Michail Bulgakow ist 1931 von Stalin und seinen Schergen längst mürbe und lebensmüde zensiert worden. Seine Prosatexte werden nicht gedruckt, Aufführungen seiner Theaterstücke werden in einem dauernden Hin und Her immer öfter nicht zugelassen. Die von Julie Curtis herausgegebene „Biographie in Briefen und Tagebüchern“, so der Untertitel von „Manuskripte brennen nicht“, bietet einen überaus spannenden Einblick in das Leben Bulgakows unter der Knute kommunistischer Diktatur. Darin enthalten ist ein Brief an Bulgakow vom 12. August 1931, in dem der russische Prosaiker und Literaturwissenschaftler Wikentij Weressajew dem Kollegen folgenden Rat gibt: „(…) Stellen Sie sich vor, einem Mann wird eröffnet: ‚Sie werden keine Kinder haben.‘ Darauf sagt er sich: ‚Wozu dann das Geschlechtsleben? Zum Teufel damit!‘ Und er gerät in eine schreckliche Lage: Die Gesundheit lässt nach, er ist gereizt, unbefriedigt, träumt von nackten Mädchen, seine Gedanken kreisen immer nur um denselben Punkt. Ist denn das Bedürfnis zu schreiben für einen Künstler schwächer als der Geschlechtstrieb? Kann er denn überhaupt, ohne daran zu zerbrechen, sich sagen: ‚Ich werde nicht gedruckt – wozu dann schreiben?‘ Das ist entschieden falsch.“ Soweit der gute Wikentij mit seinem Beispiel, das womöglich ein wenig hinkt, aber welches Beispiel täte das nicht.
Und damit zu dem heutigen Ausschnitt aus meinem Roman Ankerlichten, der durchaus gedruckt werden soll und werden wird, denn entstanden ist er ja bereits unter der immer latenten Gefahr, nicht gedruckt zu werden, wenn auch aus anderen Gründen als den oben genannten.
EMILIA
Emilia geht in einem großen Bogen um die mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Pfützen herum. Gestern hatte ihr eine Frau, die im Wald Brennholz sammelte, den Weg in diese Richtung gewiesen und gesagt, es sei nicht mehr weit. Auf die Frage, ob sie bei ihr übernachten könne, hatte sie geantwortet, sie habe zwei Söhne im Haus. Etwas in der Art hatte Emilia oft gehört, und wenn ihr auch der ein oder andere in den letzten Wochen seine Hilfe nicht versagt hatte, so war sie doch immer in Gefahr, des Nachts zu erfrieren, wenn niemand ihr Obdach bot, einer jungen, schwangeren Frau, die sich mitten im Winter von Ort zu Ort schleppte, oft ohne zu wissen, ob sie auf dem richtigen Weg ist. Zum Glück war sie gestern auf die halbverfallene Hütte eines Köhlers gestoßen. Sie hatte ihre letzten beiden Äpfel gegessen, war schließlich eingeschlafen und nach wenigen Stunden auch wieder aufgewacht, wofür sie Gott immer wieder dankte, selbst wenn es ihr noch so schlecht ging.
Warum nur war sie ohne ein Wort aus Breslau fortgegangen und hatte den weiten Weg nach Schwerte auf sich genommen? Der letztlich ausschlaggebende Grund war am Ende wohl der, dass ihr Heinrich immer öfter in den Sinn gekommen war. Wie er am Rockzipfel der Mutter hing, so hilflos und noch so klein, damals. Und da war sie einfach fortgegangen, von einem Moment zum anderen, nach Westen, der Straße nach, Richtung Dresden und Leipzig. Ihr Brot aber, das wurde ihr in den ersten Tagen klar, musste sie, wenn niemand mit einem christlichen Sinn ihr helfen wollte, auch durch Hurerei verdienen. Manch ein Wirt oder Kutscher war ganz und gar nicht bereit, ihr rein aus Nächstenliebe beizustehen. Nicht einer Hure, für die viele sie hielten. Allein und in Umständen. Wäre sie doch im acoluthschen Haus und bei Adam geblieben, so dachte sie oft, doch sie kehrte nicht um.
Gegen Abend lag, nachdem sie lange in einem Wald bergab gegangen war, Schwerte mit dem schiefen Turm von St. Viktor vor ihr, jenseits der Ruhr, kaum zu erkennen in der Dämmerung. Blass erschien der zunehmende Mond am Himmel. Sie überquerte die hölzerne Brücke und schleppte sich auf dem matschigen Weg zum Brücktor, das bereits geschlossen war, und dann einmal um die ganze Stadt. Vielleicht, dachte sie, habe ich Glück und jemand nimmt mich mit hinein. Zwei, drei Wagen rumpelten vorbei, kaum dass sie überhaupt beachtet wurde. Ein Kutscher hielt seine Laterne in ihre Richtung, sah sie kurz an, fuhr aber weiter. Sie würde also ohne fremde Hilfe eine Möglichkeit finden müssen, an einem der Torwächter vorbeizukommen. Wieder am Brücktor angekommen setzte sie sich schließlich völlig erschöpft auf die Treppe, die zum Weg hochführte. Der Mond beschien sie blass. Vielleicht würde sich der dritte Prediger ihrer erbarmen. Wenn es ihr doch nur gelingen würde, in die Stadt hineinzukommen. Schließlich stand sie auf und ging Richtung Hüsingtor. Ein Hund von beachtlicher Größe bellte sie an, doch Emilia hatte keine Angst, nicht vor einem Hund. Sie bemerkte es dann nicht einmal, als das Tier sich ihr zugesellte, ja sogar ihren müden Gang annahm.
