzieht das Sterben und daraus folgende Werden wissend mit, so daß er wissend und damit schaffend teilhat am „neuen“, poetischen Ich. Ein ipse fecit, ein „er hat es selbst gemacht“, gilt folgerichtig nicht nur für den für Autor, sondern ebenso für den realen Leser, der sich so gewissermaßen lesend das erschafft, was Jean Paul „Doppeltgänger“ nannte, indem er sich im Protagonisten erkennt. Voraussetzung dafür ist die seelische Entwicklung der Figur Siebenkäs, die sich ihrem von außen aufgezwungenen normativen Sosein entwindet, auf eine ganz und gar eigene Art.

*

[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Geschichte hat ihren eigenen Kopf. 05. Oktober 2007. Nr.231. S.52.

[2] Zum Beispiel Arzach (1976) und Die hermetische Garage des Jerry Cornelius (1979).

[3] Süddeutsche Zeitung. Die Figur auf dem Papier ist selbst der Zeichner. Interview mit Jean Giraud alias Moebius von Christoph Haas. 08. Mai 2008. Nr.107. S.14.

[4] Süddeutsche Zeitung. Der allwissende Erzähler. Literatur zwischen Stoff und Form. Von Georg M. Oswald. 29. April 2008. Nr.100. S.13. Eine Figur aus einem oswaldschen Roman könnte sich etwa auf die selbe Art beklagen, wie der junge Mann in „Die Wiederholung“ sich brieflich bei Constantin Constantius beklagt: „Oder ist es nicht eine Art von Wahnsinn, in solchem Grade jede Leidenschaft, jede Rührung des Herzens, jede Stimmung dem kalten Regiment der Reflektion unterworfen zu haben! Ist es nicht Wahnsinn, in solcher Weise normal zu sein, nur Idee, nicht Mensch, nicht wie die anderen, biegsam und nachgiebig, verloren und sich verlierend! Ist es nicht Wahnsinn, in solcher Weise immer wach zu sein, immer bewußt, niemals dunkel und träumend!“ Sören Kierkegaard / Constantin Constantius: Die Wiederholung. In: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode … München 2005 (dtv). S.399. Erster Brief vom „15. August“.

[5] Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Geschichte hat ihren eigenen Kopf. 05. Oktober 2007. Nr.231. S.52.

[6] ebd.

[7] Im Zusammenhang mit dem endgültigen Verbot von Maxim Billers Roman Esra durch das Bundesverfassungsgericht (12.10.2007) äußert sich der deutsche Schriftsteller Friedrich Ani auf eine Anfrage der Süddeutschen Zeitung, was er von dem Urteil halte, u. a. folgendermaßen: „Die Perönlichkeitsrechte einer Romanfigur sind mindestens so hoch einzuschätzen wie die Persönlichkeitsrechte eines lebenden Menschen.“ Süddeutsche Zeitung: Der Willkür ist nun Tür und Tor geöffnet. 13./14. Oktober 2007. Nr.236. S.13. Diese hier geäußerte und realistisch betrachtet überzogene Ansicht zeigt immerhin deutlich, wie wahrhaftig ein literarisches Ich in der Welt (des Lesers) aus Sicht eines Autors sein soll. Das poetische Ich wird hier ohne Abstriche als in seiner Welt vollständige Rechtsperson angesehen, die nicht einfach nur eine Mischform aus realem Vorbild und Hinzugedichtetem ist. So kritisiert Heribert Prantl auch diese „quantitative Messmethode“, aufgrund derer das Gericht zu seinem Urteil kommt. Siehe dazu: Süddeutsche Zeitung: Die Kunstrichter von Karlsruhe. 13./14. Oktober 2007. Nr.236. S.13.

[8] Ein Beispiel dafür ist sicher Finnegans Wake (1939) von James Joyce, der diesen Schnittpunk, der ein adäquates Lesen überhaupt erst möglich macht, deutlich zu nah an seiner eigenen Imagination ansiedelt.

[9] Paul Heinemann zitiert hier: Günther Soffke: Jean Pauls Verhältnis zum Buch. Bonn 1969. S.40.

[10] Paul Heinemann: Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett. Würzburg 2001. S.366.

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