EROSTEPOST-Literaturpreis 2023 an Doris Konradi und Moritz Detje, hier aber mein Beitrag

Zunächst mal Herzliche Gratulation an Doris Konradi und Moritz Detje zum EROSTEPOST-Literaturpreis 2023!

Die Ausschreibung des EROSTEPOST-Literaturpreises lautete wie folgt:

Was Österreichs Nobelpreisträger für die wichtigste Erkenntnis der Physik hält, kann für die Literatur nur recht sein (billig natürlich nicht!). Deshalb ein Ausflug der Literatur in die Physik und damit in eine Welt, die – um bei Anton Zeilinger zu bleiben – „alles ist, was der Fall sein kann“; der Physiker hat einst um diese Definition den wohl bekanntesten Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein, „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, erweitert.

Damit ist das Wort bei Ihnen. erostepost lädt Sie herzlich ein zur Teilnahme an dieser höchst philosophischen Ausschreibung für den Literaturpreis 2023. Erst das, was geschrieben wird, erzeugt eine Welt, vielleicht auch eine Wirklichkeit, in jedem Fall einen Text, im besten Fall einen guten. Überlassen Sie also nichts dem Zufall beim Schreiben – oder auch alles! Und dann überlassen Sie ihn gerne uns, den guten Text.

Die gelungensten Beiträge werden in der Ausgabe 66 der erostepost im Herbst 2023 gesammelt; im Rahmen der Präsentation dieser Ausgabe wird dann auch die Preisvergabe erfolgen mit Lesungen der Preisträgerin bzw. des Preisträgers. Oder auch von mehreren – die Jury behält es sich vor, den Preis auf verschiedene Einsender:innen aufzuteilen.

Wie auch immer die Sache ausgeht, seien Sie versichert: Nichts geschieht ohne Grund!

Daraufhin verfasste ich den unten stehenden Text, den ich hiermit einfach mal zu Protokoll gebe, damit er mir nicht in der Schublade vergammelt.

*

Norbert W. Schlinkert: Anonyme Einreichung zum erostepost-Literaturpreis 2023

Sein – Kann – Alles

Das ist doch Quatsch, was der Zeilinger Anton da von sich gibt! Aus einer kleinlich-menschlichen Perspektive heraus mag das zwar einen Sinn machen, da gibt es Dinge, die ohne Grund geschehen. Zufällig. Doch sobald man, sage ich, die Dackelperspektive des Menschlichen aufgibt, sich aufschwingt, Überblick gewinnt und bereit ist, sich wann immer notwendig zielgerichtet in die Tiefe zu stürzen, ein Detail am Kragen zu packen, wieder in die Höhe zu steigen, es aufmerksam zu studieren, ja, sobald eine solche Tat vollbracht ist, kann eben doch alles einen erkennbaren Grund haben! Unmöglich, werden einige rufen, das geht zu weit, und manch einer wird sich gar ereifern, der Mensch habe sich nicht aufzuschwingen … ich aber sage, wer der Wissenschaft, dem Denken und der Kunst den absoluten Zufall als Prallbock vor die Nase pflanzt, ihn als konstitutiv für die Welt ansieht, der muss selbst schon heftig dagegengerannt sein.

Soweit der multipolare Ich-Erzähler in einer ersten Wutrede, mit der er es aber auch gut sein lassen will, denn Wut und Prallbock passen, so weiß er aus einiger Erfahrung, nur allzugut zueinander. Doch wenn es etwas zu überdenken, zu erzählen gibt, etwas erzählt werden kann, so muss auch erzählt werden, und sei es vom Zufall – da hat der Zeilinger Anton den Nagel immerhin auf den Kopf getroffen. Die erste Wut ist also verraucht, niemand ist verletzt, so wir uns also der Erschaffung einer Geschichte über den Zufall widmen können. Am Ende wird, so der Plan, ein Sein stehen als eine poetische Wahr- und Wirklichkeit aus Buchstabe, Wort, Satz und Sinn, in der der Zufall seinen ihm gemäßen Platz gefunden haben wird, nicht mehr und auch nicht weniger.

Dementsprechend werden wir, und zwar weil es eine Möglichkeit ist, zunächst dennoch die Dackelperspektive des Allzumenschlichen einnehmen, um mit Blick gen Himmel und Olymp wutbrennende Geschichten zu erfinden, die uns Lach-, Freuden- oder Verdrießungstränen in die Augen treiben, je nach Lust, Laune, Erbanlage und Charakter. Nicht zuletzt auch werden wir immerfort auf Ideen stoßen, die nach Heinrich von Kleist auf eine gewisse Weise zufällig, will sagen beifällig beim Sprechen entstehen. Das gibt dem Zeilinger Anton aber durchaus nicht recht – ganz im Gegenteil.

