Was mich seit je her umtreibt ist die Frage, was ich literarisch zu erzählen habe. Eingeschlossen in diese Frage ist, was geschähe, wenn ich sie mit einem Nichts zu beantworten hätte. Aber dann würde ich sicher auch aufhören zu lesen, und mit dem Lesen begann ja schließlich alles. Ich schrieb zuletzt in irgendeinem Kommentar (in Die Dschungel. Anderswelt.), daß die Texte von Uwe Johnson unterhalb meiner Wahrnehmungsschwelle liegen – ich habe ernsthaft versucht sie zu lesen, konnte aber überhaupt nichts in ihnen erkennen, keine nennenswerte Handlung, nicht mal eine nennenswerte Nichthandlung, auch fand ich keine Stimme, die spricht oder schweigt, keine Ästhetik der Sprache, der Auslassung, der Reduktion, nichts von all dem. Für bestimmte Bewundererkreise bin ich damit natürlich disqualifiziert, da hat es auch keinen Sinn, zu diskutieren. (Ich bin schließlich kein Literaturwissenschaftler, ich zerlege Texte nicht, dadurch werden sie weder lebendiger noch gar verständlicher.) Demgegenüber verfalle ich geradezu in literarische Liebesräusche, lese ich (zum wiederholten Male) Samuel Beckett, Robert Musil, Flann O’Brien, Robert Walser, auch Franz Kafka, und allerdings schöpfen all diese Autoren auch aus ihrem eigenen Leben – wobei ich beim Thema wäre. Ist das, was zu erzählen ist und was sich zu erzählen lohnt, in Form gebrachtes Persönliches, Privates, Intimes? Eine Nachverwertung des Erlebten, des Erlittenen, alles „nur“ in einem anderen Modus, mit anderen Namen, Orten, Umständen? Eigentlich intimes Tagebuch plus einem gewissen literarischen Extra, letztlich eine Zurechtästhetisierung des ganz wesentlich Eigenen? Die Veröffentlichung der ersten gegen sich selbst rücksichtslosen Autobiographie, 1738 von Adam Bernd in Leipzig erschienen und mit dem Bewußtsein geschrieben und veröffentlicht, erstens nichts mehr zu verlieren zu haben und zweitens sicher nicht der Einzige zu sein, der sich mit Ängsten, Krankheiten und Lüsten plagt, trug im deutschen Sprachraum einiges dazu bei, öffentlich nicht nur in seiner jeweiligen gesellschaftlich starren Rolle in Erscheinung treten zu dürfen, sondern nachweislich und nachlesbar als ein Mensch mit Leib und Seele. Die sogenannte Eigene Lebens-Beschreibung Adam Bernds war noch nicht eine neue Form des Romans, erst Karl Philipp Moritz (Anton Reiser) und Goethe (Die Leiden des jungen Werthers) taten die entscheidenden Schritte, doch die Saat war gelegt. Zweieinhalb Jahrhunderte später ist es gang und gäbe, dem eigenen Leben nachzuspüren, zum Teil mit großem Erfolg, man denke nur Karl Ove Knausgård, der sich zugleich als Autor in seine Romane einschreibt, wie das ja auch schon Jean Paul tat, sich aber auch als ganz normaler, ohne Unschärfe erkennbarer, ganz und gar normaler Zeitgenosse präsentiert, wie das, am Rande bemerkt, Jean Paul nie tat und auch kaum hätte tun können, weil er eben das dann doch nicht war. Die eingangs gestellte Frage also, ob ich etwas zu erzählen habe, muß ich somit, der heutigen Schreibpraxis eingedenk, mit einem klaren Ja beantworten. Aber verträgt sich das, vorwärts leben und ins Rückwärtige erzählen? Sicher nicht, also muß vorwärts gelebt und vorwärts geschrieben werden, wenn man so will, der Bogen, darauf ging ich zuletzt erst in einem kleinen Beitrag ein, muß gespannt werden vom Vergangenen ins Jetzt, auch literarisch in je eigener, angemessener Weise. Interessanterweise wies mich ein Autorenkollege vor Jahren in einem Gespräch (während eines Autorentreffens in Bad Münstereifel) über meinen noch unveröffentlichten Roman darauf hin, daß eine der beiden Hauptfiguren, selbst wenn die Handlung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert angesiedelt sei, doch eindeutig aus meinem eigenen Leben geschöpft ist – und da hatte dieser Kollege im Geiste und im Tun noch mich kaum gekannt und auch nur einen kleinen Teil des Textes und meine Zusammenfassung der Handlung gehört, dennoch aber etwas erkannt, das mir selbst noch kaum zu Bewußtsein gekommen war: da schreib ja ich! Nur ich! Mich in meine Welt hinein, meine Welt in mich. Wie hieß es doch gleich im später so bezeichneten ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, verfaßt von den Studenten Hölderin, Schelling und Hegel: „Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen.“ Und weiter: „Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts –“. Da haben die Herren Studenten wohl den Nagel auf den Kopf getroffen – ergo muß geschöpft werden!
Selbstschöpfung aus dem Nichts
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