Fensterwetter / Fensternis

Norbert W. Schlinkert

Fensterwetter / Fensternis

Eine Art Märchen

Vor dem einen Fenster scheint die Sonne, vor dem anderen Fenster regnet es. Beides findet draußen statt. Das eine Fenster ist auf der Horizontalen zwei Meter vom anderen Fenster entfernt, und zwar in der selben nach Westen hin gelegenen Hauswand, hinter der sich meine Wohnung befindet, die auf der anderen Seite mit der nach Osten gelegenen Hauswand, die ebenfalls ein Fenster hat, begrenzt ist. Schnell schließe ich die Augen, ertaste die Türklinke der Wohnzimmertür und ziehe sie zu. Klack macht es. Ein drittes Wetter würde ich nicht ertragen. Man muss ja schließlich auf seine mentale Gesundheit achten, denke ich und wende mich wieder den beiden Fenstern zu. Das eine befindet sich im kleinen Zimmer, dort ist meine Bibliothek untergebracht, das andere, das genau genommen eine Balkontür ist, spendet der Küche Licht. Wenn auch im Augenblick trübes, denn es regnet ja, während das kleine Zimmer von Sonnenstrahlen geradezu geflutet ist. Träte ich nun aus dem Flur in die Küche und dann auf den Balkon, müsste ich also entweder eine scharfe Wetterscheide sehen oder einen unscharfen Übergang. Letzteres wäre, so wird mir plötzlich klar, aber dann doch ein drittes Wetter, von dem so oft die Rede ist in den alten Geschichten, die ich als Kind vollständig glaubte, bis mir in den Jahren der durchlittenen Pubertät im Kopf nach und nach graue Zweifel wuchsen. Ich stürze also ins Wohnzimmer, und tatsächlich erkenne ich sonniges Regenwetter, nicht das eine, nicht das andere, sondern beides, da draußen, worauf ich das Fenster aufreiße und mich ohne zu zögern ins Wetter werfe, um ein wenig hinauszuschwimmen. Die Gunst der Stunde, so denke ich, muss genutzt werden – die Mythen lügen schließlich nicht – ganz gleich, an welche Strände es mich nun wirft. Ja, so muss ich wohl gedacht haben, während ich bereits von der Hoftanne von einem Ast zum anderen sanft zu Boden gebracht werde. Wie hingepurzelt liege ich auf den Pflastersteinen. Mmh, denke ich, doch bevor ich mich überhaupt auch nur rühren, geschweige denn aufstehen kann, fährt mir plötzlich ein Kind mit seinem Bobby-Car voll in den Bauch. Aua, sage ich. Das Kind lacht. Ich stehe schnell auf und blicke auf das Kind hinunter und zu meiner Wohnung im vierten Stock hinauf. Weißt du, sage ich zu dem Kind, ich habe das dritte Wetter ausnutzen wollen, um ein wenig hinauszuschwimmen, aber nun kann ich mich an das Schwimmen gar nicht mehr erinnern. Stattdessen erinnere ich mich nur daran, der Tanne den Buckel hinuntergerutscht zu sein. Da lacht das Kind, wird dann aber ernst und sagt, das dritte Wetter reicht nicht, es muss auch noch der Vollmond scheinen und die Fledermäuse müssen fliegen, und du kannst von Glück sagen, dass die alte Tanne dich aufgefangen hat. Nicht wahr, alte Tanne, sagt das Kind, dreht sich dann aber mitsamt seinem Bobby-Car so schnell um und pest derartig fix davon, dass ich nichts mehr erwidern kann und allein im Hof stehe mit meinem Satz über altkluge Kinder, die der Teufel holen soll. Ich sehe mich um, die Tanne steht still, als sei nichts gewesen, niemand zu sehen, während sich die Dunkelheit langsam über dem Hof ausbreitet und hier und da einen Stern sehen lässt. Keine Sonne, kein Regen, keine einzige Fledermaus. Nur der Mond, und der wirft mir, als gäbe es kein Morgen, sein Alabasterlicht ins Gesicht, und so sehen wir uns eine Weile bleich an, bis der alte Knabe schließlich über die Brandmauer gleitet und verschwunden ist. Ich aber klettere, bevor die beginnende Morgendämmerung uns alle ereilt, flugs die Hauswand hoch in meine Wohnung. Vor allen Fenstern, das sehe ich sofort, ist das Wetter genau gleich, so als wäre es nie und niemals anders gewesen und als müsse es immer so sein, der Sonne, dem Mond, den Sternen und auch all den Fledermäusen zum Trotz. Regen wäre schön.

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Mit Weniger Weniger machen

Über 800 Blog-Einträge in meinen Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! bis dato, viele davon in einem bestimmten Stil, einem bestimmten Sound, von eigen-artiger Machart. Wie viele ich bei einer Blindverkostung als meine eigenen erkennen würde, sei aber mal dahingestellt. Mit der Veröffentlichung von Die Hoffnung stirbt immer am schönsten (Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022) ist immerhin ein reeler und haptischer Beleg dieser langjährigen Arbeit der Welt vorgelegt worden, und wer möchte, kann ja zusätzlich nach wie vor im Netz in meinem Blog schmökern wie er und sie will und all das Viele entdecken, was nicht im Buche steht. Mir aber schwebt seit einer Weile vage etwas Anderes vor, etwas Neues, wobei der Begriff Schweben die Sachlage recht gut beschreibt, denn zwar bin ich mir sicher, dass ich nach wie vor mit Worten, dem Wort, arbeiten will, aber das ist dann auch schon alles. Von was ich mich leiten lassen soll und werde – ich weiß es nicht. Üppig, umfangreich oder weitschweifig soll es aber nicht werden, denke ich, denn von allzuviel Gequatsche und Gelaber und Podcasting ist die Welt ja nun wirklich übervoll. Mit Weniger Weniger machen, das wäre es!

Und wenn das hier Angesprochene, was durchaus möglich ist, nichts, aber auch gar nichts werden und keinerlei Ergebnis zeitigen sollte – ja dann betrachten Sie diesen Text hier doch bitte als voll und ganz gegenstandslos und absolut nicht der Rede wert.

Norbert W. Schlinkert – Poesie (1996 / 2024)

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Kopfsachen, Wundränder und Tagebuchartiges

Mein fortlaufend weitergeführter Text Wundrand oder: Eine Kopfsache muss die Leser wohl in einige Verwirrung stoßen, denn glaubten da manche, man könne aus einem tagebuchartigen Text immer Schlüsse ziehen oder etwas lernen über den Verfasser, so haben diese sich in diesem Falle getäuscht und täuschen sich noch immer. Ein gewisser Frisch hatte, fällt mir grad ein, einmal die Idee, die Öffentlichkeit als Partner für derartige Texte aufzurufen, worauf er sich, so sagen manche, vom Erlös dieser Idee einen Jaguar kaufte, er also fortan mit einem Auto in der Öffentlichkeit herumfuhr, das von eben dieser bezahlt worden war. Chapeau, mein lieber Max! Muss man erstmal hinbekommen. Mein Text hingegen sucht keine Partner, wird keine Fahrzeuge bezahlen und bleibt fortlaufend, ich möchte fast sagen: schrundig, bleibt zudem unverkäuflich, lässt Homogenität vermissen und sich letztlich nicht einmal dem Tagebuchartigen, schließlich fehlen Orts- und Datumsanzeigen, hinzurechnen. Er kommt aus dem Nichts und wird wieder im Nichts vergehen. C’est la vie.

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Das nebenbei Erstellte als Eigentliches? Na hoffentlich nicht!

Kürzlich sagte Daniel Ketteler, Schriftsteller und Arzt, bezüglich des Sujets der literarischen Nebenproduktionen – Notizen, Tagebucheintragungen, Glossen, Briefe etc. –, dies seien doch oft die interessantesten Teile eines Werkes. Nun ja, ich weiß nicht so recht, ob ich da zustimmen sollte, aber da ich im Moment genau damit beschäftigt bin, nämlich mit dem fortlaufenden Erstellen des zweckfreien Textes Wundrand oder: Eine Kopfsache, will ich mal nicht so sein und die These zumindest nicht völlig verwerfen. Wer weiß denn auch, was in ein paar Jahrzehnten aus welchen Gründen auch immer an die Oberfläche gehoben wird. Womöglich gilt ein Nebenprokukt in einem bestimmten Kontext dann tatsächlich als eine Entdeckung, vielleicht sogar als eine literarische. Haben hat man in gelebter Gegenwart natürlich nix davon, aber abhalten von der Produktion unverwertbarer Texte will man sich ja nun mal auch nicht lassen. Das dazu!

Norbert W. Schlinkert. Licht, aufgehend

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Donald Trump und die Folgen – mein Artikel von 2016 reloaded

Artikel in der freitag, 25.11.2016

Donald Trump und die Folgen

Die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika und hierzulande steht vor einer entscheidenden Bewährungsprobe, denn gewählt werden können auch deren Feinde.

Von

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Das Haus / Die Straße

Norbert W. Schlinkert

Das Haus / Die Straße

Eine Erzählung

Heft III

Übertragung des Manuskripts in ein Typoskript

© 2025 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

[1] Kann man sich selbst zuhören, frage ich mich, und ist diese Frage bereits die Antwort auf die Frage? Schwierig. Ich stehe auf, beschreibe einen Kreis im Raum und bin bereits im Begriff zur Tür hinauszugehen, die Treppe hinab, um entweder im sommerlichen Garten zu landen oder auf der staubigen Landstraße. Etwas jedoch hält mich zurück. Muss ich das eben Angedachte noch einmal durchdenken, bevor ich in den Garten gehe oder zur Landstraße hinaus, das frage ich mich, denn ich kann ja alle Fragen, die mich und die Welt betreffen, ebenso gut wie [2] hier in diesem Zimmer auch draußen im Garten, auf der Landstraße gehend oder an anderen Orten überdenken. Wer weiß, sage ich, womöglich ist das Zimmer, der Raum, in dem ich lebe, der schlechteste Ort, Dinge zu überdenken. Oder der beste. Oder es ist gleich, wo ich mir selbst zuhöre, um die mir wichtigen Fragen zu stellen, zu erörtern, zu beantworten, denn bei mir und mit mir bin ich schließlich immer. Ich lege die Hand auf die Türklinke und ziehe die Tür auf. Jetzt, sage ich. Beantworte dir deine Fragen an der frischen Luft, sage ich, das wird dir gut tun. Ja.

