Norbert W. Schlinkert: Der Zerbrochene (Kurzgeschichte)

Der Richter stellte die Frage noch einmal, etwas lauter diesmal. Doch der Mann dort unten wand sich weiter in Krämpfen, presste die Hände an den Kopf und riss immer wieder den Mund auf, so als wolle er schreien. Der Richter machte dem Wachtmeister ein Zeichen. Als der Arzt endlich erschien, ein schier unmöglicher Mensch, war der Angeklagte aber schon wieder ruhig und saß stattdessen still und gefasst und mit geschlossenen Augen aufrecht da, die Hände reglos im Schoß. Er spürte sein Herz schlagen, kawumm, kawumm machte es, aber nein, wirklich, nein, sagte er sich, der Schmerz sitzt im Kopf, das Herz ist ganz schuldlos daran. Auf einen Wink des Richters hin ließ sich der Arzt unwillig auf die dem Angeklagten nächste der Zuschauerbänke fallen, die ansonsten ganz leer waren. Der Arztkoffer krachte zu Boden. War der Saal nicht eben noch voll gewesen, bis auf den letzten Platz besetzt, voll auch mit Getuschel, Hüsteln, Schnauben, Lachen und Poltern? Der Angeklagte öffnete die Augen. Die große, runde Lampe aus milchigem Glas, hoch an der Wand, flackerte noch immer, darunter das über der roten Robe ganz klein wirkende Gesicht des Richters. Mild blickte der jetzt hinunter in den Saal, räusperte sich und legte den Kopf ein wenig schief.

– „Nun“, fragte er also wieder, „warum haben Sie das letzte Angebot Ihrer Hausbank nicht angenommen, um so die Insolvenz zu vermeiden?“

Der Arzt begann mit den Fingern auf der Armlehne eine Art Melodie zu trommeln. Der Angeklagte sah zum Richter hinauf und blinzelte ihn an, ohne etwas zu sagen. War denn da überhaupt, dachte er, etwas zu vermeiden gewesen und nicht schon längst alles entschieden? Ohne dass er überhaupt gefragt worden wäre oder hätte etwas tun können?

– „Das ist“, zischte ihm der Arzt in den Nacken, „aus der Symphonie Fantastique von Hector Berlioz. Das kennen Sie sicher.“

– „Nun?“, fragte der Richter.

– „Sie wissen schon, der 4. Satz, der Gang zum Schafott.“

– „Nun?“

Man hat diese Lampe dort, denkt er, statt zu antworten, an eben der Stelle angebracht, wo zuvor das Kreuz gehangen hatte! Jahrzehntelang. Links und rechts und unten sieht man es noch, die noch hellen Stellen im Graugelb der Wand. Von der Decke her hat man über Putz, in einem weißen Plastikrohr, ein Elektrokabel verlegt. Ein von der Wand nach so langer Zeit abgenommenes Kreuz bleibt ja sichtbar, denkt er, die ganze Wand muss neu gestrichen werden, will man das unsichtbar machen. Muss mehrmals gestrichen werden! Eine Lampe ist billiger. Das spart Geld.

– „Mein Mandant möchte auf diese Frage im Augenblick nicht antworten“, hörte er sagen.

Sagte also jemand bei einer Aussage, fiel ihm ein, grad eben, als sein Verteidiger ihm väterlich die Hand auf die linke Schulter legte, sagt also hier im Gerichtssaal jemand „So wahr mir Gott helfe“, so ist da immer dieses Kreuz gewesen, jahrzehntelang, dort, wo jetzt die Lampe ist, die flackert. Jeder, der diesen Satz sagte oder auch nur dachte, wer weiß, vielleicht zum ersten Mal im Leben, blickte auf zu diesem Kreuz, ein ihm bis dahin ganz fremdes Ding womöglich.

Der Arzt begann die Melodie des 4. Satzes zu summen und ließ weiter die Finger tanzen.

– „Kennen Sie sicher“, flüsterte er scharf.

– „Nun gut“, sagte der Richter, „aber vielleicht nehmen Sie Stellung zu der Frage, warum Sie ausgesagt haben, von der Bankfiliale nach Hause gefahren zu sein, um Ihre Frau und Kinder zu ermorden!“

– „Einspruch“, rief der Verteidiger, „der Angeklagte hat ausgesagt, er habe seine Familie ermordet vorgefunden.“

– „Uns liegen, wie Sie wohl wissen, mehrere widersprüchliche Aussagen vor, die wir im Gesamtkontext zu bewerten haben, zunächst unabhängig vom Wahrheitsgehalt der einzelnen Aussagen.“

Der Arzt kicherte im Takt.

