Vergessene Texte II: Nächster Halt Leipzig (2016 / 2022)

Nächster Halt Leipzig

Eine Kurzgeschichte

von

Norbert W. Schlinkert

Leo ergattert einen Fensterplatz rechts in Fahrtrichtung. Es fahren, stellt er fest, ausgesprochen viele Menschen im ICE von Berlin nach Leipzig, so früh am Morgen und mitten in der Woche. Was die wohl alle dort zu tun hatten? Nur wenige Reisende führten nennenswertes Gepäck mit sich. Leo schien es, als seien viele auf dem Weg zur Arbeit, Anzugsträger und Kostümträgerinnen, von denen einige in die Waggons der ersten Klasse gestiegen waren, mit kleinen Aktenköfferchen und Laptops bewaffnet. In der ersten Klasse gibt es Einzelsitze, denkt er, in der zweiten nicht. Eben noch hatte eine ältere Frau minutenlang im Gang zwischen den Sitzen gestanden und ihm Angst gemacht. Dass die sich bloß nicht neben ihn setzte! Dann war sie weitergezogen. Noch einmal Glück gehabt. Es war ihm schon passiert, dass er sich, ohne es zu wollen natürlich, den nackten Leib alter Frauen oder Männer, die ihm in der S-Bahn gegenübersaßen, vorgestellt und dann Lippenherpes bekommen hatte. Innerhalb von Minuten. Ach was, von Sekunden! Frühmorgendliche Berlin-Reste rauschten vorbei, eine Lagerhalle, Reihenhäuserreihen, doch bald schon würde sich die Landschaft in dieses Nichts zwischen Berlin und Leipzig verwandelt haben. In der Mitte davon Wittenberg, Lutherstadt, doch da würde dieser Zug nicht halten, das war drei Mal durchgesagt worden, kein Halt in Wittenberg. Natürlich saß inzwischen jemand neben ihm. Eine Frau. Scheuer Blick nach links. Ein weiblicher Oberarm, tüllumhüllt. Glück im Unglück, eine junge Frau. Keine alte. Sie duftete sogar dezent. Als sie gefragt hatte, ob der Platz noch frei sei, war er eben damit beschäftigt gewesen, den rechten Schuh wieder zu binden, dessen Schleife irgendwie ungleich gewesen war, also nicht in sich ungleich, aber anders als die des linken Schuhs. Das war zu korrigieren gewesen. Er hatte nur Ja gesagt, aber nicht zu ihr eigentlich, sondern eher zu seinem Schuh. Er wusste also nicht einmal, wie sie aussah, diese Frau, doch jetzt hinüberzusehen wäre ein wenig unhöflich, fand er. Verstohlen warf er stattdessen einen Blick auf ihre Beine. Akkurat nebeneinander, schlank, fleischfarben nylonbestrumpft. Dazu schwarze oder eher dunkelbraune Peeptoes, nicht sehr hoch, ganz schlicht, und natürlich war der Fußnagel der großen Zehe rot bepinselt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und überlegte, wo denn die Herpes-Creme stecken mochte. Was tun? Schon wurde ihm schlecht. Wenn er etwas nicht sehen konnte, nicht sehen wollte, dann Füße. Im Herbst, dachte er, wie herrlich ist doch der Herbst, und auch im Winter tragen ja nur Verrückte offene Schuhe. Vom Frühsommer an jedoch überall Ungepflegtheiten, eklige Zehen und rissige Fersen, eingewachsene Fußnägel, grassierender Nagelpilz, durchgelatschte Fußsohlen. Unerträglich! Ganze Völkerschaften warmer Weltgegenden waren ihm verhasst wegen dieser ewigen Sandalen und Flip-Flops! Da war die Dame neben ihm ja noch ein Wunder der Ästhetik. Vor den Fenstern des dahinjagenden Zuges breitete sich indes die erwartete Landschaft in ihrer Flachheit gnadenlos aus. Die Frau neben ihm, die sicher nicht einmal dreißig sein mochte, so schätzte er wenigstens, legte jetzt das eine Bein, dessen wurde er gewahr, vorsichtig über das andere. Stammen Sie aus Meißen, könnte er sie fragen, fiel ihm ein, das wäre witzig, und auf ihr überraschtes Warum würde er sagen, weil Sie ihre wunderbaren Beine so vorsichtig übereinandergelegt haben, als seien sie edelstes Porzellan. Doch er sagte natürlich nichts, denn weder waren diese Beine wunderbar, ohne eine umfassende, auch haptische Prüfung war das ohnehin nicht herauszubekommen, noch wollte er mit jemandem reden, der geschmacklose Schuhe trug. Er sah immer wieder hin. Jetzt zuckte auch noch etwas am Knöchel ihres rechten Fußes, eine pulsierende Ader, unregelmäßig rhythmisch, pöppöpp, pöpp, pöpppöpp und so weiter. Es war nicht auszuhalten. Und sicher noch fast eine Stunde bis Leipzig. Er legte seine Hände flach an beide Schläfen, Scheuklappen gleich, trotzdem aber sah er durch die sich unwillkürlich spreizenden Finger immer wieder auf die Schuhe und diese rotbepinselten Großzehen. Einfach einzuschlafen wäre jetzt nicht das Schlechteste, allerdings bestünde die Gefahr, dass ihm der Sabber aus dem Mund liefe. War ihm schon mal passiert, auch im Zug. Also wach bleiben, rote Onkel hin oder her. Und sich bloß nicht den Tag verderben lassen von dieser Frau, die nicht mal einen Kopf hat! Allerdings, das musste er zugeben, dieser dezente Parfümduft, den sie absonderte, gefiel ihm durchaus. Das wäre etwas, das er zu einer Personenbeschreibung hätte hinzusetzen können. Aber gehörte so etwas zu einer Personenbeschreibung? Er hörte schon den Beamten sagen, Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, sie hätten die Frau nicht einmal angesehen während der ganzen Zugfahrt! Mit Beinen können wir hier nicht viel anfangen, ich bitte Sie, wie sollen wir denn Beine zur Fahndung ausschreiben? Und Parfüm haben wir auch nicht in der Datei. Am Ende werde ich noch, dachte er, als Komplize verdächtigt! Also mal den Kopf der Frau ansehen, ganz wichtig! Aber wie das bewerkstelligen? Entschuldigen Sie, dachte er, könnte ich leise sagen, ich muss mir Sie mal ansehen, wer weiß, für was es gut ist. Seien Sie so nett und zeigen Sie mir mal Ihr Gesicht, Profil, ja, von vorne, vielen Dank, haben Sie eigentlich besondere Merkmale, ach was, ein großes Muttermal im Nacken und eines, ein wenig kleiner, auf der linken Brust, über dem Herzen sozusagen! Das ist ja putzig! Wollen Sie mal sehen, fragt sie mich, treuherzig lächelnd, und ich frage, das im Nacken oder das auf der Brust? Das auf der Brust natürlich, sagt sie mit Überzeugung und ein wenig empört. Berühren Sie es ruhig einmal, es ist ganz flauschig und sieht aus wie ein kleines Tier, besonders dann, wenn die Brustwarze ganz groß und hart ist, sehen Sie! Es ist, als wenn das große böse Tier das kleine flauschige Tier fressen will, so, und sie drückt mit Daumen und Zeigefinger die beiden Tierchen zusammen und macht fauch-fauch: Nun kämpfen sie miteinander! Die Dame schlägt die Beine jetzt andersherum übereinander, ein winziges Nylongeräusch entsteht. Leo war eingeschlafen. Zum Glück hatte er nicht gesabbert, das hätte ihm gerade noch gefehlt. Und hoffentlich hat die Dame neben mir die Beule in meiner Hose nicht gesehen, denkt er. Zwei miteinander kämpfende Tierchen, das war ja lächerlich! Vielleicht