*

Ein Wissenskorsett anzulegen ist mir nicht möglich, da all mein Wissen zu wild erworben worden ist und in kein Muster passt. Selfmade-Wissen müsste man es nennen, denke ich, während ich den Garten in meinem Rücken atmen höre, dennoch aber auf die staubige Straße trete, deren Baumreihen in beide Richtungen [3] beidseitig zu einem Punkt in der Ferne zusammenlaufen. Noch gut vorstellbar, wie die Gastwirtschaft in diesem Haus vor fünfzig, sechzig Jahren florierte. Die Lastwagen standen sicher in langen Reihen sauber positioniert unter den noch jungen Bäumen, während die Fahrer im Gastraum saßen und ihren Eintopf löffelten, ihr Bier tranken, zwei vielleicht, bevor es weiterging. Zigaretten im Staub, zerdrückt, zertreten. Der Garten der Gastwirtschaft, so wurde mir gesagt, sei ein reiner Nutzgarten gewesen, während er heute ein reiner Ziergarten ist. Ziergarten, denke ich und drehe mich um, die Zierde des Hauses, der ehemaligen Gaststätte, nunmehr meines Hauses, das ich allein bewohnen werde müssen, wie es aussieht. Das halb verrottete Emailleschild über dem Eingang bleibt. Der [4] Gast bin ich. Noch. Ob aber weitere Gäste kommen, entscheidet die Landstraße. Ich drehe mich um, der Garten erwartet mich, er will bearbeitet werden, mit Hacke und Spaten, Sense und Axt. Ich bin bereit. Der Geruch der Brennnesseln liegt schwer in der Luft. Ich werde eine Schneise schlagen müssen. Bis zu den Pflaumenbäumen. In der Senke werde ich nicht sensen, auch die Taubnesseln, die hier und da ihren Raum füllen, bleiben. Ich habe kaum Reste des Ziergartens finden können, vom Nutzgarten einige Beeteinfassungen aus Backstein oder großen Kieseln. Beides wuchs aus sich heraus zur Wildnis. Bewohnt aber war das Haus. Behaust gewissermaßen. Gegenstände oder Kleider, Schuhe, was auch immer ein Mensch im Leben hat und gebraucht, finden sich nicht. Dort jedoch, wo die Schuhe an- und ausgezogen wurden, an diesen Stellen sind Spuren eines Tuns, eines Lebens. Im Flur. Dort findet sich auf den ochsenblut[5]roten Dielen eine mattglänzende Stelle gegenüber der Küchentür, kaum mehr als als untertassengroß, und ich nehme an, hier wohl müssen alle Bewohner mit dem bestrumpften, wohl linken Fuß einbeinig gestanden haben, während sie sich den rechten Schuh vom Fuß zogen, um ihn dann achtlos fallen zu lassen. So stelle ich es mir wenigstens vor angesichts der Indizien, stellte es sogar sogleich nach, kaum dass ich diesen Eindruck gewonnen hatte, und siehe da, ich stehe mit dem linken, bestrumpften Fuß exakt auf der mattglänzenden Stelle des ochsenblutfarbenen Dielenbodens, nachdem ich mir zuerst den linken Schuh auszog, in die Knie gehend, mich bückend, um dann in einer sich natürlich ergebenden Standhaltung mich an das Ausziehen des rechten Schuhs zu machen. Womöglich tat das ein jeder Bewohner und ein jeder Gast auf genau diese Weise, obgleich es andere, ebenso natürliche Möglichkeiten gibt, etwa knieend beide Schuhbänder zu lösen, sich auf die Treppe zu setzen, die Schuhe (oder auch Stiefel) bereits vor der Haustür auszuziehen und so weiter. Doch die mattglänzende Stelle auf den ochsenblutroten [6] Dielen spricht eine andere Sprache. Die Schuhe wollen so und nicht anders ausgezogen werden, ich halte mich daran. So werde ich in immer höherem Maße Bewohner des Hauses sein, so hoffe ich, und dementsprechend immer weniger Gast.

*

Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht, ob ich nach irgendwohin zurückkann, zurückkönnte, und ich habe auch kein ahnungsvolles Gefühl, ob ich die staubige Allee nach links oder rechts hin begehen müsste, um einen Ort zu erreichen. Wohin führt diese Straße, frage ich mich, links ist Westen, rechts ist Osten, doch die eigentliche Antwort ist: zu diesem Haus hier führt die Straße. Mir ist, als sei ich sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten gekommen, und dies nicht im metaphorischen Sinne, sondern ganz real – zumindest in meiner Vorstellung der Realität. Tatsache [7] ist, sage ich, die hochstehende Sonne im Rücken, dass ich nun das Haus zu bewohnen und den Garten zu gestalten habe, oder umgekehrt, denn der Garten benötigt nur ein lichtendes Moment und später eine Art behutsamer Pflege, während das Haus von sich aus nichts selber machen kann, sondern gestaltet werden muss. Am Tag meiner Ankunft drehte ich zunächst einmal alle Wasserhähne auf, in der Küche, dem kleinen Badezimmer im ersten Stock, der Toilette am Ende des Flurs und in der Werkstatt im Anbau links vom Garten. Minutenlang rann rostiges Wasser aus den Hähnen. Auch lief ich durch alle Zimmer und schaltete das Licht an, trübe Deckenlampen, Wandlampen und zwei Nachttischlampen im Schlafzimmer. Nur in den Keller traute ich mich nicht. In der Küche dann, auf einem sonst leeren Bord, fand ich ein altes Transistorradio. Es funktionierte und spielte mir einen Marsch. Ich nahm das Radio [8] zur Hand und lief durch alle Räume, die Steckdosen zu prüfen. Sie funktionierten, auch in der Werkstatt. Dann war der Marsch zuende und ich stellte das Radio wieder auf das Bord zurück. Fehlte nur noch der Keller. Als Kind hatte ich Angst vor den Kellern, Ehrfurcht aber vor den Dachböden. Auch dieses Haus, das ich nun durchschreite zum Garten hin, hat ein Spitzdach und damit einen Dachstuhl, einen Dachboden. Eine schmale Stiege führt hinauf zu einer Bodenklappe, zweigeteilt, mit beiden Händen aufzustoßen. Morgen werde ich hinaufgehen. Oder sollte ich mich zunächst in den Keller trauen, um dann, als Belohnung, den Dachboden inspizieren zu dürfen? Ich nehme die drei Stufen zum Garten mit Schwung, ich fliege sie geradezu hinunter, stolpere und falle, liege mit Schmerzen am Boden und erinnere mich des Anfangs: es war mir angeboten worden, mich zu bringen, ich jedoch ging zu Fuß, [9] ging lange, bis unversehens das Haus auftauchte, linker oder rechter Hand, ich weiß es nicht mehr. Das Haus unterbricht die Allee, beschädigt sie gewissermaßen, eine lehmverputzte zweistöckig gebaute Raststätte mit einem von einem Sandsteinmäuerchen umrandeten ungepflasterten Parkplatz, ein Ort, so denke ich jetzt, aufstehend und mir die Knie reibend, der bessere Tage gesehen hat. Drinnen im Haus klingelt ein Telefon. Ich hatte kein Telefon bemerkt. Ich springe die drei Stufen fliegend hinauf, stürze nicht und renne wie angestochen im Haus umher, das Klingeln zu verorten. Es ist überall, schrill und überlaut, ein Telefonapparat aber ist nirgends. Dann verstummt es und ich bemerke in jedem [10] der Räume einen kleinen, nussbraunfarbenen Lautsprecher in einer der oberen Zimmerecken.

*

An der Kellertür steht KELLER, in Großbuchstaben. Oder doch zuerst den Dachboden erkunden? So frage ich mich. Ein Plan des Hauses und des Geländes, eine Draufsicht, müsse, so sagte man mir, irgendwo vorhanden sein, vier mit einer großen Büroklammer zusammengehaltene Blätter, fast quadratisch, die Übersichtszeichnung eines Bauzeichners mit freihändigen Ergänzungen. Einige Stellen seien eingekreist, eingekringelt. Warum wisse man nicht. Ich habe die alten Schränke durchforstet, kein Plan. Ich werde selber eine Skizze verfertigen müssen. Ich gehe in den Garten. Im Staub ist deutlich zu sehen, dass da jemand gelegen haben muss: Ich. Ich tue einen großen Schritt, stehe da und stemme die Fäuste in die Seiten. Der Garten ist die [11] reinste Wildnis, die Obstbäume stehen in einem Meer von Brennnesseln. Werkzeug sei da, wurde mir gesagt, für Garten und Haus.

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Ich entnehme einer der beiden Reisetaschen mein Bettzeug. Es ist mein erster Tag hier im Haus, ich erinnere mich. Kaum nämlich hatte ich das Haus mit den Taschen links und rechts betreten, ging ein kurzer Schauer nieder, worauf ein Regenbogen den Garten umspannte. Ein zweiter, blasserer Bogen über dem ersten, inneren. Ich nahm es als einen Willkommensgruß. Schwerer Geruch von Brennnesseln. Ich gehe hinaus in den Garten und atme tief. [12] Als ich wieder hineingehe steht plötzlich ein großer Indianer in der Tür des Schankraums und nickt mir trocken zu. Bitte? sage ich unfreundlich, worauf er sagt, die Tür stand offen. Dann klingelt das Telefon und der Indianer geht weg. Als es zu klingeln aufhört wird mir klar, dass er den Hörer des  Telefons abgenommen haben muss. Was sonst!