– „Die Staatsanwaltschaft“, brummte es von der Seite, „geht davon aus, dass der Angeklagte zunächst zu Protokoll gab, seine Familie ermordet und das Haus angezündet zu haben.“

Für einen Moment sagte niemand etwas und der Angeklagte machte sich auch nicht die Mühe, sich dem Staatsanwalt zuzuwenden. Stattdessen ließ er seinen Blick weiter auf der Lampe ruhen. Eine große, gewölbte Milchglasscheibe auf einer Blechfassung montiert, in der vage drei Röhren zu erkennen waren, hochkant, von denen eine, die mittlere, flackerte, kaum erkennbar bei hellem Tageslicht.

– „So wahr mir Gott helfe“, flüsterte er, „so wahr mir Gott helfe, so wahr mir Gott helfe.“

Der Richter winkte dem Wachtmeister, der einmal quer durch den Saal humpelte. Ob ihm nicht gut sei, ob er ein Glas Wasser wolle, wurde gefragt, und als er nicht antwortete, ging der Wachtmeister auf einen weiteren Wink des Richters hinaus.

Man wartete schweigend, nur der Arzt summte leise weiter die Melodie von Berlioz, bis endlich das Glas hereingetragen wurde. Wie eine Monstranz, so dachte der Angeklagte, als er die Hand ausstreckte, es entgegenzunehmen, und im jetzt plötzlich schräg in den Gerichtssaal fallenden Sonnenlicht erkannte er, dass das Wasser nicht ganz sauber war. Er nahm einen Schluck, voll Widerwillen, und stellte das Glas neben sich auf die helle Buchenholzbank, die ursprünglich hochglänzend lackiert gewesen sein musste, nun aber dort, wo die Angeklagten saßen, nur noch matt glänzte. Die Hosenböden der Angeklagten, dachte er, haben den Glanz zum Ermatten gebracht. Auch die Armlehnen waren matt, während unter ihnen, am Rand der Sitzfläche, eine Spur des alten Glanzes erhalten geblieben war.

– „Sind Sie in der Lage, weitere Fragen zu beantworten?“, hörte er den Richter sagen.

Sein Verteidiger stieß ihn leicht an.

– „Warum riefen Sie nicht die Polizei, nachdem Sie Ihre Familie ermordet vorgefunden haben wollen? Statt einige Stunden später die Polizeiwache aufzusuchen?“

– „Haben wollen, haben wollen“, kicherte der Arzt, hauchte ihm seinen heißen Atem in den Nacken und trommelte wieder auf der Armlehne herum.

Ja, warum bin ich nicht auf das Angebot der Bank eingegangen, dachte er, statt zu antworten. „Sie sind ein toter Mann“, hatte der Bankdirektor, zu ihm gesagt, fiel ihm ein, der sich persönlich hatte überzeugen wollen vom Unglück seines Kunden und urplötzlich aufgetaucht war an jenem entscheidenden Tag, als alle anderen schon fort waren und er allein durch die verwaisten Räume streifte.

– „Wenngleich natürlich nur in finanzieller Hinsicht, mein Lieber“, hatte der Direktor noch lächelnd hinzugesetzt, „aber das ist die Botschaft! Kein Geld, kein Leben. So sind, mein Gott, die Regeln, finden Sie sich damit ab! Wir als Bank gewinnen natürlich doppelt, so oder so, das entspricht dem System. Ich sage das rundheraus, mein Bester! Aber vielleicht kommen Sie doch noch einmal bei mir vorbei, womöglich habe ich noch ein letztes Angebot für Sie.“

Ein letztes Angebot! Und hatte der Kerl nicht sogar unter den Zuschauern gesessen? Dort, wo nun der Arzt saß, der jetzt leise vor sich hin pfiff.

Eine ganze Weile sagte niemand etwas, sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt machten sich Notizen. Das Wummern in seiner Brust verstärkte sich wieder, schlug ihm jetzt sogar schmerzhaft bis in den Hals, ja es schien ihm fast, als müsse man sein Herz deutlich sehen, wenn er nur den Mund weit genug öffnete, sehen, wie es in den Mundraum drängte, pulsierend, rot schimmernd, immer ein wenig mehr sich hinein- oder vielmehr aus dem Körper sich herausarbeitend, um schließlich den Mund völlig auszufüllen. Er bekam immer schlechter Luft. Der Richter sagte etwas, doch er hörte nichts außer seinem eigenen Atmen, wie gegen ein Ventil hatte er anzuatmen, ein wie auch immer verkehrt herum eingesetztes Ventil, dachte er. Verkehrt herum! Das Glas mit dem Wasser fiel zu Boden, es drehte sich, auf der Seite liegend, einige Male um sich selbst und lag dann still. Es glotzte ihn an. Er war zu Boden gesunken.

