Auch für die Novelle Es ist noch nicht an der Zeit, sie erschien am 4. August 1920 im Simplicissimus, ist der zeitliche Kontext bedeutsam, denn das zweite Nachkriegsjahr hatte bisher für Deutschland keine politische Stabilität gebracht, ganz im Gegenteil. Die noch junge Weimarer Republik war durch den schließlich nach wenigen Tagen beendeten Kapp-Putsch vom 13. März in Unruhe versetzt worden, wozu sicher auch beitrug, dass der „Märzaufstand“ linksgerichteter Arbeiter, der in Reaktion auf den Putsch im Ruhrgebiet losbrach, schließlich von Reichswehreinheiten und rechtsgerichteten Freikorps, von denen auch einige am Kapp-Putsch in Berlin beteiligt gewesen waren, blutig niedergeschlagen wurde. Auch nach der Reichstagswahl vom 6. Juni konnte von stabilen und friedlichen Verhältnissen in Deutschland nicht die Rede sein – Unsicherheit und Angst herrschten vor.
Katarina Botsky beginnt so auch ihre Novelle, indem sie gleichsam für alle feststellt: „Wir suchen Freude; aber wir finden sie nicht. Wir bangen vor Unheil und vergessen es mitten darin. Wir haben Mitleid und empfinden nichts dabei. Unsere armselige Maschine, die nichts mehr erregen kann als der Tod, ist stumpf geworden durch den Krieg. Wir suchen krampfhaft Freude – mit kläglichem Erfolg. Auch scheinen immer bald von irgendwo die Worte zu ertönen: «Ihr dürft Euch nicht freuen. Es ist noch nicht an der Zeit.»“ Um eben dies zu zeigen, gleichsam zu illustrieren, wählt Botsky einen Mann aus, der hinausgeht, den Frühling zu sehen, hinaus aus der Stadt zu den Bäumen, Wiesen und Teichen, um sich zu freuen. Anders aber als in ihrer Novelle Das Krachen über alle Maßen von 1917, in der der Protagonist Johann als Individuum erscheint, bevor er als Soldat in den Krieg ziehen muss und zur Nummer wird, ist dieser Mann namenlos, ein ehemaliger Soldat, der sich während des Krieges im Schützengraben noch hatte freuen können, es nun aber verlernt zu haben scheint. Immerhin, der Frühling zeigt sein schönstes Gesicht, und so schafft es der Mann, beziehungsweise seine „armselige Maschine“, wie es später heißt, etwas zustande zu bringen, „was einem Genuß etwas ähnlich sah, etwa so ähnlich, wie ein Greis seinem Jugendbildnis ist“. Der Mann spricht also zu sich: „Du freust Dich“, er stellt sich sogar, wie auf Befehl, hin und versuchte, goldene Träume zur goldenen Sonne aufsteigen zu lassen. Wer ist dieser Mann, der hier so kämpft um ein bißchen Lebensfreude? Wer ist er, was hat er erlebt? Aber da wird die Suche des Mannes nach Freude jäh gestört, eine Rauchsäule taucht auf jenseits der Teiche, er will sie zuerst ignorieren, weil er sich doch freuen wollte, doch dann …
Katarina Botsky errichtet in dieser Novelle ein Szenario, das ein wenig an die biblische Geschichte der Zerstörung von Sodom und Gomorra erinnert, wo es (Genesis 19.28) heißt: „(…); und siehe, da ging ein Rauch auf vom Lande wie ein Rauch vom Ofen“, doch Botsky ist es keineswegs vordergründig um religiöse Gleichnisse zu tun, denn das, was hier in den Himmel hineinwächst, überflügelt schon drei Mal den am nächsten liegenden hohen Kirchturm, ist größer und gewaltiger als die Kirche mit ihrer Religion, ein gewaltiger Mittagsspuk, der dröhnt und in grauenhafter Einförmigkeit die gellende Warnung vom anderen Ufer herüberbrüllt, wie ein ganzes Heer von bösen Geistern: „Du darfst dich nicht freuen! Es ist noch nicht an der Zeit!“ Der Mann zwingt sich jetzt zur Umkehr angesichts des Rauchungeheuers und wendet sich zur Stadt, doch nun scheint das Ungeheuer ihm zu folgen, ein zweiter Mann, der auch ausgegangen war, Freude zu finden, schließt sich ihm an, bis sie schließlich mit letzter Not die Stadt erreichen, wo das Rauchgespenst ihrer bereits „unheimlich und majestätisch“ wartet.
Was sich bis hierher fast wie eine Schauergeschichte ausnimmt aus alter Zeit, wie der Zorn Gottes oder die Rache böser Geister, zwingt Botsky Zeile um Zeile immer mehr zur Gegenwart der Nachkriegszeit hin, in der der einzelne Mensch nunmehr nur noch Teil der Masse zu sein scheint, so wie die zwei in die Stadt fliehenden Männer, die Teil werden einer Menge, die es, so Botsky, zu Freude oder Entsetzen treibt, je nachdem, denn „nach Sensationen treibt es die Menschen umher wie eine tolle Herde“. Und tatsächlich sind die Neugierigen nicht aufzuhalten, sie laufen „in ihrem wütenden Sensationshunger“ durch die um sie herum zerberstende Stadt, während der Rauchbaum ins Gigantische wächst, bis er dasteht wie eine Gottheit, dem Himmel so nah. Das Unheil jedoch ist menschengemacht, und ihm sind die Überlebenden ausgeliefert – „sie fühlten es und schwiegen in dumpfer Ergebenheit“, während die vielen Opfer des Explosionsunglücks nicht einmal einen Todesschrei zum Himmel hinaufschallen lassen können.
Katarina Botsky nimmt sich in dieser Novelle keines Individuums und seiner Geschichte an, sondern skizziert auf sprachlich großartige Weise gleichsam den letzten Akt einer großen Tragödie, in der kein deus ex machina Erlösung bringen kann und in der unterschiedslos die Gerechten und die Ungerechten dahingerafft werden, in der der Einzelne, wie im Krieg, zählt, aber nichts gilt. So spricht Botsky schließlich auch von den „tragischen Puppen des großen Dramas“, die, wenn sie nicht in Atome zerrissen waren, überall hockten und lagen. Kein Gott spendet also Trost, man geht nach Hause, die verstörte Herde zerstreut sich, bis sich morgen dann wieder die heute ein wenig verschüttete Gier nach Freude zeigen wird. Der einzelne Mensch, das zeigt Katarina Botsky auf, ist nach den Jahren des Krieges und des Hungers und all der Verluste kaum mehr Herr seines Schicksals, er dringt nicht mehr zu sich selbst und seinen Gefühlen durch und ist nur noch, als „armselige Maschine“, Teil der Masse. Diese Thematik, den Wunsch nach Freude und die Deformation des Einzelnen, greift sie in der Ende 1933 erschienenen Novelle Dezembertraum dann noch einmal auf, die furchtbaren Entwicklungen nach der sogenannten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gleichsam vorausahnend.
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Katarina Botsky: In den Finsternissen. Novellen.
Herausgegeben von Martin A. Völker.
Elsinor Verlag 2012. 108 Seiten. ISBN-10: 3942788071