*

Ich glaube, dass der Indianer entweder [13] auf dem Dachboden wohnt oder im Keller und er also damals gelogen hat als er sagte, die Tür habe offengestanden, so als sei er von draußen hereingekommen. Eine Lüge also, selbst wenn die Tür wirklich offenstand. Spontan entscheide ich jetzt, auf den Dachboden zu gehen, zu klettern, und natürlich kann ich mir allzu leicht vorstellen, ihn mitten im Raum hocken zu sehen, aber das reicht nicht, in echt muss ich ihn sehen. Und was, wenn er tatsächlich dort sitzt, was dann tun? Ihm erklären, ich hätte das Haus samt Grundstück gemietet, um hier ungestört leben zu können? Oder ihn zunächst einmal fragen, wer er sei und ob er überhaupt Indianer ist? Und fragt er mich, wer ich sei, was sagen? Was sagen? Bin ich der Indianer?

*

Auf dem Dachboden ein Holzverschlag neben dem anderen. Hallo, rufe ich. In den Verschlägen allerlei Krempel, Nachttischschränkchen, Lampen, Leuchten, Hocker, Emailleschüsseln, stumme Diener, aufgerollte Teppiche, Anrichten und Hängeschränke, Wärmeflaschen [14] aus Zink oder Gummi, Kinderspielzeug aus Blech. Vom Indianer keine Spur. Im durch das kleine Dachfenster hereinbrechenden Licht kleine tanzende Staubflöckchen, ein Flöckchenball zur Feier meines Besuchs. Ich öffne einen Verschlag nach dem anderen und nehme die Dinge in die Hand, mit einiger Ehrfurcht, wie mir selber scheint. Im vorletzten Verschlag links ein Karnevalskostüm für Kinder, Häuptlingsschmuck, Aha rufe ich, zwei Cowboyhüte, ein Revolvergurt ohne Revolver, eine braune Kunstlederjacke mit Fransen an den Ärmeln. Ich sehe die Kinder durchs Haus tollen, die Erwachsenen aber ihre übliche Arbeit verrichten. Sie haben alberne Hütchen auf dem Kopf, schließlich ist Karneval, tragen aber eine Leichenbittermiene zur Schau. Auch die Gäste, ich sehe mit einem Male Gäste im Haus, Reisende, gucken verdrießlich aus der Wäsche. Nur manchmal, wenn Kinder durch den Schankraum laufen, quälen sie sich ein Lächeln ab. Die Arbeit wartet, für Albernheiten ist keine [15] Zeit. Kind müsste man sein!

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Ich gehe durch den Garten. Ich schreite alles [16] ab. Die Obstbäume müssen beschnitten werden, die Brennnesseln, die noch immer ihren schweren Duft über alles legen, müssen aus den Beeten entfernt werden. Hinter dem Teich dürfen sie bleiben, bei den Robinien. Platz für ein Tipi, denke ich unwillkürlich, wäre ja. Doch ich darf mich nicht auf den Indianer fixieren! Sah er denn nicht genau so aus wie die Indianerfigur, die ich als kleiner Junge mit mir herumtrug und später ins Bücherregal stellte? Denkbar, eine Posse meines Hirns, das sich ob meines eigenen Erstaunens in seiner hintersten Kammer kaputtgelacht hat. Und natürlich sitzt der Indianer Pfeife rauchend eben dort und lacht sich einen Ast. Und da Rauchen und Lachen zusammen nicht gut funktioniert, muss er husten, hustend lacht er, er hört gar nicht wieder auf damit, und ich habe Kopfschmerzen deswegen. Platz für ein Tipi draußen im Garten wäre aber auf jeden Fall. Indianer! Hörst Du mich? [17]

*

Als ich erwache, weil jemand unten gegen die Haustüre pocht, ist mein Kopf leer und die Erinnerung an den Indianer muss sich wohl in dem Notizbuch, in Heft III, befinden, das auf dem Küchentisch liegt. Ich werde später mal nachsehen. Jetzt aber werfe ich mich erstmal schnell in meine Kleider. Wer das wohl sein mag, der da so knöchern an meine Tür pocht? Laut lachend nehme ich die Treppe wie im Fluge. Wer das wohl sein mag!

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© und alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus bei Norbert W. Schlinkert 2025

 

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Bar jedes Gedankens – Miniaturen

Bar jedes Gedankens

Miniaturen

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Es begann damit

dass der Eichelhäher sich aus der Schar auf meinem Balkon einen Spatz krallte. Oder sollte es noch früher begonnen haben? Die anderen Spatzen flohen, ihr Leben zu retten. Der im Todeskampf zappelnde Spatz hängt an den Krallen des Eichelhähers. Er sitzt auf dem Schneegitter am unteren Rand des Daches gegenüber. Der Spatz stirbt. Blicke des Jägers. Kalt und dunkel. Wie denn blicke ich? Menschlich etwa? Ich gehe hinein und schließe leise die Balkontür. Am nächsten Tag mehr Spatzen als je im Hof. Im Seitenflügel schräg gegenüber auf dem Balkon im dritten Stock die Futterstation, Spatzen über Spatzen. Ich offeriere Wasser zum Trinken und zum Baden im vierten. Spatzen über Spatzen. Eine Demonstration. Ich stehe regungslos hinter der geschlossenen Balkontüre. Die Tonschale ist wie belagert. Viele wollen trinken, ein Spatz will baden. Ein Kampf entbrennt. Bald schon ist die Tonschale leer. Ich trete auf den Balkon hinaus und fülle nach. Kein Eichelhäher weit und breit. Aber auch keine Spatzen, nicht hier, nicht da. Wo sind sie denn hin, frage ich.  

Es setzt sich fort

durch die Ankunft einer Jungtaube. Eine Jungtaube ist wie ein Mensch der pubertiert, ist unbeholfen, tapsig und unentschlossen. Während die Elterntaube panisch davonschießt bleibt die Jungtaube, betrete ich den Balkon, stur in der Ecke auf dem kopfförmigen Sandstein hocken und glotzt mich an. Ich glotze zurück. Nichts geschieht. Ich wünschte, wir hätten eine gemeinsame Sprache. Sicher wünscht auch die Jungtaube eben dies. So bleiben wir stumm. Immerhin neugierig sind wir. Als ich zehn Minuten später den Balkon erneut betrete, ist die Jungtaube fort. Ich werde nachzudenken haben, so sage ich mir und gehe hinein.

Kaum aber dass ich

dem Weltgeschehen den Rücken kehre, ich mich in meine Räumlichkeiten zurückbegebe, die Küche durchschreite und den Wohnraum betrete, wo ich mich in den Sessel fallen lasse, geschieht das Folgende, nämlich dass es knöchern klopft an meiner Türe, zwei, drei Mal mit Dringlichkeit, worauf ich sogleich nach meinem auf der Truhe liegenden Gesicht taste, es aufsetze und zurechtrücke. Ja doch, rufe ich ungehalten. Wer nur kann das sein? Herein! Die Tür geht auf, und wie überrascht ich bin, als mein zweites Ich eintritt, auf mich zuschreitet und mir ohne zu zögern das Gesicht entreißt, es sich auf den Schädel legt, es zerrend, ziehend und zupfend zurechtrückt, um dann, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, die Tür hinter sich zuwerfend, zu verschwinden. Kopfschüttelnd bleibe ich zurück, stehe auf, greife mir mein zweites Gesicht aus dem Regal, staube es ab, lege es auf, ziehe und zerre und rücke und drücke, und siehe da, es passt. Ein Glück! Noch einmal passieren darf mir das aber nicht, denke ich und betrachte mich nachdenklich im Spiegel.  

Wenn ich mich

in eine Bar wünschte, in der ich unbemerkt am Tresen sitzen kann, eine Bar, in der kein Misstrauen, keine Neugierde entsteht, auch kein Unbehagen, so bleibt dieser Wunsch doch Wunsch. Unsichtbar ist niemand. Abgesehen vielleicht von demjenigen, den ich in der Tat nicht sehen kann. Ich nicke dem leeren Platz neben mir zu, in der Leere entsteht eine Unruhe, scheint mir, aber das ist auch schon alles. Draußen geht der Regen und benässt die Welt. Doch wer weiß, denke ich, ob der Unsichtbare neben mir mich denn überhaupt sehen kann, ob nicht auch ich ihm unsichtbar bin. Hat auch er mir zugenickt und einen Hauch von Unruhe gespürt? Doch nur die Toten, denke ich, trinken nicht, sitzen sie in einer Bar am Tresen, und reden tun sie auch nicht, nicht einmal miteinander.

Stehen die Toten

denn nicht im Pakt mit der Leere? Der Tod mithin, so denke ich, ist keine persönliche Erfahrung. Keine Angelegenheit. Und da, wo du doch hättest sein können, lebtest du, ist fortan Luft, ein Mensch, ein Tier, ein Hauch, ein Wehen. Die Welt ist dein gewesen, der Tod jedoch ein Nichts für dich. So denke ich. Da aber setzt ein Mensch sich in die Leere und nimmt des Unsichtbaren Platz. Ich schlucke schwer und gehe in die Nacht hinaus. Und sitzt im Rückblick nicht schon längst wer anders dort, wo ich noch eben saß, und lacht und redet, trinkt? Zwei Menschen, Körper, Leiber. Ich aber treibe durch die Häuser.

Durch mich hindurch

zu blicken gelingt nur allzu gut. Verwundert stell ich’s fest, selbst wenn ein feister fester Mensch mir noch immer auszuweichen hat, stell ich nur auf stur und weiche nicht. Ich sehe euch. In Gruppen, gehend die Köpfe ineinander. Nordwärts treibt es mich, den Mantelkragen hochgeklappt, immer nordwärts, wo feiner Nieselregen im gelben Laternenschein sich niederlässt. Straßen, Häuser, ein lichtes Fenster, fremde Wand in einem fremden Zimmer. Weiter geht’s durch all der Baumskelette Reihen. Ein Hund mit Leuchthalsband kreuzt mir den Weg, kurz darauf Kapuze, Zigarettenglut, ein Ruf, ein Pfiff und all die Schemen und die Schatten und Gestalten hinter den beschlagenen Scheiben einer Straßenbahn nach Werweißwohin.