– „Ohnmacht?“, fragte einer, und da packte ihn auch schon jemand unter die Achseln, so dass er mit einem Male zwei kräftige Fäuste vor seinem Gesicht hatte, geballt und zu allem bereit. Ein anderer hatte seine Füße ergriffen, vielmehr seine Fersen, so dass ihn nun diese beiden, der Jemand, von dem er nur die Fäuste sah, und der Andere, von dem er nichts sah, in der Schwebe hielten.

– „So wahr mir Gott helfe“, sagte er leise.

Um ihn herum wurde gesprochen. Ein Kichern war zu hören. Der Arzt? Er schloss die Augen. Aber, überlegte er, wie hilft denn Gott überhaupt? Wie spricht denn Gott zu demjenigen, der Hilfe benötigt? Was tut er, was sagt er? Welche Worte wählt er? Spricht er überhaupt, rät er, was zu tun ist, zu kämpfen, aufzugeben, die andere Wange hinzuhalten? Warum habe ich nie darüber nachgedacht und tue es erst jetzt, dachte er, angesichts eines Kreuzes in einem Gerichtssaal, das nicht einmal mehr vorhanden ist? Brachte ihm Gott also jetzt Hilfe, Rettung? Oder lähmte ihn das Nachdenken über Kreuz, Gott und Sprache nur? Hinderte ihn also eher, als dass es ihm nutzte? Warum musste denn Gott überhaupt helfen, wenn etwas wahr ist? Und hilft Gott nicht auch denen, die die Unwahrheit sagen?

Er öffnete die Augen. Man musste wohl beschlossen haben, ihn fortzutragen. Die Lampe, nun aus seinem Blickfeld verschwindend, flackerte noch immer weit oben an der Wand, er bekam noch immer keine Luft und seine Füße waren jetzt eiskalt. Er hob ein klein wenig den Kopf, auch wenn es ihn sehr anstrengte. Der Andere, der ihn an den Fersen trug und rückwärts ging statt vorwärts, fast so, als sei er daran gewöhnt und mache es regelmäßig, kam ihm durchaus bekannt vor, doch war es nicht etwa sein Verteidiger, keineswegs, und es war auch durchaus nicht der Richter, auf keinen Fall. Auch nicht der Arzt, nicht der Bankdirektor, nicht der Wachtmeister. Er ließ den Kopf wieder sinken. Noch immer schlug sein Herz dumpf und wie in Zeitlupe, er erkannte den Türrahmen aus Eiche und die zweiflügelige Tür, die er nur im Anschnitt sehen konnte, dann den Flur, die Tonnendecken, die weißen, erleuchteten Kugellampen, in denen tote Insekten den unteren Bereich grau und schmutzig erscheinen ließen. Auch als es eine große und breite Treppe hinunterging, er konnte sich nicht erinnern, sie hinaufgegangen zu sein, und er den immer noch rückwärtsgehenden Anderen besser sehen konnte, wollte ihm nicht einfallen, wer dieser Andere nur sein könnte. Ein Tropfen fiel auf seine Stirn und lief ihm die Nase hinab in den Mund. Auch der Andere schwitzte jetzt, sah er. Doch schon hatten sie die Treppe bewältigt und waren im Freien, nun ging es ebenerdig weiter. Er erkannte einen blauen, hohen Himmel. In großer Höhe waren Vögel zu sehen. Keine Wolken. Kies knirschte unter den Schuhen, sie schritten voran, wie Soldaten, im Gleichschritt, nur dass Soldaten nicht rückwärts marschierten, wie der Andere es tat. Er hörte sie keuchen und er spürte, dass sie sich ansahen und sich gegenseitig Mut machten, nur mit den Augen. Der Jemand hinter ihm fasste jetzt nach, indem er ihn kurz nach oben stieß und die Fäuste neu ballte, was den Anderen aus dem Tritt zu bringen schien, jedoch nur kurz. Baumkronen waren zu sehen, die Schritte aber nicht mehr zu hören, so als liefen sie auf Gras. Nur ein leichtes Keuchen war noch zu vernehmen, ein kurzes Hüsteln, ein pfeifendes Atmen, mehr nicht. Auch sie bekamen schlecht Luft, wenngleich nicht in dem Maße wie er selbst. Der Andere musste nun mit der Sohle eine Tür aufgestoßen haben, sicher eine Metalltür, die in ihren Angeln quietschte, eine Pendeltür. Eine weitere Tür folgte, ein Türrahmen aus Metall, kaltes Licht in einem großen Raum mit hoher Decke. Die Tür fiel leise ins Schloss.

