Ist Literatur tanzbar? Und wenn doch, wo findet dieser Tanz statt? Zunächst einmal muss der richtige Ton getroffen sein, ganz wichtig, um sich als Leser auf den Rhythmus des Textes und schließlich auf dessen Inhalt einzulassen. Wenn der Text dann in mir schwingt, ist also schon einiges gewonnen. Ob ich dann Robert Musil lese oder Brendan Behan, macht dann keinen wirklichen Unterschied mehr aus. Kapellen allerdings, die mir mit moralischer Schmalzmusik kommen, bringen in mir nichts in Wallung, allenfalls die Wut, die ja bekanntlich nur zum Veitstanz führen kann. Also raus mit jedweder Moral, raus aus der Literatur! Hurtig! Mach dich vom Acker, du alte Pottsau! Só! Natürlich, das muss unbedingt erwähnt werden, kann im Text jemand, der ordentlich ins Dintenfass der Moral getaucht worden ist, durchaus auftauchen und fürchterlich rumfuhrwerken. Inhaltlich geht alles. Gestern las ich übrigens auf einer kurzen Fahrt mit der Regionalbahn, und die war voll, weil das Volk am Sonntag frei hat und ins Grüne will, und was soll ich sagen, außer dass ich das nächste Mal, wenn ich da raus fahre nach Falkensee, sicher nicht den heiligen Sonntag wählen werde. Auf der Rückfahrt war es noch voller, voll, voller, am vollersten, die Jugend selbst auf dem Rückweg von irgendwelchen Festivals, alles in bester Laune, bis auf ein zusteigendes spandauer Proletenpärchen älteren Semesters, die konnten das gar nicht ab.
*
Wenn der Sommer eine Spur zu warm ist (eine Spur = 5 Grad°) kann man zweierlei machen. Entweder sieht man sich Filme an, die in warmen Weltregionen spielen, oder solche mit Eis und Schnee. Bloß nichts Gemäßigtes, da kommt man in Teufels Küche. Das Gleiche gilt fürs Lesen. Wenn ich gegen Abend mich auf die ein oder andere Parkbank der Prenzlauer Berge hocke, dann lese ich entweder kalte oder heiße Literatur, deren Lektüre ich auch nur unterbreche, um kurze Blicke zu schönen Frauen hinüberzuwerfen. In meiner momentanen Hauptlektüre ist jedenfalls Winter, Liverpool so Anfang der 1940er-Jahre, Untersuchungsgefängnis für Jugendliche. Das erfrischt sehr, wenn man da liest, wie der arme Kerl kaum bekleidet in seiner kalten Zelle hockt und strengen Arrest verbüßt, weil er einem, der es nicht besser verdient hat, die Fresse polierte. Das andere Buch, das ich mir wieder mal vorgenommen habe, ist ‚Die Insel des zweiten Gesichts‚ von Albert Vigoleis Thelen, und das spielt von 1931 bis 1936 auf Mallorca, und da ist ja wohl meistens Sommer. Beide Bücher sind autobiographische Romane von Autoren, die das Glück hatten, etwas Erzählenswertes gelebt zu haben – heutzutage erleben viele Autoren hierzulande ja eher nicht viel mehr als Unibetrieb, Praktikum in Dingsda, ein paar Drogen und dann Kinder, Haus, Baum und so weiter, also jedenfalls die Autoren, die vom staatlich-offiziellen Literaturbetrieb gepampert werden oder des Volkes Gunst auch ohne das erfahren. Naja, Hauptsache, die Qualität stimmt, und das ist ja wohl eindeutig nicht der Fall.
***