Vor langer Zeit

da war ich noch sehr jung, zog ich einen großen gelben Hund, in die Strömung geraten, aus einem sommerlichen Fluss. Ich stieg hinein und und brachte ihn ans Ufer. Er schüttelte sich, dass es nur so spritzte, und trottete davon. Kein Blick, kein Dank. Meine Freundin auf dem Badetuch sagte nichts zu meiner Tat, und so erzählte ich niemandem davon, oder wenn ich es doch einmal versuchte, ging es den Menschen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen Ohr wieder heraus, ohne mit dem Gehirn in Berührung gekommen zu sein. So bin ich der einzige Mensch, der davon weiß. Eines Tages aber wird diese Geschichte meinen Mund verlassen und mir selbst in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus geraten, ohne mein Gehirn zu berühren. Dann wird sie vergessen sein.

Es herrscht

eine Undurchsichtigkeit. Schlieren sind im Kopf und klare Worte  unbekannte Wesen. Es sei denn, ein Streit bricht aus, dann zischen die klaren, bösen Worte aus schmalen Lippen und schlagen Male, die nicht verheilen werden und nicht verheilen wollen. Denn auch scharfe Schneiden hinterlassen schwärende Wunden. Mach mal die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört, so sagte man mir. So tat ich und entdeckte eine Welt. Ich hatte das große Los gezogen, wusste aber nichts davon. Niemand sagte es mir. Bin ich denn nicht ohne Land landlos, so fragte ich mich stattdessen, ohne Arbeit arbeitslos, ohne Zweck zwecklos, ohne Sinn sinnlos? In dieser Weise erschien mir meine Welt, die mein Los war. Wie lange nur war ich tumb und hatte Schlieren im Kopf?

Nach wie vor

scheint mir, ich weiß von innen nicht, wer ich von außen bin. Du musst der Soundso sein, wird gesagt. Ja, sage ich, ich muss bereits mein Leben lang der Soundso sei. Oder ich sage: muss ich wohl – oder übel, füge ich nach einer genau kalkulierten Pause hinzu. So gelte ich in jeder kleinen Runde als Philosoph der Allgemeinplätze. Als Aufsager abgestandener Witze. Als der witzlosen Zeitgenossenschaft schwer verdächtig. Als Gimpel, Einfaltspinsel, trübe Tasse. Witzlos auch zu erklären, dass es die Wiederholung des Immergleichen zu sein scheint, die das Leben würzt. So stehe ich stets neben mir als der mir am nächsten stehende Fremde unter all den Fremden um mich her. Doch was heißt denn schon um mich her, denke ich. Ist das Leben denn ein Kreis und ich die Mitte?

© und alle Rechte bei Norbert W. Schlinkert 2025
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Fünfzehn Jahre und ein weiterer wirrer Versuch, die Welt zu entwirren

Nun schreibe ich ja seit schon mehr als 15 Jahren, von September 2009 an, einen Teil meiner Texte per eigenem Blog, eigener Website, in die Welt hinaus. Während zu viele Zeitgenossen es sich zu einfach machen, indem sie in den sogenannten sozialen Medien schreiben und kommunizieren, bediene ich ein nun schon fast altmodisches Instrument. Die Zeiten, in denen die literarischen Blogs tatsächlich Ort waren für allerhand Diskurse, sind dementsprechend vorbei. Dem Zuckerberg auf den Leim gegangen – so könnte man das Phänomen kurz benennen. Bluesky, die noch recht neue Social-Media-Plattform, scheint immerhin eine neue Möglichkeit zu sein, zumindest innerhalb der eigenen Blase zu kommunizieren, ohne dabei einen Kniefall vor rechten und faschistischen Milliardären zu vollziehen, während die andere Seite in ihrer eigenen Blase, x, zunehmend ihr Unwesen treibt und Hass und Gewalt propagiert. Interessant, wie spät es letztlich den Rechten und den Faschisten eingefallen ist, einfach alle Regeln, allen Anstand, alle Bereitschaft zum Diskurs über den Haufen zu rennen, nachdem das ja vor hundert Jahren aus deren Sicht schon einmal gut geklappt hat. Am 20. Januar 2025, übermorgen, sind wir diesbezüglich womöglich dann wieder mal ein bisschen schlauer, wenn nämlich die Inauguration des neuen US-Präsidenten stattgefunden haben wird. Man muss kein Prophet sein, wenn man befürchtet, dass eben dieser Präsident in drei Jahren das Kriegsrecht in den USA ausruft und die nächsten Wahlen einfach mal nicht stattfinden. Unmöglich? Hoffentlich! Und was tue ich angesichts der politischen Lage? Neben dem Versuch und der Notwendigkeit, ausreichend Geld zum Leben und für die Ausübung meiner Kunst zu erwirtschaften, ist es nicht weit her mit Taten, denn einer für mich wählbaren Partei anschließen kann ich mich schon deshalb nicht, weil das jeweils einfach nicht mein Milieu ist, zu bürgerlich, zu bieder, zu hausbacken, zu spießig. Eine littérature engagée, also der Missbrauch meiner eigenen Texte zu politischen Zwecken, kommt auch nicht infrage – man lese die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, um zu erkennen, wie grandios gut und ästhetisch Literatur sein kann, die Historisches und Politisches zum Thema hat, ohne auch nur ansatzweise Propaganda zu betreiben. Ein Text, der insofern auf das Gemeinwesen wirkt, also politisch ist, als dass er den Horizont des Lesers erweitert, ohne ihn zu gängeln, ohne ihm das eigene Denken abzunehmen. Das Gleiche gilt aber auch für diejenigen Texte von Peter Weiss, die „unpolitisch“ und thematisch völlig anders daherkommen, etwa Das Gespräch der drei Gehenden und Der Schatten des Körpers des Kutschers. Texte wirken immer durch ihre künstlerische Qualität, nie allein durch ihren Inhalt, sodass es kein Wunder ist, wenn heutigentags nahezu alles per Podcast, Feature oder Dokumentarfilm abgehandelt wird. Das Kunstwerk hingegen ist frei von jeder Zweckbestimmung, nicht im negativ verstandenen Sinne von L’art pour l’ar, sondern ausdrücklich im positiv verstandenen Sinne, in der alle Kunst um ihrer selbst Willen entsteht, so also letztlich die Qualität entscheidet, ob sie im Kopf und Gemüt des Rezipienten etwas „anrichtet“. In meinen aktuell entstehenden Texten Treffen / Zwei / Sich und Wundrand oder: Eine Kopfsache geht es, so will mir scheinen, genau darum, das Anrichten, wenngleich das auch unsicher bleiben muss, denn Eindeutigkeit ist meine Sache nicht und auch nicht die meiner Literatur. Entschuldigen Sie bitte letztgenannten Umstand und auch diesen wirren Text, es ging nicht anders.

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„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihrem Antrag auf Gewährung eines Arbeitsstipendiums deutschsprachige Literatur für Berliner Autorinnen und Autoren 2025 nicht entsprochen werden kann“

Ich reg mich ja schon gar nicht mehr auf, wirklich nicht, wenn das Ablehnungsschreiben in Sachen Berliner Arbeitsstipendien deutschsprachige Literatur bei mir per Mail eintrudelt. Ich hatte auch bereits vor einer ganzen Weile bei entsprechender Gelegenheit etwas dazu geschrieben (siehe unten), das gilt noch immer. Ganz und gar passend ist auch die aktuelle Erwiderung per offenem Brief von Alban Nikolai Herbst, die aber wohl niemanden in der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt lesen oder gar beantworten wird. Wo kämen wir denn da hin? Mir selbst jedenfalls, der ich ebensowenig wie ANH gewerbliche oder dem Mainstream verhaftete Literatur verfasse, wären die beantragten 8.000 € für eines meiner aktuellen Projekte gut bekommen, doch wie ich bereits an anderer Stelle ausführte ist mir durchaus bewusst, nur Kunst zu machen und nicht zusätzlich Teil des durch und durch bürgerlichen Literaturbetriebs zu sein, ich also auch nicht wissen kann, was man sonst noch alles veranstalten muss, um ein Stipendium des Senats zu bekommen, wobei mir solch Aktionismus vor etlichen Jahren durchaus anempfohlen worden ist und ich natürlich selbst schuld bin, diesem Rat nicht gefolgt zu sein. Nicht folgen konnte. Aber wie gesagt, aufregen tue ich mich nicht mehr, denn ich  h a b e  immer Möglichkeiten, meine Vorhaben zu realisieren, und zwar nicht etwa „dennoch“ (siehe unten), sondern einfach aus Lust und Laune, aus künstlerischer Triebhaftigkeit heraus. So. Und nun, am Ende dieses (passenderweise schlecht geschriebenen) Textes mein Beitrag vom 28. November 2022 zum selben Thema (mit Bild!):

„Ich bedauere, Ihnen keine andere Mitteilung geben zu können und hoffe, dass Sie eine andere Möglichkeit finden werden, das Vorhaben dennoch zu realisieren.“

Na, so ein paar Mal habe ich mich, so beantworte ich jedes Jahr aufs neue die immer gleiche Frage, durchaus schon beworben um das Arbeitsstipendium deutschsprachige Literatur des Berliner Senats, Senatsverwaltung für Kultur und Europa – I A Am, Abteilung Kultur – Referat I A. Hat aber wieder mal nicht hingehauen, wie ich heute per E-Mail erfuhr. Muss der Text, mit dem ich mich bewarb, eben bleiben wie er ist und wo er ist. (Tut mir ja auch leid, aber ich hab einen neuen.) 348 Schriftsteller haben sich übrigens beworben, 41 haben was bekommen. Was ist denn das für eine Quote, frage ich und rege mich am Ende noch auf – dann muss man, sage ich, eben mehr Geld ins System geben, wenn es denn nicht für alle reicht! Schon mit knapp 8,4 Millionen ist man in Sachen Vollstipendium für ein Jahr dabei, wenngleich man damit auch 8,4 Kilometer Fahrradweg bauen kann. Allerdings kann man mit 16,8 Millionen beides machen! Schon mal drüber nachgedacht? Aber ich will mich natürlich nicht ernsthaft beschweren und mich damit um die Chancen für das nächste Jahr bringen, falls es das Stipendium dann noch gibt, und so veröffentliche ich meine Gedanken auch nur auf meiner eigenen Website. Besser is‘! Liest ja keiner. Was übrigens auch noch gut wäre, wenn man sich anonym bewerben könnte, wird vielerorts so betrieben, denn dann ginge es womöglich wirklich nur um die literarische Qualität des Textes und nicht um irgendwas anderes, eine Bemerkung, mit der ich natürlich nichts angedeutet haben will. Doch wie heißt es so schön, Die Hoffnung stirbt immer am schönsten, und so werde ich mich auch im nächsten Jahr mit einem neuen Text, wie gesagt soeben begonnen und schon voll in der Mache, bewerben. Ach ja, bevor ich es noch vergesse – was den am Ende der Absage-Mail geäußerten frommen Wunsch angeht, ich möge eine andere Möglichkeit finden, das Vorhaben dennoch zu realisieren: klar doch, wir finden alle eine Möglichkeit! Sonst hätten wir ja, wollten wir uns bewerben, nix, aber auch garnix vorzuweisen. Also weiter wie ein Vollidiot im Nebenjob (oder Brotberuf) geschuftet und jeden Cent umgedreht, weiter am Text, an den Texten gearbeitet, auf dass irgendwann, zum Beispiel im nächsten Jahr, ein paar Brosamen abfallen mögen. Ich halte Sie auf dem Laufenden …

Norbert W. Schlinkert. Der Friedhof der Trauermücken

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Treffen / Zwei / Sich

Norbert W. Schlinkert

Treffen / Zwei / Sich

Heft II

Übertragung der handschriftlich verfassten Erzählung in ein Typoskript

© 2025 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

– Eine Wüstenei –

[1] Ich spreche mit Ihnen. Stellen Sie sich vor, einen Durchgang zu passieren, einen Torbogen vielleicht. Stellen Sie sich vor, auf der anderen Seite zu sein. Sie wissen, sage ich, dass Sie nicht mehr zurückkönnen. Sie zeigen sich verwundert, ob wegen des Nichtzurückkönnens oder wegen mir, der ich so plötzlich wieder neben Ihnen stehe, weiß ich nicht. Ihr Blick wechselt zwischen dem Torbogen und mir hin und her. Das ist der Anfang der Geschichte. Ob ich mir Sie vorstelle oder Sie sich mich, weiß ich nicht. Auch Sie wissen es nicht. Am einfachsten ist es sicherlich, wir stellen uns uns gegenseitig vor. Vielleicht denken Sie das Selbe wie ich, ich weiß es nicht und sie auch nicht. [2] Wir werden uns verständigen müssen, so denken wir. Zu beiden Seiten des Torbogens ist Heide, Kraut und Moos. Nichts leichter als links oder rechts des Torbogens diesen zu passieren und ihn somit rechts oder links liegen zu lassen. Ich sehe es Ihrem Blick an, dies versuchen zu wollen. Kein Graben und kein Bach trennt das Diesseits und das Jenseits. Ignorierte man den Torbogen, so gäbe es weder Diesseits noch Jenseits. Ich denke wie Sie, wir haben beide recht, und dann sehe ich in Ihren Augen und den sich minimal verändernden Fältchen um die Augen herum, wie komisch Sie es fänden, ginge ich etwa links am Torbogen außen vorbei und Sie rechts, oder eben andersherum. Doch dann sehen Sie wie ich ganz leicht den Kopf schüttele und ganz leicht die Augen zukneife, so als wollte ich sagen, wie leid es mir tut, weder links noch rechts [3] am Torbogen vorbei gehen zu können noch den Torbogen durch ihn hindurch zu passieren. Es geht nicht, sage ich. Der Torbogen ist nichts weiter als ein verbliebener Rest der Mauer, die den einen Teil des Landes vom anderen Teil des Landes trennte. Reste der Mauer selbst sind mit bloßem Auge nicht erkennbar. Der Torbogen ist alt und verwittert, er hat die Form eines quadratischen, zweistöckigen Hauses aus dem 11. oder 12. Jahrhundert, nur dass sich statt des Erdgeschosses mit einer Stube der Durchgang befindet. Die Torbögen, denn imgrunde handelt es sich ja eigentlich um zwei Torbögen, sind oben rund, wie es sich für Torbögen nunmal ziemt. Die Decke dazwischen ist kein Tonnengewölbe, sie ist eben und stellt die Zimmer[4]decke des darüberliegenden Zimmers von unten dar. Sie haben, sage ich, sicher nicht so genau auf diese Details geachtet, als sie durch das Torbogenhaus hindurchgingen, weil sie diesem Gang keine besondere Bedeutung beigemessen haben. Wohl haben Sie den Kopf etwas angehoben und etwa gedacht, die Höhe ist die, die nötig ist, damit Fuhrwerke und Kutschen unbeschadet hindurchfahren können mitsamt dem Kutscher. Von der einen Seite zur anderen Seite hindurch, mit Waren oder mit Reisenden. Ich sehe die Frage in Ihren Augen, ob eine Kutsche wieder hat zurückfahren können, hat zurückfahren dürfen zu der Zeit, als hier noch Kutschen fuhren und das Torbogenhaus Teil war einer Mauer, die die Landschaft teilte in ein Diesseits und ein Jenseits der Mauer. Wir müssen los, sage ich. Wir haben die Wahl und können sowohl nebeneinander gehen als auch hinterein- [5] ander oder versetzt. Wie wir wollen. Nur in Sichtweite müssen wir bleiben. Wollen wir uns etwas erzählen, so gehen wir nebeneinander. Das wird das Beste sein, denke ich. Ich sehe, Sie nicken. Sind wir zwischen zwei Toren, fragen Sie, ja sicher sind wir das, sage ich, und kreuzen sich die Wege, selbst wenn sie nicht sichtbar sind, so fragen sie, weil zwei weitere Tore zur Linken und zur Rechten in der Landschaft stehen, insgesamt also vier Stadttore einer nicht existenten überdimensionierten Stadt. Jetzt ist es an mir zu nicken. In der Tat sind wir, wenn auch die Mauern geschleift, abgetragen worden sind, innerhalb auf dem Gebiet einer urbanen Landschaft, die nunmehr eine Art Heidelandschaft ist, in die man durch vier Torbögen, oder Stadttore, gelangt. Ob wir wieder hinaus zu gelangen vermögen, wird [6] sich zeigen. Eine weitere Frage, sage ich, ist zudem unbeantwortet, nämlich ob die Mauer zwischen den einzelnen Torbögen oder Torbögenhäusern gerade ausgeführt worden ist oder ob sie etwa kreisförmig verlief. Auch Mischformen sind möglich, jedoch unwahrscheinlich, so scheint mir wenigstens. Nun schweigen Sie eine Weile im Rhythmus unserer Schritte, um schließlich zu erläutern, die Stadtmauer sei sicher rund ausgeführt worden, denn gewinnt man auch Raum durch eine gerade Ausführung, so ist die runde Form doch von Vorteil, weil keine toten, verlorenen Räume dort erzeugt werden, wo Mauern winklich aufeinander stoßen. Ich stimme dem zu. Wir schreiten weiter voran. In leichten Wellen dehnt sich die Heide bis zum Horizont. Hinter uns das Torhaus in einiger Entfernung. Vor uns hier und da einige Birken oder ein Birkenhain, [7] Stauden und Büsche. Die Wolken am Horizont täuschen ein Gebirge vor, doch da ist kein Gebirge, nur Wolken, mächtig, weiß und hellgrau, türmen sie sich. Der Himmel in einem dunklen Blau. Wir müssen weiter. Sie fragen mich, ob wir denn auf das gegenüberliegende Tor zugehen, ob nun geradeaus oder unmerklich in einem Bogen. Und könne es nicht sein, so fragen Sie weiter, dass wir ohne es zu bemerken die nicht mehr vorhandene Mauer passieren und so plötzlich außerhalb sind, so wie wir vor dem Passieren des Torbogens außerhalb waren. Ich sage nur, sein kann alles und dass wir weiter müssen, Obdach zu finden für die Nacht. Verließen wir aber den Bereich versehentlich und gerieten ins Außen, so können wir nur durch eines der Tore wieder ins Innere gelangen, sage ich, doch das ist, füge ich hinzu, keineswegs sicher. [8] Wir müssen weiter in die Wüstenei, sage ich, die Heide vor Augen, dort findet sich alles.

– Ein Pendel –

Ich spreche mit Ihnen. Stellen Sie sich ein Metronom vor, das uns, gingen wir ein paar Schritte um den [9] Block, begleitete. Da es nicht neben uns gehen oder über uns zu schweben vermag, wird es wohl am besten sein, es uns in Funktion vorzustellen, gewissermaßen in unserem Kopf tickend. Sagen wir mit 75 Schlägen in der Minute, das entspräche einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa dreieinhalb Stundenkilometern, einem nicht übermäßig hohen Gehtempo. Jeder Schritt, wir sollten synchron gehen, entspricht einem Klack in unserem Kopf. Es sollte nicht lange dauern, uns daran zu gewöhnen, sodass wir schließlich wie automatisch mit jedem Klack einen Schritt setzen. Der Kopf wird umso freier sein, je besser wir den Rhythmus antizipieren. Sie geben mir, denke ich, sicher recht. Ich sehe Sie nicken, und nun sehe ich Ihnen geradezu an, wie Sie Ihr Metronum in Ihrem Kopf installieren. Ich tue es Ihnen gleich, sehen Sie. Zum Einstellen der Schlagzahl sollten wir uns allerdings auf den Weg machen. Das pendelt sich dann schon ein, Sie werden sehen. [10] Auf geht’s. Bevor wir jedoch in eine Landschaft geraten, schließlich gehen wir buchstäblich auf’s Geratewohl los, bewegen wir uns in eher unruhigem Umfeld, einem urbanen, sodass wir nach jeder Unterbrechung unseres Ganges froh sein dürfen, ein Metronom im Kopf zu haben, einen Rhythmus vorgegeben zu bekommen. Stehen wir an einer Fußgängerampel, so nicken wir uns kurz zu, bevor es weiterzugehen hat. Ich für meinen Teil sehe das Pendel, selbst wenn wir stehen, deutlich vor mir, so als schwebe es halb durchsichtig vor meinen Augen. Ergeht es Ihnen auch so, frage ich. Ja. Das freut mich. Endlich erreichen wir freies Gelände. Ein Damm führt durch eine weite Landschaft mit kleinen Gruben und Löchern, oft ist die Erde kohlenschwarz, manchesmal fettbraun und mit dicken Grasbüscheln bewachsen. Der Damm ähnelt in seiner Anlage einem Bahndamm. Wir gehen in unserem Rhyth- [11] mus schweigend, und sicher rechneten Sie damit, stur vorwärts zu schreiten und nicht damit, dass Ihr Nebenmann stehenzubleiben die Möglichkeit hätte. Das Metronom in seinem Kopf ausschalten könnte. So bleibe ich also stehen, das Klacken, der Takt in meinem Kopf endet im selben Augenblick, während Sie weiterschreiten, den Damm entlang. Das Pendel in Ihrem Kopf schlägt den Takt dazu. Unaufhörlich.

– Ein Fauchen –

Ich spreche mit Ihnen. Sie erinnern sich, wir trafen uns bereits einige Male an einem bestimmten Ort, dem Bahnsteig. Ein elektrisches Ungeheuer, kantig, dunkelrot mit schmutzig-weißem Brustring, fuhr ein jedes Mal, so wie auch jetzt in diesem Augenblick, mit einem ohrenbetäubenden Fauchen ein und stoppte, wie auch jetzt, seine Einfahrt auf unserer Höhe, sodass wir inmitten [12] des Fauchens kaum ein Wort wechseln können. Ich bin nicht sicher, auch wenn Sie mich ansehen und nicken, ob Sie mich verstehen. Womöglich lesen Sie von meinen Lippen ab. Ja oder nein, frage ich in das Brüllen und Fauchen hinein, doch Sie zucken nur mit den Schultern und verziehen keine Miene. In die Waggons steigen Menschen ein, auch wir, Sie und ich, sind Reisende, und wie die Male zuvor werden auch wir in den Zug einsteigen, uns dabei aber aus den Augen verlieren. Ich erinnere mich, Sie während der gesamten Reise gesucht zu haben. Sie nicken. Ohne ein weiteres Wort gehen wir gemeinsam ein paar Meter und steigen ein. Ich zuerst. Dieses Mal, sage ich, bleiben wir zusammen und steigen gemeinsam wieder aus. Am Zielort der Reise. Sie nicken und scheinen sogar zu lächeln. Dann aber suche ich Sie abermals und kann Sie nicht finden. Wo nur sind Sie geblieben, frage ich mich. [13]

– Die Treppe –

Ich spreche mit Ihnen. Gehen wir ein paar Schritte. Ich würde vorschlagen, wir gehen die Treppe hinauf bis zur Kirche der Heiligen Jungfrau. Sie lächeln. Also los. Obgleich auf beiden Seiten des die Treppe mittig teilenden Geländers ausreichend Platz ist für zwei nebeneinander Gehende, gehen Sie nun links des Geländers die Treppe hinauf, ich hingegen rechts. Eine Absprache oder eine Verständigung mit den Augen fand nicht statt. [14] Ich sehe und erkenne, dass wir synchron die Treppe hinaufgehen, und eben dies teile ich Ihnen mit, worauf Sie mir einen leidvollen Blick zuwerfen. Ja, sage ich, die Treppe ist steil, und sicher wäre es besser gewesen, auch Serpentinen anzulegen, die die Treppe durchschneiden würde. So hätte man die Wahl. Platz wäre ausreichend gewesen, denn nach meiner Kenntnis baute man zunächst die Treppe, dann die Kirche der Heiligen Jungfrau, während die Häuschen links und rechts der Treppe Jahre später folgten. Welche Häuschen, fragen Sie sich, ich sehe es Ihnen an, da sind keine Häuschen, denken Sie, also gut, sage ich, Sie haben recht, also keine Häuschen, ich habe mich getäuscht, sondern steile Wiesen mit Sträuchern, Büschen und den Trampelpfaden all der Wochenendausflügler, die hier, beschützt von der Heiligen Jungfrau, picknicken und ihren Übermut nähren angesichts der im Tal liegenden Stadt, die ihnen den Übermut die [15] Woche über schon wieder austreiben wird. Jetzt aber liegt, wie Sie sehen, nasser Dunst über den Wiesen. Kein Mensch zu sehen und die Kirche der Heiligen Jungfrau im Nebel verborgen. Doch selbst wenn der Nebel dort oben sehr dick sein sollte, so ist es doch nur leichtes Wasser. Geradeaus gehend erreichen wir nach wenigen Metern die Pforte der Kirche der Heiligen Jungfrau, sodass wir die schwere Kirchentür aufziehen werden können, um ins Innere zu gelangen, schwach erleuchtet durch in den Nischen stehende Kerzen. Denken Sie nicht auch, dass sie angezündet worden sind mit Einbruch der Dunkelheit? Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit! So frage ich Sie, ich sehe Sie nicken, während sie stur, und ich möchte hinzufügen tapfer, Stufe um Stufe gleich mir in die Höhe steigen, während der Nebel immer dichter [16] zu werden scheint, so als kletterten wir auf unserer Treppe in eine Wolke hinein, in der die Kirche der Heiligen Jungfrau, Sie lächeln wieder, Sie müssen das Selbe denken wie ich, schwebt, eine schwebende Kirche, stellen Sie sich das vor. Doch ich fürchte, statt einer solchen wunderbaren Angelegenheit werden wir nichts weiter finden als ein sogenanntes Gotteshaus und in ihm nur die üblichen Dinge, einen Altar, einen Beichtstuhl, einige figurative Darstellungen Marias, Bänke, dazu ein Weihwasserbecken und ein Taufbecken, ein mehr oder weniger großes Holzkreuz mit dem Gekreuzigten, und ja, sicher werden zwischen den vorderen Bänken und auf den Stufen zum Altar Kokos- oder Sisalläufer zu finden sein, die kleine faserige Fehlstellen aufweisen, die Gleichmäßigkeit der Bindung störend, ohne dass jemand, der Pfarrer, der Küster, auch nur im entfentesten daran denkt, die Läufer dieser kleinen Fehler wegen auszutauschen. Sie werfen die Stirn in Falten, wie ich sehe, und ich hoffe doch sehr, eben weil Sie mir zustimmen müssen. Jetzt legen Sie, weiter tapfer Stufe um Stufe nehmend, den Kopf schief in die Luft, [17] das Kinn in meine Richtung gereckt, und nun weiß ich noch weniger, ob Sie mir in der Sache der beschädigten Läufer, seien sie aus Sisal, aus Kokos, nun zustimmen oder nicht. Aber da ist mir plötzlich, als seien Sie mir ein paar Stufen voraus, als erreichten Sie das Ende der Treppe v0r mir, als schritten Sie in diesen hellichten, dicken Nebel hinein, um in ihm zu verschwinden, noch bevor ich die letzte Stufe erreiche. Hören Sie mich, rufe ich, ich spreche mit Ihnen. Der Nebel aber verschluckt ein jedes Geräusch.

– Die Kirche –

Nicht mehr mit Ihnen zu sprechen, fällt mir schwer. Nehmen wir, ich sage: wir, einmal an, Sie wären vom Nebel tatsächlich, wie man so sagt, verschluckt worden und ich hätte am Ende der Treppe auf Sie gewartet. Unmöglich, dass Sie von mir unbemerkt die Treppe hinunter verschwunden sind. Wahrscheinlich sind Sie in der Kirche der Heiligen Jungfrau, haben sowohl die Zeit als auch mich vergessen und betrachten hingebungsvoll die Gemälde, die Skulpturen und die Altäre. Ich sollte entweder ebenfalls in die Kirche der Heiligen Jungfrau eintreten, oder Sie am Portal erwarten. [19] Ich gehe, watteweich ummantelt, und ich spüre, wie der Nebel mich durchnässt, sich mir zu eigen macht, so denke ich, Schritt für Schritt auf die Kirche der Heiligen Jungfrau zugehend, lautlos schreitend, ohne etwas anderes zu erwarten als: Nichts. Gerade eben noch sehe ich meine Hand vor Augen. Wüsste man es nicht besser, so müsste angenommen werden, der Nebel sei aus sich selbst heraus matt erleuchtet. Ich gehe. Dann endlich stoße ich mit dem Fuß gegen eine Stufe. Ich steige die Stufen hinauf und trete schließlich, eine weitere erwartend, einmal ins Leere. Ich gehe einige Schritte, eine weitere Treppe folgt, dann sehe ich, in trübem Licht gut zu erkennen, die schwere, zweiflügelige Tür, die Pforte zur Kirche der Heiligen Jungfrau. Ich blicke zurück und sehe nichts als Nebel, vor mir jedoch in aller Deutlichkeit das jahrhundertealte Holz der Türe. Ich lege [20] meine Hand auf den Türgriff aus Messing. Später dann spreche ich mit Ihnen. Wo in aller Welt, frage ich, waren Sie, ich konnte Sie in der dunklen Kirche, in der keine Kerze brannte, nicht finden. Nicht hören, nicht riechen, nicht sehen. Ein ewiges Licht auf dem Altar in einer Ampel mit rotem Glas, purpurrot, ein kleiner roter Lichtpunkt in der Ferne zunächst, reichte nicht aus. Mit Mühe fand ich endlich zur Eingangstüre zurück und stieß mehrmals gegen etwas, ich ertastete das Taufbecken, lief geben einen Pfeiler, gegen eine Bank, um am Ende erleichtert die Tür ins Freie aufstoßen zu können, wo ich Sie schließlich fand, vor dem Portal in fast völliger Dunkelheit stehend. Ich trat sehr nah an Sie heran. [21]