Der Raum war kühl, und irgendwo tropft sicher ein Wasserhahn, dachte er, wenn auch nichts zu hören war außer den jetzt schlurfenden Schritten. Er wandte noch einmal alle Kraft auf, den Kopf ein wenig zu heben, um den Anderen noch einmal anzusehen, doch im selben Moment stieß man ihn zur Seite. Er spürte die harte Unterlage, auf der er nun lag. Kein Zweifel möglich, er lag wieder, diesmal aber nicht auf dem Boden, wie im Gerichtssaal, er lag höher, auf einer schmalen Pritsche womöglich, über ihm die weiße Decke. Wenn er jetzt nur den Kopf ein wenig drehen könnte, das musste gelingen, es war deutlich leichter, als ihn zu heben, so viel Kraft sollte er noch aufbringen, unbedingt, dann könnte er nochmals einen Blick werfen auf den Anderen und, zum ersten Mal, auf den Jemand. Es gelang ihm. Der Jemand, der ihn unter die Achseln gefasst und so getragen hatte, war ohne Zweifel sein Verteidiger. Er schwitzte, der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er atmete schwer und blickte ernst auf ihn hinunter. Der Andere aber, mit vor der Brust verschränkten Armen dastehend, wirkte keineswegs ernst, im Gegenteil, er schien zufrieden und lächelte vor sich hin. Wer nur mochte er sein? Plötzlich aber nickten beide sich wortlos zu und schoben die Lade, auf der er lag, mit Schwung in die Tiefe der Wand, eine dunkle, schmale Kammer. Ein Klicken noch, dann Dunkelheit, tiefe Stille und eisige Kälte. Sie sind ein toter Mann, dachte er, hatte der Bankdirektor gesagt, so wahr mir Gott helfe, dachte er, so wahr mir Gott helfe, und da war auch schon wieder dieses Kichern hinter ihm und das Trommeln der Finger auf der Armlehne. Er saß auf der Bank und die Lampe flackerte. Alle sahen ihn an.

– „Sie haben der Polizei gegenüber unter anderem angegeben“, sagte der Richter, „Ihre Frau und Ihre Kinder ermordet in Ihrem Haus vorgefunden und dieses in Brand gesetzt zu haben. Was haben Sie damit beabsichtigt?“

Beeinflusst denn, dachte er, statt auf die Frage zu antworten, ein Kreuz an der Wand die Wahrheitsfindung?

Der Richter machte dem Verteidiger ein Zeichen, dass er nicht jedes Mal darauf hinweisen müsse, wenn der Angeklagte sich nicht äußern wolle.

– „Nun“, sagte der Richter, sich räuspernd, „dann nochmals die andere Frage: Warum haben Sie das Angebot der Bank nicht angenommen, um so die Insolvenz zu vermeiden?“

– „Das ist“, hörte der Angeklagte den Arzt wieder leise sagen, er neigte sogar den Kopf zu ihm hin, „aus der Symphonie Fantastique von Hector Berlioz. Sie wissen schon, der 4. Satz, der Gang zum Schafott.“

– „Und noch einmal: Warum haben Sie“, fuhr der Richter jetzt ungeduldig fort, „bei der Polizei angegeben, Frau und Kinder ermordet und Ihr Haus angezündet zu haben? Sie haben weder Frau noch Kinder noch besitzen Sie ein Haus!“

Die Lampe hoch an der Wand flackerte.

Stille.

– „Ich hätte gerne“, sagte er dann endlich, „etwas zu verlieren gehabt. Wie dieser Kerl aus der Bibel.“

– „Hiob“, brummte der Staatsanwalt.

– „Ja, Hiob“, sagte er, „der hat etwas zu verlieren gehabt! Und zu gewinnen! Nicht wahr?“

Norbert W. Schlinkert: Am Gardasee, 2017

© Norbert W. Schlinkert 2017 – Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor
PS: Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass der Zerbrochene eine andere Version des Anderen ist!

 

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