Wie ich Schriftsteller wurde

Als Kind verbrachte ich eine Woche damit herauszufinden, ob ich an Gott glauben könne. Nach Ablauf der angesetzten sieben Tage war die Sache für mich erledigt, denn gäbe es, so dachte ich, einen Gott, an den zu glauben wäre, so würde er sich doch wohl gemeldet haben. Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein. Die mich umgebende Welt der Erwachsenen war mir derweil übrigens weitgehend unverständlich. Genau genommen ging ich davon aus, all die großen Menschen müssten mehr oder weniger dumm sein, denn meine häufigen Fragen, sei es nun bezüglich eines Gottes oder wo denn all die Vergangenheit geblieben sei, das Leben vor mir, von dem ja zum Beispiel ältere Häuser, Kirchen, Straßen und große Bäume zeugten, blieben entweder gänzlich unbeantwortet oder wurden mit den gängigen Stereotypen abgetan. Natürlich kannte ich damals das Wort Stereotyp noch nicht, doch glauben Sie mir, ich habe dieses automatisch Dahingesagte schwer am eigenen Leibe erlitten, denn Sätze dieser Art dringen erbarmungslos in die Ohren des unschuldigen Kindes ein und verursachen eine Bitterkeit, die sich nicht nur vom Hirn aus bis in die Zehenspitzen ausbreitet, sondern sich auch im Gemüt festsetzt, einnistet. Ein jedes Mal, wenn etwa der Satz „das verstehst du noch nicht“ fiel und ich hätte denken, ja hätte sagen müssen, „aber eben deswegen frage ich doch“, durchfuhr mich eben diese Bitterkeit, gepaart mit der erwähnten Erkenntnis, wie dumm doch diese Leute alle sind. Dementsprechend fruchteten Versuche, mir so etwas wie Intelligenz, Sachverstand und Bildung vorzuspielen immer weniger, selbst Lehrer verrieten sich, indem sie mich nicht verstanden und stattdessen auf irgendetwas verwiesen oder zeigten, auf Texte, Bilder, Landkarten oder was auch immer. Hatte ich Gott noch eine Frist von sieben Tagen gewährt, sich mir zu erkennen zu geben, so gab ich den Sterblichen um mich herum immer öfter nicht mehr als ein paar Augenblicke, mich davon zu überzeugen, dass sie mir, wie es den Jahren nach hätte sein müssen, voraus sind. Es gelang keinem einzigen von ihnen, das sei gesagt, auch wenn ich nicht den Stab über sie brach. Das wäre ungerecht gewesen. Die an meine Zeitgenossen gerichtete Fragerei als solche gab ich indes, den Umständen entsprechend, nach und nach weitgehend auf, und heute frage ich sogar überhaupt nicht mehr, denn natürlich kann ich mir erstens alle möglichen Antworten selber ausdenken, und zweitens werde ich selbst gerne gefragt, was mich in die Lage versetzt eben das zu tun, was ich gerne tue, zu antworten nämlich. Genau genommen warte ich nicht einmal mehr auf die ganze Fragerei, sondern frage mich ganz einfach selbst, um mir dann, ganz meinem eigenen Wissensdurst hingegeben, in vorauseilendem Eifer selbst zu antworten. Und da ja nun jede Antwort wieder Fragen nach sich zieht, sie aufwirft, geradezu aufwühlt wie das Wildschein den Kartoffelacker, komme ich überhaupt gar nicht mehr aus dem Antworten, dem Erzählen heraus. Antwort folgt auf Frage und Frage auf Antwort. So also, Welt!, wurde ich, kurz gesagt, Schriftsteller, was noch immer, keine Frage, der schönste Beruf der Welt ist.

Norbert W. Schlinkert, Alexander Graeff, 22.05.2016 in der Brotfabrik, Berlin Weißensee

 

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