Was aber sagt der Zeilinger Anton denn nun eigentlich, wenn er sagt, er glaube, der Zufall sei konstitutiv für die Welt, immer und überall? Sagt er dann nicht, die Wühlmaus, mit der der multipolare Ich-Erzähler zurzeit zu tun hat, wühlt sich womöglich aus schierem Zufall unter meiner Karotte durch, entdeckt sie und nagt sie an? Frisst sie womöglich ganz und gar auf. Das, sagt der Zeilinger Anton, sei am allerehesten Zufall! Machen Sie daraus, als stichhaltig arbeitender Literat, mal eine Geschichte mit Substanz! Aber schön, schultern wir die Herausforderung, bleiben also dabei und nehmen an, die Wühlmaus hätte ebensogut zufällig einen halben Meter von meiner Karotte entfernt, außerhalb des Beetes, ihren Tunnel graben können, die Karotte ergo nicht entdeckt, so sie also gerettet gewesen wäre. Und warum? Nun doch wegen des halben Meters Abweichung! Und natürlich wird die Wühlmaus immer ihre Gründe haben, nach dorthin und eben nicht nach dahin zu wühlen.

Ich versteh’ den Kerl einfach nicht. Wittgenstein habe ich auch nie verstanden. Die Wühlmaus ist mir näher.

Aber ich denke weiter nach und frage alle Welt: und wenn es der Urknall gewesen ist, der dem Zufall ein Ende setzte, indem er der letzte seiner Art war, zugleich Zufall und nicht Zufall? Der Urknall ergo als Urknall der allgegenwärtigen Dauer-Komödie, als einer göttlichen meinethalben, in der das die Komödie auslösende zufällige Missgeschick noch Zufall genannt werden darf, alles Folgende aber Folgerichtigkeit genannt werden muss, ganz gleich, ob wir der Handlung nun folgen und alle Beweggründe erkennen können oder nicht?

Die Frage sei gestellt.

Und außerdem muss doch, bei Lichte betrachtet, jedes Ich mit Verstandesvermögen das eigene Sein zurückführen wollen und müssen auf belastbare Gründe, die über das schiere Vorhandensein von Vorfahren hinausgehen. Und selbst wenn man bei diesem Vorhaben nicht weit kommt, so liegt dies doch ausschließlich in einem Mangel an Möglichkeiten begründet, was der Zeilinger Anton zugeben muss, denn schließlich gäbe es ja auch die Quantenphysik nicht, wenn man alles darüber wüsste, weil dann nämlich die Beeinflussung durch menschliche Beobachtung, von der man auch alles wüsste, obsolet wäre und die Quantenphysik endlich frei.

Ich muss derweil beobachten, meiner eigenen Argumentation nicht mehr ganz folgen zu können. Denn einerseits bin ich, im Sinne des jeanpaulschen ich bin ein Ich, der zweifelsfrei vorhandene, sich selbst beobachtende multipolare Ich-Erzähler, der sich bereits im Urknall polarisiert haben muss – denn wenn ich im Urknall nicht möglich gewesen wäre, so wäre ich schließlich überhaupt nicht. Aus Möglichkeit wird Wirklichkeit. Andererseits aber sagt der Zeilinger Anton, die Welt sei alles, was der Fall sein kann, was dem Zufall, so der Zeilinger Anton implizit, nun erst recht Tür und Tor öffnet, wodurch ich mich in die missliche Lage versetzt sehe, dem Wittgenstein Ludwig mit seinem Die Welt ist alles, was der Fall ist recht zu geben, weil dies nunmal permanent und in schönster Folgerichtigkeit eine gegenwärtige Welt benennt, die Fall auf Fall entstanden ist und weiter entsteht, ob wir sie nun verstehen oder nicht.

Doch zurück zu meiner Wühlmaus und der Frage, ob sie meine Karotte nun verfehlt oder nicht verfehlt. Denn eine Wühlmaus unter meiner Karotte ist ebenso gut wie keine Wühlmaus unter meiner Karotte, da muss man die Kirche mal im Dorf lassen, denn was ich nicht weiß, weil ich es nicht in direkter Weise beobachten kann, geschieht ja dennoch oder dennoch nicht. Doch dass die Wühlmaus nur zufällig Wühlmaus ist und nur zufällig meine Karotte anknabbert oder nicht anknabbert, das ist mir gegenüber dieser kleinen wühlenden Kreatur zu respektlos. Auch sie hat ein Recht, die Folge von Einfällen genannt zu werden, denn schließlich war sie ja ebenso im Urknall bereits vorhanden wie ich, der multipolare Ich-Erzähler dieser kleinen Geschichte, die aus mir nicht erkennbaren Gründen nicht vorankommen will. Renne ich womöglich ständig vor diesen Prallbock, der in unserer Komödie den Zufall darstellt?

