„Bin doch schon bei meiner Lebzeit gestolpert mitten im Höllenritt“ – Peter Baums Novellen

Peter Baum: Im alten Schloß. Novellen. Mit einem Essay herausgegeben von Martin A. Völker

Rezensiert von Norbert W. Schlinkert

Der Novellenband Im alten Schloß von Peter Baum (1869–1916) erschien 1908 in Berlin bei Paul Cassirer. Die sechs Novellen, nun im Elsinor Verlag neu herausgegeben von Martin A. Völker, bieten dem heutigen Leser einen tiefen Einblick in die düstere und abgründige Gedankenwelt des literarischen Frühexpressionismus.

Bereits in der titelgebenden ersten Novelle tauchen nahezu all die Motive auf, denen Peter Baum sich widmet. In Im alten Schloß fügt er eine kurze Rahmenhandlung einem sehr alten, auf dem Dachboden des Schlosses gefundenen Manuskript eines unbekannten Vorbesitzers hinzu. Der neue Besitzer versenkt sich lesend in ihm. Es stammt aus einer Zeit lange vor der seines Großvaters, der das Schloss einst kaufte. Noch bevor der Auszug aus dem Manuskript präsentiert wird, ist die Quintessenz deutlich vermerkt. „Wir mögen“, so heißt es, „das Edelste oder das Schlechteste tun, es wird in der Ewigkeit keine Wimpernbewegung sein“ (S.7), ja über den Lesenden kommt gar die „Sehnsucht, etwas zu begehen, Frevel, bei denen wir aufschreien vor Entsetzen. Damit in der Zeit doch etwas empfunden wird.“ (ebd.) Denn auch, so heißt es weiter, „das Böse stirbt. Aber es ist doch ein Schrei über der Ewigkeit, den Gott hören sollte.“ (S.8) Peter Baum legt in erzählender Form dar, was (der zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark diskutierte) Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches betont, dass nämlich der Mensch weder für seine Taten noch für sein Wesen verantwortlich ist und Richten und Über-sich-selbst-Richten soviel als ungerecht sei, eben deswegen, weil der Mensch sich zwar für frei hält, nicht aber frei sei.[1]

Der Kern der Novelle besteht schließlich aus einer Art eigener Lebensbeschreibung im Stile des frühen 18. Jahrhunderts. Die Vergangenheit des mit „abgezwackten Füßen“ (siehe S.8, S.14) vor sich hin lebenden Schlossherren wird dem Leser ohne jede Beschönigung vor Augen geführt, seine rücksichtslose Wollust, sein Jähzorn, die Vergewaltigungen, Misshandlungen und Morde, vor allem aber auch sein zwiespältiger Glaube an Gott. So heißt es, er begreife leicht, „daß wir selbst Gott seien und er ohne mich keinen Nu leben könne. Das wird ihn aber nicht hindern, uns in den tiefsten Höllenpfuhl zu werfen.“ (S.9) Zugleich aber glaubt er an den Teufel als den „Fürsten des Erdkerns“, als „Saatkorn der ewigen Qual.“ (S.14) Zudem spielen seine bereits in der frühen Jugend ausgelebten sexuellen Obsessionen eine wichtige Rolle, und auch dieses Motiv findet sich in den weiteren Novellen des Bandes wieder, offen oder verklausuliert. In Erlösung der geistig Armen (die einzige Novelle, die ganz in der ersten Person Singular verfasst ist) erinnert sich der Ich-Erzähler etwa an seine erste, unglückliche Liebe in jungen Jahren und an die lustvolle Annäherung auf eben jenem Friedhof, auf dem der Vater des Mädchens begraben liegt. Selbst schon die ganz jungen Menschen sind nicht glücklich in der Welt, die Peter Baum beschreibt.

Peter Baum gestaltet seine Novellen in einer metaphernreichen, kraftvollen, zugleich aber auch abgründigen Sprache, die dem Leser keinerlei Sicherheit oder Ruhepunkte bietet und ihn so geradezu zwingt, intensiv lesend sich einzulassen und auf jedes Wort, jede Wendung und selbst jeden Gedankenstrich zu achten. Vieles bleibt widersprüchlich und unfassbar, weil die Figuren in sich zerrissen sind und an Seele und Körper, an ihren Taten, Gedanken und Gelüsten leiden. Die sechs Novellen des Bandes sind insgesamt eine überaus lohnende Lektüre, durchaus nicht nur für die Liebhaber expressionistischer Literatur, sondern auch für all jene, die mehr als nur Unterhaltung von literarischen Werken erwarten. Der den Band abschließende, kenntnisreiche Essay Atome, Mehlstaub, Wolkenwölfe: Modernität und Krisis bei Peter Baum von Martin A. Völker bietet schließlich darüber hinaus einen tiefen und erhellenden Einblick in den kulturellen und literarischen Kontext, in dem Peter Baum als Schriftsteller wirkte.

Peter Baum / Martin A. Völker (Hrsg.): Im alten Schloß. Novellen. Elsinor Verlag. Coesfeld 2015, 112 Seiten, Taschenbuch, 12,80 € (ISBN 978-3-942788-25-0)

[1] Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York 1988. Band 2 (KSA 2). S.64.

Die Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Expressionismus, herausgegeben von Kristin Eichhorn und Johannes S. Lorenzen, Ausgabe 04/2016. ISBN 978-3-95808-114-7. S.140-141.

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