fuhr sie zu einer Sitzung einer jungen, aufstrebenden Firma, in der sie eine führende Position anstrebt, und da würde sie ihm doch nicht so ein Theater mit Brustwarze und Muttermal vorspielen! Wo käme man da hin! Die Dame neben ihm räuspert sich. Sie haben da eine Beule in der Hose, sagt sie, oder nein, natürlich sagt sie das nicht. Würden Sie, sagt sie in Wirklichkeit, auf meine Handtasche achtgeben, ich bin gleich wieder da. Da ist es ja, ihr Gesicht, im Halbprofil, kantig, wie die Knie, großgeschminkter Mund, schöne Zähne, einer ein wenig schief, graugrüne Augen, Wimpern getuscht, Augenbrauen wie ein Strich. Er sagt ja, natürlich, und als sie weg ist, denkt er, was ist denn das für eine Frau, die ihre Handtasche nicht mitnimmt, wenn sie aufs Klo geht? Und führe der Zug nicht haltlos durch, so würde er denken, da stimmt doch etwas nicht, warum lässt sie die Tasche, braunes, weiches Leder, zwei aufgesetzte Taschen vorne, hier bei mir? War sicher sehr teuer. Doch kein Halt vor Leipzig! An dem sie den Zug verlassen könnte! Denn gäbe es einen, denkt er, so müsste wohl eine Bombe in der Tasche sein! Wie teuer sie auch immer sein mag. Doch eine Bombe in einer so kleinen Tasche, was sollte die schon anrichten können? Wahrscheinlich würde sie nur, denkt Leo, mich töten, niemanden sonst. Die Beule in der Hose war jetzt natürlich weg. Was also tun? Den Waggon verlassen, nicht auf die Tasche aufpassen? Sicher pinkelt sie gerade in diesem Augenblick mit einem Pfüh-Geräusch in die Kloschüssel der Deutschen Bahn, um sich danach die paar Urintröpfchen, die am Schamhaar hängen, mit dem Deutsche-Bahn-Klopapier abzuwischen. Oder ist ihr Schamhaar abrasiert, denkt Leo, und da kommt die Beule schon wieder, und da kommt auch die Dame, also ist keine Bombe in der teuren Handtasche. Er atmet auf. Sie lächelt ihn an und sieht auf seine Hände, das fällt ihm sofort auf. Was glaubt sie da zu sehen? Die zugeschnappte Mausefalle vielleicht, die im Inneren der Tasche lauert für den Fall, dass so ein Aufpasser seine Pfoten hineinsteckt? Kann ja wohl nicht wahr sein, denkt Leo. Sie lächelt, sagt Dankeschön, nimmt die Tasche vom Sitz und setzt sich wieder, doch irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas ist anders, die Frau ist noch die selbe, das Parfüm riecht wie zuvor, und da sieht er es plötzlich: Sie trägt andere Schuhe! Rot, schlank und spitz, hochhackig, wohl eher solche, die man Pumps nennt, oder sogar schon High-Heels. Sie sind vorne geschlossen, doch man sieht den Zehenansatz, das mag Leo auch nicht so. Trotzdem hätte er beinahe Danke gesagt, aber er sagt nichts, sondern fragt sich, wo hat sie denn die Schuhe her und was hat sie denn mit den anderen Schuhen gemacht? Ins Klo gespült? Wohl kaum, denkt er, und zum Fenster raus kann nicht sein, nicht im ICE. Noch eine halbe Stunde bis Leipzig, höchstens. Gleich würde die Rennerei zum Klo losgehen. Doch Leo zögert. Seine Tasche, fragt er sich, kaum größer als die der Dame, kann er sie mitnehmen ohne Misstrauen zu erwecken? Denn hatte sie nicht die ihre ihm anvertraut, und müsste sie nicht denken, er sei ein komischer, misstrauischer Kauz, oder dass er eben doch etwas gestohlen hat und nun in einen vorderen Waggon verschwinden will, um sich zu verdünnisieren, sobald der Zug in Leipzig hält? Aber was soll’s, ich muss pinkeln, denkt er, greift seine Tasche, macht Anstalten, die Dame versteht und lässt ihn hinaus, halb die Beine in den Gang streckend. Danke, sagt Leo. Zwei Klos, doch im zweiten liegt zweifelsfrei der dezente Parfümduft in der Luft. Ihm wird ganz anders, aber mit einer Erektion wird er nicht pinkeln können, also muss er sich beherrschen. Er öffnet den Hosenstall, fummelt seinen Schwanz heraus und will eben lospinkeln – da sieht er es! Er traut seinen Augen nicht. Die Peeptoes liegen in der Ecke! Hinter der Schüssel. Das Zehenloch obszön leer und glotzend. Was tun? Jemand will hinein, es rüttelt an der Türklinke. Er muss nachdenken, schnell, denn das sind natürlich ihre Schuhe, aber wie kommt sie überhaupt zu den roten, neuen, die Frage ist nicht geklärt, sie hatte nichts bei sich, und was wäre, würde er sie jetzt einstecken und sie stünde vor der Tür? Was sollte er sagen? Dass er sie ihr bringen wollte, nichts weiter, und da nimmt er sie und steckt sie in seine Tasche, sie passen gerade eben so rein. Er geht zurück zu seinem Platz. Die Dame wirft ihre Beine über die Armlehne und lächelt. Er setzt sich. Weiß sie, dass ich ihre Schuhe habe, fragt er sich. Soll ich flüsternd bekennen, sie mitgebracht zu haben? Denn warum hätte sie sie sonst auf dem Klo liegenlassen, denkt er. Aber das wäre doch absurd, weil ich doch diese Schuhe nicht mag, was sie aber, denkt er weiter, natürlich nicht wissen kann. Sie glaubt sicher, ich mag die Schuhe, weil sie die Beule in meiner Hose gesehen hat. Aber da steht sie, noch bevor der Zug hält, plötzlich auf, nickt ihm zu und geht. Leo ist überrascht. Vor dem Fenster schiebt sich der Bahnhof Leipzig ins Bild. Alles rennt und hastet, Leo aber wartet, bis sich der Waggon ganz geleert hat und verlässt dann als Letzter in aller Ruhe, zu der er sich zwingt, diesen Zug von Berlin nach Leipzig, geht langsam längs durch die Bahnhofshalle, links die Treppe hinunter und zum Vorplatz hinaus. Er atmet tief durch. Was tun, überlegt er. Vor dem Bahnhof Straßenbahnen und Menschen, die Dame aber nirgends zu sehen. Vielleicht sollte ich die Schuhe einfach wegwerfen, geht ihm durch den Kopf. Sie loswerden. Das würde wohl das Beste sein! Ein wenig verschämt, dass ihn bloß niemand dabei sieht, zieht er die Schuhe halb aus seiner Tasche. Schnell muss es gehen! In einer einzigen, fließenden Bewegung. Wo ist nur der nächste Mülleimer? Er sieht sich um. Wegwerfen also! Das ist entschieden! Die Farbe, die ginge noch, denkt er, ja die ganze Frau wäre halb so schlimm gewesen ohne diese Löcher vorne in den Schuhen und ohne die bepinselten Großzehen! Er geht ein paar Meter. Da, ein Mülleimer! Und schon zieht er die Schuhe mit einem Griff ganz aus der Tasche, doch als er sie eben hineinstoßen will in die Öffnung des Eimers, sie entsorgen will, die hässlichen Schuhe mit den hässlichen Löchern, da lugt aus dem Loch des linken Schuhs etwas heraus. Ganz plötzlich. Ein Zettel, stellt er fest, zusammengerollt. Was tun? Herausnehmen, beschließt er endlich. Mit spitzen Fingern. Ein Zettel also. Nun denn. Er zieht ihn glatt und liest. Liest noch einmal. Und noch einmal. Meine Güte, sagt er endlich halblaut, damit, ja damit habe ich ja nun überhaupt nicht gerechnet – nicht im Traum!

