Wehe, o Herbst, Du wirst nicht golden!

Zugegeben, ich mag nicht alle Jahreszeiten – in Berlin kann ein langer, dunkler Winter schrecklich sein. Immerhin gewinnen die Prenzlauer Berge jetzt so langsam wieder an Kontur, je weniger Touristenhorden fressend in den Straßen hocken, umso mehr. Am nächsten Morgen sitzen die dann alle auf dem Pott und kacken das gekaufte Lebensgefühl wieder aus, bevor sie mit ihren Rollkoffern davonklackern. Im Winter allerdings, und auch eigentlich nur im Winter, erkenne ich dann meinen Kiez vollständig wieder, denn da hocken die Ratten in ihren Löchern und trauen sich nicht raus. Ja, es gab mal tatsächlich eine Zeit, da war der Kiez nicht von langweiligen Ausländern bevölkert, die genau so gut, weil völlig egal, langweilige Inländer sein könnten, und umgekehrt, sondern von Menschen, die ohne Verabredung und ohne diese kranke Idee, dem eigenen Leben ein Design geben zu müssen, hier wirklich lebten. Das hat nichts zu tun mit einem „früher war alles besser“, aber wenn es nunmal punktuell eine Weile besser war als heute, war es nunmal so. Punkt. Vielleicht wird es für mich ja auch irgendwann Zeit, weiter zu ziehen, bevor ich noch angesteckt werde von diesem dümmlichen Dauerkindergeburtstagspartyleben! Imgrunde reichen allerdings zwanzig Minuten Spaziergang nach Norden aus, ein ganz normales, städtisches Leben zu haben, auch mit den Nachteilen, die es hier auf der „Insel“ Prenzlauer Berg fast nicht mehr zu geben scheint, weil die Armutsverwahrlosung einer Wohlstandsverwahrlosung gewichen ist. Zu Arroganz und Selbstgefälligkeit führt beides. Was tun? Mir ein Hexenhäuschen in den Wäldern Brandenburgs ergaunern, auswandern, eine Hütte auf Stelzen am Meer beziehen? Ich denke darüber nach, während der Herbst langsam die Prenzlauer Berge in ein Laubmeer verwandelt.

Herbst, Du goldener, Norbert W. Schlinkert

Dieser Beitrag wurde unter NACHRICHTEN aus den PRENZLAUER BERGEN! veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten auf Wehe, o Herbst, Du wirst nicht golden!

  1. phyllis sagt:

    Man sollte Ihnen dringend eine regelmäßige (gut dotierte) Antirollkofferklackererkolummne in einer Berliner Zeitung anbieten, lieber Norbert!

  2. derdilettant sagt:

    Neben der äußeren gibt es ja noch die innere Emigration. Wenn Sie sich also vorstellen, in einem Zoo zu leben, einem zumal, der eine Spezies zeigt, die nicht so gefährlich ist als dass man sie hinter Gittern sperren müssten, dann können Sie doch in aller Ruhe den Homo Rollkofferklackerectus studieren und ihm in Ihrer schriftstellerischen Arbeit ein würdiges Denkmal setzen. Denken Sie doch mal an die nachfolgenden Generationen, die z. B. unbedingt wissen sollten, welch ein Rudeltier der Homo Rollkofferklackerectus dereinst gewesen sein wird. Und ja: die Kolummne, her damit!

  3. Man sollte mir überhaupt mal was gut Dotiertes anbieten, finde ich, aber ich arbeite dran! Ob ich dann aber über den Homo Rollkofferklackerectus schreiben sollte, jenes flüchtige Geschöpf mit dieser tiefen Verzweiflung in den Augen? Vor allem dann, wenn er die Prenzlauer Berge wieder verlassen muß, leidet er, denn da ist sie hingeschmolzen, die süße Belohnung für all die quälenden Tage auf Arbeit. Und was soll man erzählen, zurück im Alltäglichen? Hat man etwas erlebt, das nicht schon in jeder zweiten Vorabendserie verwurstet wurde? Waren nicht alle anderen auch schon mal dort? Einzig dieser komische Typ, der mit einem Notizblock bewaffnet glotzend an jeder verdammten Ecke zu stehen schien, der wäre schon einer Erwähnung wert – sicher so ein Künstler, und die soll es in Berlin ja tatsächlich noch in freier Wildbahn geben. Aufregend, sowas – Berlin ist ja so toll! Die reinste Safari! Klacker, klacker, klacker …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert