Balkenbiegen

Ich habe zwei große weiße Pappen an die Wand geklebt und entwerfe darauf meinen neuen Roman. Mit einem Bleistift des Härtegrades 3B. Sie wissen schon, Namen, Sätze, Pfeile von hier nach dort, durchgestrichene und eingekreiste Worte, Ausrufezeichen, Fragezeichen, vor allem Fragezeichen. Gleichzeitig beginne ich mit dem Schreiben, und zwar ganz vorne mit dem Epilog. Zunächst ist alles, so wie ich es mir vor- und darstelle, sehr verwickelt, unklar und an vielen Stellen offen – ich kenne die Motivlage der Protagonisten noch nicht, nur meine eigene ist mir einigermaßen schlüssig, weil es einen mit mir teilweise deckungsgleichen Ich-Erzähler geben wird, der all die Fetzen anderer Identitäten und Geschichten zusammenfügt. Den bisher entstandenen 16 Seiten des Epilogs, was zwei Arbeitstagen entspricht, stehen bereits entworfene und teils geschriebene „Originaldokumente“ zur Seite (Tagebucheinträge, Essay, Romanfragment, Briefe), die von handelnden Personen stammen, die es teilweise noch gar nicht gibt, während die drei bisher aufgetauchten Menschen bereits damit beginnen, mir ihre Identität, ihr Sein aufzudrängen, sich in meine Gedanken zu schleichen, mich anzufixen, zu manipulieren. Ich kenn das schon, Jeder und Jede will die Hauptrolle haben, koste es, was es wolle. Sollte ich diese drei bisher aufgetauchten Menschen kurz beschreiben, so würde ich sagen: ein frivoles Miststück, ein rachsüchtiges Miststück und ein mieser alter Sack, der hinter seiner bürgerlichen Kulisse Pläne schmiedet, die zum Ende der Republik führen sollen. Ach ja, der Roman hat zwei Zeitebenen, die ein hohes Menschenalter auseinanderliegen und doch beide in höchstem Grade modern sind in dem Sinne, daß Grundsätzliches sich ändert, nach und nach, schleichend, manchmal sogar mit der Anmutung der Seinsverbesserung. Mit Realismus aber, da seien Sie versichert, hat das alles nicht viel zu tun, es wird gelogen werden, daß sich die Balken biegen, was kein Wunder ist, ist doch selbst unsere uns so bekannt dünkende Welt nichts weiter als das Ergebnis von Mythen, Mythen, Mythen, die sich Menschen wie wir in bunter Vorzeit ausdachten, um von den Bäumen runterzukommen. Das ist die Wahrheit.

So what! Norbert W. Schlinkert 

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