– Die Sterne –

Wir befinden uns, sage ich, jetzt auf dem Platz vor der Kirche der Heiligen Jungfrau, hoch über der Stadt, von der aber nichts zu sehen und zu hören ist, so als sei sie nicht existent. Sie nicken mir zu und zeigen Ihr Einverständnis, dann weisen Sie mit einem Heben des Kinns nach oben, und tatsächlich, obgleich wir im dicksten, schwärzesten Nebel stehen und uns gegenseitig kaum erkennen können, funkeln über uns die Sterne. Der Nebel gibt den Blick frei ins Unendliche, und eigentlich, so sage ich, bräuchten wir nicht mehr als eine Leiter, um zumindest mit dem Kopf im Unendlichen zu sein, zu stecken, jetzt lächeln Sie amüsiert, oder der Nebel müsste sich nur ein wenig senken, sage ich, worauf Sie mir begütigend zunicken und mir, so scheint mir wenigstens, die Hand auf die Schulter legen. Ich spüre das Gewicht Ihrer Hand, spüre, wie Sie den Druck auf meine Schulter erhöhen, dass Sie [22] immer ein wenig fester drücken, während Sie mir zugleich ins Gesicht grinsen, ja, das tun Sie, Sie grinsen mich an, schon stehe ich bedenklich schief vor Ihnen, schon spanne ich die Muskulatur des linken Beins übermäßig an, um nicht einzuknicken, Sie jedoch pressen Ihre Hand immer stärker auf meine Schulter, bis schließlich das linke Knie wegknickt, ich stürze und Ihnen zu Füßen auf dem Boden liege. Über mir Ihr Gesicht, über Ihnen die Sterne, wie sie da funkeln, und dann wird mir schwarz vor Augen, so denke ich, oder nebelgrau, als habe jemand die Sterne ausgeknipst. Was wollen Sie, frage ich, doch da ist niemand, nur Nebel, Nässe und ein Nichts. Als man mich aufhebt, hören Sie mich, ich spreche mit Ihnen, blieb unter mir sicher ein großer nasser Fleck in Form meines liegenden Körpers zurück. Alles andere, die gesamte in trübem Tageslicht daliegende Fläche zwischen der Kirche der Heiligen Jungfrau und der zur Stadt hinunter führenden Treppe, muss wohl schon abgetrocknet gewesen sein, so wie kurze Zeit später dann [23] auch mein Fleck verschwunden gewesen sein muss. So stelle ich mir das vor. Oder berichtete es mir jemand? Ich kann mich nicht erinnern. Schließe ich aber die Augen, so erscheinen mir immer noch die Sterne. Hören Sie mich? Ich spreche, doch Sie antworten nicht. Dabei haben wir, seit wir uns das erste Mal trafen, einiges gemeinsam erlebt. Sie schürzen die Lippen, als relativierten Sie meine Aussage, und tatsächlich sehe ich Sie mit dem Kopf wackeln. Ich sage Ihnen etwas: die Sterne dort droben, zu denen zu sprechen doch der reinste Unsinn sein muss, sie geben mir Antwort. Da staunen Sie, und ich sehe, dass Sie Anstalten machen, mit den Fingern zu schnippsen, und tatsächlich tun Sie es, lächelnd, es macht Schnipp, im selben Augenblick erlöschen alle Sterne, es ist finster, die Nacht ist schwarz, und dennoch werde ich weiter zu Ihnen sprechen. Hören Sie mich? So sagen Sie doch etwas! [24]

– Die Gänge. Oder: Pssst –

Sie machen sich einen Spaß daraus, zwar nichts zu sagen, aber laut und vernehmlich Pssst zu machen. Nicht hier im Krankensaal, so nenne ich das 4-Bett-Zimmer, in dem ich mit fünf weiteren Patienten liege, sondern draußen im Gang, irgendwo in der grünlichen Finsternis, erhellt allein von den Notausgangsschildern. Pssst. Immer wieder Pssst. Zuerst dachte ich, einer meiner Mitpatienten mache das Geräusch, doch nein, alle fünf schnarchen. Ich allein bin wach, ich allein höre Sie. Ich steige aus dem Bett und stehe barfuß im geliehenen blau-braun-beige-karierten Schlafanzug auf dem kalten Linoleum-Fußboden. Meine Zehen richten sich unwillkürlich auf. Und da ist es schon wieder. Pssst. Das Erste, das Sie zu mir sagen, ist also eine Aufforderung, nichts zu sagen. Ich schlüpfe in die Anstaltspantoffeln aus billigem Filz und gehe in den Gang hinaus. Links oder rechts. Ich [25] sehe jeweils eine zweiflügelige Schwingtür. Die nach rechts hin scheint ein wenig zu schwingen. Nachzuschwingen. Oder täusche ich mich? Überall leises Schnarchen. Die leichten Fälle, die zur Beobachtung eine Nacht im Krankenhaus zu verbleiben haben, schnarchen unbeobachtet vor sich hin. Ich wende mich nach rechts. Wenn ich nicht zurück ins Krankenhausbett will, so muss ich eben gehen, denke ich, und so schlurfe ich den Gang entlang, ergreife mit beiden Händen die vertikal angebrachten Türgriffe, schiebe die Tür auf und gehe hindurch. Pssst macht es. Ich erschrecke. Unter der Nase, auf der Oberlippe, spüre ich einen Luftzug. Aha, denke ich, die Schwingtüren bewegen sich leicht im Luftzug und produzieren dieses Pssst, das ich immerzu höre. Rätsel gelöst! Doch da macht es plötzlich Pssst Pssst Pssst, das sich anhört wie Nein Nein Nein, und so muss ich, statt ins Krankenhausbett zurück, doch weiter. [26] Ich gehe den Gang entlang. Alles ist in grünliches Licht getaucht, gebettet, und wie in dem Gang, an dem mein Krankenzimmer liegt, stehen auch hier alle Türen offen. Imgrunde, denke ich, könnte es sich auch um Schweineställe handeln, so sehr grunzt es aus den Zimmern. Ha! rufe ich ob dieses Gedankens, und da macht es auch schon wieder Pssst. Ich fahre zusammen. Was tun? Zurück ins sichere Bett? Doch was heißt schon sicher? Ich sehe mich um. Alles wie gehabt, der Gang, auf der einen Seite Türen, auf der anderen Seite matte Fenster, unter ihnen die mächtigen Heizkörper wie altertümliche Schriftzeichen, die immer nur das Eine sagen: Pssst. Ja, flüstere ich, die Heizkörper sind’s, die Pssst machen. Das ölige Wasser in ihnen, mal kalt, mal warm, die Rohre, gewinkelt und gestreckt, Klappen und, wer weiß, Ventile, Ventile!, alles verbunden und verknüpft mit einem Kessel. Einem Heizkessel. Hossa! rufe ich und meine Heureka, Pssst macht [27] es wieder. Pssst, Pssst, Pssst. Ich muss weiter. Doch wie gerne spräche ich jetzt mit Ihnen. Oder überhaupt mit jemandem. All die flinken, teils hübschen, teils hässlichen Krankenschwestern sind allerdings wie weggezaubert, auch die Krankenpfleger, für die das Selbe gilt: so oder so. Dabei sollte doch irgendwo so eine Art Staionszimmer sein, wo mindestens ein Mensch quasi Wache halten müsste. Schließlich sind doch wir alle, die Schnarchenden und ich, zur Beobachtung hier. Ich schleiche weiter vorwärts im grünlichen Licht, das allein von den Fluchtwegeschildern über den Schwingtüren ausgeht, und schon stehe ich vor der nächsten dieser Schwingtüren, schiebe sie auf und trete mutig in den nächsten Gang, der nach links rechtwinklig vom bereits durchschrittenen abgeht und am Ende wiederum eine Schwingtüre aufweist. Rechter Hand die [28] offenen Türen zu den Zimmern, aus denen es wie gehabt herausschnarcht. Ich gehe ein paar Schritte. Plötzlich macht es Dong, der Ton kommt eindeutig aus dem Heizkörper neben mir, gefolgt von einem Pssst, dann noch einmal Dong, dann Pssst, dann Dong, Pssst, Dong, Pssst, Dong, Pssst. Am Ende wieder Stille. Ich muss weiter. Es  wird wohl, denke ich, ein Innenhof vorhanden sein, die Gänge müssen ein Rechteck, ein Quadrat bilden, es umschließen, wenngleich hinter den Fenstern nichts zu erkennen ist, während sich im Fensterglas matt, grünlich und zerfurcht mein Gesicht abbildet, ein nächtlicher Wanderer, der die offen stehenden Türen der Krankensäle schlurfend abmisst, durch Pendeltüren geht, nach links dem nächsten Gang folgt, stur, in seinem Krankenhausmantel, ein Ohr an jeden Heizkörper legt, die allesamt lauwarm sind, die allesamt ein feines Rauschen von sich geben. Dann aber lege ich mein Ohr an [29] den nächsten Heizkörper – und zucke zurück. Heiß ist er, und da macht es auch plötzlich wieder Pssst, es macht Dong, und dann sehe ich doch tatsächlich direkt gegenüber eine Tür, die geschlossen ist. Sie glauben ja nicht, und jetzt spreche ich tatsächlich mit Ihnen, obwohl Sie nicht da sind, wie schwer es mir fällt, diese Tür zu öffnen. Meine Hand zittert. Sie liegt zitternd auf der Türklinke. Was, denke ich, erwartet mich im Zimmer, im Saal hinter dieser Tür? Schlafende Patienten in ihren Betten? Leere Betten? Oder ein ganz und gar leerer Raum? Meine Hand umschließt die Klinke, langsam drücke ich sie nieder. Ein leichtes Knarzen. Im selben Moment denke ich, womöglich ist die Tür verschlossen. Aber nein, leicht lässt sie sich aufdrücken, dunkel ist es, und meine Angst wird größer und größer mit jedem Zentimeter. Soll ich rufen, Hallo, ist das Jemand, [30] oder doch besser stille sein? Ich tue einen Schritt in den Raum, vorsichtig, dann noch einen, doch da ist kein Raum, kein Zimmer, kein Saal, das aber bemerke ich erst im Fallen oder glaube es im Fallen bemerkt zu haben, nachdem ich erwacht bin aus meiner Bewusstlosigkeit. Aber was heißt schon Bewusstlosigkeit? Ich bin eine Kellertreppe hinuntergestürzt, blutete aber nicht und hatte auch keine Beulen davongetragen. Ich stehe also auf, streiche mir über diesen Krankenhausbademantel, ja klopfe wie wild darauf herum, bis aller Staub verschwunden sein muss. Ich stehe im grünlichen Licht zweier Notausgangsschilder, eines direkt über mir, ein anderes am Ende des backsteingemauerten, engen, tonnengewölbten Ganges über einer Tür. Da bin ich wohl, sage ich, hören Sie, im Keller gelandet. Keine Antwort, natürlich nicht. Stattdessen Stille. Aber [31] immerhin kann ich mit Ihnen sprechen, wenn ich will, kann sagen Ich spreche mit Ihnen, und selbst wenn Sie nicht antworten, so habe ich doch einen Adressaten für meine, nun ja, Geschichten. Weiterhin Stille. Dann jedoch leise, und irgendwie zischend, ein Pssst. Es scheint aus dem Bereich der Tür am Ende des Ganges zu kommen. Doch wie still es hier ist, denke ich, und wie leise dieses Pssst. Ich erinnere mich an ein Fauchen, Sie und ich standen inmitten eines grässlichen Fauchens. Und standen wir nicht auch einmal unter dem Sternenhimmel, so frage ich Sie. Es ist still hier im Gang mit dem grünlichen Licht, bis dann aber wieder ein Pssst erklingt, etwas lauter nun, so scheint mir, und ungeduldiger. Pssst. Die Türe oben am Ende der Treppe, sehe ich, steht offen. Bin ich wirklich die Treppe hinuntergefallen, frage ich mich und taste noch einmal an mir herum. Kein Blut, keine Beulen. Die Treppe hinauf, dann nach links oder rechts, [32] das ist imgrunde egal, wenn die Gänge einen Innenhof umschließen, einen viereckigen Innenhof, vier Seiten, vier Gänge, um so wieder zu dem Gang zu gelangen, an dem mein Zimmer liegt, der Schlafsaal, in dem mein Bett steht, in das ich mich zu legen und zu schlafen habe, bis das morgendliche Wecken alle aus dem Schlaf reißt. Zurück also oder weiter in den Keller hinein? Wie zur Antwort höre ich ein Pssst, gefolgt von einem dumpfen Dong, Pssst, Dong, Pssst, Dong, Pssst. Ich muss los. Wieder also öffne ich eine Tür, vorsichtig, doch es eröffnet sich nur ein weiterer enger, schmaler Gang in grünlich totem Licht. Gehe ich ihn entlang, am Ende ist wieder eine Tür zu erkennen, bewege ich mich allerdings fort vom vertrauten Viereck. Andere Kellergänge, direkt unter den oberirischen Gängen oder ein Gang quer unter dem Innenhof, scheinen nicht vorhanden oder zumindest von hier nicht zugänglich zu sein. Umkehren oder weitergehen, so frage ich mich nochmals. Gehen, entscheide ich endlich, so ich also gehe, Gang um Gang, Tür um Tür, immer geradeaus, [33] ohne jede Abzweigung. Muss ich nicht längst, überlege ich schon bald, den Bereich des Krankenhauses verlassen haben? Wie lange gehe ich bereits hier die Gänge entlang? Sucht man mich da oben, hat man die offenstehende Tür zum Keller entdeckt und mir jemanden nachgeschickt? Erwartet man mich am Kopfende einer Treppe, die mich wieder an die Oberfläche bringt? Diese Fragen muss ich mir stellen.

