Die wohlgefällige Interessenlosigkeit

Zugegeben, es fällt mir nicht leicht, den Sinn, das Gewicht, den Gehalt und die tiefere Bedeutung von Literatur heutigentags einzuschätzen. Zum einen hat die engagierte Literatur sartrescher Ausprägung hierzulande, in den sogenannten westlichen Gesellschaften, sicher längst ausgedient, weil die Botschaften gleichwelcher Art nun von überallher längst wohlfeil zu bekommen sind, ob man will oder nicht – sie schallen aus allen medialen Kanälen, verbeißen sich gemeinhin in ein totes Stück Aufmerksamkeit, bleiben eine Weile vor Ort und verenden schließlich, so inhalts- und bedeutungsreich sie auch sein mögen. Andererseits hat jedwede Literatur auch schon ohne ausgesprochene Botschaft Inhalt, aus dem einfachen Grunde, weil mit Worten letztlich eben nicht alles adäquat zu bezeichnen ist und sich beim Lesen also etwas über das in Worten Gesetzte hinaus einstellt, sei es Unverständnis, Unbehagen oder auch Einsicht, Wissbegierde, Lust, Laune, träumerische Seligkeit, Bilderwelten. Was auch immer.

Um der Frage nachzugehen, was Literatur gegenwärtig ist und sein kann, sein könnte, sollte man, zumindest meiner bescheidenen Ansicht nach, sie nunmehr als eine Art Reduktion in unserer schönen neuen Welt wahrnehmen – denn wird nicht unablässig geredet, gequatscht, palavert, getratscht, geklönt und, mit oder ohne ein Gegenüber, monologisiert? Werden nicht unablässig Filme und TV-Serien gesendet auf jedem nur denkbaren Niveau und in alle nur möglichen Empfangsgeräte hinein? Sind nicht alle Arten von Schicksal und das allgegenwärtige Morden und Mordaufklären und das Sichverlieben und Sichtrennen und was sonst alles noch als eine Erzählung dauerhaft greifbar? Selbst auch in der Werbung wird nicht selten etwas erzählt, eine kleine Geschichte von Menschen, die Träume haben und sich diese, mittels einer Ware, eines Gegenstandes, erfüllen. Die Nachrichten bilden demgegenüber meist die andere Seite der Medaille ab, die geplatzten Träume nämlich. Gemeinsam aber haben all diese Arten des Erzählens in bewegten Bildern und gesprochenen Worten, dass sie einen unveränderbaren Rhythmus haben, einen unveränderbaren Sound, ein unveränderbares Gesicht, auch wenn es Versuche gibt, dieses Bestimmtwerden des Zuschauers durch eben diesen selbst wieder veränderbar zu machen, ihn Einfluss nehmen lassen zu können auf das Geschehen in einer Geschichte – was der Zuschauer aber bisher nicht zu wollen scheint. (Ausgenommen der Bereich Computerspiele.)

Wenn das nun alles der Fall ist, muss demgegenüber dann nicht, frage ich, auch das wortreichste Werk der Literatur, die längste Erzählung, wie eine Ruhezone aus präzise gesetzten, stillen Worte wirken, wie eine Hingabe an die Sprache selbst erscheinen, die erst vom Leser in ein mitunter nur vages Sein erhoben wird? Ein Aufatmen, ein Rückzug in die eigene und zugleich in die Welt des Autors, der Autorin, ohne dabei der Welt als solcher auch nur im geringsten verlustig zu gehen? Ist Lesen somit ein Sein in einem Wohlgefallen, weil der Mensch so dem dauernden medialen Gewittersturm ein Schnippchen schlagen kann, teilhaben kann, ohne vom ganzen Außen gelenkt, geleitet und vermeintlich beglückt zu werden? Ja, so, denke ich, lässt sich das durchaus sagen.

Leseecke, analog. Norbert W. Schlinkert

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