Kopfsachen, Wundränder und Tagebuchartiges

Mein fortlaufend weitergeführter Text Wundrand oder: Eine Kopfsache muss die Leser wohl in einige Verwirrung stoßen, denn glaubten da manche, man könne aus einem tagebuchartigen Text immer Schlüsse ziehen oder etwas lernen über den Verfasser, so haben diese sich in diesem Falle getäuscht und täuschen sich noch immer. Ein gewisser Frisch hatte, fällt mir grad ein, einmal die Idee, die Öffentlichkeit als Partner für derartige Texte aufzurufen, worauf er sich, so sagen manche, vom Erlös dieser Idee einen Jaguar kaufte, er also fortan mit einem Auto in der Öffentlichkeit herumfuhr, das von eben dieser bezahlt worden war. Chapeau, mein lieber Max! Muss man erstmal hinbekommen. Mein Text hingegen sucht keine Partner, wird keine Fahrzeuge bezahlen und bleibt fortlaufend, ich möchte fast sagen: schrundig, bleibt zudem unverkäuflich, lässt Homogenität vermissen und sich letztlich nicht einmal dem Tagebuchartigen, schließlich fehlen Orts- und Datumsanzeigen, hinzurechnen. Er kommt aus dem Nichts und wird wieder im Nichts vergehen. C’est la vie.

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Das nebenbei Erstellte als Eigentliches? Na hoffentlich nicht!

Kürzlich sagte Daniel Ketteler, Schriftsteller und Arzt, bezüglich des Sujets der literarischen Nebenproduktionen – Notizen, Tagebucheintragungen, Glossen, Briefe etc. –, dies seien doch oft die interessantesten Teile eines Werkes. Nun ja, ich weiß nicht so recht, ob ich da zustimmen sollte, aber da ich im Moment genau damit beschäftigt bin, nämlich mit dem fortlaufenden Erstellen des zweckfreien Textes Wundrand oder: Eine Kopfsache, will ich mal nicht so sein und die These zumindest nicht völlig verwerfen. Wer weiß denn auch, was in ein paar Jahrzehnten aus welchen Gründen auch immer an die Oberfläche gehoben wird. Womöglich gilt ein Nebenprokukt in einem bestimmten Kontext dann tatsächlich als eine Entdeckung, vielleicht sogar als eine literarische. Haben hat man in gelebter Gegenwart natürlich nix davon, aber abhalten von der Produktion unverwertbarer Texte will man sich ja nun mal auch nicht lassen. Das dazu!

Norbert W. Schlinkert. Licht, aufgehend

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Donald Trump und die Folgen – mein Artikel von 2016 reloaded

Artikel in der freitag, 25.11.2016

Donald Trump und die Folgen

Die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika und hierzulande steht vor einer entscheidenden Bewährungsprobe, denn gewählt werden können auch deren Feinde.

Von

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Das Haus / Die Straße

Norbert W. Schlinkert

Das Haus / Die Straße

Eine Erzählung

Heft III

Übertragung des Manuskripts in ein Typoskript

© 2025 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

[1] Kann man sich selbst zuhören, frage ich mich, und ist diese Frage bereits die Antwort auf die Frage? Schwierig. Ich stehe auf, beschreibe einen Kreis im Raum und bin bereits im Begriff zur Tür hinauszugehen, die Treppe hinab, um entweder im sommerlichen Garten zu landen oder auf der staubigen Landstraße. Etwas jedoch hält mich zurück. Muss ich das eben Angedachte noch einmal durchdenken, bevor ich in den Garten gehe oder zur Landstraße hinaus, das frage ich mich, denn ich kann ja alle Fragen, die mich und die Welt betreffen, ebenso gut wie [2] hier in diesem Zimmer auch draußen im Garten, auf der Landstraße gehend oder an anderen Orten überdenken. Wer weiß, sage ich, womöglich ist das Zimmer, der Raum, in dem ich lebe, der schlechteste Ort, Dinge zu überdenken. Oder der beste. Oder es ist gleich, wo ich mir selbst zuhöre, um die mir wichtigen Fragen zu stellen, zu erörtern, zu beantworten, denn bei mir und mit mir bin ich schließlich immer. Ich lege die Hand auf die Türklinke und ziehe die Tür auf. Jetzt, sage ich. Beantworte dir deine Fragen an der frischen Luft, sage ich, das wird dir gut tun. Ja.

*

Ein Wissenskorsett anzulegen ist mir nicht möglich, da all mein Wissen zu wild erworben worden ist und in kein Muster passt. Selfmade-Wissen müsste man es nennen, denke ich, während ich den Garten in meinem Rücken atmen höre, dennoch aber auf die staubige Straße trete, deren Baumreihen in beide Richtungen [3] beidseitig zu einem Punkt in der Ferne zusammenlaufen. Noch gut vorstellbar, wie die Gastwirtschaft in diesem Haus vor fünfzig, sechzig Jahren florierte. Die Lastwagen standen sicher in langen Reihen sauber positioniert unter den noch jungen Bäumen, während die Fahrer im Gastraum saßen und ihren Eintopf löffelten, ihr Bier tranken, zwei vielleicht, bevor es weiterging. Zigaretten im Staub, zerdrückt, zertreten. Der Garten der Gastwirtschaft, so wurde mir gesagt, sei ein reiner Nutzgarten gewesen, während er heute ein reiner Ziergarten ist. Ziergarten, denke ich und drehe mich um, die Zierde des Hauses, der ehemaligen Gaststätte, nunmehr meines Hauses, das ich allein bewohnen werde müssen, wie es aussieht. Das halb verrottete Emailleschild über dem Eingang bleibt. Der [4] Gast bin ich. Noch. Ob aber weitere Gäste kommen, entscheidet die Landstraße. Ich drehe mich um, der Garten erwartet mich, er will bearbeitet werden, mit Hacke und Spaten, Sense und Axt. Ich bin bereit. Der Geruch der Brennnesseln liegt schwer in der Luft. Ich werde eine Schneise schlagen müssen. Bis zu den Pflaumenbäumen. In der Senke werde ich nicht sensen, auch die Taubnesseln, die hier und da ihren Raum füllen, bleiben. Ich habe kaum Reste des Ziergartens finden können, vom Nutzgarten einige Beeteinfassungen aus Backstein oder großen Kieseln. Beides wuchs aus sich heraus zur Wildnis. Bewohnt aber war das Haus. Behaust gewissermaßen. Gegenstände oder Kleider, Schuhe, was auch immer ein Mensch im Leben hat und gebraucht, finden sich nicht. Dort jedoch, wo die Schuhe an- und ausgezogen wurden, an diesen Stellen sind Spuren eines Tuns, eines Lebens. Im Flur. Dort findet sich auf den ochsenblut[5]roten Dielen eine mattglänzende Stelle gegenüber der Küchentür, kaum mehr als als untertassengroß, und ich nehme an, hier wohl müssen alle Bewohner mit dem bestrumpften, wohl linken Fuß einbeinig gestanden haben, während sie sich den rechten Schuh vom Fuß zogen, um ihn dann achtlos fallen zu lassen. So stelle ich es mir wenigstens vor angesichts der Indizien, stellte es sogar sogleich nach, kaum dass ich diesen Eindruck gewonnen hatte, und siehe da, ich stehe mit dem linken, bestrumpften Fuß exakt auf der mattglänzenden Stelle des ochsenblutfarbenen Dielenbodens, nachdem ich mir zuerst den linken Schuh auszog, in die Knie gehend, mich bückend, um dann in einer sich natürlich ergebenden Standhaltung mich an das Ausziehen des rechten Schuhs zu machen. Womöglich tat das ein jeder Bewohner und ein jeder Gast auf genau diese Weise, obgleich es andere, ebenso natürliche Möglichkeiten gibt, etwa knieend beide Schuhbänder zu lösen, sich auf die Treppe zu setzen, die Schuhe (oder auch Stiefel) bereits vor der Haustür auszuziehen und so weiter. Doch die mattglänzende Stelle auf den ochsenblutroten [6] Dielen spricht eine andere Sprache. Die Schuhe wollen so und nicht anders ausgezogen werden, ich halte mich daran. So werde ich in immer höherem Maße Bewohner des Hauses sein, so hoffe ich, und dementsprechend immer weniger Gast.

