Anmaßung, die erste

Man zeihe mich der Anmaßung, doch eben über diese hätte ich einiges zu berichten, und zwar aus der Praxis meiner eigenen. Gewiefte Zeitgenossen erkennen schon im ersten Satz die Anwendung einer Vielzahl rhetorischer Mittel, die im einzelnen zu benennen nicht meine Aufgabe ist, weil ich sie damit gleichsam vernichtete, was eben keinesfalls in meinem Sinne wäre. Sodenn: die Anmaßung. Was maßte ich mir also an, sagen wir seit dem Tag meiner Geburt – oder nein, das ist zu früh, denn vor dem Erwachen des Ich-Bewußtseins maßen sich ja alle Menschen ganz naturgemäß Grundsätzliches an, so auch ich. Also sagen wir mal, meine Anmaßungen begannen mit meiner ersten begründeten Überzeugung, die ich gegenüber einem mir fremden Menschen vertrat. Ich muß so etwa fünf Jahre alt gewesen sein, ich spielte auf der Straße und hatte wohl einige mir namentlich nicht bekannte Mitkinder getroffen, jedenfalls entsponn sich eine Diskussion: es ging um die Vor- und Nachteile des Haupt- bzw. Seitenständers bei Zweirädern. (Bei männlichen Menschen ist ja der Haupt- zugleich der Seitenständer, je nach Blickwinkel – dies jedenfalls würde ein heutiger Jean Paul sicher anmerken, weswegen ich es in Klammern setze, obwohl dies Jean Paul nicht getan hätte und eher die Fußnote gewählt haben würde.) So stand ich also mit anderen Jungs Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Ecke Lützowstraße / Arndtstraße in Hagen/Westfalen, wo die Straßen steil sind wie Weinberge und ich mit meinen Eltern damals wohnte, weil eine Tante von mir meiner Mutter als ihrer Schwester geraten hatte, nicht in die angrenzende Heimatstadt meines Vaters zu ziehen der Schwiegereltern wegen, die dann in zu großer Nähe wohnen täten, was mir dann eine chronische Mandelentzündung der miesen Luft in Hagen wegen einbrachte, die sich, die Mandelentzündung, dann erst auf das heutige Maß verbesserte, als wir über den Berg nach Schwerte ins luftdurchströmte Ruhrtal zogen, jedenfalls, um auf die Diskussion und die erste meiner Anmaßungen zurückzukommen, wollte mir einer dieser Kerle einreden, der Seitenständer wäre für jedwedes Zweirad die bessere Variante, worauf ich auf den Vorteilen des Hauptständers, wie der an meinem Tretroller, beharrte. Nun muß man wissen, daß Kinder damals noch Zeit ohne Erwachsene verbrachten, ich also ganz auf mich allein gestellt war, was vor allem deswegen schwierig wurde, weil gleich alle anderen Jungs nicht meiner Meinung waren – so ist es bis heute geblieben, nur selten schließt sich jemand meiner Ansicht an, ja meist rotten sich sogar mehrere Andere, Männlein wie Weiblein, zusammen, um es mit meiner Anmaßung aufnehmen zu können. Natürlich weiß ich heute, daß je nach Gefährt und je nach Untergrund mal der Haupt- und mal der Seitenständer die bessere Wahl ist, was aber auch heißt, die anderen haben eben nicht vollkommen recht, also nur halb recht, was mir, obwohl oder eher sogar weil in der Minderheit, die Hälfte des Rechthabens einbringt, wodurch ich moralisch zum Gewinner der Diskussion werde, was allerdings wohl nur meine Meinung allein ist. Das also war die erste Anmaßung meinerseits, auf die bis heute viele, viele folgen sollten, über die aber ein andermal zu berichten wäre, wenn es denn beliebt.

Long Ago (NB), Norbert W. Schlinkert

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