Romananfänge ohne Ende I

Ob nun eine Geschichte in Tritt kommt, die Figuren sich verlebendigen, die Orte sich gleichsam materialisieren – oder eben nicht, das zeigt sich (mir) während des Schreibvorgangs. Vorherige Textplanung findet kaum statt. Mancher Anfang bleibt dabei nun in sich selbst stecken, muss deswegen aber noch lange nicht schlecht oder falsch oder misslungen sein, nur weiter geht es eben nicht – wenn wider Erwarten dann doch noch, erfahren Sie es als erste.
Hier ist ein solcher Anfang:

Weiersbach von Weiersbach

Ich wage es, von mir zu schreiben. Über mich. In einem hohen Ton! Auch das wage ich. Ich bin, also erscheine ich. Wer das liest folgt mir bereits, und zwar nicht in diesem seltsamen Sinne der sogenannten sozialen Netzwerke, kein Hinterherschleichen, kein Hinterherhecheln, nein, wer das liest folgt mir unmittelbar. Ich führe. Es werden Zeiten kommen, in denen dieses unmittelbare, eigenständige, von Interesse geleitete Folgen, das Gefolge, als ein Wunder erkannt und auch als solches verkauft werden wird. Sollen sie es verkaufen, Markt ist immer, aber das ändert nichts am Wunder selbst. Ich brauche nur Ich zu schreiben, schon sind wir ein Herz und eine Seele. Ich hätte es allerdings nie, hören Sie: nie!, in Erwägung gezogen, weder Sie überhaupt mit Geschriebenem zu behelligen noch Ihnen wunderliche Weisheiten zu präsentieren, wäre nicht Außerordentliches mit mir und meiner kleinen Welt – klein im Vergleich zum Globus, zu unserem Sonnensystem und so weiter – geschehen. Alles begann damit, dass ich eines Tages, eines Morgens, der Kirschbaum unten im Hof trug erste Blüten, zwei Stare und ein paar Nebelkrähen hockten auf den Müllcontainern, der Wind pfiff scharf sein Liedchen, einen Entschluss fasste, der auf dem Begriff des Aufbruchs fußte. Sich aufbaute. Aus den Ruinen, geschickt mit Kulisse verhängt, meines Daseins sich erhob. Empor, immer empor! Pflichtschuldig nahm ich die Hände aus den Hosentaschen, stieg in die Stiefel und kletterte aus dem Fenster die Feuerleiter hinab. Den letzten Meter springe ich, die Krähen hoppen kurz in die Höhe – und die Geschichte beginnt.

Ich bin als Wigald von Weiersbach geboren, das „von“ habe ich an meinem achtzehnten Geburtstag auf dem Standesamt Weiersbach aus meinem Namen entfernen lassen. Der Beamte war kein Anderer als der Bruder meines Vaters, mein Onkel Walter von Weiersbach. Er sprach davon, dass ich mir da nun etwas aus den Rippen schneide. Er sagte es drei Mal. Seitdem spüre ich unter dem Herzen am Rippenbogen einen Schmerz, einen leichten, aber einen Schmerz. In mancher Nacht verfolgt mich das „von“, es will sich mit mir vereinigen, das weiß ich. Es ist eine Art Tier, ich spüre es in meinem Nacken, es schlüpft mir zwischen den Beinen hindurch, sehen kann ich es nie. Ich fühle es. Es bedroht mich. Meine ältere Schwester Athilde hat ihren Mann gezwungen, unseren Namen anzunehmen und sich vom Gemeindepfaffen im Weiersbach evangelisch taufen zu lassen. Nicht in, im Weiersbach! Zum Glück war es leidlich warm. Er gab ihr das Ja-Wort, sie ihm das „von“. Meine jüngere Schwester Mona, genau genommen ist sie meine Halbschwester, ist mit mir noch am ehesten solidarisch, sie ist vier Jahre jünger, aber auch sie nennt mich nach der Beschneidung der Namens nur noch Weiersbach. Ich heiße Weiersbach. Das habe ich mir später, in Berlin, als Künstlernamen in meinen Personalausweis einprägen lassen. Niemand tat eine Bemerkung. Weiersbach, das ist mein Name. Mein Vater starb während meiner Geburt. Ich bin der einzige Mann in unserer Familie, dem Blute nach, wie meine Mutter sagt.

Mein Stiefvater, ein geborener Schmelkmann, Werner jun., schweigt zu all dem. Er neigt ohnehin eher zu stereotypen Aussagen, repariert den alten grünen Landrover, wann immer der muckt, und kümmert sich auch sonst um alles Häusliche. Mona nennt ihn „den Schmelk“, „kann der Schmelk machen“, sagt sie oft, oder „wenn der Schmelk sich nicht kümmert, ich kümmere mich nicht“. Auch so Stereotype, möchte man meinen, und dabei ist Werner ihr richtiger, ihr biologischer Vater. Mona sagte einmal, der Schmelk hätte gerne bei ihrer Geburt sterben dürfen, Herzinfarkt oder so.

Mit achtzehneinhalb, direkt nach dem mit 3,7 bestandenen Abitur, bin ich weg von Weiersbach, weg vom „von“. Mona gab mir die Hand, machte einen Knicks, drehte sich um und verließ den Bahnsteig. Der Zug brachte mich in eine Stadt, ich sage nicht in welche, denn alle sind gleich heutigentags. Sie ist groß, trotzdem aber kann man in weniger als sechs, sieben Stunden quer hindurchgehen. Groß ist relativ. Die Stadt heißt Berlin. Jetzt habe ich es doch gesagt. In Berlin bin ich verschwunden. Die Krähen, die Krähen. Der Rest ist Schweigen.

© Norbert W. Schlinkert 2018 – Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor
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