*

Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht, ob ich nach irgendwohin zurückkann, zurückkönnte, und ich habe auch kein ahnungsvolles Gefühl, ob ich die staubige Allee nach links oder rechts hin begehen müsste, um einen Ort zu erreichen. Wohin führt diese Straße, frage ich mich, links ist Westen, rechts ist Osten, doch die eigentliche Antwort ist: zu diesem Haus hier führt die Straße. Mir ist, als sei ich sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten gekommen, und dies nicht im metaphorischen Sinne, sondern ganz real – zumindest in meiner Vorstellung der Realität. Tatsache [7] ist, sage ich, die hochstehende Sonne im Rücken, dass ich nun das Haus zu bewohnen und den Garten zu gestalten habe, oder umgekehrt, denn der Garten benötigt nur ein lichtendes Moment und später eine Art behutsamer Pflege, während das Haus von sich aus nichts selber machen kann, sondern gestaltet werden muss. Am Tag meiner Ankunft drehte ich zunächst einmal alle Wasserhähne auf, in der Küche, dem kleinen Badezimmer im ersten Stock, der Toilette am Ende des Flurs und in der Werkstatt im Anbau links vom Garten. Minutenlang rann rostiges Wasser aus den Hähnen. Auch lief ich durch alle Zimmer und schaltete das Licht an, trübe Deckenlampen, Wandlampen und zwei Nachttischlampen im Schlafzimmer. Nur in den Keller traute ich mich nicht. In der Küche dann, auf einem sonst leeren Bord, fand ich ein altes Transistorradio. Es funktionierte und spielte mir einen Marsch. Ich nahm das Radio [8] zur Hand und lief durch alle Räume, die Steckdosen zu prüfen. Sie funktionierten, auch in der Werkstatt. Dann war der Marsch zuende und ich stellte das Radio wieder auf das Bord zurück. Fehlte nur noch der Keller. Als Kind hatte ich Angst vor den Kellern, Ehrfurcht aber vor den Dachböden. Auch dieses Haus, das ich nun durchschreite zum Garten hin, hat ein Spitzdach und damit einen Dachstuhl, einen Dachboden. Eine schmale Stiege führt hinauf zu einer Bodenklappe, zweigeteilt, mit beiden Händen aufzustoßen. Morgen werde ich hinaufgehen. Oder sollte ich mich zunächst in den Keller trauen, um dann, als Belohnung, den Dachboden inspizieren zu dürfen? Ich nehme die drei Stufen zum Garten mit Schwung, ich fliege sie geradezu hinunter, stolpere und falle, liege mit Schmerzen am Boden und erinnere mich des Anfangs: es war mir angeboten worden, mich zu bringen, ich jedoch ging zu Fuß, [9] ging lange, bis unversehens das Haus auftauchte, linker oder rechter Hand, ich weiß es nicht mehr. Das Haus unterbricht die Allee, beschädigt sie gewissermaßen, eine lehmverputzte zweistöckig gebaute Raststätte mit einem von einem Sandsteinmäuerchen umrandeten ungepflasterten Parkplatz, ein Ort, so denke ich jetzt, aufstehend und mir die Knie reibend, der bessere Tage gesehen hat. Drinnen im Haus klingelt ein Telefon. Ich hatte kein Telefon bemerkt. Ich springe die drei Stufen fliegend hinauf, stürze nicht und renne wie angestochen im Haus umher, das Klingeln zu verorten. Es ist überall, schrill und überlaut, ein Telefonapparat aber ist nirgends. Dann verstummt es und ich bemerke in jedem [10] der Räume einen kleinen, nussbraunfarbenen Lautsprecher in einer der oberen Zimmerecken.

*

An der Kellertür steht KELLER, in Großbuchstaben. Oder doch zuerst den Dachboden erkunden? So frage ich mich. Ein Plan des Hauses und des Geländes, eine Draufsicht, müsse, so sagte man mir, irgendwo vorhanden sein, vier mit einer großen Büroklammer zusammengehaltene Blätter, fast quadratisch, die Übersichtszeichnung eines Bauzeichners mit freihändigen Ergänzungen. Einige Stellen seien eingekreist, eingekringelt. Warum wisse man nicht. Ich habe die alten Schränke durchforstet, kein Plan. Ich werde selber eine Skizze verfertigen müssen. Ich gehe in den Garten. Im Staub ist deutlich zu sehen, dass da jemand gelegen haben muss: Ich. Ich tue einen großen Schritt, stehe da und stemme die Fäuste in die Seiten. Der Garten ist die [11] reinste Wildnis, die Obstbäume stehen in einem Meer von Brennnesseln. Werkzeug sei da, wurde mir gesagt, für Garten und Haus.

*

Ich entnehme einer der beiden Reisetaschen mein Bettzeug. Es ist mein erster Tag hier im Haus, ich erinnere mich. Kaum nämlich hatte ich das Haus mit den Taschen links und rechts betreten, ging ein kurzer Schauer nieder, worauf ein Regenbogen den Garten umspannte. Ein zweiter, blasserer Bogen über dem ersten, inneren. Ich nahm es als einen Willkommensgruß. Schwerer Geruch von Brennnesseln. Ich gehe hinaus in den Garten und atme tief. [12] Als ich wieder hineingehe steht plötzlich ein großer Indianer in der Tür des Schankraums und nickt mir trocken zu. Bitte? sage ich unfreundlich, worauf er sagt, die Tür stand offen. Dann klingelt das Telefon und der Indianer geht weg. Als es zu klingeln aufhört wird mir klar, dass er den Hörer des  Telefons abgenommen haben muss. Was sonst!

*

Ich glaube, dass der Indianer entweder [13] auf dem Dachboden wohnt oder im Keller und er also damals gelogen hat als er sagte, die Tür habe offengestanden, so als sei er von draußen hereingekommen. Eine Lüge also, selbst wenn die Tür wirklich offenstand. Spontan entscheide ich jetzt, auf den Dachboden zu gehen, zu klettern, und natürlich kann ich mir allzu leicht vorstellen, ihn mitten im Raum hocken zu sehen, aber das reicht nicht, in echt muss ich ihn sehen. Und was, wenn er tatsächlich dort sitzt, was dann tun? Ihm erklären, ich hätte das Haus samt Grundstück gemietet, um hier ungestört leben zu können? Oder ihn zunächst einmal fragen, wer er sei und ob er überhaupt Indianer ist? Und fragt er mich, wer ich sei, was sagen? Was sagen? Bin ich der Indianer?

*

Auf dem Dachboden ein Holzverschlag neben dem anderen. Hallo, rufe ich. In den Verschlägen allerlei Krempel, Nachttischschränkchen, Lampen, Leuchten, Hocker, Emailleschüsseln, stumme Diener, aufgerollte Teppiche, Anrichten und Hängeschränke, Wärmeflaschen [14] aus Zink oder Gummi, Kinderspielzeug aus Blech. Vom Indianer keine Spur. Im durch das kleine Dachfenster hereinbrechenden Licht kleine tanzende Staubflöckchen, ein Flöckchenball zur Feier meines Besuchs. Ich öffne einen Verschlag nach dem anderen und nehme die Dinge in die Hand, mit einiger Ehrfurcht, wie mir selber scheint. Im vorletzten Verschlag links ein Karnevalskostüm für Kinder, Häuptlingsschmuck, Aha rufe ich, zwei Cowboyhüte, ein Revolvergurt ohne Revolver, eine braune Kunstlederjacke mit Fransen an den Ärmeln. Ich sehe die Kinder durchs Haus tollen, die Erwachsenen aber ihre übliche Arbeit verrichten. Sie haben alberne Hütchen auf dem Kopf, schließlich ist Karneval, tragen aber eine Leichenbittermiene zur Schau. Auch die Gäste, ich sehe mit einem Male Gäste im Haus, Reisende, gucken verdrießlich aus der Wäsche. Nur manchmal, wenn Kinder durch den Schankraum laufen, quälen sie sich ein Lächeln ab. Die Arbeit wartet, für Albernheiten ist keine [15] Zeit. Kind müsste man sein!

*

Ich gehe durch den Garten. Ich schreite alles [16] ab. Die Obstbäume müssen beschnitten werden, die Brennnesseln, die noch immer ihren schweren Duft über alles legen, müssen aus den Beeten entfernt werden. Hinter dem Teich dürfen sie bleiben, bei den Robinien. Platz für ein Tipi, denke ich unwillkürlich, wäre ja. Doch ich darf mich nicht auf den Indianer fixieren! Sah er denn nicht genau so aus wie die Indianerfigur, die ich als kleiner Junge mit mir herumtrug und später ins Bücherregal stellte? Denkbar, eine Posse meines Hirns, das sich ob meines eigenen Erstaunens in seiner hintersten Kammer kaputtgelacht hat. Und natürlich sitzt der Indianer Pfeife rauchend eben dort und lacht sich einen Ast. Und da Rauchen und Lachen zusammen nicht gut funktioniert, muss er husten, hustend lacht er, er hört gar nicht wieder auf damit, und ich habe Kopfschmerzen deswegen. Platz für ein Tipi draußen im Garten wäre aber auf jeden Fall. Indianer! Hörst Du mich? [17]

*

Als ich erwache, weil jemand unten gegen die Haustüre pocht, ist mein Kopf leer und die Erinnerung an den Indianer muss sich wohl in dem Notizbuch, in Heft III, befinden, das auf dem Küchentisch liegt. Ich werde später mal nachsehen. Jetzt aber werfe ich mich erstmal schnell in meine Kleider. Wer das wohl sein mag, der da so knöchern an meine Tür pocht? Laut lachend nehme ich die Treppe wie im Fluge. Wer das wohl sein mag!

***

© und alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus bei Norbert W. Schlinkert 2025

 

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Bar jedes Gedankens – Miniaturen

Bar jedes Gedankens

Miniaturen

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Es begann damit

dass der Eichelhäher sich aus der Schar auf meinem Balkon einen Spatz krallte. Oder sollte es noch früher begonnen haben? Die anderen Spatzen flohen, ihr Leben zu retten. Der im Todeskampf zappelnde Spatz hängt an den Krallen des Eichelhähers. Er sitzt auf dem Schneegitter am unteren Rand des Daches gegenüber. Der Spatz stirbt. Blicke des Jägers. Kalt und dunkel. Wie denn blicke ich? Menschlich etwa? Ich gehe hinein und schließe leise die Balkontür. Am nächsten Tag mehr Spatzen als je im Hof. Im Seitenflügel schräg gegenüber auf dem Balkon im dritten Stock die Futterstation, Spatzen über Spatzen. Ich offeriere Wasser zum Trinken und zum Baden im vierten. Spatzen über Spatzen. Eine Demonstration. Ich stehe regungslos hinter der geschlossenen Balkontüre. Die Tonschale ist wie belagert. Viele wollen trinken, ein Spatz will baden. Ein Kampf entbrennt. Bald schon ist die Tonschale leer. Ich trete auf den Balkon hinaus und fülle nach. Kein Eichelhäher weit und breit. Aber auch keine Spatzen, nicht hier, nicht da. Wo sind sie denn hin, frage ich.  

Es setzt sich fort

durch die Ankunft einer Jungtaube. Eine Jungtaube ist wie ein Mensch der pubertiert, ist unbeholfen, tapsig und unentschlossen. Während die Elterntaube panisch davonschießt bleibt die Jungtaube, betrete ich den Balkon, stur in der Ecke auf dem kopfförmigen Sandstein hocken und glotzt mich an. Ich glotze zurück. Nichts geschieht. Ich wünschte, wir hätten eine gemeinsame Sprache. Sicher wünscht auch die Jungtaube eben dies. So bleiben wir stumm. Immerhin neugierig sind wir. Als ich zehn Minuten später den Balkon erneut betrete, ist die Jungtaube fort. Ich werde nachzudenken haben, so sage ich mir und gehe hinein.

Kaum aber dass ich

dem Weltgeschehen den Rücken kehre, ich mich in meine Räumlichkeiten zurückbegebe, die Küche durchschreite und den Wohnraum betrete, wo ich mich in den Sessel fallen lasse, geschieht das Folgende, nämlich dass es knöchern klopft an meiner Türe, zwei, drei Mal mit Dringlichkeit, worauf ich sogleich nach meinem auf der Truhe liegenden Gesicht taste, es aufsetze und zurechtrücke. Ja doch, rufe ich ungehalten. Wer nur kann das sein? Herein! Die Tür geht auf, und wie überrascht ich bin, als mein zweites Ich eintritt, auf mich zuschreitet und mir ohne zu zögern das Gesicht entreißt, es sich auf den Schädel legt, es zerrend, ziehend und zupfend zurechtrückt, um dann, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, die Tür hinter sich zuwerfend, zu verschwinden. Kopfschüttelnd bleibe ich zurück, stehe auf, greife mir mein zweites Gesicht aus dem Regal, staube es ab, lege es auf, ziehe und zerre und rücke und drücke, und siehe da, es passt. Ein Glück! Noch einmal passieren darf mir das aber nicht, denke ich und betrachte mich nachdenklich im Spiegel.  

Wenn ich mich

in eine Bar wünschte, in der ich unbemerkt am Tresen sitzen kann, eine Bar, in der kein Misstrauen, keine Neugierde entsteht, auch kein Unbehagen, so bleibt dieser Wunsch doch Wunsch. Unsichtbar ist niemand. Abgesehen vielleicht von demjenigen, den ich in der Tat nicht sehen kann. Ich nicke dem leeren Platz neben mir zu, in der Leere entsteht eine Unruhe, scheint mir, aber das ist auch schon alles. Draußen geht der Regen und benässt die Welt. Doch wer weiß, denke ich, ob der Unsichtbare neben mir mich denn überhaupt sehen kann, ob nicht auch ich ihm unsichtbar bin. Hat auch er mir zugenickt und einen Hauch von Unruhe gespürt? Doch nur die Toten, denke ich, trinken nicht, sitzen sie in einer Bar am Tresen, und reden tun sie auch nicht, nicht einmal miteinander.

Stehen die Toten

denn nicht im Pakt mit der Leere? Der Tod mithin, so denke ich, ist keine persönliche Erfahrung. Keine Angelegenheit. Und da, wo du doch hättest sein können, lebtest du, ist fortan Luft, ein Mensch, ein Tier, ein Hauch, ein Wehen. Die Welt ist dein gewesen, der Tod jedoch ein Nichts für dich. So denke ich. Da aber setzt ein Mensch sich in die Leere und nimmt des Unsichtbaren Platz. Ich schlucke schwer und gehe in die Nacht hinaus. Und sitzt im Rückblick nicht schon längst wer anders dort, wo ich noch eben saß, und lacht und redet, trinkt? Zwei Menschen, Körper, Leiber. Ich aber treibe durch die Häuser.

Durch mich hindurch

zu blicken gelingt nur allzu gut. Verwundert stell ich’s fest, selbst wenn ein feister fester Mensch mir noch immer auszuweichen hat, stell ich nur auf stur und weiche nicht. Ich sehe euch. In Gruppen, gehend die Köpfe ineinander. Nordwärts treibt es mich, den Mantelkragen hochgeklappt, immer nordwärts, wo feiner Nieselregen im gelben Laternenschein sich niederlässt. Straßen, Häuser, ein lichtes Fenster, fremde Wand in einem fremden Zimmer. Weiter geht’s durch all der Baumskelette Reihen. Ein Hund mit Leuchthalsband kreuzt mir den Weg, kurz darauf Kapuze, Zigarettenglut, ein Ruf, ein Pfiff und all die Schemen und die Schatten und Gestalten hinter den beschlagenen Scheiben einer Straßenbahn nach Werweißwohin.

Vor langer Zeit

da war ich noch sehr jung, zog ich einen großen gelben Hund, in die Strömung geraten, aus einem sommerlichen Fluss. Ich stieg hinein und und brachte ihn ans Ufer. Er schüttelte sich, dass es nur so spritzte, und trottete davon. Kein Blick, kein Dank. Meine Freundin auf dem Badetuch sagte nichts zu meiner Tat, und so erzählte ich niemandem davon, oder wenn ich es doch einmal versuchte, ging es den Menschen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen Ohr wieder heraus, ohne mit dem Gehirn in Berührung gekommen zu sein. So bin ich der einzige Mensch, der davon weiß. Eines Tages aber wird diese Geschichte meinen Mund verlassen und mir selbst in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus geraten, ohne mein Gehirn zu berühren. Dann wird sie vergessen sein.

Es herrscht

eine Undurchsichtigkeit. Schlieren sind im Kopf und klare Worte  unbekannte Wesen. Es sei denn, ein Streit bricht aus, dann zischen die klaren, bösen Worte aus schmalen Lippen und schlagen Male, die nicht verheilen werden und nicht verheilen wollen. Denn auch scharfe Schneiden hinterlassen schwärende Wunden. Mach mal die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört, so sagte man mir. So tat ich und entdeckte eine Welt. Ich hatte das große Los gezogen, wusste aber nichts davon. Niemand sagte es mir. Bin ich denn nicht ohne Land landlos, so fragte ich mich stattdessen, ohne Arbeit arbeitslos, ohne Zweck zwecklos, ohne Sinn sinnlos? In dieser Weise erschien mir meine Welt, die mein Los war. Wie lange nur war ich tumb und hatte Schlieren im Kopf?

Nach wie vor

scheint mir, ich weiß von innen nicht, wer ich von außen bin. Du musst der Soundso sein, wird gesagt. Ja, sage ich, ich muss bereits mein Leben lang der Soundso sei. Oder ich sage: muss ich wohl – oder übel, füge ich nach einer genau kalkulierten Pause hinzu. So gelte ich in jeder kleinen Runde als Philosoph der Allgemeinplätze. Als Aufsager abgestandener Witze. Als der witzlosen Zeitgenossenschaft schwer verdächtig. Als Gimpel, Einfaltspinsel, trübe Tasse. Witzlos auch zu erklären, dass es die Wiederholung des Immergleichen zu sein scheint, die das Leben würzt. So stehe ich stets neben mir als der mir am nächsten stehende Fremde unter all den Fremden um mich her. Doch was heißt denn schon um mich her, denke ich. Ist das Leben denn ein Kreis und ich die Mitte?

© und alle Rechte bei Norbert W. Schlinkert 2025
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Fünfzehn Jahre und ein weiterer wirrer Versuch, die Welt zu entwirren

Nun schreibe ich ja seit schon mehr als 15 Jahren, von September 2009 an, einen Teil meiner Texte per eigenem Blog, eigener Website, in die Welt hinaus. Während zu viele Zeitgenossen es sich zu einfach machen, indem sie in den sogenannten sozialen Medien schreiben und kommunizieren, bediene ich ein nun schon fast altmodisches Instrument. Die Zeiten, in denen die literarischen Blogs tatsächlich Ort waren für allerhand Diskurse, sind dementsprechend vorbei. Dem Zuckerberg auf den Leim gegangen – so könnte man das Phänomen kurz benennen. Bluesky, die noch recht neue Social-Media-Plattform, scheint immerhin eine neue Möglichkeit zu sein, zumindest innerhalb der eigenen Blase zu kommunizieren, ohne dabei einen Kniefall vor rechten und faschistischen Milliardären zu vollziehen, während die andere Seite in ihrer eigenen Blase, x, zunehmend ihr Unwesen treibt und Hass und Gewalt propagiert. Interessant, wie spät es letztlich den Rechten und den Faschisten eingefallen ist, einfach alle Regeln, allen Anstand, alle Bereitschaft zum Diskurs über den Haufen zu rennen, nachdem das ja vor hundert Jahren aus deren Sicht schon einmal gut geklappt hat. Am 20. Januar 2025, übermorgen, sind wir diesbezüglich womöglich dann wieder mal ein bisschen schlauer, wenn nämlich die Inauguration des neuen US-Präsidenten stattgefunden haben wird. Man muss kein Prophet sein, wenn man befürchtet, dass eben dieser Präsident in drei Jahren das Kriegsrecht in den USA ausruft und die nächsten Wahlen einfach mal nicht stattfinden. Unmöglich? Hoffentlich! Und was tue ich angesichts der politischen Lage? Neben dem Versuch und der Notwendigkeit, ausreichend Geld zum Leben und für die Ausübung meiner Kunst zu erwirtschaften, ist es nicht weit her mit Taten, denn einer für mich wählbaren Partei anschließen kann ich mich schon deshalb nicht, weil das jeweils einfach nicht mein Milieu ist, zu bürgerlich, zu bieder, zu hausbacken, zu spießig. Eine littérature engagée, also der Missbrauch meiner eigenen Texte zu politischen Zwecken, kommt auch nicht infrage – man lese die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, um zu erkennen, wie grandios gut und ästhetisch Literatur sein kann, die Historisches und Politisches zum Thema hat, ohne auch nur ansatzweise Propaganda zu betreiben. Ein Text, der insofern auf das Gemeinwesen wirkt, also politisch ist, als dass er den Horizont des Lesers erweitert, ohne ihn zu gängeln, ohne ihm das eigene Denken abzunehmen. Das Gleiche gilt aber auch für diejenigen Texte von Peter Weiss, die „unpolitisch“ und thematisch völlig anders daherkommen, etwa Das Gespräch der drei Gehenden und Der Schatten des Körpers des Kutschers. Texte wirken immer durch ihre künstlerische Qualität, nie allein durch ihren Inhalt, sodass es kein Wunder ist, wenn heutigentags nahezu alles per Podcast, Feature oder Dokumentarfilm abgehandelt wird. Das Kunstwerk hingegen ist frei von jeder Zweckbestimmung, nicht im negativ verstandenen Sinne von L’art pour l’ar, sondern ausdrücklich im positiv verstandenen Sinne, in der alle Kunst um ihrer selbst Willen entsteht, so also letztlich die Qualität entscheidet, ob sie im Kopf und Gemüt des Rezipienten etwas „anrichtet“. In meinen aktuell entstehenden Texten Treffen / Zwei / Sich und Wundrand oder: Eine Kopfsache geht es, so will mir scheinen, genau darum, das Anrichten, wenngleich das auch unsicher bleiben muss, denn Eindeutigkeit ist meine Sache nicht und auch nicht die meiner Literatur. Entschuldigen Sie bitte letztgenannten Umstand und auch diesen wirren Text, es ging nicht anders.

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„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihrem Antrag auf Gewährung eines Arbeitsstipendiums deutschsprachige Literatur für Berliner Autorinnen und Autoren 2025 nicht entsprochen werden kann“

Ich reg mich ja schon gar nicht mehr auf, wirklich nicht, wenn das Ablehnungsschreiben in Sachen Berliner Arbeitsstipendien deutschsprachige Literatur bei mir per Mail eintrudelt. Ich hatte auch bereits vor einer ganzen Weile bei entsprechender Gelegenheit etwas dazu geschrieben (siehe unten), das gilt noch immer. Ganz und gar passend ist auch die aktuelle Erwiderung per offenem Brief von Alban Nikolai Herbst, die aber wohl niemanden in der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt lesen oder gar beantworten wird. Wo kämen wir denn da hin? Mir selbst jedenfalls, der ich ebensowenig wie ANH gewerbliche oder dem Mainstream verhaftete Literatur verfasse, wären die beantragten 8.000 € für eines meiner aktuellen Projekte gut bekommen, doch wie ich bereits an anderer Stelle ausführte ist mir durchaus bewusst, nur Kunst zu machen und nicht zusätzlich Teil des durch und durch bürgerlichen Literaturbetriebs zu sein, ich also auch nicht wissen kann, was man sonst noch alles veranstalten muss, um ein Stipendium des Senats zu bekommen, wobei mir solch Aktionismus vor etlichen Jahren durchaus anempfohlen worden ist und ich natürlich selbst schuld bin, diesem Rat nicht gefolgt zu sein. Nicht folgen konnte. Aber wie gesagt, aufregen tue ich mich nicht mehr, denn ich  h a b e  immer Möglichkeiten, meine Vorhaben zu realisieren, und zwar nicht etwa „dennoch“ (siehe unten), sondern einfach aus Lust und Laune, aus künstlerischer Triebhaftigkeit heraus. So. Und nun, am Ende dieses (passenderweise schlecht geschriebenen) Textes mein Beitrag vom 28. November 2022 zum selben Thema (mit Bild!):

„Ich bedauere, Ihnen keine andere Mitteilung geben zu können und hoffe, dass Sie eine andere Möglichkeit finden werden, das Vorhaben dennoch zu realisieren.“

Na, so ein paar Mal habe ich mich, so beantworte ich jedes Jahr aufs neue die immer gleiche Frage, durchaus schon beworben um das Arbeitsstipendium deutschsprachige Literatur des Berliner Senats, Senatsverwaltung für Kultur und Europa – I A Am, Abteilung Kultur – Referat I A. Hat aber wieder mal nicht hingehauen, wie ich heute per E-Mail erfuhr. Muss der Text, mit dem ich mich bewarb, eben bleiben wie er ist und wo er ist. (Tut mir ja auch leid, aber ich hab einen neuen.) 348 Schriftsteller haben sich übrigens beworben, 41 haben was bekommen. Was ist denn das für eine Quote, frage ich und rege mich am Ende noch auf – dann muss man, sage ich, eben mehr Geld ins System geben, wenn es denn nicht für alle reicht! Schon mit knapp 8,4 Millionen ist man in Sachen Vollstipendium für ein Jahr dabei, wenngleich man damit auch 8,4 Kilometer Fahrradweg bauen kann. Allerdings kann man mit 16,8 Millionen beides machen! Schon mal drüber nachgedacht? Aber ich will mich natürlich nicht ernsthaft beschweren und mich damit um die Chancen für das nächste Jahr bringen, falls es das Stipendium dann noch gibt, und so veröffentliche ich meine Gedanken auch nur auf meiner eigenen Website. Besser is‘! Liest ja keiner. Was übrigens auch noch gut wäre, wenn man sich anonym bewerben könnte, wird vielerorts so betrieben, denn dann ginge es womöglich wirklich nur um die literarische Qualität des Textes und nicht um irgendwas anderes, eine Bemerkung, mit der ich natürlich nichts angedeutet haben will. Doch wie heißt es so schön, Die Hoffnung stirbt immer am schönsten, und so werde ich mich auch im nächsten Jahr mit einem neuen Text, wie gesagt soeben begonnen und schon voll in der Mache, bewerben. Ach ja, bevor ich es noch vergesse – was den am Ende der Absage-Mail geäußerten frommen Wunsch angeht, ich möge eine andere Möglichkeit finden, das Vorhaben dennoch zu realisieren: klar doch, wir finden alle eine Möglichkeit! Sonst hätten wir ja, wollten wir uns bewerben, nix, aber auch garnix vorzuweisen. Also weiter wie ein Vollidiot im Nebenjob (oder Brotberuf) geschuftet und jeden Cent umgedreht, weiter am Text, an den Texten gearbeitet, auf dass irgendwann, zum Beispiel im nächsten Jahr, ein paar Brosamen abfallen mögen. Ich halte Sie auf dem Laufenden …