– Der Himmel –

Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht! Dabei wissen ja grad Sie, ob ich mich täusche oder ob ich mich nicht täusche. Mich falsch erinnere oder mich richtig erinnere. Doch kann man, kann ich mich falsch erinnern? Sich selbst täuschen oder getäuscht werden? Immerhin sitze ich, das ist gewiss, in einem bequemen, weißlackierten und mit Sitz- und Rückenkissen aus[34]staffierten Gartenstuhl in einem Innenhof auf saftig grüner Wiese. Sie sitzen mir gegenüber. Ich betrachte Ihre Handgelenke und suche Spuren einer Fesselung, an die ich mich deutlich erinnere. Doch nichts. Das vierstöckige Haus um uns herum mit all seinen blinden Fenstern, ist das nicht das Krankenhaus, in dem ich lag, nachdem man mich bewusstlos aufgefunden hat? Ich erinnere mich an den Krankensaal mit den schlafenden, schnarchenden Mitpatienten. Schliefen und schnarchten sie nicht immerzu? Wie die Schlaf- und Schnarchpuppen? Schließlich fand ich Sie, der Sie mir jetzt gegenübersitzen, in einem Kellergang mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt. Der Schlüssel baumelte an einer Schnur von der Decke, unerreichbar für Sie. Sie nicken und lächeln mich an, als sei das Ganze ein Spiel gewesen, das Herauslocken aus dem Krankensaal, dieses Pssst, dem zu folgen ich mich gezwungen sah, auch wenn ich dann nur dem Gang folgte, den Gängen, in denen dieses Pssst irgendwie [35] präsent war, und dann auch dieses Dong, das mir jedoch, im Gegensatz zum Pssst, eindeutig aus den Heizkörpern zu kommen schien. Und fand ich Sie schließlich nicht auch fixiert an einen solchen Heizkörper, dem einzigen in all den Gängen dort unten im Keller, dehydriert und verzweifelt? Ihr Mund mit den blutigen, rissigen Lippen stieß immerzu Pssst aus, Pssst, Pssst, Pssst, während Sie mit den stahlumschlossenen Handgelenken gegen den Heizkörper schlugen, der eine heftige Hitze ausstrahlte. Dong, Dong, Dong. Sie nicken mir wieder lächelnd zu, Ihre Lippen sind verheilt, in Ihren Augen ist keine Spur mehr von Wahnsinn zu entdecken. Ich frage mich nun, während Sie den Kopf in den Nacken legen und das Himmelsrechteck mit den weißen Wölkchen auf blauem Grund betrachten, ob Sie überhaupt wirklich wissen, wie wir aus dem Kellerlabyrinth herauskamen, nachdem ich Sie befreit hatte von Handschellen und Heizung. Ich hatte und habe da so meine Zweifel, kann aber nicht Sie, das muss ich jetzt wohl einsehen, ja, lächeln Sie nur, [36] als Zeugen aufrufen, sondern muss mich selbst besinnen auf die Abläufe. Sicher scheint mir, dass ich, Sie hinter mir herschleifend, den Rückweg wählte, zur Kellertreppe hin, die ich hinuntergefallen war und die ich nun wieder hinaufzusteigen mir vornahm, notfalls huckepack mit Ihnen auf dem Rücken. So ging ich im grünlichen Schein der Notausgangsschilder voran, während Sie mir schlurfenden Schrittes folgten, mit hängenden Armen und dem Kinn auf der Brust. Erinnern Sie sich? Ich frage Sie! Denn statt das Himmelsrechteck zu betrachten, sollten Sie mir helfen zu klären, wer Sie in den Keller brachte und an den Heizkörper fesselte. Sind auch Sie, so wie ich, vor der Kirche der Heiligen Jungfrau in Bewusstlosigkeit gefallen, dort, im Nebel und zugleich unter den Sternen? So sagen Sie doch etwas! Sie sagen nichts. Stattdessen heben Sie langsam den rechten Arm und zeigen mit dem Zeigefinger [37] auf einige Vögel, die vom Wind getrieben durch das Bild gleiten, das sind sicher Möwen, denke ich, doch warum sehen wir sie von oben, nicht von unten, so frage ich mich, und da entdecke ich einen weißen Streifen im Blau, und das ist nicht der Kondensstreifen eines Flugzeugs, sondern das Kielwasser eines Schiffes, das als kleiner weißer Punkt sich langsam, ja, wie langsam nur, bewegt, bis es schließlich aus unserem Rechteck verschwunden ist. Die Möwen aber gleiten weiter durch das Bild, hin und her und in großen Kreisen, und fast meine ich, ihre Schreie zu hören. Wieder lächeln Sie mir zu, stehen dann auf, greifen in eine Schale und werfen irgendwelche Stückchen in die Luft, Brot wahrscheinlich, und die Möwen schnappen es sich im Flug und drehen ab. Schon greifen Sie wieder in die Schale, doch die meisten Stückchen fallen ins Wasser, denn mit einem Male sind alle Möwen verschwunden und [38] das Brot ist für die Fische. Was geht es mich an, denke ich, lege den Kopf in den Nacken und betrachte die weißen Wölkchen und den blauen, südlichen Himmel, denn das ist er doch, nicht wahr, frage ich Sie, südlich? Sie blicken mich an, lächeln Ihr Lächeln, schauen nach oben, so als müssten Sie zunächst prüfen, wovon ich denn spräche, dann aber endlich nicken Sie mir zu, worauf ich aufatme, mich schüttele, mich entspanne und endlich in Schlaf falle, denn als ich erwache sind es wieder die Sterne, die über mir glitzern und blinken. Wo aber sind Sie?

– Das Meer –

Wenn es nicht das Meer ist, das nach Fisch riecht, dann ist es das Schiff, das nach Meer riecht. Ein umgebauter Fuschkutter, so scheint mir, etwa zwölf Meter, so Pi mal Daumen, in der Länge. Deutlich hörbar der Dieselmotor, deutlich spürbar, denn kaum stehe ich, durchzieht mich ein Vibrieren von den Fußsohlen bis zum Schädeldach. Ich gehe ein paar Schritte, schwankend, plötzlich ist es mit einem Male nahezu stockfinster, [39] und dann sehe ich Sie als einen vagen Schatten im Steuerstand am Steuerrad. Ich stolpere eine Stufe hinauf, die Tür steht offen. Wohin fahren wir, frage ich, und ich spüre, dass Sie wohl lächeln müssen. Die Wellen klatschen an den Schiffsrumpf, ein leichtes Heben und Senken, wir sind, denke ich, auf großer Fahrt. Vor uns nichts als Schwärze mit nur einem einzigen hell leuchtenden Stern am Himmel. Die Venus? So frage ich mich. Fahren wir also nach den Sternen, sage ich, und dann sehe ich Ihren Schatten zur Seite treten und spüre selbst das Steuerrad in der Hand, wie es sich leicht, ganz leicht hin und her bewegt, her und hin, hin und her. Das Meer, denke ich, das ewige Meer.

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