Allerdings hieße den Prallbock zu meiden, bis hierher nichts geschrieben und gesagt zu haben und auch am Ende nichts geschrieben und gesagt haben zu werden. Es gilt also, Prallbock her oder hin, des Zeilinger Antons Glaube, der Zufall sei für die Welt konstitutiv, mit wie auch immer zu erlangenen Gründen zu widerlegen, die vom Hier und Jetzt bis zum Urknall und wieder zurück reichen.

Da haben wir uns ja etwas vorgenommen, die kleine Wühlmaus und ich!

Und um das im Ringen um eine Geschichte nicht untergehen zu lassen: nicht etwa, dass wir der Meinung sind, alles Geschehen sei determiniert – keineswegs – wobei es eben der Umstand des Nichtdeterminierten ist, der jedem Fall zwingend einen spezifischen Grund zuweist, Teil einer Kette vom wie auch immer gedachten Ursprung bis zum Jetzt und Jetzt und Jetzt und so weiter in all seiner, wie soll man sagen: Folgerichtigkeit? Fallhaftigkeit? Denken wir weiter darüber nach.

Es ist übrigens der Fall, dass ich nicht nur eine einzige Karotte in meinem wilden Beet zähle, sondern viele. Meine Beobachtung der Karotten verändert nun aber nichts an ihrem Sein. Es sei denn, ich schritte meiner Beobachtung wegen zur Tat und zöge etwa eine Wurzel ans Tageslicht. Ich tue zunächst nichts dergleichen. Die Wühlmaus hingegen beobachtet keineswegs meine Karotten, sondern sucht in ihrer ureigenen Vorgehensweise systematisch nach Nahrung, und zwar wühlend unterirdisch. Das macht Sinn, denn käme die Maus oberirdisch, die Karotte zu erbeuten, käme sogleich die Katz. Die Maus wäre folgerichtig tot und die Karotte gerettet. Doch die Katze schleicht weiter, ohne die Zusammenhänge zu erkennen.

Aber weiter im Text. Spürt die Wühlmaus, so sie denn in der Nähe ist, meine Gegenwart, mein Beobachten? Man müsste sie fragen können, doch Unmögliches bleibt unmöglich. Aber da ich mit verschränkten Armen breitbeinig auf einem Podest nahe des Beetes stehe, mich nicht rühre und mich auch nicht mit Lavendelöl beduftet habe, weiß die Wühlmaus mutmaßlich nichts von mir. Sie sieht und riecht mich nicht. Nun wird es spannend. Wird die die Karotte anknabbern könnende Wühlmaus zu der Tat schreiten, zu der sie befähigt ist?

Ich beobachte. Mein Kopf arbeitet, er kann nicht anders. Die Wühlmaus wühlt, sie kann nicht anders. Ich, der multipolare Erzähler, denke mich hinein in die Wühlmaus, soweit es mein Vermögen zulässt, taste, rieche, schmecke, wähle eine Richtung, drücke einen Kieselstein nach oben, noch einen, irgendwo muss doch eine von diesen leckeren Karotten sein, da ist sich die Wühlmaus sicher, alles riecht doch danach, und weiter wühlt sie, dem Prinzip, so denke ich da oben auf meinem Podest, von Versuch und Irrtum folgend, und kein Stein liegt da zufällig, kein Bereich ist zufällig sandiger als der andere, und da, plötzlich, hat sie das spitzige Ende der Wurzel direkt vor ihrer Wühl- und Schnüffelnase. Na also!

Das Karottengrün der dritten Karotte von vorne gesehen, etwas abseits stehend, bewegt sich! Die Wühlmaus schreitet zur Tat. Weil sie es kann und weil sie es tut! Weil es so gekommen ist. Ha! rufe ich laut, doch das Gezuppel geht weiter, die Karotte hat keine Chance. Als ich ein paar Minuten später das Karottengrün vom Beet hebe, ist die Wurzel nahezu vollständig weggefressen. Ein Loch ist in der Erde, und mir will scheinen, als zwinkere mir die Wühlmaus aus der Tiefe zu. Ich zwinkere zurück.

Na also, sage ich, wenn das nicht der Beweis ist, wie unrecht der Zeilinger Anton doch hat! Haben muss! Ist die Karotte denn nicht von der Wühlmaus gefressen worden? Hatte ich nicht das Beet selbst angelegt? Ist nicht die Katze fehlender Zugriffsmöglichkeiten wegen weitergezogen? Habe ich denn nicht beobachtend da gestanden? Ja! All das trifft zu. Denken Sie da mal drüber nach! Hier aber erstmal ein abschließender, wenn auch nur vorläufiger Punkt – denn wer weiß, aber da begeben wir uns in den Bereich des zukünftigen Jetzt und damit der Zukunft, womöglich wird der Zeilinger Anton irgendwann doch noch recht haben werden. Kann auf jeden Fall sein!

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© und alle Rechte bei Norbert W. Schlinkert 2023

 

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