Norbert W. Schlinkert. Der Friedhof der Trauermücken

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Treffen / Zwei / Sich

Norbert W. Schlinkert

Treffen / Zwei / Sich

Heft II

Übertragung der handschriftlich verfassten Erzählung in ein Typoskript

© 2025 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

– Eine Wüstenei –

[1] Ich spreche mit Ihnen. Stellen Sie sich vor, einen Durchgang zu passieren, einen Torbogen vielleicht. Stellen Sie sich vor, auf der anderen Seite zu sein. Sie wissen, sage ich, dass Sie nicht mehr zurückkönnen. Sie zeigen sich verwundert, ob wegen des Nichtzurückkönnens oder wegen mir, der ich so plötzlich wieder neben Ihnen stehe, weiß ich nicht. Ihr Blick wechselt zwischen dem Torbogen und mir hin und her. Das ist der Anfang der Geschichte. Ob ich mir Sie vorstelle oder Sie sich mich, weiß ich nicht. Auch Sie wissen es nicht. Am einfachsten ist es sicherlich, wir stellen uns uns gegenseitig vor. Vielleicht denken Sie das Selbe wie ich, ich weiß es nicht und sie auch nicht. [2] Wir werden uns verständigen müssen, so denken wir. Zu beiden Seiten des Torbogens ist Heide, Kraut und Moos. Nichts leichter als links oder rechts des Torbogens diesen zu passieren und ihn somit rechts oder links liegen zu lassen. Ich sehe es Ihrem Blick an, dies versuchen zu wollen. Kein Graben und kein Bach trennt das Diesseits und das Jenseits. Ignorierte man den Torbogen, so gäbe es weder Diesseits noch Jenseits. Ich denke wie Sie, wir haben beide recht, und dann sehe ich in Ihren Augen und den sich minimal verändernden Fältchen um die Augen herum, wie komisch Sie es fänden, ginge ich etwa links am Torbogen außen vorbei und Sie rechts, oder eben andersherum. Doch dann sehen Sie wie ich ganz leicht den Kopf schüttele und ganz leicht die Augen zukneife, so als wollte ich sagen, wie leid es mir tut, weder links noch rechts [3] am Torbogen vorbei gehen zu können noch den Torbogen durch ihn hindurch zu passieren. Es geht nicht, sage ich. Der Torbogen ist nichts weiter als ein verbliebener Rest der Mauer, die den einen Teil des Landes vom anderen Teil des Landes trennte. Reste der Mauer selbst sind mit bloßem Auge nicht erkennbar. Der Torbogen ist alt und verwittert, er hat die Form eines quadratischen, zweistöckigen Hauses aus dem 11. oder 12. Jahrhundert, nur dass sich statt des Erdgeschosses mit einer Stube der Durchgang befindet. Die Torbögen, denn imgrunde handelt es sich ja eigentlich um zwei Torbögen, sind oben rund, wie es sich für Torbögen nunmal ziemt. Die Decke dazwischen ist kein Tonnengewölbe, sie ist eben und stellt die Zimmer[4]decke des darüberliegenden Zimmers von unten dar. Sie haben, sage ich, sicher nicht so genau auf diese Details geachtet, als sie durch das Torbogenhaus hindurchgingen, weil sie diesem Gang keine besondere Bedeutung beigemessen haben. Wohl haben Sie den Kopf etwas angehoben und etwa gedacht, die Höhe ist die, die nötig ist, damit Fuhrwerke und Kutschen unbeschadet hindurchfahren können mitsamt dem Kutscher. Von der einen Seite zur anderen Seite hindurch, mit Waren oder mit Reisenden. Ich sehe die Frage in Ihren Augen, ob eine Kutsche wieder hat zurückfahren können, hat zurückfahren dürfen zu der Zeit, als hier noch Kutschen fuhren und das Torbogenhaus Teil war einer Mauer, die die Landschaft teilte in ein Diesseits und ein Jenseits der Mauer. Wir müssen los, sage ich. Wir haben die Wahl und können sowohl nebeneinander gehen als auch hinterein- [5] ander oder versetzt. Wie wir wollen. Nur in Sichtweite müssen wir bleiben. Wollen wir uns etwas erzählen, so gehen wir nebeneinander. Das wird das Beste sein, denke ich. Ich sehe, Sie nicken. Sind wir zwischen zwei Toren, fragen Sie, ja sicher sind wir das, sage ich, und kreuzen sich die Wege, selbst wenn sie nicht sichtbar sind, so fragen sie, weil zwei weitere Tore zur Linken und zur Rechten in der Landschaft stehen, insgesamt also vier Stadttore einer nicht existenten überdimensionierten Stadt. Jetzt ist es an mir zu nicken. In der Tat sind wir, wenn auch die Mauern geschleift, abgetragen worden sind, innerhalb auf dem Gebiet einer urbanen Landschaft, die nunmehr eine Art Heidelandschaft ist, in die man durch vier Torbögen, oder Stadttore, gelangt. Ob wir wieder hinaus zu gelangen vermögen, wird [6] sich zeigen. Eine weitere Frage, sage ich, ist zudem unbeantwortet, nämlich ob die Mauer zwischen den einzelnen Torbögen oder Torbögenhäusern gerade ausgeführt worden ist oder ob sie etwa kreisförmig verlief. Auch Mischformen sind möglich, jedoch unwahrscheinlich, so scheint mir wenigstens. Nun schweigen Sie eine Weile im Rhythmus unserer Schritte, um schließlich zu erläutern, die Stadtmauer sei sicher rund ausgeführt worden, denn gewinnt man auch Raum durch eine gerade Ausführung, so ist die runde Form doch von Vorteil, weil keine toten, verlorenen Räume dort erzeugt werden, wo Mauern winklich aufeinander stoßen. Ich stimme dem zu. Wir schreiten weiter voran. In leichten Wellen dehnt sich die Heide bis zum Horizont. Hinter uns das Torhaus in einiger Entfernung. Vor uns hier und da einige Birken oder ein Birkenhain, [7] Stauden und Büsche. Die Wolken am Horizont täuschen ein Gebirge vor, doch da ist kein Gebirge, nur Wolken, mächtig, weiß und hellgrau, türmen sie sich. Der Himmel in einem dunklen Blau. Wir müssen weiter. Sie fragen mich, ob wir denn auf das gegenüberliegende Tor zugehen, ob nun geradeaus oder unmerklich in einem Bogen. Und könne es nicht sein, so fragen Sie weiter, dass wir ohne es zu bemerken die nicht mehr vorhandene Mauer passieren und so plötzlich außerhalb sind, so wie wir vor dem Passieren des Torbogens außerhalb waren. Ich sage nur, sein kann alles und dass wir weiter müssen, Obdach zu finden für die Nacht. Verließen wir aber den Bereich versehentlich und gerieten ins Außen, so können wir nur durch eines der Tore wieder ins Innere gelangen, sage ich, doch das ist, füge ich hinzu, keineswegs sicher. [8] Wir müssen weiter in die Wüstenei, sage ich, die Heide vor Augen, dort findet sich alles.

– Ein Pendel –

Ich spreche mit Ihnen. Stellen Sie sich ein Metronom vor, das uns, gingen wir ein paar Schritte um den [9] Block, begleitete. Da es nicht neben uns gehen oder über uns zu schweben vermag, wird es wohl am besten sein, es uns in Funktion vorzustellen, gewissermaßen in unserem Kopf tickend. Sagen wir mit 75 Schlägen in der Minute, das entspräche einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa dreieinhalb Stundenkilometern, einem nicht übermäßig hohen Gehtempo. Jeder Schritt, wir sollten synchron gehen, entspricht einem Klack in unserem Kopf. Es sollte nicht lange dauern, uns daran zu gewöhnen, sodass wir schließlich wie automatisch mit jedem Klack einen Schritt setzen. Der Kopf wird umso freier sein, je besser wir den Rhythmus antizipieren. Sie geben mir, denke ich, sicher recht. Ich sehe Sie nicken, und nun sehe ich Ihnen geradezu an, wie Sie Ihr Metronum in Ihrem Kopf installieren. Ich tue es Ihnen gleich, sehen Sie. Zum Einstellen der Schlagzahl sollten wir uns allerdings auf den Weg machen. Das pendelt sich dann schon ein, Sie werden sehen. [10] Auf geht’s. Bevor wir jedoch in eine Landschaft geraten, schließlich gehen wir buchstäblich auf’s Geratewohl los, bewegen wir uns in eher unruhigem Umfeld, einem urbanen, sodass wir nach jeder Unterbrechung unseres Ganges froh sein dürfen, ein Metronom im Kopf zu haben, einen Rhythmus vorgegeben zu bekommen. Stehen wir an einer Fußgängerampel, so nicken wir uns kurz zu, bevor es weiterzugehen hat. Ich für meinen Teil sehe das Pendel, selbst wenn wir stehen, deutlich vor mir, so als schwebe es halb durchsichtig vor meinen Augen. Ergeht es Ihnen auch so, frage ich. Ja. Das freut mich. Endlich erreichen wir freies Gelände. Ein Damm führt durch eine weite Landschaft mit kleinen Gruben und Löchern, oft ist die Erde kohlenschwarz, manchesmal fettbraun und mit dicken Grasbüscheln bewachsen. Der Damm ähnelt in seiner Anlage einem Bahndamm. Wir gehen in unserem Rhyth- [11] mus schweigend, und sicher rechneten Sie damit, stur vorwärts zu schreiten und nicht damit, dass Ihr Nebenmann stehenzubleiben die Möglichkeit hätte. Das Metronom in seinem Kopf ausschalten könnte. So bleibe ich also stehen, das Klacken, der Takt in meinem Kopf endet im selben Augenblick, während Sie weiterschreiten, den Damm entlang. Das Pendel in Ihrem Kopf schlägt den Takt dazu. Unaufhörlich.

