Immer wenn ich einen Kulturpessimisten sehen wollte, stellte ich mich vor den Spiegel. Meistens sah er mich nur an, der Kulturpessimist, bis ich aufgab und wegguckte. Ich weiß, was Du denkst, dachte ich jedesmal, aber das half mir dann auch nicht weiter. Einmal aber guckte ich nicht weg. „Unter der dünnen Schicht Zivilisationsschminke“, sagte ich, „scharrt doch die Barbarei mit den Hufen.“ Er guckte mich verächtlich an, als wäre er völlig anderer Meinung, drehte mir seine Hinteransicht zu und ging einfach weg. Das kann er doch nicht machen, dachte ich. Kurzentschlossen folgte ich ihm, ich sprang einfach in den Spiegel hinein, rollte mich gekonnt ab und lief ihm hinterher, packte ihn an der Schulter und riss ihn herum. Er grinste mich an. „Reingetappt!“, sagte er, machte sich mit einem Ruck los und ging seiner Wege. Ich aber war hinter den Spiegel geraten, das wurde mir erst jetzt richtig klar. „Verdammt!“, rief ich verdruckst in mich hinein. Ich sah mich um. Ich befand mich in einer Location in Berlin-Mitte, wie es aussah, überall lümmelten schicke Kulturschickeristen herum, tranken angesagte Getränke aus Pfanddosen, schleckten das beste Eis der Stadt von glutenfreien Hörnchen, pusteten nach Minze duftende, nikotinfreie Wasserwölkchen aus ihren wie kubanische Zigarren aussehenden E-Zigaretten teils selbst gezeugten Kindern mitten ins fröhliche Gesicht, präsentierten ihre Tätowierungen mittels extra zu diesem Zwecks in den Designerklamotten gelassenen Löchern, bewunderten sich selbst in den rundherum angebrachten Spiegeln, wiesen wie besoffen immer wieder mit aufgestülpten Lippen schwer nickend auf die wahrscheinlich mit speziellem Klebeband auf die Spiegel geklebten Plakate, … oha, dachte ich, was mochten diese wohl bedeuten? Schwungvoll trat ich näher heran. Blumen sind schön, las ich, Wählen gehen auch. Ein Foto von der Sorte Nicht-der-Rede-wert zeigt eine Blume, Wasser, Schiff und Berge, ich trat noch näher heran und, aha, im Kleingedruckten stand es, darum geht es also, dachte ich, zum Wählengehen am 24. September des Jahres 2017 wird hier aufgerufen, Bundestagswahl! Und es wird voll durchgeduzt, ergo ist die Jugend gemeint. „Geht wählen“, schallt es also von all den Plakaten, „wählt!, aber um der Gottheiten willen nicht die AfD!“ Ein weiteres Plakat der gleichen Sorte zeigt Menschen in einer angesagten Location, die angesagte Getränke aus Pfanddosen trinken und sicher irgendwo das beste Eis der Stadt von glutenfreien Hörnchen schlecken, naja, und so weiter, Sie wissen schon. Mannomann, dachte ich, da wird die Jugend es angesichts dieser Plakate aber schön bleiben lassen, die AfD zu wählen, denn schließlich kommt diese allerbestens gemeinte Aufforderung in der für die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne genau richtigen Länge, Breite, Höhe und Größe daher, ist nicht weiter kompliziert und außerdem von eben den Menschen aus eben den Kreisen verfasst, in die doch alle Jugend hinein will. Feiern gehen, pastellfarbene Plakate angucken, angesagte Locations besuchen, das beste Eis der Stadt schlecken und so weiter. Welch herrliche Aussichten! Geht wählen! Und da rede noch einer von Kulturpessimismus, donnerwetternocheins!
Tillmans Wahl-Werbung!
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