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Norbert W. Schlinkert. Polaroid 34

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Vergessene Texte I: KREISE (von 2021)

KREISE

oder:

Das Zeitalter der Ichs

Eine abgebrochene autobiographische Erzählung

von

Norbert W. Schlinkert

Handlungs-Vorsatz, in eigener Sache, einleitend

Der Gedanke, all’ meine Freunde seien in Wirklichkeit schwer beleidigt, weil sie nicht in meinen Schriften auftauchen, war mir nie gekommen. Aber so musste es sein. Alles sprach dafür. Und diese Erkenntnis passte nun plötzlich gut in mein Leben und Schreiben, denn ich hatte nach zwei gelungenen Romanen, die allerdings, da sich kein Verleger dafür fand, buchstäblich in der Schublade verwelkten, beschlossen, eher denn Romane erzählende Essays zu schreiben. So jedenfalls würde sich Jedwedes einfügen können, Jeder und Jede kann auftauchen, Alles und Nichts. Eine Riesensache, die ich mir da eingebrockt habe, das stand fest! Ich ziehe einen neongelben Klebezettel vom Klebezettelblock, kritzele Erst schreiben, dann ordnen! darauf und hefte ihn an die oberste Schublade der drei Schubladen beherbergenden Schubladenbox aus Bambus, die rechts auf meinem Schreibtisch steht. Ich nehme den Zettel sofort wieder ab, befördere ihn in den 101-Dalmatiner-Blecheimer und schreibe einen neuen, ordentlichen, dieses Mal mit dem Füllfederhalter. Erst schreiben, dann ordnen!

Es gibt, das ist mir klar, unendlich viel zu erzählen, weil so ein Leben eines Schriftstellers ja gar nicht anders kann als Geschichten zu erzeugen, sowohl echte wie erfundene, imaginierte, die aber auch echt sind. Voneinander zu trennen ist das nicht, das Echte und das auch Echte, so viel sollte klar sein. Es aber in eine Ordnung zu bringen, so wie etwa ein Warenlager geordnet sein muss, würde ebenfalls nicht möglich sein, obwohl genau das getan werden muss. Bezüge sind herzustellen, buchstäblich alles ist an den richtigen Platz zu rücken, um es dann aber sofort in den Fluss der Dinge zu werfen. Nichts also bleibt wie es ist, vor allem dann, wenn meine versuchte Ordnung schließlich in den Kopf der Leser und Leserinnen und damit in eine mehr oder weniger vorgefertigte Erwartungshaltung purzelt, die an den richtigen Dreh- und Angelpunkten zu enttäuschen Ehrensache ist. Absicht. Die eigentliche Kunst. Ich schreibe einen zweiten Zettel, Das eigene Leben muss gleichsam ausgewrungen werden!, und hefte ihn neben den ersten. Sofort aber frage ich mich, ob denn nun der ausgewrungene Lebenslappen oder die herausgewrungene Flüssigkeit das ist, aus dem der Text entsteht. Und dann dieses Wort, Wringen – ich wringe, du wringst, wir wringen. Ich wrang mein Leben, bis am Ende ein Roman herauskam! Was habe ich um diesen Roman gewrungen, das könnt Ihr mir glauben, Leute! So in etwa? Ich male ein Fragezeichen auf einen dritten Zettel und klebe ihn neben die beiden anderen.

Ich schreibe. Macht es wohl, frage ich mich, für die Gedanken einen Unterschied, ob sie in die einen Stift haltende Schreibhand fließen oder in beide Hände, mit denen man die Tastatur von Schreibmaschine oder Rechner bearbeitet? Und ob man mit zehn Fingern schreibt oder mit zweien, dreien, vieren? Ich selber habe meine Geschichten zunächst mit der Hand geschrieben, in der Zeit meiner Tischlerlehre von 1982 bis 1985, denn mein Vater lehnte es rundheraus ab, mir seine kleine graue Reiseschreibmaschine zu leihen, machste ja nur kaputt, hieß es. Reisen war übrigens das Allerletzte, was mein Vater jemals freiwillig getan hätte. Das Gleiche war mir Jahre zuvor in Sachen Nähmaschine passiert, wir hatten sogenannten Hausarbeitsunterricht und ich wollte nähen, aber auch da hieß es, seitens der Mutter, machste nur kaputt. Den Versuch, mit der Hand zu nähen, gab ich allerdings schnell auf, die Nähte schief und krumm, der Stoff ganz blutig und die Finger zerstochen. Aber Schreiben, das tat ich mit der Hand, und die erste Geschichte meines Lebens spielte im leerstehenden Haus neben der Tischlerwerkstatt, wo wir die Furniere lagerten, und auf die kackten alle Katzen der Nachbarschaft. Ich, der arme Tischlerlehrling, versank am Ende in Katzendreck, buchstäblich. Das Manuskript ist verschollen, wer es findet, der soll es nach Marbach schicken ins Literaturarchiv, es ist ein wichtiges Beispiel der Schriftstellerei in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Aber wie auch immer, gegenwärtig, heutigentags schreibe ich am Rechner Erzählende Essays, eine nicht näher zu bestimmende Literaturgattung, die der Gattung des Romans in der Tat sehr ähnelt. Ein genialer Anfang, so im Stile von „Mein Vater war ein Kaufmann“ (Stifter) oder „Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar“ (Jahnn), wird mir allerdings nicht immer gelingen können. Ein wirklich guter Anfang wird es aber jeweils dennoch werden müssen, denn aus einem schlechten Beginn kann kein guter Roman entstehen, das ist mal sicher.

Nun also ist dreierlei zu tun, um die Schrift in Bewegung zu setzen. Erstens werde ich mir mich selbst vorzustellen haben mit Vor- und Zunamen, und dann dürfte es zweitens nötig sein, ein wenig Inhalt und einige handelnde Figuren zu generieren, um schließlich drittens die Gedankengänge des Erzählers einzuweben. Und durch alles muss, nicht zu vergessen, ein roter Faden hindurchgehen, damit auch aus dem kleinsten Stück hervorgeht, dass es gleichsam zur Krone gehört. (In alle Taue der britischen Kriegsmarine war zu früheren Zeiten ein solcher Faden eingewebt, als Diebstahlschutz gewissermaßen.) Bliebe, nach dem genannten Dreigestirn, noch die Frage des Stils, denn ein Roman, besonders wenn es sich um einen erzählenden Essay handelt, muss zwangsläufig geschwätzig sein. All’ seine Teile und Themen sind also von absolut gleicher Wichtigkeit und Relevanz, so dass es also kaum angeht, unterschiedliche Stile zu verwenden, weder nacheinander noch ineinander verwoben. Jede andere Vorgehensweise wäre literarischer Selbstmord, so dass in der Tat kaum jemand so etwas tut, abgesehen mal von James Joyce und Virginia Woolf und Halldór Laxness und Alban Nikolai Herbst. Die allermeisten Schriftstellerinnen und Schriftsteller jedenfalls haben ihren, im Guten wie im Schlechten, einzigartigen Stil, bei dem sie, unabhängig von Thema oder Inhalt, ohne jede Rücksicht bleiben müssen. Punktum. Das kann sehr böse in die Hose gehen, wie etwa bei Günter Grass, aber auch, so im Falle Knut Hamsuns, zu grandiosen Ergebnissen führen. Ich selber habe in meiner Person dieses offensichtliche doch so leicht zu begreifende Gesetz des literarischen Schreibens bisher allerdings nicht recht akzeptieren wollen, man werfe nur mal einen Blick in meine Bücher, vor allem aber in meine Schubladen. Nun aber weiß ich es: Unterschiedliche Stile sind weder einem Verleger noch dem Publikum zuzumuten, allenfalls Schriftstellerkollegen können damit ohne weiteres umgehen. Aber wer schreibt schon für Schriftsteller?