– Ein Fauchen –

Ich spreche mit Ihnen. Sie erinnern sich, wir trafen uns bereits einige Male an einem bestimmten Ort, dem Bahnsteig. Ein elektrisches Ungeheuer, kantig, dunkelrot mit schmutzig-weißem Brustring, fuhr ein jedes Mal, so wie auch jetzt in diesem Augenblick, mit einem ohrenbetäubenden Fauchen ein und stoppte, wie auch jetzt, seine Einfahrt auf unserer Höhe, sodass wir inmitten [12] des Fauchens kaum ein Wort wechseln können. Ich bin nicht sicher, auch wenn Sie mich ansehen und nicken, ob Sie mich verstehen. Womöglich lesen Sie von meinen Lippen ab. Ja oder nein, frage ich in das Brüllen und Fauchen hinein, doch Sie zucken nur mit den Schultern und verziehen keine Miene. In die Waggons steigen Menschen ein, auch wir, Sie und ich, sind Reisende, und wie die Male zuvor werden auch wir in den Zug einsteigen, uns dabei aber aus den Augen verlieren. Ich erinnere mich, Sie während der gesamten Reise gesucht zu haben. Sie nicken. Ohne ein weiteres Wort gehen wir gemeinsam ein paar Meter und steigen ein. Ich zuerst. Dieses Mal, sage ich, bleiben wir zusammen und steigen gemeinsam wieder aus. Am Zielort der Reise. Sie nicken und scheinen sogar zu lächeln. Dann aber suche ich Sie abermals und kann Sie nicht finden. Wo nur sind Sie geblieben, frage ich mich. [13]

– Die Treppe –

Ich spreche mit Ihnen. Gehen wir ein paar Schritte. Ich würde vorschlagen, wir gehen die Treppe hinauf bis zur Kirche der Heiligen Jungfrau. Sie lächeln. Also los. Obgleich auf beiden Seiten des die Treppe mittig teilenden Geländers ausreichend Platz ist für zwei nebeneinander Gehende, gehen Sie nun links des Geländers die Treppe hinauf, ich hingegen rechts. Eine Absprache oder eine Verständigung mit den Augen fand nicht statt. [14] Ich sehe und erkenne, dass wir synchron die Treppe hinaufgehen, und eben dies teile ich Ihnen mit, worauf Sie mir einen leidvollen Blick zuwerfen. Ja, sage ich, die Treppe ist steil, und sicher wäre es besser gewesen, auch Serpentinen anzulegen, die die Treppe durchschneiden würde. So hätte man die Wahl. Platz wäre ausreichend gewesen, denn nach meiner Kenntnis baute man zunächst die Treppe, dann die Kirche der Heiligen Jungfrau, während die Häuschen links und rechts der Treppe Jahre später folgten. Welche Häuschen, fragen Sie sich, ich sehe es Ihnen an, da sind keine Häuschen, denken Sie, also gut, sage ich, Sie haben recht, also keine Häuschen, ich habe mich getäuscht, sondern steile Wiesen mit Sträuchern, Büschen und den Trampelpfaden all der Wochenendausflügler, die hier, beschützt von der Heiligen Jungfrau, picknicken und ihren Übermut nähren angesichts der im Tal liegenden Stadt, die ihnen den Übermut die [15] Woche über schon wieder austreiben wird. Jetzt aber liegt, wie Sie sehen, nasser Dunst über den Wiesen. Kein Mensch zu sehen und die Kirche der Heiligen Jungfrau im Nebel verborgen. Doch selbst wenn der Nebel dort oben sehr dick sein sollte, so ist es doch nur leichtes Wasser. Geradeaus gehend erreichen wir nach wenigen Metern die Pforte der Kirche der Heiligen Jungfrau, sodass wir die schwere Kirchentür aufziehen werden können, um ins Innere zu gelangen, schwach erleuchtet durch in den Nischen stehende Kerzen. Denken Sie nicht auch, dass sie angezündet worden sind mit Einbruch der Dunkelheit? Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit! So frage ich Sie, ich sehe Sie nicken, während sie stur, und ich möchte hinzufügen tapfer, Stufe um Stufe gleich mir in die Höhe steigen, während der Nebel immer dichter [16] zu werden scheint, so als kletterten wir auf unserer Treppe in eine Wolke hinein, in der die Kirche der Heiligen Jungfrau, Sie lächeln wieder, Sie müssen das Selbe denken wie ich, schwebt, eine schwebende Kirche, stellen Sie sich das vor. Doch ich fürchte, statt einer solchen wunderbaren Angelegenheit werden wir nichts weiter finden als ein sogenanntes Gotteshaus und in ihm nur die üblichen Dinge, einen Altar, einen Beichtstuhl, einige figurative Darstellungen Marias, Bänke, dazu ein Weihwasserbecken und ein Taufbecken, ein mehr oder weniger großes Holzkreuz mit dem Gekreuzigten, und ja, sicher werden zwischen den vorderen Bänken und auf den Stufen zum Altar Kokos- oder Sisalläufer zu finden sein, die kleine faserige Fehlstellen aufweisen, die Gleichmäßigkeit der Bindung störend, ohne dass jemand, der Pfarrer, der Küster, auch nur im entfentesten daran denkt, die Läufer dieser kleinen Fehler wegen auszutauschen. Sie werfen die Stirn in Falten, wie ich sehe, und ich hoffe doch sehr, eben weil Sie mir zustimmen müssen. Jetzt legen Sie, weiter tapfer Stufe um Stufe nehmend, den Kopf schief in die Luft, [17] das Kinn in meine Richtung gereckt, und nun weiß ich noch weniger, ob Sie mir in der Sache der beschädigten Läufer, seien sie aus Sisal, aus Kokos, nun zustimmen oder nicht. Aber da ist mir plötzlich, als seien Sie mir ein paar Stufen voraus, als erreichten Sie das Ende der Treppe v0r mir, als schritten Sie in diesen hellichten, dicken Nebel hinein, um in ihm zu verschwinden, noch bevor ich die letzte Stufe erreiche. Hören Sie mich, rufe ich, ich spreche mit Ihnen. Der Nebel aber verschluckt ein jedes Geräusch.

– Die Kirche –

Nicht mehr mit Ihnen zu sprechen, fällt mir schwer. Nehmen wir, ich sage: wir, einmal an, Sie wären vom Nebel tatsächlich, wie man so sagt, verschluckt worden und ich hätte am Ende der Treppe auf Sie gewartet. Unmöglich, dass Sie von mir unbemerkt die Treppe hinunter verschwunden sind. Wahrscheinlich sind Sie in der Kirche der Heiligen Jungfrau, haben sowohl die Zeit als auch mich vergessen und betrachten hingebungsvoll die Gemälde, die Skulpturen und die Altäre. Ich sollte entweder ebenfalls in die Kirche der Heiligen Jungfrau eintreten, oder Sie am Portal erwarten. [19] Ich gehe, watteweich ummantelt, und ich spüre, wie der Nebel mich durchnässt, sich mir zu eigen macht, so denke ich, Schritt für Schritt auf die Kirche der Heiligen Jungfrau zugehend, lautlos schreitend, ohne etwas anderes zu erwarten als: Nichts. Gerade eben noch sehe ich meine Hand vor Augen. Wüsste man es nicht besser, so müsste angenommen werden, der Nebel sei aus sich selbst heraus matt erleuchtet. Ich gehe. Dann endlich stoße ich mit dem Fuß gegen eine Stufe. Ich steige die Stufen hinauf und trete schließlich, eine weitere erwartend, einmal ins Leere. Ich gehe einige Schritte, eine weitere Treppe folgt, dann sehe ich, in trübem Licht gut zu erkennen, die schwere, zweiflügelige Tür, die Pforte zur Kirche der Heiligen Jungfrau. Ich blicke zurück und sehe nichts als Nebel, vor mir jedoch in aller Deutlichkeit das jahrhundertealte Holz der Türe. Ich lege [20] meine Hand auf den Türgriff aus Messing. Später dann spreche ich mit Ihnen. Wo in aller Welt, frage ich, waren Sie, ich konnte Sie in der dunklen Kirche, in der keine Kerze brannte, nicht finden. Nicht hören, nicht riechen, nicht sehen. Ein ewiges Licht auf dem Altar in einer Ampel mit rotem Glas, purpurrot, ein kleiner roter Lichtpunkt in der Ferne zunächst, reichte nicht aus. Mit Mühe fand ich endlich zur Eingangstüre zurück und stieß mehrmals gegen etwas, ich ertastete das Taufbecken, lief geben einen Pfeiler, gegen eine Bank, um am Ende erleichtert die Tür ins Freie aufstoßen zu können, wo ich Sie schließlich fand, vor dem Portal in fast völliger Dunkelheit stehend. Ich trat sehr nah an Sie heran. [21]