Ein Wagen rollt langsam durch das Hüsingtor in die Stadt hinein. Der Torwächter, ein kleiner, dicklicher Mensch mit hochrotem Gesicht, nickt dem Kutscher zu. Als er Emilia sieht, sagt er laut seinen Spruch, Gesindel habe keinen Platz in Schwerte. Sie solle sich verfügen. Emilia geht zögernd ein paar Schritte rückwärts, der Hund aber trottet an ihr und dem Mann vorbei durch das Tor in die Stadt. Ob sie ihn nicht verstanden habe, brüllt der Torwächter, denn Emilia sagt nichts und tut nichts. Sie steht nur da. Schließlich stiefelt der Mann auf sie zu, packt sie am Arm und dreht sie um, als sei sie eine Puppe. So steht sie mit dem Rücken zur Stadt, vor ihr die in der Dunkelheit verschwindende Straße. Keinen Schritt mehr kann sie tun, das spürt sie, eine Wut ist in ihr, die in ihrer Kehle sitzt und hinaus will, sie zittert am ganzen Leib. Dann bricht sie zusammen. Als man sie auf einer Trage zur Kirche bringt, gilt sie bereits für tot. Den Medicus, so der Torwächter zu einigen Umstehenden, sollte man wohl nicht mit so einer belästigen, das sei eine Hure, das habe er sofort gesehen. Niemand beachtet den Mann.
Der dritte Prediger sieht lange das schlafende Mädchen an. Er hatte sie gleich erkannt. Seit drei Tagen liegt sie, kaum bei Bewusstsein und eingehüllt in alte Decken, in seiner bescheidenen Kammer in einem Haus in der Brückstraße, weswegen er selbst beim Müller übernachten muss. Niemand will sich um sie kümmern, nur seine Zugehfrau tut das Notwendigste, allein ihm zuliebe, wie sie sagt. Mit viel Mühe hatte er schließlich den Medicus, Sohn des kürzlich verstorbenen alten Arztes, beredet, sich das Mädchen wenigstens einmal anzusehen.
„In jedem Fall ist sie schwanger“, sagt er, vor dem Prediger die Treppe hinuntergehend, und sein einziger Rat wäre, sie vor das Stadttor zu den Papisten zu bringen, denn dort bekäme sie eine Krankensalbung und könne sterben. Überleben würde sie eine Geburt nämlich nicht, ausgezerrt wie sie sei.
Der Prediger sah sie noch vor sich, die kleine Emilia, wie sie behände um die Mutter und den kleinen Heinrich herumfuhrwerkte, um alles so gut wie möglich herzurichten, dort oben auf der Anhöhe in der armseligen Hütte. Selbst das Bild Dorotheas sah er deutlich vor sich, wie sie blöde ihre verstümmelte Hand jedem entgegenstreckte, fordernd, zuckend, zitternd. Auch der Tag, als die Breslauer Calvinisten die Stadt heimgesucht hatten – wie viele Jahre das jetzt schon her war! – fiel ihm ein, und wie er hinterrücks niedergeschlagen und fast zu Tode geprügelt worden war. Und nun? Nun stand er auf seinen Krückstock gestützt in seiner Kammer, sah auf das fiebernde, schwangere Mädchen und versuchte nachzudenken. Es konnte natürlich keine Rede davon sein, Emilia wieder fortzuschicken, nicht in diesem Zustand. Noch hatte weder der erste noch der zweite Prediger etwas verlautbaren lassen, doch es musste ein Entschluss her. Sicher würde auch der Rat der Stadt sich bald mit der Angelegenheit befassen, denn dass der junge Medicus, der so gar nicht nach seinem Vater geraten war, stillschweigen würde, war nicht anzunehmen. Ruchbar war das Ganze ohnehin schon geworden in einer Stadt mit nur wenigen hundert Bürgern, ja man sah ihn während der Früh- und der Nachmittagsmesse, so jedenfalls sein Eindruck, bereits scheel an. Zudem hatten schon sieben der insgesamt zehn Schichtmeister Auskunft verlangt. Doch was sollte er schon berichten, denn es kam ja alle Tage vor, dass Arme und Ehrlose Einlass in die Stadt verlangten und abgewiesen wurden, doch bei einer Schwangeren müsse man eine Ausnahme machen, darauf bestand er, im Namen Jesu. Um des lieben Friedens willen würde er aber schließlich dem Vorschlag zustimmen müssen, nach der Geburt Mutter und Kind in ein Haus vor den Toren der Stadt zu überführen, das einstmals als Pesthaus erbaut worden war und nun den Armen und Kranken und Ehrlosen Unterschlupf bot. Doch so weit war es noch nicht.