Sommer 1989

Beginnen wir mit dem Augenblick, als ich auf dem Stahlträger ausglitt und ungebremst in meinen eigenen Schritt fiel. Zum Glück lag der Träger noch auf Kanthölzern gebettet auf dem Asphalt, so dass ich nicht auch noch in die Tiefe krachte, mir den Hals zu brechen. Der Schmerz aus den Hoden zog, weil er nicht anders konnte und keinen anderen Weg fand, blitzschnell in den Darm und über den Magen in den Hals und den Gaumen und setzte sich schließlich in der Nasenwurzel und den Augenhöhlen fest, während im knapp darüber liegenden Hirn Panik entstand in Form des Bildes zerquetschter Eier. Ich saß, die Füße links und rechts des Trägers auf dem Boden des Mercedes-Geländes in Sindelfingen, die Stadt mit den marmornen Zebrastreifen, einige Sekunden wie erschlagen da. Keiner der Kollegen hatte etwas mitbekommen, wie es aussah. Da war ich nun fünfundzwanzig Jahre alt, wir schrieben das Jahr 1989, es war Sommer, und ich zerdepperte mir in der südwestdeutschen Fremde mit einer idiotischen Unachtsamkeit meine Zeugungs- und Erektionsfähigkeit! Ich hatte zwar nicht die Absicht, mich dem Familienpapawesen zuzuwenden und mich zum Vollidioten machen zu lassen, aber das mit der Erektion war nun schon von alleräußerster Wichtigkeit. Lebenswichtig. Breitbeinig machte ich mich, die Angelegenheit zu begutachten, auf den Weg zu den Toiletten in der angrenzenden Halle, wo wie immer automatische Transportwägelchen langsam hin und her manövrierten und Kotflügelfachleute die Kotflügel von Luxuskarossen dengelten. Alle vierzig Minuten oder so ertönte eine Pausensirene und die Männer standen eine kurze Weile herum, für eine Zigarette reichte die von der Gewerkschaft erkämpfte Pause nicht wirklich. Wirklich nicht. Die Wägelchen gondelten ungerührt weiter. Als ich nun breitbeinig und mit schmerzgetrübter Miene Richtung Klo schlich, dengelten drei, vier Männer konzentriert, ergeben und offenbar glücklich vor sich hin. Keiner blickte auf, und es hätte mir auch gerade noch gefehlt, gefragt zu werden und zugeben zu müssen, mir die Eier poliert zu haben. Ich weiß nicht, ob ich in diesem Augenblick in der Mercedeshalle daran dachte, doch es gibt natürlich auch Situationen, in denen das Polieren der Eier zwar von allen gesehen, dies aber keineswegs als peinlich bewertet wird, sondern ganz im Gegenteil einem zu Ehren gereicht, weil es ein Zeichen unbedingter Hingabe und Einsatzbereitschaft ist, etwa wenn man in einem Fußballmeisterschaftsspiel auf einem Asche’platz in Dortmund-Hörde beim Stand von 4:0 für die eigene Mannschaft in letzter Minute noch den Ball zu erkämpfen versucht, um diesen zum 5:0 zu versenken. Dem gegnerischen Knaben, ich will ihn mal so nennen, gelang es aber, zuerst an den Ball zu kommen, um ihn aus dem Strafraum zu dreschen, während ich mich ihm entgegenwarf. Der Ball traf aus einem Meter Entfernung meine Körpermitte, im selben Augenblick pfiff der Schiedsrichter ab und wir trollten uns Richtung Kabine. Nichts ist schlimmer als fehlender Einsatz.

Nun aber stand ich Jahre später in einer picobello sauberen Toilettenkabine im Sindelfinger Mercedeswerk, wo ich vier Wochen lang und damit Zweidrittel meiner Ferien am Aufbau einer Halle beteiligt war, löste den Gürtel meiner Hose und zog sie vorsichtig über die Hüfte nach unten. Mit Einsatz hatte dieses Malheur nun nichts zu tun gehabt, das war mir klar, nicht im geringsten, denn ich war nur hier, weil ich mich im ersten Semester am Dortmunder Westfalen-Kolleg, Institut zur Erlangung der Hochschulreife, finanziell etwas übernommen hatte. Die Abende im Bass, der Jazz-Kneipe in der Nordstadt, direkt neben dem Programmkino Roxy gelegen, hatten Löcher in mein Budget gefressen und zu einem dicken Minus auf meinem Konto geführt. Ich lebte in einer von der Postbank so genannten geduldeten Überziehung, weil ich an den Abenden sozusagen in der Kneipe wohnte, von acht Uhr bis zur letzten Runde. Heinz, der Wirt und bekennende Jazzfan, niemals perlte Abweichendes aus den Boxen, stellte mir schon am zweiten oder dritten Abend ein Norbert-Bier auf den Tresen, und das ist keine Biersorte, sondern einfach die Verbindung meines Vornamens mit dem gewünschten Getränk. Ein Norbert-Bier, wohl bekomm’s, hieß es, ein Bleistiftstrich auf dem Bierdeckel folgte als Beglaubigung, und schon war ich für den Abend eingemeindet. Daher also das Minuszeichen auf dem Kontoauszug, und daher auch die nur langsam verblassenden Schmerzen, die sich jetzt, da ich die Unterhose auf die Knie hinunterstreifte, eher im Hals konzentrierten. Mein Geschlecht, ich bin Linksträger, lag im fahlen Licht der Toilettenanlage nun also frei, ich wagte kaum hinzusehen. Als ich es tat sah ich nichts als den in alltäglicher Gelassenheit am Leib hängenden Schwanz inmitten krauseligen Schamhaars und den ebenfalls unbeeindruckt wirkenden Hodensack. Blut war nicht zu erkennen. Mit der flachen Hand hob ich das Gemächt vorsichtig an und der Schmerz im Hals drückte ein wenig in den Kopf hinein. Die Eier schienen noch ganz zu sein, ich bewegte sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, was leichte Schmerzen im Bauch auslöste. Richtig kaputt waren sie jedenfalls nicht. Bliebe nur noch die Frage nach der Erektionsfähigkeit, aber die musste ich wohl nach Feierabend in meinem Hotelzimmer in Tübingen überprüfen. Von der Halle her hörte ich das Pausensignal, ich wartete, dann endlich erklang das Signal erneut. Pause ausgestanden, weiterdengeln!