– Die Sterne –

Wir befinden uns, sage ich, jetzt auf dem Platz vor der Kirche der Heiligen Jungfrau, hoch über der Stadt, von der aber nichts zu sehen und zu hören ist, so als sei sie nicht existent. Sie nicken mir zu und zeigen Ihr Einverständnis, dann weisen Sie mit einem Heben des Kinns nach oben, und tatsächlich, obgleich wir im dicksten, schwärzesten Nebel stehen und uns gegenseitig kaum erkennen können, funkeln über uns die Sterne. Der Nebel gibt den Blick frei ins Unendliche, und eigentlich, so sage ich, bräuchten wir nicht mehr als eine Leiter, um zumindest mit dem Kopf im Unendlichen zu sein, zu stecken, jetzt lächeln Sie amüsiert, oder der Nebel müsste sich nur ein wenig senken, sage ich, worauf Sie mir begütigend zunicken und mir, so scheint mir wenigstens, die Hand auf die Schulter legen. Ich spüre das Gewicht Ihrer Hand, spüre, wie Sie den Druck auf meine Schulter erhöhen, dass Sie [22] immer ein wenig fester drücken, während Sie mir zugleich ins Gesicht grinsen, ja, das tun Sie, Sie grinsen mich an, schon stehe ich bedenklich schief vor Ihnen, schon spanne ich die Muskulatur des linken Beins übermäßig an, um nicht einzuknicken, Sie jedoch pressen Ihre Hand immer stärker auf meine Schulter, bis schließlich das linke Knie wegknickt, ich stürze und Ihnen zu Füßen auf dem Boden liege. Über mir Ihr Gesicht, über Ihnen die Sterne, wie sie da funkeln, und dann wird mir schwarz vor Augen, so denke ich, oder nebelgrau, als habe jemand die Sterne ausgeknipst. Was wollen Sie, frage ich, doch da ist niemand, nur Nebel, Nässe und ein Nichts. Als man mich aufhebt, hören Sie mich, ich spreche mit Ihnen, blieb unter mir sicher ein großer nasser Fleck in Form meines liegenden Körpers zurück. Alles andere, die gesamte in trübem Tageslicht daliegende Fläche zwischen der Kirche der Heiligen Jungfrau und der zur Stadt hinunter führenden Treppe, muss wohl schon abgetrocknet gewesen sein, so wie kurze Zeit später dann [23] auch mein Fleck verschwunden gewesen sein muss. So stelle ich mir das vor. Oder berichtete es mir jemand? Ich kann mich nicht erinnern. Schließe ich aber die Augen, so erscheinen mir immer noch die Sterne. Hören Sie mich? Ich spreche, doch Sie antworten nicht. Dabei haben wir, seit wir uns das erste Mal trafen, einiges gemeinsam erlebt. Sie schürzen die Lippen, als relativierten Sie meine Aussage, und tatsächlich sehe ich Sie mit dem Kopf wackeln. Ich sage Ihnen etwas: die Sterne dort droben, zu denen zu sprechen doch der reinste Unsinn sein muss, sie geben mir Antwort. Da staunen Sie, und ich sehe, dass Sie Anstalten machen, mit den Fingern zu schnippsen, und tatsächlich tun Sie es, lächelnd, es macht Schnipp, im selben Augenblick erlöschen alle Sterne, es ist finster, die Nacht ist schwarz, und dennoch werde ich weiter zu Ihnen sprechen. Hören Sie mich? So sagen Sie doch etwas! [24]

