08/15

Die Hyperinflation in deutschen Landen von 1923 hat nicht nur Vermögen zerstört, sondern vor allem Vertrauen. Die Folgen sind bekannt. Neunzig Jahre später wird wieder Vertrauen zerstört, wieder geht es um Geld, Stichwort Bankenkrise und die Auswirkungen derselben, aber auch um den Verlust der historisch gesehen erst kürzlich errungenen Privatsphäre, Stichwort NSA-Affäre. Oder sollte dieses Mal alles anders sein, ausgerechnet in Deutschland? Sollte die Unterhaltungsindustrie derartig gut arbeiten, der merkelschen Politik derartig gut dienen, daß die Massen zufrieden bleiben und die Menschen in ihrer Mehrheit sich sicher und gut fühlen? Es spricht einiges dafür, das Ergebnis der Bundestagswahl, Umfragen, nach denen die Erkenntnisse der Spionageaffären den meisten Menschen keine Angst machen, die weithin akzeptierte miese Qualität des Fernsehprogramms und was nicht sonst noch alles. Natürlich gibt es kritische Beiträge zu allen wichtigen Themen (Waffenexporte, Flüchtlingspolitik, Tiertötungsindustrie, Massenarbeitslosigkeit usw.) in allen möglichen Medien, doch fast scheint es, als bliebe all dies nur so ein Treiben im kleinen Kreis derer, die sich ernsthafte und überaus berechtigte Sorgen um unser demokratisches Gemeinwesen machen, während die Mehrheit kaum noch bemerkt, mit welcher Unverfrorenheit gelogen, gestohlen, ausgebeutet und getötet wird. Hauptsache Fressen, Ficken, Fernreisen, darauf beruht die Macht heutzutage, und vielleicht würde es mal Zeit, daß die Kunst diesen Zustand der Gesellschaft als Thema aufgreift, ohne sich instrumentalisieren zu lassen und vor allem ohne einfach nur ein beliebiger Teil zu sein der alles in politischen Dämmerschlaf versetzenden Unterhaltungsmafia. Wäre das machbar, ginge das? Nein, das ginge nicht, denn entweder würde nur ein letztlich folgenloses Medienrauschen ausgelöst, Quatschköppequatschen in Talkshows, in denen quasi stellvertretend für die schweigende Mehrheit diskutiert wird, oder aber die Werke kursierten eben wieder nur in den Kreisen derer, die sie produzieren. Tja, gegen den Geist der Mehrheit ist eben kein Kraut gewachsen, aber auch das ist Demokratie, nämlich die Art, die man durchaus 08/15-Demokratie nennen könnte, weil alles so schön standardmäßig zusammenpaßt. Was soll man da mit Kunst, die zeitgemäß ist und von den Menschen Anteilnahme verlangt? Man sollte sie gar nicht mehr produzieren, oder wenn, dann nicht einmal mehr aus Verzweiflung, sondern einfach nur aus Überdruß, ja: Überdruß – was für ein schönes, energiegeladenes Wort!

Klare Verhältnisse, Norbert W. Schlinkert

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4 Antworten auf 08/15

  1. Iris sagt:

    Überdruß (bzw. Überdruss, wie ich es schreibe, aber gesprochen meinen beide ja dasselbe) ist wirklich ein schönes Wort, an das ich tatsächlich des öfteren denke, dann auch daran, wie gerne ich es manchmal verwenden würde, aber irgendwie nie die passende Gelegenheit finde. Aber Sie zählen in ihrem Artikel ja so einiges auf, dessen man überdrüssig sein könnte, und das Bild am Ende wirkt auf mich wie eine Handbewegung, die all das hinwegfegt oder ein Blick, der sich, müde gekreiselt, unscharf stellt.

  2. Dem Überdruß ein Schnippchen (zu) schlagen und des Wortes Energie zugleich sinnreich (zu) nutzen, das ist die eigentliche Kunst, denn seltsamerweise verweist es überhaupt nicht auf ein Akzeptieren einer Lage. Wer einer Sache überdrüssig ist, der tut was und ist eben nicht verzweifelt. So kann man seiner eigenen Verzweiflung überdrüssig werden, nicht aber am Überdruß verzweifeln – so sehe ich das wenigstens.

  3. derdilettant sagt:

    Überdruss hängt mit Überdruck zusammen – da kann in der Tat ja was draus werden. Gefährlich finde ich seine Nähe zum Ekel, zum Ennui. Da hüte man sich vor.

  4. Die in der Tat im Überdruß steckende gefährliche Nähe zum Ekel erinnert mich an meine erste sehr intensive Lektüre, nämlich Sartres ‚Der Ekel‘ – der Ich-Erzähler fängt ihn sich ein wie eine Krankheit, die er nicht mehr los wird, trotz Überdrusses. Da hilft selbst Unterdruß nichts mehr.

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