Bass und bässer

Die Dortmunder Nordstadt hatte (und hat) nicht den allerbesten Ruf. Doch wozu zum Teufel noch eins ein langweiliges Leben führen, so dachte ich und donnerte im zweiten Gang durch die lange Backsteinunterführung an der Union-Brauerei in den Norden hinein. Sechshunderfünfzig Kubik, fünfzig PS und ausreichend Krach. Das Leben war scheiße genug. Ich war, um auf besagtes Westfalen-Kolleg zu gehen, nach Dortmund gezogen. Eigentlich hatte ich mich bereits gegen ein Leben im Ruhrgebiet entschieden gehabt und zwei Jahre in Freiburg verbracht. Denn warum auch um alles in der Welt musste ich auch ausgerechnet in Schwerte an der Ruhr geboren werden, einer unwirtlichen Kleinstadt, Blick nach Süden aufs Sauerland, im Norden, jenseits des Ardeygebirges, Dortmund, nach Osten hin die Soester Börde, nach Westen Witten, Herdecke, Bochum und wer weiß was noch. Schwerte würde mir mein Leben lang am Hintern kleben, wenn ich nicht aufpasste. Während andere Menschen sechshundert Kilometer weiter in Paris oder London oder wenigstens einer Großstadt aufwuchsen, würde man mir auf ewig das Kleinstädtertum und vor allem das Ruhrgebietlersein ansehen, anhören, anmerken. So dachte ich damals, bevor dann doch ein abgezockter Großstädter aus mir wurde.

An der Kreuzung Schützen-/Mallinckrodtstraße bog ich rechts ab, linker Hand die Camera, wie das Roxy ein Programmkino, dann die zweite wieder rechts. Die Uhlandstraße. Uhland! Überhaupt ist der Arbeiternorden gespickt mit Schriftsteller- und Komponistenstraßen, man darf sich durchaus fragen warum, während die Arbeiterhelden ihre Straßen eher Richtung Süden haben. An meinem Schlüsselbund jedenfalls zwei neue Schlüssel, einen für die Haustür der Uhlandstraße Nummer 34 und einen für die Wohnungstür, vierter Stock. Vier Mietparteien, die Familie Behrend im ersten Obergeschoss hatte ich bereits kennengelernt, Vater, Mutter, Tochter auf 60 Quadratmetern, Guten Tag, steht die Wohnung oben leer, aber ja. Rufen Sie den Vermieter einfach an, in Hamm wohnen die. Gesagt, getan, kommse einfach vorbei. Im Wohnzimmer bei Kaffee mit Milch Mietvertrag unterschrieben, ein Monat mietfrei, ist ja einiges zu tun, ach, Abitur wollnse machen auffem Westfalen-Kollech! So lief das damals noch, 1988 im Westen, der sogenannten BRD. Ein Jahr später war es Essig damit, freie Wohnungen Mangelware, gebrauchte Autos ausverkauft.

Wir waren jung und faul wie Hucke. Gearbeitet wurde nur, wenn das Geld knapp war, was leider nicht selten vorkam. Im November 1988 allerdings dachte ich noch nicht an solche Spitzfindigkeiten des Daseins, sondern machte mich mit Berthold daran, aus einer Bruchbude eine WG-taugliche Wohnung zu gestalten. Das Beste war das Loch in der Mauer in Bertholds Zimmer, ein Klassiker der Bruchbudenromantik. Links des Fensters unter der Dachschräge befand sich nämlich ein faustdickes Loch in der Wand, das nur mutwillig und ohne sachlichen Grund ausgestemmt worden sein musste. Wer macht denn so etwas?

[Ende des Fragments]

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Norbert W. Schlinkert: Kreis (Druckstock)

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Von der Denkmaschine zum Mumpitz

Ganz fatal scheint es, wenn der Schriftsteller nicht schreibt, seine dicken oder dünnen Finger also nicht um ein Schreibgerät krampft oder mittels seines Tippsystems eine Tastatur behackt. Warum schreibt er nicht, fragt es sich, hat es tiefere Gründe, hat er gar den Glauben an die Literatur verloren wie andere Menschen den Glauben an Gott oder die Gerechtigkeit? Oder hat er bereits genug geschrieben und betrachtet mit Genugtuung seine wenigen Veröffentlichungen und die Archivkisten mit Manuskripten und Ausdrucken? Ist er faul, selbstgefällig, satt? Zum Hedonisten herabgesunken? Nun ja, all diese blöden Gedanken und Fragen können nur von Materialisten stammen, die mit ihrer Denkmaschine nicht weiter kommen als bis zu ihrer Denkmaschine – dass diese sich, am Rande bemerkt, dabei nicht selbst zerstört, ist ja bereits Beweis genug für die Unhaltbarkeit eines rein materialistischen Weltbildes. Natürlich aber wird niemand das Vorhandensein von Substanz bestreiten, denn davon löst es sich ja, davon geht es aus, das Nichtmaterielle – in meinem Falle das Schreiben im Ungefähren, im Nebulösen, ein Schreiben mit allem, was man ist, ein Schreiben als Vorstufe des womöglich baldigen wirklichen Schreibens mit und auf Materie, auf dass dieses Werk sich dann im Kopfe lesender Menschen mit deren Zutun wieder verflüchtige. So läuft das nämlich! Irgendeinen Mumpitz zu Papier bringen kann ja jeder. Das dazu!

Norbert W. Schlinkert: Materie im Grünen

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Entweder – Oder oder der klare Fall einer Kontradiktion

Einer der kürzesten Beiträge auf dieser meiner Website ist der mit der bezeichnenden Überschrift Warum ich keinen Text über den Kapitalismus als Ideologie schreibe? Weil mir keine Sau etwas dafür bezahlt! (Norbert W. Schlinkert: Die Hoffnung stirbt immer am schönsten. Arbeitsjournal. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. ISBN: 978-3-8498-1841-8. Seite 56.) Und dies, wie Sie leicht selbst herausfinden können, weil die Überschrift so vollständig in sich sinnvoll erschöpft ist, dass ein dazugehöriger Text sich vollkommen erübrigt. Und in Erübrigungen lässt sich nunmal, das ist allgemein bekannt, nichts und niemand unterbringen. Es handelt sich beim Nichtvorhandenen somit um eine Leerstelle, anstelle der kein Umstand eintreten kann, da dieser umstandshalber gegenständlich oder bestimmbar sein muss jenseits von Leer, Nichts, Keineswegs, Keinesfalls und so weiter. Hätte ich also unter dieser Überschrift einen Text platziert, wäre als einer ausgleichenden Gerechtigkeit die Überschrift falsch und damit nichtig gewesen, klarer Fall eines Entweder – Oder oder einer Kontradiktion, wie sie schöner nicht sein könnte.

So, nun aber Schluss mit dem Unsinn.

