Schadhafte Texte (1)

Kranzlers Büro müßte, dachte er jetzt, wollte dort etwa ein Nachfolger einziehen, zunächst einmal gesäubert werden. Auch der Putz müßte sicher abgeschlagen und erneuert werden, und selbst die Holzrahmen der Fenster rochen wohl ebenso nach Kranzler wie die Auslegeware, der Schreibtisch, das Waschbecken, der Spiegel, alles, einfach alles stinkt nach diesem Menschen. Zum Glück kurbelte die Krämer damals sofort und trotz des Regens das Fenster herunter im Wagen, noch bevor sie sich anschnallte. Niemand hätte sich das getraut, nicht er und auch die Semper nicht, so mutig und selbstbewußt sie ist und auch damals schon war. Wie oft hatte er wohl darüber nachgedacht, wie die Nähe zu Kranzler zu vermeiden ist. Am ersten Tag in der neuen Position überlegte er bereits, wie er, war die Nähe, etwa in Sitzungen, nicht zu vermeiden, allen klarmachen konnte, daß Kranzler es sei, der stank, nicht er. Aber er hatte schnell herausgefunden, daß der Gestank, den Kranzler absonderte, tagtägliches Thema war, und ein leichtes, ostentatives Naserümpfen genügte bereits, wenn man sich auf dem Flur begegnete. Man war sich einig, man wußte umeinander, wußte, warum manche Kollegen im Winter in dicken Strickpullis am offenen Fenster arbeiteten, um möglichst viel frische Luft hereinzulassen, zumindest so lange, bis Kranzler schließlich eintraf, und er selbst tat es ja jetzt auch, nicht ohne sich zu erkälten gelegentlich, nichts Schlimmes bisher, während jedoch der ein oder andere Kollege, immer waren es Männer, sich durchaus auch manchesmal eine Lungenentzündung geholt hatten. Die Frauen neigten eher zu Blasenentzündungen, und im Winter fehlte nicht selten die halbe Belegschaft, nicht selten auch mußte, noch im Winter, eine Stelle neu besetzt werden, nachdem klar war, der Kollege oder die Kollegin würde nicht wiederkommen, geschädigt fürs Leben. Aber auch die Neuen wurden winters schnell krank, während es sich durchaus gesundheitlich auszahlte, daß fast niemand außer Kranzler den Lift benutzte und so alle, fast ohne Ausnahme, die Stockwerke zu Fuß bewältigten. Im Sommer, so kann gesagt werden, dachte er jetzt, sind wir tatsächlich alle mehr oder weniger gesund, während wir im Winter alle mehr oder weniger krank sind. Die einzige Ausnahme bildet Kranzler selbst und der sich um alles kümmernde Hausmeister, Kübler, dessen Glück es ist, nach einer durch einen Zeckenbiß im böhmischen oder bayrischen Wald übertragenden Gehirnhautentzündung seinen Geruchssinn verloren zu haben. Dieses an sich schreckliche Defizit sichert ihm hier, solange Kranzler an der Spitze steht, den Posten des Haus- und Hofmeisters, den er tatsächlich in völliger Unkenntnis des überall im ganzen Haus herrschenden Gestanks innehat, dachte er jetzt. (Schweigen. Heraklitischer Fließtext / Skizze einer Nacht. S.32ff.)

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