Für mich ist das Lesen eines literarischen Textes eine Begegnung mit dem Autor oder der Autorin, ganz gleich, wie viele Jahre oder Jahrhunderte seit der Niederschrift vergangen sind. Mit dem Lesen anonymer Texte hatte ich eben deswegen seit je her Schwierigkeiten, wenngleich ich keineswegs den Lebenslauf eines Autors kennen muß und tatsächlich mich auch immer erst um diesen wirklich bemühte, wenn ich mindestens die sogenannten Hauptwerke gelesen hatte. Wichtig ist für mich aber allein die Zwiesprache, die beim Lesen auf allen Ebenen stattfindet und gleichsam gleichzeitig-ungleichzeitig ist, was für mich ihren besonderen Reiz ausmacht, so daß ich auch weniger Zeitgenossen lese als eben solche, die vor mir und unserer Zeit gewirkt haben. Im Moment bin ich lesend mal wieder so etwa siebzig bis hundert Jahre zurück, Katarina Botsky, Alfred Döblin, Robert Musil, Robert Walser, Italo Svevo, James Joyce, Thomas Mann – denn warum, frage ich mich, sollte ich Zeitgenossen lesen, wenn ich doch die selbe Zeit bewohne und auch noch in ihr schreibe? Das kann man natürlich auch anders sehen, tue ich aber nicht.
Begegnung, gleichzeitig-ungleichzeitig
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