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Fensterwetter / Fensternis

Norbert W. Schlinkert

Fensterwetter / Fensternis

Eine Art Märchen

Vor dem einen Fenster scheint die Sonne, vor dem anderen Fenster regnet es. Beides findet draußen statt. Das eine Fenster ist auf der Horizontalen zwei Meter vom anderen Fenster entfernt, und zwar in der selben nach Westen hin gelegenen Hauswand, hinter der sich meine Wohnung befindet, die auf der anderen Seite mit der nach Osten gelegenen Hauswand, die ebenfalls ein Fenster hat, begrenzt ist. Schnell schließe ich die Augen, ertaste die Türklinke der Wohnzimmertür und ziehe sie zu. Klack macht es. Ein drittes Wetter würde ich nicht ertragen. Man muss ja schließlich auf seine mentale Gesundheit achten, denke ich und wende mich wieder den beiden Fenstern zu. Das eine befindet sich im kleinen Zimmer, dort ist meine Bibliothek untergebracht, das andere, das genau genommen eine Balkontür ist, spendet der Küche Licht. Wenn auch im Augenblick trübes, denn es regnet ja, während das kleine Zimmer von Sonnenstrahlen geradezu geflutet ist. Träte ich nun aus dem Flur in die Küche und dann auf den Balkon, müsste ich also entweder eine scharfe Wetterscheide sehen oder einen unscharfen Übergang. Letzteres wäre, so wird mir plötzlich klar, aber dann doch ein drittes Wetter, von dem so oft die Rede ist in den alten Geschichten, die ich als Kind vollständig glaubte, bis mir in den Jahren der durchlittenen Pubertät im Kopf nach und nach graue Zweifel wuchsen. Ich stürze also ins Wohnzimmer, und tatsächlich erkenne ich sonniges Regenwetter, nicht das eine, nicht das andere, sondern beides, da draußen, worauf ich das Fenster aufreiße und mich ohne zu zögern ins Wetter werfe, um ein wenig hinauszuschwimmen. Die Gunst der Stunde, so denke ich, muss genutzt werden – die Mythen lügen schließlich nicht – ganz gleich, an welche Strände es mich nun wirft. Ja, so muss ich wohl gedacht haben, während ich bereits von der Hoftanne von einem Ast zum anderen sanft zu Boden gebracht werde. Wie hingepurzelt liege ich auf den Pflastersteinen. Mmh, denke ich, doch bevor ich mich überhaupt auch nur rühren, geschweige denn aufstehen kann, fährt mir plötzlich ein Kind mit seinem Bobby-Car voll in den Bauch. Aua, sage ich. Das Kind lacht. Ich stehe schnell auf und blicke auf das Kind hinunter und zu meiner Wohnung im vierten Stock hinauf. Weißt du, sage ich zu dem Kind, ich habe das dritte Wetter ausnutzen wollen, um ein wenig hinauszuschwimmen, aber nun kann ich mich an das Schwimmen gar nicht mehr erinnern. Stattdessen erinnere ich mich nur daran, der Tanne den Buckel hinuntergerutscht zu sein. Da lacht das Kind, wird dann aber ernst und sagt, das dritte Wetter reicht nicht, es muss auch noch der Vollmond scheinen und die Fledermäuse müssen fliegen, und du kannst von Glück sagen, dass die alte Tanne dich aufgefangen hat. Nicht wahr, alte Tanne, sagt das Kind, dreht sich dann aber mitsamt seinem Bobby-Car so schnell um und pest derartig fix davon, dass ich nichts mehr erwidern kann und allein im Hof stehe mit meinem Satz über altkluge Kinder, die der Teufel holen soll. Ich sehe mich um, die Tanne steht still, als sei nichts gewesen, niemand zu sehen, während sich die Dunkelheit langsam über dem Hof ausbreitet und hier und da einen Stern sehen lässt. Keine Sonne, kein Regen, keine einzige Fledermaus. Nur der Mond, und der wirft mir, als gäbe es kein Morgen, sein Alabasterlicht ins Gesicht, und so sehen wir uns eine Weile bleich an, bis der alte Knabe schließlich über die Brandmauer gleitet und verschwunden ist. Ich aber klettere, bevor die beginnende Morgendämmerung uns alle ereilt, flugs die Hauswand hoch in meine Wohnung. Vor allen Fenstern, das sehe ich sofort, ist das Wetter genau gleich, so als wäre es nie und niemals anders gewesen und als müsse es immer so sein, der Sonne, dem Mond, den Sternen und auch all den Fledermäusen zum Trotz. Regen wäre schön.

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Mit Weniger Weniger machen

Über 800 Blog-Einträge in meinen Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! bis dato, viele davon in einem bestimmten Stil, einem bestimmten Sound, von eigen-artiger Machart. Wie viele ich bei einer Blindverkostung als meine eigenen erkennen würde, sei aber mal dahingestellt. Mit der Veröffentlichung von Die Hoffnung stirbt immer am schönsten (Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022) ist immerhin ein reeler und haptischer Beleg dieser langjährigen Arbeit der Welt vorgelegt worden, und wer möchte, kann ja zusätzlich nach wie vor im Netz in meinem Blog schmökern wie er und sie will und all das Viele entdecken, was nicht im Buche steht. Mir aber schwebt seit einer Weile vage etwas Anderes vor, etwas Neues, wobei der Begriff Schweben die Sachlage recht gut beschreibt, denn zwar bin ich mir sicher, dass ich nach wie vor mit Worten, dem Wort, arbeiten will, aber das ist dann auch schon alles. Von was ich mich leiten lassen soll und werde – ich weiß es nicht. Üppig, umfangreich oder weitschweifig soll es aber nicht werden, denke ich, denn von allzuviel Gequatsche und Gelaber und Podcasting ist die Welt ja nun wirklich übervoll. Mit Weniger Weniger machen, das wäre es!

Und wenn das hier Angesprochene, was durchaus möglich ist, nichts, aber auch gar nichts werden und keinerlei Ergebnis zeitigen sollte – ja dann betrachten Sie diesen Text hier doch bitte als voll und ganz gegenstandslos und absolut nicht der Rede wert.

Norbert W. Schlinkert – Poesie (1996 / 2024)

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Kopfsachen, Wundränder und Tagebuchartiges

Mein fortlaufend weitergeführter Text Wundrand oder: Eine Kopfsache muss die Leser wohl in einige Verwirrung stoßen, denn glaubten da manche, man könne aus einem tagebuchartigen Text immer Schlüsse ziehen oder etwas lernen über den Verfasser, so haben diese sich in diesem Falle getäuscht und täuschen sich noch immer. Ein gewisser Frisch hatte, fällt mir grad ein, einmal die Idee, die Öffentlichkeit als Partner für derartige Texte aufzurufen, worauf er sich, so sagen manche, vom Erlös dieser Idee einen Jaguar kaufte, er also fortan mit einem Auto in der Öffentlichkeit herumfuhr, das von eben dieser bezahlt worden war. Chapeau, mein lieber Max! Muss man erstmal hinbekommen. Mein Text hingegen sucht keine Partner, wird keine Fahrzeuge bezahlen und bleibt fortlaufend, ich möchte fast sagen: schrundig, bleibt zudem unverkäuflich, lässt Homogenität vermissen und sich letztlich nicht einmal dem Tagebuchartigen, schließlich fehlen Orts- und Datumsanzeigen, hinzurechnen. Er kommt aus dem Nichts und wird wieder im Nichts vergehen. C’est la vie.

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Das nebenbei Erstellte als Eigentliches? Na hoffentlich nicht!

Kürzlich sagte Daniel Ketteler, Schriftsteller und Arzt, bezüglich des Sujets der literarischen Nebenproduktionen – Notizen, Tagebucheintragungen, Glossen, Briefe etc. –, dies seien doch oft die interessantesten Teile eines Werkes. Nun ja, ich weiß nicht so recht, ob ich da zustimmen sollte, aber da ich im Moment genau damit beschäftigt bin, nämlich mit dem fortlaufenden Erstellen des zweckfreien Textes Wundrand oder: Eine Kopfsache, will ich mal nicht so sein und die These zumindest nicht völlig verwerfen. Wer weiß denn auch, was in ein paar Jahrzehnten aus welchen Gründen auch immer an die Oberfläche gehoben wird. Womöglich gilt ein Nebenprokukt in einem bestimmten Kontext dann tatsächlich als eine Entdeckung, vielleicht sogar als eine literarische. Haben hat man in gelebter Gegenwart natürlich nix davon, aber abhalten von der Produktion unverwertbarer Texte will man sich ja nun mal auch nicht lassen. Das dazu!

Norbert W. Schlinkert. Licht, aufgehend

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Donald Trump und die Folgen – mein Artikel von 2016 reloaded

Artikel in der freitag, 25.11.2016

Donald Trump und die Folgen

Die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika und hierzulande steht vor einer entscheidenden Bewährungsprobe, denn gewählt werden können auch deren Feinde.

