Wenn der Müller Crispin auf den Pumphut trifft

Vor genau hundert Jahren veröffentlichte die Schriftstellerin Juliane Karwath (1877–1931) ihr Buch „Die Abenteuer des Müllers Crispin“. Der Literaturarchäologe Martin A. Völker hat es wiederentdeckt.

Wie schreibt man über ein Buch, das man zwei Mal in kurzer Frist gelesen hat? Einmal aus Lust und Laune und ein zweites Mal dieser Besprechung wegen. Zunächst einmal fällt mir Jean Paul ein, der in seinem „Siebenkäs“ (1796–97), nämlich in der Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen, folgendes zum Besten gibt: „(…); und in der Tat ist ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, auch nicht würdig, daß mans einmal lieset.“ Nun, der „Crispin“ von Juliane Karwath ist so ein Buch, das man gerne zwei Mal liest. Kern der Erzählungen, die als Ganzes auch Roman genannt werden dürften, sind schlesische Sagen. Doch wer jetzt denkt, das müsse wohl eher etwas für ganz junge Leser sein oder ein ehrenwerter Versuch, alte Geschichten für unsere Zeit zu retten, der täuscht sich. Das Buch hat über die ausgebreitete Sagenwelt und das Wunderliche hinaus eine fein strukturierte Handlung mit charaktervollen Figuren zu bieten, seien diese nun echte Menschen oder auch sagenhafte Wesen wie der wandernde Müller Martin Pumphut oder die Tilla und die Grula aus der wilden, lebensfrohen Landkommune, deren dunkle und absonderliche Seiten neben aller Lebenslust durchaus aber auch zutage treten.

Zu Beginn gerät der Crispin als junger Müllersbursche auf seiner ersten Wanderung nach der Freisprechung sogleich zwischen die Welten, gewissermaßen zwischen Baum und Borke. Das Gebirge zieht ihn, den Flachländer aus dem (heute in Polen gelegenen) Bartschtal in Niederschlesien, magisch an. Er wandert nach Breslau, bleibt dort ein Jahr, um es dann endlich zu wagen. Mit einem Schneider als Gefährten geht es eines Morgens in die Berge. Und schon ist die Szenerie eine andere: „Die Wolken umzogen den Berg noch immer mit großer Schnelligkeit, es war sonderbar, diesem Kreisen, das fast ein Tanzen war, zuzusehen.“ Und weiter: „In grauer Morgenfrühe verließen sie mit ihren Ränzeln die Herberge und steckten schon nach kurzer Wanderung mitten im Nebel. Eben hatten noch die Sterne geleuchtet, jetzt waren sie von diesem Berg verhüllt, in dessen Atem sie eingetreten waren.“ Wer sich hier an ein Setting à la Howard P. Lovercraft erinnert fühlt, liegt sicher nicht falsch. So dauert es auch nicht lange, bis Crispin, nun allein unterwegs, in ein Gebirgstal gerät und in die Schwedenmühle. Vor dieser liegt ein  zerbrochener Mühlstein, sie steht still, und in ihr herrscht die pure Angst, seit aus dem Wald in vielen Nächten entsetzliche Schreie zu hören sind. Ein Ungeheuer geht um, das Mensch und Tier zerreißt, und eben deswegen ist man gegen Crispin misstrauisch, weil er unbeschadet durch den Wald gekommen ist. Ist er das Ungeheuer, der Werwolf? In den Rauhnächten (zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar) spitzt sich die Lage schließlich zu, eine Treibjagt auf Wölfe findet statt, ein Jäger nimmt Quartier in der Mühle und die Müllersstochter Barbara legt ein sonderbares Verhalten an den Tag … Ist der Jäger etwa der Werwolf? Dem Crispin jedenfalls, der den Jäger im Morgengrauen aus der Mühle bringen will, wird am Ende des ersten Kapitels vom alten Müller Gottlobel Wegweisendes mitgegeben: „Mir scheint es sogar … mir scheint es, du bist selbst dabei in die Gewalt der bösen Mächte geraten!“

Nach weiteren Abenteuern trifft Crispin den sagenhaften wandernden Müller Martin Pumphut, von dem gesagt worden war, er sei längst tot. Mit diesem nun wandert er auf eine andere Weise, „als ob es doch ein ganz anderes Marschieren sei, als ob der harte rote Boden nur so unter den Füßen flöge, das Felsgestein nur so vorbeiwanderte, und als ob die vielen Buchen, die vielen, vielen grauen und blauen Buchen in einem jähen Tanze nebenher zögen.“ Und er erfährt, dass dem Pumphut von einer Drulle in seiner frühen Jugendzeit prophezeit worden sei, dass „nichts anderes mich zu Ende bringen könnte als ein über die Maßen reizendes Frauenzimmer“, das ihm allerdings noch nie begegnet sei. Und in der Tat scheint Pumphut auch den schönsten Frauen nicht viel abgewinnen zu können, ganz anders als Crispin.

Zuviel soll nun nicht verraten werden, des Lesevergnügens halber. Nur so viel sei angemerkt, dass es Juliane Karwath meisterhaft gelingt, eine spannende, in sich runde und im wahrsten Sinne des Wortes tiefgründige Geschichte zu erzählen. Von der ersten Zeile an wird man in die Welt des Müllers Crispin geradezu hineingezogen, nicht zuletzt auch dank der kraftvollen, präzisen und musikalischen, sowohl dem Expressionismus als auch der Märchenwelt nahestehenden Sprache Karwaths.

In dem umfangreichen und lesenswerten Nachwort schließlich widmet sich der Herausgeber Martin A. Völker nicht nur der Schriftstellerin Juliane Karwath, sondern besonders auch dem „Als-Ob in der Literatur“, eine im „Crispin“ häufig verwendete Konstruktion, die immer auf das Scheinhafte, auf Scheingebilde verweist. Einem Franz Kafka galt dieses „Als-Ob“ sogar, wie Völker anmerkt, immer als eine „Schlinge des Bösen“ – wofür Juliane Karwath mit ihrem „Crispin“ gleichsam den Beweis liefert.

Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin. Mit einem Essay herausgegeben von Martin A. Völker. Elsinor Verlag 2022. ISBN 978-3-942788-58-8. 16,00 €

Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin. Mit einem Essay herausgegeben von Martin A. Völker. Elsinor Verlag 2022. ISBN 978-3-942788-58-8.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 04. Februar 2022 in der Freitag.

 

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