Ich arbeite an einem neuen Text, der bereits unter einem anderen Arbeitstitel mal neu gewesen ist vor etwa einem Jahr, also zu einer Zeit, als der russische Präsident Putin den Angriff auf die Ukraine auf allen Ebenen schon vorbereitet hat. Mit Krieg hat mein Text aber nichts zu tun – das könnte ich mir selbst ohne weiteres in die Tasche lügen. Eine Verschlagwortung beinhaltet vorläufig nämlich nur die folgenden Begriffe: Visualistik, Fotografie, Onomatopoetik, Biographie, Autofiktion, Hermeneutik, Tod, Nebel. Dennoch schreibe ich, während der offene Krieg in der Ukraine gefühlt und räumlich nah ist. Omnipräsent jedenfalls dringt er ein in unsere Gedanken, Träume und Gefühlswelten, und ja: er beeinflusst auch unsere Arbeit, auch die, die nichts mit Krieg zu tun hat. Andererseits hat sie im Falle meines Textes eben doch, nämlich in den autobiographischen Teilen, in denen von Kindheit die Rede ist, von meinem kindlichen Nichtverstehen, mit Krieg zu tun. Hier ein Stück aus dem Manuskript:
Dann sitze ich plötzlich im mit Möbeln vollgestopften winzigen Wohnzimmer der Großeltern. Ein Feiertag. Oder ein Geburtstag. Kaffee und Kuchen. Alle sprechen durcheinander, die Onkel und Tanten, die Eltern und die Großeltern, alle Plätze besetzt, die Cousinen am Fenster auf Stühlen, mein Bruder sitzt neben meiner Mutter, ich auf der Kante des Sofas, eingequetscht zwischen dem einen Onkel und dem andern Onkel. Ich beobachte meine beschuhten Füße auf dem ochsenblutroten Dielenboden an der Kante zum Teppich, der unter dem Couchtisch liegt. Verstehen tue ich nichts. Fragt man mich etwas, so blicke ich kurz auf und sage Ja. Über mich hinweg fliegen die Worte. Eine Tante streicht mir über’s Haar. Wie schön, sagt sie. Ein Onkel ruft mehrmals Front, darauf Stalingrad der andere, die Zehen einzeln wieder der eine, mit dem letzten Flieger der andere, abgebrochen, und dann raus. Daraufhin schweigen alle, der Kohleofen knackt leise und tickert vor sich hin, bis die eine Tante, die einmal Friseuse gewesen war, wieder mein Haar lobt. Ach, wärst du nur ein Mädchen geworden, sagt sie immer. Ich sage nichts.
Was mir lange schon durch den Kopf ging, dass ich nämlich nur kurze 19 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs geboren bin, 31 Jahre nach der Machtergreifung Hitlers, erfährt dieser Tage eine neue Brisanz. Was tun? Diskutieren? Sagen, dass etwa die polnische Regierung einen rassistisch motivierten Blick auf Flüchtlinge hat, und dass sich in Deutschland eben dies (gleichsam unterhalb des Radars) auch in der Praxis der vielen „Einzelfälle“ beobachten lässt, Abschiebung von Asylbewerbern, nicht eben selten von Menschen mit Arbeitsplätzen und Kindern, die nur deutsch sprechen, naja, Sie wissen schon, morgens um sechs die Tür einrennen, Vater, Mutter und Kinder ab in den Flieger, aus die Maus. Oder man denke nur an die Flüchtlinge auf Lesbos und anderswo, die man in Lagern mehr schlecht als recht leben und ohne Hoffnung vor sich hin vegetieren lässt, statt ihnen zu helfen. Weil sie keine Europäer sind? So sieht es aus. So ist es! Krieg vernebelt nicht nur die Wahrheit, sie offenbart sie mitunter auch. Denn warum darf ein „normal“ um Asyl bittender Mensch in Deutschland nicht mal seinen Landkreis verlassen, Wohnsitzauflage, während Ukrainer sich nun frei in der EU bewegen dürfen? Muss das nun nicht zwingend für alle gelten, die um Asyl nachsuchen? Unabhängig von der Berichtslage? Denn zwingende Gründe für den Aufenthalt bei „uns“ haben ja alle, der putinsche Krieg in der Ukraine ist ja schließlich nicht der einzige auf der Welt. Krieg ist immer, nur nicht immer unmittelbar überall. Aber das alles sind nur wohlfeile Gedanken eines Schreibers, eines „Schriftlers“, der im Trockenen sitzt und sich fragt, ob er sich angesichts der Lage auf sein im Herbst erscheinendes neues Buch freuen und sich mit Arbeitsfreude seinem neuen Text widmen darf, der womöglich dann auch in Kriegszeiten veröffentlicht wird. Oder eher: wenn er veröffentlicht wird, wird Krieg sein. Also weiter im Text? Ja, weiter im Text.