Von

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Das Haus / Die Straße

Norbert W. Schlinkert

Das Haus / Die Straße

Eine Erzählung

Heft III

Übertragung des Manuskripts in ein Typoskript

© 2025 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

[1] Kann man sich selbst zuhören, frage ich mich, und ist diese Frage bereits die Antwort auf die Frage? Schwierig. Ich stehe auf, beschreibe einen Kreis im Raum und bin bereits im Begriff zur Tür hinauszugehen, die Treppe hinab, um entweder im sommerlichen Garten zu landen oder auf der staubigen Landstraße. Etwas jedoch hält mich zurück. Muss ich das eben Angedachte noch einmal durchdenken, bevor ich in den Garten gehe oder zur Landstraße hinaus, das frage ich mich, denn ich kann ja alle Fragen, die mich und die Welt betreffen, ebenso gut wie [2] hier in diesem Zimmer auch draußen im Garten, auf der Landstraße gehend oder an anderen Orten überdenken. Wer weiß, sage ich, womöglich ist das Zimmer, der Raum, in dem ich lebe, der schlechteste Ort, Dinge zu überdenken. Oder der beste. Oder es ist gleich, wo ich mir selbst zuhöre, um die mir wichtigen Fragen zu stellen, zu erörtern, zu beantworten, denn bei mir und mit mir bin ich schließlich immer. Ich lege die Hand auf die Türklinke und ziehe die Tür auf. Jetzt, sage ich. Beantworte dir deine Fragen an der frischen Luft, sage ich, das wird dir gut tun. Ja.

*

Ein Wissenskorsett anzulegen ist mir nicht möglich, da all mein Wissen zu wild erworben worden ist und in kein Muster passt. Selfmade-Wissen müsste man es nennen, denke ich, während ich den Garten in meinem Rücken atmen höre, dennoch aber auf die staubige Straße trete, deren Baumreihen in beide Richtungen [3] beidseitig zu einem Punkt in der Ferne zusammenlaufen. Noch gut vorstellbar, wie die Gastwirtschaft in diesem Haus vor fünfzig, sechzig Jahren florierte. Die Lastwagen standen sicher in langen Reihen sauber positioniert unter den noch jungen Bäumen, während die Fahrer im Gastraum saßen und ihren Eintopf löffelten, ihr Bier tranken, zwei vielleicht, bevor es weiterging. Zigaretten im Staub, zerdrückt, zertreten. Der Garten der Gastwirtschaft, so wurde mir gesagt, sei ein reiner Nutzgarten gewesen, während er heute ein reiner Ziergarten ist. Ziergarten, denke ich und drehe mich um, die Zierde des Hauses, der ehemaligen Gaststätte, nunmehr meines Hauses, das ich allein bewohnen werde müssen, wie es aussieht. Das halb verrottete Emailleschild über dem Eingang bleibt. Der [4] Gast bin ich. Noch. Ob aber weitere Gäste kommen, entscheidet die Landstraße. Ich drehe mich um, der Garten erwartet mich, er will bearbeitet werden, mit Hacke und Spaten, Sense und Axt. Ich bin bereit. Der Geruch der Brennnesseln liegt schwer in der Luft. Ich werde eine Schneise schlagen müssen. Bis zu den Pflaumenbäumen. In der Senke werde ich nicht sensen, auch die Taubnesseln, die hier und da ihren Raum füllen, bleiben. Ich habe kaum Reste des Ziergartens finden können, vom Nutzgarten einige Beeteinfassungen aus Backstein oder großen Kieseln. Beides wuchs aus sich heraus zur Wildnis. Bewohnt aber war das Haus. Behaust gewissermaßen. Gegenstände oder Kleider, Schuhe, was auch immer ein Mensch im Leben hat und gebraucht, finden sich nicht. Dort jedoch, wo die Schuhe an- und ausgezogen wurden, an diesen Stellen sind Spuren eines Tuns, eines Lebens. Im Flur. Dort findet sich auf den ochsenblut[5]roten Dielen eine mattglänzende Stelle gegenüber der Küchentür, kaum mehr als als untertassengroß, und ich nehme an, hier wohl müssen alle Bewohner mit dem bestrumpften, wohl linken Fuß einbeinig gestanden haben, während sie sich den rechten Schuh vom Fuß zogen, um ihn dann achtlos fallen zu lassen. So stelle ich es mir wenigstens vor angesichts der Indizien, stellte es sogar sogleich nach, kaum dass ich diesen Eindruck gewonnen hatte, und siehe da, ich stehe mit dem linken, bestrumpften Fuß exakt auf der mattglänzenden Stelle des ochsenblutfarbenen Dielenbodens, nachdem ich mir zuerst den linken Schuh auszog, in die Knie gehend, mich bückend, um dann in einer sich natürlich ergebenden Standhaltung mich an das Ausziehen des rechten Schuhs zu machen. Womöglich tat das ein jeder Bewohner und ein jeder Gast auf genau diese Weise, obgleich es andere, ebenso natürliche Möglichkeiten gibt, etwa knieend beide Schuhbänder zu lösen, sich auf die Treppe zu setzen, die Schuhe (oder auch Stiefel) bereits vor der Haustür auszuziehen und so weiter. Doch die mattglänzende Stelle auf den ochsenblutroten [6] Dielen spricht eine andere Sprache. Die Schuhe wollen so und nicht anders ausgezogen werden, ich halte mich daran. So werde ich in immer höherem Maße Bewohner des Hauses sein, so hoffe ich, und dementsprechend immer weniger Gast.

*

Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht, ob ich nach irgendwohin zurückkann, zurückkönnte, und ich habe auch kein ahnungsvolles Gefühl, ob ich die staubige Allee nach links oder rechts hin begehen müsste, um einen Ort zu erreichen. Wohin führt diese Straße, frage ich mich, links ist Westen, rechts ist Osten, doch die eigentliche Antwort ist: zu diesem Haus hier führt die Straße. Mir ist, als sei ich sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten gekommen, und dies nicht im metaphorischen Sinne, sondern ganz real – zumindest in meiner Vorstellung der Realität. Tatsache [7] ist, sage ich, die hochstehende Sonne im Rücken, dass ich nun das Haus zu bewohnen und den Garten zu gestalten habe, oder umgekehrt, denn der Garten benötigt nur ein lichtendes Moment und später eine Art behutsamer Pflege, während das Haus von sich aus nichts selber machen kann, sondern gestaltet werden muss. Am Tag meiner Ankunft drehte ich zunächst einmal alle Wasserhähne auf, in der Küche, dem kleinen Badezimmer im ersten Stock, der Toilette am Ende des Flurs und in der Werkstatt im Anbau links vom Garten. Minutenlang rann rostiges Wasser aus den Hähnen. Auch lief ich durch alle Zimmer und schaltete das Licht an, trübe Deckenlampen, Wandlampen und zwei Nachttischlampen im Schlafzimmer. Nur in den Keller traute ich mich nicht. In der Küche dann, auf einem sonst leeren Bord, fand ich ein altes Transistorradio. Es funktionierte und spielte mir einen Marsch. Ich nahm das Radio [8] zur Hand und lief durch alle Räume, die Steckdosen zu prüfen. Sie funktionierten, auch in der Werkstatt. Dann war der Marsch zuende und ich stellte das Radio wieder auf das Bord zurück. Fehlte nur noch der Keller. Als Kind hatte ich Angst vor den Kellern, Ehrfurcht aber vor den Dachböden. Auch dieses Haus, das ich nun durchschreite zum Garten hin, hat ein Spitzdach und damit einen Dachstuhl, einen Dachboden. Eine schmale Stiege führt hinauf zu einer Bodenklappe, zweigeteilt, mit beiden Händen aufzustoßen. Morgen werde ich hinaufgehen. Oder sollte ich mich zunächst in den Keller trauen, um dann, als Belohnung, den Dachboden inspizieren zu dürfen? Ich nehme die drei Stufen zum Garten mit Schwung, ich fliege sie geradezu hinunter, stolpere und falle, liege mit Schmerzen am Boden und erinnere mich des Anfangs: es war mir angeboten worden, mich zu bringen, ich jedoch ging zu Fuß, [9] ging lange, bis unversehens das Haus auftauchte, linker oder rechter Hand, ich weiß es nicht mehr. Das Haus unterbricht die Allee, beschädigt sie gewissermaßen, eine lehmverputzte zweistöckig gebaute Raststätte mit einem von einem Sandsteinmäuerchen umrandeten ungepflasterten Parkplatz, ein Ort, so denke ich jetzt, aufstehend und mir die Knie reibend, der bessere Tage gesehen hat. Drinnen im Haus klingelt ein Telefon. Ich hatte kein Telefon bemerkt. Ich springe die drei Stufen fliegend hinauf, stürze nicht und renne wie angestochen im Haus umher, das Klingeln zu verorten. Es ist überall, schrill und überlaut, ein Telefonapparat aber ist nirgends. Dann verstummt es und ich bemerke in jedem [10] der Räume einen kleinen, nussbraunfarbenen Lautsprecher in einer der oberen Zimmerecken.

