Selbstmord einer Fliege

Heute geschah nichts dergleichen, gestern jedoch kam ich nicht so ohne weiteres davon. Ebenso wie heute las ich also am gestrigen Morgen in Heinrich Schirmbecks epochalem Roman ‚Ärgert dich dein rechtes Auge‘, als plötzlich eine dieser winzigen Fliegen auf den aufgeschlagenen Seiten landete, sicher kaum größer als zwei Millimeter. Mehrmals lief sie auf ihren kleinen Beinchen hin und her, immer wieder eine Kehrtwende beschreibend, bis sie sich dann plötzlich in die Luft erhob, rasend schnell ging das, und sich in meinen halbvollen Kaffee stürzte. Ich sah hinein und erkannte sofort, es war zu spät. Die Fliege war nur noch ein auf der Oberfläche haftender schwarzer Punkt. Ganz offensichtlich hatte sie Selbstmord begangen. Aber warum? War Liebeskummer der Grund, oder Lebensüberdruß, wurde sie von den anderen Fliegen gemobbt, war sie einsam? Das herauszubekommen ist unmöglich, wir werden es also nie erfahren. Den Kaffee entsorgte ich im Ausguß und machte mir einen neuen. Das Leben geht weiter.

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6 Antworten auf Selbstmord einer Fliege

  1. Derdiletant sagt:

    Wer oder was aber betrachtet uns aus der Perspektive, aus der heraus wir die Fliege wahrnehmen?

  2. Wenn wir uns niemanden vorstellen, der das tut, dann ist da auch niemand, denke ich. Sie als Maler wissen ja sicher, daß man den Horror vacui notfalls einfach aushalten muß.

    (Sie berauben sich übrigens selbst eines ts Ihres Namens – wo ist das hin?)

  3. Derdilettant sagt:

    Ihrer Aufmerksamkeit entgeht nichts, nicht mal ein klitzekleines t. Ich müsste lügen wollte ich behaupten, ich hätte es in Lviv verloren. Es ist eher ein taktiles Problem, die Anschlagsdynamik meines Laptops betreffend, das sich repetierenden Tasten nicht mit der Feinheit eines Steinway-Flügels widmet. Ok, auch das ist natürlich maßlos aufgeschneidert. Das ausdifferenzierte Potential einer Steinway-Mechanik vermochten meine grobmotorisch unterentwickelten Finger niemals auch nur annähernd auszuschöpfen. Der Laptop-Tastatur folgten die zwei ts aber vielleicht doch zu dicht aufeinander. Und ein schlechter Korrekturleser meiner selbst bin ich leider auch. Als Maler übrigens denke ich, dass man mit dem leeren Blatt beginnt, dann strichweise weiter ausdifferenziert, um am Ende wieder durch fortschreitende Reduktion der künstlerischen Mittel beim weißen Blatt anzulangen. Das aber ist in der Tat schwer auszuhalten: das leere Bild, durch das alle anderen hindurchgegangen sind.

  4. Das fehlende klitzekleine t fiel eher der Technik auf, denn nicht erkannte Kommentatoren schickt sie in die Warteschleife – ich wunderte mich also nur, warum Sie, als alter Mitstreiter, nicht durchgewunken worden sind.
    Was das völlig leere Bild angeht, so fehlt ihm natürlich der Kontrast zwischen pigmentierter und leerer Fläche, so daß am Ende auch der Horror fehlt, und um den geht es doch eigentlich in der Kunst, oder?

  5. derdilettant sagt:

    Der Weg der gnadenlosen Reduktion bis hin zur weißen Leinwand bzw. zum weißen Papier (in der Musik die Stille: John Cage: 4’33“)kann ja ein zweifacher sein: gedanklich-konzeptuell – der „leere“ Bildträger als Endpunkt einer gedachten Entwicklung; oder ganz handfest als Endpunkt eines Übermalungsprozesses, bei dem am Ende eine Schicht weißer Pigmente alle vorangegangenen, nicht mehr sichtbaren aber im Gedächtnis des Malers gespeicherten Schichten ausgelöscht, oder vielmehr: aufgehoben hat. Im Extremfall stelle man sich den Horror einer übermalten Mona Lisa vor. Das Wissen, sie ist da drunter, aber nicht mehr sichtbar. Für den Horror bedarf es eigentlich auch keiner Pigmente, denn die leere Bildfläche kommuniziert ja stets mit der Umgebung, so wie Cages 4’33“ ja nicht wirkliche Stille meint, sondern die zum Zeitpunkt der Aufführung sich ereignenden Geräusche.

  6. Ich erinnere mich an eine LP der Band „Nichts“ (NDW), da bestand das letzte Lied der Platte auch aus einem Nichts von ein paar Minuten – ein Gag, sicherlich, doch trotzdem die selbe Reduktion wie bei Cage, schließlich beendet durch das Klacken der Plattenspielermechanik, die den Zuhörer, der während des „Nichts“ den eigenen Gedanken nachhing, in die „Wirklichkeit“ zurückholte. Doch wer weiß, vielleicht hat die Band durchaus einen Titel eingespielt, dann aber alle Regler auf Null gestellt bei Erstellung des Masterbandes – so wäre „nur“ unsere Wahrnehmungsschwelle unterschritten. Und wenn man dann noch wüßte, daß da tatsächlich ein Titel da ist, der nur nicht zu hören ist … Der Mensch kann Nichts und Leere eben weder aushalten noch denken, so wenig wie er ein Alles denken kann. Er muß füllen oder reduzieren, damit ein menschliches Maß entsteht.
    Eines der faszinierendsten (und völlig unbekannten) Kunstwerke habe ich einmal im damals noch bestehenden Ostwall-Museum in Dortmund gesehen – ein großer, hohler Würfel, der aus nach innen gerichteten Spiegeln bestand, Reduktion auf ein dunkles Nichts und zugleich die Idee des gegenseitigen, unendlichen Spiegelns des Nichts.
    Das Stichwort Reduktion war mir schon als Kind geläufig, denn wie oft habe ich nicht den Spruch gehört „Mach mal die Augen zu, dann siehst Du, was Dir gehört“ – und welch eine Welt tut sich einem auf, schließt man die Augen, Phantasie natürlich vorausgesetzt!

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