Zum Vortrag, der dann schlussendlich am 14.09.2015 gehalten wurde! => => =>
Ich werde am 14. September einen Vortrag über Heinrich Schirmbecks Roman Ärgert dich dein rechtes Auge (1957, Neuauflage 2005) halten, und zwar in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt („Ärgert dich dein rechtes Auge“, Schirmbecks Roman im Blick der Vergangenheit und Zukunft. ULB, Vortragssaal (UG 1), 20:00 Uhr)
Dazu fortlaufend einige erste Notizen, alles mitunter noch etwas durcheinander, zu kompliziert oder zu unpräzise oder was auch immer – work in progress also …
I) Heinrich Schirmbeck, das lässt sich ohne weiteres sagen, muss eine hohe Meinung von seiner Leserschaft gehabt haben, denn imgrunde ließe sich eine ganze Vortragsreihe zu den mannigfachen Themen seines 1957 erschienenen Romans Ärgert dich dein rechtes Auge gestalten – es ist nicht übertrieben, die umfangreiche Schrift thematisch als durchaus überkomplex zu bezeichnen, eine Komplexität, die den Leser fordert. Der von Arno Schmidt so genannte geübte Leser ist hier also in seinem Element. So will ich die Handlung als solche, den Plot hier auch weitgehend vernachlässigen, vor allem da der Autor sich dazu entschieden hat, seine Figuren nicht poetisch, sondern normativ auszuführen, auch der Ich-Erzähler Thomas Grey ist ein „Mann ohne Eigenschaften“, wie ihn Musil in seinem gleichnamigen Roman ausführt. Gerald Funk hat in einem Essay zum 90. Geburtstag Heinrich Schirmbecks die Handlung des Romans folgendermaßen und wie ich denke ausreichend zusammengefasst: Der Autor, so also Funk, „erzählt die Lebensgeschichte eines Physikers, der, aus der dekadenten Atmosphäre großbürgerlicher Kaufleute in der Provinz Frankreichs stammend, in das von Intrigen, politischen und geheimdienstlichen Machtkämpfen brodelnde Paris der Jahrhundertmitte gerät, dort als Wissenschaftler mit der künstlerischen Boheme Kontakte knüpft, schließlich von einem Strudel mysteriöser Ereignisse mitgerissen wird und Landesverrat begeht.“
Ich möchte mich also eher den Themen des Romans zuwenden als den Handlungsinhalten, auch wenn jedes Herausschälen, jedes Herausgreifen einzelner Themen bzw. einzelner Themenkomplexe wie eine Beschädigung des Gesamtbildes wirken muss, eine Beschädigung dieser negativen Utopie einer womöglich untergehenden, sich am Abgrund befindlichen Welt. Heute, im Jahre 2015, dem Jahr, in dem Heinrich Schirmbeck hundert Jahre alt geworden wäre und 58 Jahre nach Erscheinen des Romans, ist diese Welt noch immer nicht untergegangen, doch natürlich kann man auch heute sagen, sie ist durchaus im Begriff, dies zu tun, obgleich nach wie vor selbstverständlich ein jeder Mensch, wie Spinoza dies ausdrückte, grundsätzlich im Sein verharren will (Die Ethik, III, Lehrsatz 6), und zwar in einer immer als existenzbedrohend empfundenen Welt, die Furcht auszulösen vermag. Furcht nun ist nach Sören Kierkegaard tatsächlich die Furcht vor dem Wesen der Welt, die mich als Mensch zu vernichten imstande ist, während hingegen die Angst die Angst vor mir selbst ist, nämlich mich, statt zu fallen, quasi selbst willkürlich-unwillkürlich in den Abgrund zu stürzen. Letzteres ist eine, wenn man so will, zeittypische Psychose des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, damals gemeinhin erklärt mit einem kurzen Kontrollverlust durch eine Einflüsterung des Teufels, eben dies doch tun, den Schritt in den Abgrund zu vollziehen, sich vor eine Kutsche oder ins Feuer zu werfen, wie auch immer, weil man es kraft seines freien Willens kann. Diese kurze Auflösung des lebenserhaltenden Gleichgewichts schleuderte den armen Sünder in der Folge schnurstracks in die Hölle – so der Glaube der Zeit. Der Mensch hatte also allen Grund, sich selbst zu misstrauen und allen Grund, Gott und nicht dem Teufel zu dienen, was nicht zuletzt ordnungspolitisch wichtig war – Gott als Mittel zum Zweck. Der Weltuntergang als solcher, der Sturz aller, wurde hingegen zwar immer als Folge des sündhaften Tun gedeutet, doch wurde dieses Auslöschen der Welt nicht als vom Menschen, sondern letztlich als von Gott vollzogen gedacht. Heinrich Schirmbeck nimmt in seinem Roman nun Gott zwar nicht ganz aus dem Spiel, denn er ist ja immer noch der Gegenpart des Teufels, die Macht und die Möglichkeit aber der Weltvernichtung trägt er den Menschen an, genauer gesagt denjenigen Einzelnen, die die technischen Möglichkeiten dazu schaffen, und denen, die diese Möglichkeiten anwenden können oder könnten in einem kurzen Augenblick der Auflösung des lebenserhaltenden Gleichgewichts, so wie dies Jahrhunderte zuvor den armen Selbstmördern geschah. Wenn der Roman nun also ein Hauptthema hat, dann das des möglichen Selbstmordes der Menschheit, bedingt durch die faktische Abschaffung einer freiheitlichen Demokratie, dem Absinken der westlichen Welt in eine Diktatur ähnlich der in den Ländern des Ostens, verbunden mit der weltweiten Verbreitung von Atomwaffen, die letztlich aus den Händen der Wissenschaftler, vor allem der Physiker stammen, welche sich nicht zu wehren wissen gegen die Forderungen der „Politik“. In seinem Essayband Die Formel und die Sinnlichkeit. Bausteine zu einer Poetik im Atomzeitalter von 1964 schreibt Schirmbeck „Der Einzelne und das Atom ist ein Gleichnis auf unsere Zeit“ – und eben dies findet sich im Roman also als eine Kernthematik, als die der Spaltung, nämlich sowohl des Atoms wie auch der der Persönlichkeit ………………
Mögliche Stichworte für Weiteres: Kybernetik, Pascals Rechenmaschine, Dualismus, Spaltung, Teufel, Leukotomie/Lobotomie, Mensch-Maschine, Licht als Welle und Teilchen, Teilchenbeschleunigung, Unschärferelation, Werbung, Propaganda, Psychoanalyse, Boheme, L’art pour l’art, das Absurde, Existentialismus, Feminismus, Mechanopathie, Tanz, Eros, Suizid, Todesstrafe, Spionage, Gleichgewicht der Kräfte …
Ich gestehe, noch keine Zeile von Schirmbeck gelesen zu haben, aber als gebürtiger Darmstädter liegt mir das Schicksal dieser Stadt natürlich sehr am Herzen, und da trifft es sich doch wunderbar, dass Sie der „Stadt der Künste“ – so nennt sie sich, nicht ganz zu unrecht, selbst – in Sachen Schirmbeck ein wenig auf die Sprünge helfen werden. Viel Glück für den Vortrag!
Ich würde mal annehmen, dass ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt bin, der im Moment Heinrich Schirmbecks Roman liest – das Vergessenwerden ist ja leider das Schicksal vieler Bücher, so bekannt sie auch einmal gewesen sein mögen. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja durch das Jubiläumsjahr neuen Schub, auch für die anderen Schriften. Schön wär’s!