*

An der Kellertür steht KELLER, in Großbuchstaben. Oder doch zuerst den Dachboden erkunden? So frage ich mich. Ein Plan des Hauses und des Geländes, eine Draufsicht, müsse, so sagte man mir, irgendwo vorhanden sein, vier mit einer großen Büroklammer zusammengehaltene Blätter, fast quadratisch, die Übersichtszeichnung eines Bauzeichners mit freihändigen Ergänzungen. Einige Stellen seien eingekreist, eingekringelt. Warum wisse man nicht. Ich habe die alten Schränke durchforstet, kein Plan. Ich werde selber eine Skizze verfertigen müssen. Ich gehe in den Garten. Im Staub ist deutlich zu sehen, dass da jemand gelegen haben muss: Ich. Ich tue einen großen Schritt, stehe da und stemme die Fäuste in die Seiten. Der Garten ist die [11] reinste Wildnis, die Obstbäume stehen in einem Meer von Brennnesseln. Werkzeug sei da, wurde mir gesagt, für Garten und Haus.

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Ich entnehme einer der beiden Reisetaschen mein Bettzeug. Es ist mein erster Tag hier im Haus, ich erinnere mich. Kaum nämlich hatte ich das Haus mit den Taschen links und rechts betreten, ging ein kurzer Schauer nieder, worauf ein Regenbogen den Garten umspannte. Ein zweiter, blasserer Bogen über dem ersten, inneren. Ich nahm es als einen Willkommensgruß. Schwerer Geruch von Brennnesseln. Ich gehe hinaus in den Garten und atme tief. [12] Als ich wieder hineingehe steht plötzlich ein großer Indianer in der Tür des Schankraums und nickt mir trocken zu. Bitte? sage ich unfreundlich, worauf er sagt, die Tür stand offen. Dann klingelt das Telefon und der Indianer geht weg. Als es zu klingeln aufhört wird mir klar, dass er den Hörer des  Telefons abgenommen haben muss. Was sonst!

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Ich glaube, dass der Indianer entweder [13] auf dem Dachboden wohnt oder im Keller und er also damals gelogen hat als er sagte, die Tür habe offengestanden, so als sei er von draußen hereingekommen. Eine Lüge also, selbst wenn die Tür wirklich offenstand. Spontan entscheide ich jetzt, auf den Dachboden zu gehen, zu klettern, und natürlich kann ich mir allzu leicht vorstellen, ihn mitten im Raum hocken zu sehen, aber das reicht nicht, in echt muss ich ihn sehen. Und was, wenn er tatsächlich dort sitzt, was dann tun? Ihm erklären, ich hätte das Haus samt Grundstück gemietet, um hier ungestört leben zu können? Oder ihn zunächst einmal fragen, wer er sei und ob er überhaupt Indianer ist? Und fragt er mich, wer ich sei, was sagen? Was sagen? Bin ich der Indianer?

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Auf dem Dachboden ein Holzverschlag neben dem anderen. Hallo, rufe ich. In den Verschlägen allerlei Krempel, Nachttischschränkchen, Lampen, Leuchten, Hocker, Emailleschüsseln, stumme Diener, aufgerollte Teppiche, Anrichten und Hängeschränke, Wärmeflaschen [14] aus Zink oder Gummi, Kinderspielzeug aus Blech. Vom Indianer keine Spur. Im durch das kleine Dachfenster hereinbrechenden Licht kleine tanzende Staubflöckchen, ein Flöckchenball zur Feier meines Besuchs. Ich öffne einen Verschlag nach dem anderen und nehme die Dinge in die Hand, mit einiger Ehrfurcht, wie mir selber scheint. Im vorletzten Verschlag links ein Karnevalskostüm für Kinder, Häuptlingsschmuck, Aha rufe ich, zwei Cowboyhüte, ein Revolvergurt ohne Revolver, eine braune Kunstlederjacke mit Fransen an den Ärmeln. Ich sehe die Kinder durchs Haus tollen, die Erwachsenen aber ihre übliche Arbeit verrichten. Sie haben alberne Hütchen auf dem Kopf, schließlich ist Karneval, tragen aber eine Leichenbittermiene zur Schau. Auch die Gäste, ich sehe mit einem Male Gäste im Haus, Reisende, gucken verdrießlich aus der Wäsche. Nur manchmal, wenn Kinder durch den Schankraum laufen, quälen sie sich ein Lächeln ab. Die Arbeit wartet, für Albernheiten ist keine [15] Zeit. Kind müsste man sein!

*

Ich gehe durch den Garten. Ich schreite alles [16] ab. Die Obstbäume müssen beschnitten werden, die Brennnesseln, die noch immer ihren schweren Duft über alles legen, müssen aus den Beeten entfernt werden. Hinter dem Teich dürfen sie bleiben, bei den Robinien. Platz für ein Tipi, denke ich unwillkürlich, wäre ja. Doch ich darf mich nicht auf den Indianer fixieren! Sah er denn nicht genau so aus wie die Indianerfigur, die ich als kleiner Junge mit mir herumtrug und später ins Bücherregal stellte? Denkbar, eine Posse meines Hirns, das sich ob meines eigenen Erstaunens in seiner hintersten Kammer kaputtgelacht hat. Und natürlich sitzt der Indianer Pfeife rauchend eben dort und lacht sich einen Ast. Und da Rauchen und Lachen zusammen nicht gut funktioniert, muss er husten, hustend lacht er, er hört gar nicht wieder auf damit, und ich habe Kopfschmerzen deswegen. Platz für ein Tipi draußen im Garten wäre aber auf jeden Fall. Indianer! Hörst Du mich? [17]

*

Als ich erwache, weil jemand unten gegen die Haustüre pocht, ist mein Kopf leer und die Erinnerung an den Indianer muss sich wohl in dem Notizbuch, in Heft III, befinden, das auf dem Küchentisch liegt. Ich werde später mal nachsehen. Jetzt aber werfe ich mich erstmal schnell in meine Kleider. Wer das wohl sein mag, der da so knöchern an meine Tür pocht? Laut lachend nehme ich die Treppe wie im Fluge. Wer das wohl sein mag!

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© und alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus bei Norbert W. Schlinkert 2025

 

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