– Die Gänge. Oder: Pssst –

Sie machen sich einen Spaß daraus, zwar nichts zu sagen, aber laut und vernehmlich Pssst zu machen. Nicht hier im Krankensaal, so nenne ich das 4-Bett-Zimmer, in dem ich mit fünf weiteren Patienten liege, sondern draußen im Gang, irgendwo in der grünlichen Finsternis, erhellt allein von den Notausgangsschildern. Pssst. Immer wieder Pssst. Zuerst dachte ich, einer meiner Mitpatienten mache das Geräusch, doch nein, alle fünf schnarchen. Ich allein bin wach, ich allein höre Sie. Ich steige aus dem Bett und stehe barfuß im geliehenen blau-braun-beige-karierten Schlafanzug auf dem kalten Linoleum-Fußboden. Meine Zehen richten sich unwillkürlich auf. Und da ist es schon wieder. Pssst. Das Erste, das Sie zu mir sagen, ist also eine Aufforderung, nichts zu sagen. Ich schlüpfe in die Anstaltspantoffeln aus billigem Filz und gehe in den Gang hinaus. Links oder rechts. Ich [25] sehe jeweils eine zweiflügelige Schwingtür. Die nach rechts hin scheint ein wenig zu schwingen. Nachzuschwingen. Oder täusche ich mich? Überall leises Schnarchen. Die leichten Fälle, die zur Beobachtung eine Nacht im Krankenhaus zu verbleiben haben, schnarchen unbeobachtet vor sich hin. Ich wende mich nach rechts. Wenn ich nicht zurück ins Krankenhausbett will, so muss ich eben gehen, denke ich, und so schlurfe ich den Gang entlang, ergreife mit beiden Händen die vertikal angebrachten Türgriffe, schiebe die Tür auf und gehe hindurch. Pssst macht es. Ich erschrecke. Unter der Nase, auf der Oberlippe, spüre ich einen Luftzug. Aha, denke ich, die Schwingtüren bewegen sich leicht im Luftzug und produzieren dieses Pssst, das ich immerzu höre. Rätsel gelöst! Doch da macht es plötzlich Pssst Pssst Pssst, das sich anhört wie Nein Nein Nein, und so muss ich, statt ins Krankenhausbett zurück, doch weiter. [26] Ich gehe den Gang entlang. Alles ist in grünliches Licht getaucht, gebettet, und wie in dem Gang, an dem mein Krankenzimmer liegt, stehen auch hier alle Türen offen. Imgrunde, denke ich, könnte es sich auch um Schweineställe handeln, so sehr grunzt es aus den Zimmern. Ha! rufe ich ob dieses Gedankens, und da macht es auch schon wieder Pssst. Ich fahre zusammen. Was tun? Zurück ins sichere Bett? Doch was heißt schon sicher? Ich sehe mich um. Alles wie gehabt, der Gang, auf der einen Seite Türen, auf der anderen Seite matte Fenster, unter ihnen die mächtigen Heizkörper wie altertümliche Schriftzeichen, die immer nur das Eine sagen: Pssst. Ja, flüstere ich, die Heizkörper sind’s, die Pssst machen. Das ölige Wasser in ihnen, mal kalt, mal warm, die Rohre, gewinkelt und gestreckt, Klappen und, wer weiß, Ventile, Ventile!, alles verbunden und verknüpft mit einem Kessel. Einem Heizkessel. Hossa! rufe ich und meine Heureka, Pssst macht [27] es wieder. Pssst, Pssst, Pssst. Ich muss weiter. Doch wie gerne spräche ich jetzt mit Ihnen. Oder überhaupt mit jemandem. All die flinken, teils hübschen, teils hässlichen Krankenschwestern sind allerdings wie weggezaubert, auch die Krankenpfleger, für die das Selbe gilt: so oder so. Dabei sollte doch irgendwo so eine Art Staionszimmer sein, wo mindestens ein Mensch quasi Wache halten müsste. Schließlich sind doch wir alle, die Schnarchenden und ich, zur Beobachtung hier. Ich schleiche weiter vorwärts im grünlichen Licht, das allein von den Fluchtwegeschildern über den Schwingtüren ausgeht, und schon stehe ich vor der nächsten dieser Schwingtüren, schiebe sie auf und trete mutig in den nächsten Gang, der nach links rechtwinklig vom bereits durchschrittenen abgeht und am Ende wiederum eine Schwingtüre aufweist. Rechter Hand die [28] offenen Türen zu den Zimmern, aus denen es wie gehabt herausschnarcht. Ich gehe ein paar Schritte. Plötzlich macht es Dong, der Ton kommt eindeutig aus dem Heizkörper neben mir, gefolgt von einem Pssst, dann noch einmal Dong, dann Pssst, dann Dong, Pssst, Dong, Pssst, Dong, Pssst. Am Ende wieder Stille. Ich muss weiter. Es  wird wohl, denke ich, ein Innenhof vorhanden sein, die Gänge müssen ein Rechteck, ein Quadrat bilden, es umschließen, wenngleich hinter den Fenstern nichts zu erkennen ist, während sich im Fensterglas matt, grünlich und zerfurcht mein Gesicht abbildet, ein nächtlicher Wanderer, der die offen stehenden Türen der Krankensäle schlurfend abmisst, durch Pendeltüren geht, nach links dem nächsten Gang folgt, stur, in seinem Krankenhausmantel, ein Ohr an jeden Heizkörper legt, die allesamt lauwarm sind, die allesamt ein feines Rauschen von sich geben. Dann aber lege ich mein Ohr an [29] den nächsten Heizkörper – und zucke zurück. Heiß ist er, und da macht es auch plötzlich wieder Pssst, es macht Dong, und dann sehe ich doch tatsächlich direkt gegenüber eine Tür, die geschlossen ist. Sie glauben ja nicht, und jetzt spreche ich tatsächlich mit Ihnen, obwohl Sie nicht da sind, wie schwer es mir fällt, diese Tür zu öffnen. Meine Hand zittert. Sie liegt zitternd auf der Türklinke. Was, denke ich, erwartet mich im Zimmer, im Saal hinter dieser Tür? Schlafende Patienten in ihren Betten? Leere Betten? Oder ein ganz und gar leerer Raum? Meine Hand umschließt die Klinke, langsam drücke ich sie nieder. Ein leichtes Knarzen. Im selben Moment denke ich, womöglich ist die Tür verschlossen. Aber nein, leicht lässt sie sich aufdrücken, dunkel ist es, und meine Angst wird größer und größer mit jedem Zentimeter. Soll ich rufen, Hallo, ist das Jemand, [30] oder doch besser stille sein? Ich tue einen Schritt in den Raum, vorsichtig, dann noch einen, doch da ist kein Raum, kein Zimmer, kein Saal, das aber bemerke ich erst im Fallen oder glaube es im Fallen bemerkt zu haben, nachdem ich erwacht bin aus meiner Bewusstlosigkeit. Aber was heißt schon Bewusstlosigkeit? Ich bin eine Kellertreppe hinuntergestürzt, blutete aber nicht und hatte auch keine Beulen davongetragen. Ich stehe also auf, streiche mir über diesen Krankenhausbademantel, ja klopfe wie wild darauf herum, bis aller Staub verschwunden sein muss. Ich stehe im grünlichen Licht zweier Notausgangsschilder, eines direkt über mir, ein anderes am Ende des backsteingemauerten, engen, tonnengewölbten Ganges über einer Tür. Da bin ich wohl, sage ich, hören Sie, im Keller gelandet. Keine Antwort, natürlich nicht. Stattdessen Stille. Aber [31] immerhin kann ich mit Ihnen sprechen, wenn ich will, kann sagen Ich spreche mit Ihnen, und selbst wenn Sie nicht antworten, so habe ich doch einen Adressaten für meine, nun ja, Geschichten. Weiterhin Stille. Dann jedoch leise, und irgendwie zischend, ein Pssst. Es scheint aus dem Bereich der Tür am Ende des Ganges zu kommen. Doch wie still es hier ist, denke ich, und wie leise dieses Pssst. Ich erinnere mich an ein Fauchen, Sie und ich standen inmitten eines grässlichen Fauchens. Und standen wir nicht auch einmal unter dem Sternenhimmel, so frage ich Sie. Es ist still hier im Gang mit dem grünlichen Licht, bis dann aber wieder ein Pssst erklingt, etwas lauter nun, so scheint mir, und ungeduldiger. Pssst. Die Türe oben am Ende der Treppe, sehe ich, steht offen. Bin ich wirklich die Treppe hinuntergefallen, frage ich mich und taste noch einmal an mir herum. Kein Blut, keine Beulen. Die Treppe hinauf, dann nach links oder rechts, [32] das ist imgrunde egal, wenn die Gänge einen Innenhof umschließen, einen viereckigen Innenhof, vier Seiten, vier Gänge, um so wieder zu dem Gang zu gelangen, an dem mein Zimmer liegt, der Schlafsaal, in dem mein Bett steht, in das ich mich zu legen und zu schlafen habe, bis das morgendliche Wecken alle aus dem Schlaf reißt. Zurück also oder weiter in den Keller hinein? Wie zur Antwort höre ich ein Pssst, gefolgt von einem dumpfen Dong, Pssst, Dong, Pssst, Dong, Pssst. Ich muss los. Wieder also öffne ich eine Tür, vorsichtig, doch es eröffnet sich nur ein weiterer enger, schmaler Gang in grünlich totem Licht. Gehe ich ihn entlang, am Ende ist wieder eine Tür zu erkennen, bewege ich mich allerdings fort vom vertrauten Viereck. Andere Kellergänge, direkt unter den oberirischen Gängen oder ein Gang quer unter dem Innenhof, scheinen nicht vorhanden oder zumindest von hier nicht zugänglich zu sein. Umkehren oder weitergehen, so frage ich mich nochmals. Gehen, entscheide ich endlich, so ich also gehe, Gang um Gang, Tür um Tür, immer geradeaus, [33] ohne jede Abzweigung. Muss ich nicht längst, überlege ich schon bald, den Bereich des Krankenhauses verlassen haben? Wie lange gehe ich bereits hier die Gänge entlang? Sucht man mich da oben, hat man die offenstehende Tür zum Keller entdeckt und mir jemanden nachgeschickt? Erwartet man mich am Kopfende einer Treppe, die mich wieder an die Oberfläche bringt? Diese Fragen muss ich mir stellen.

– Der Himmel –

Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht! Dabei wissen ja grad Sie, ob ich mich täusche oder ob ich mich nicht täusche. Mich falsch erinnere oder mich richtig erinnere. Doch kann man, kann ich mich falsch erinnern? Sich selbst täuschen oder getäuscht werden? Immerhin sitze ich, das ist gewiss, in einem bequemen, weißlackierten und mit Sitz- und Rückenkissen aus[34]staffierten Gartenstuhl in einem Innenhof auf saftig grüner Wiese. Sie sitzen mir gegenüber. Ich betrachte Ihre Handgelenke und suche Spuren einer Fesselung, an die ich mich deutlich erinnere. Doch nichts. Das vierstöckige Haus um uns herum mit all seinen blinden Fenstern, ist das nicht das Krankenhaus, in dem ich lag, nachdem man mich bewusstlos aufgefunden hat? Ich erinnere mich an den Krankensaal mit den schlafenden, schnarchenden Mitpatienten. Schliefen und schnarchten sie nicht immerzu? Wie die Schlaf- und Schnarchpuppen? Schließlich fand ich Sie, der Sie mir jetzt gegenübersitzen, in einem Kellergang mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt. Der Schlüssel baumelte an einer Schnur von der Decke, unerreichbar für Sie. Sie nicken und lächeln mich an, als sei das Ganze ein Spiel gewesen, das Herauslocken aus dem Krankensaal, dieses Pssst, dem zu folgen ich mich gezwungen sah, auch wenn ich dann nur dem Gang folgte, den Gängen, in denen dieses Pssst irgendwie [35] präsent war, und dann auch dieses Dong, das mir jedoch, im Gegensatz zum Pssst, eindeutig aus den Heizkörpern zu kommen schien. Und fand ich Sie schließlich nicht auch fixiert an einen solchen Heizkörper, dem einzigen in all den Gängen dort unten im Keller, dehydriert und verzweifelt? Ihr Mund mit den blutigen, rissigen Lippen stieß immerzu Pssst aus, Pssst, Pssst, Pssst, während Sie mit den stahlumschlossenen Handgelenken gegen den Heizkörper schlugen, der eine heftige Hitze ausstrahlte. Dong, Dong, Dong. Sie nicken mir wieder lächelnd zu, Ihre Lippen sind verheilt, in Ihren Augen ist keine Spur mehr von Wahnsinn zu entdecken. Ich frage mich nun, während Sie den Kopf in den Nacken legen und das Himmelsrechteck mit den weißen Wölkchen auf blauem Grund betrachten, ob Sie überhaupt wirklich wissen, wie wir aus dem Kellerlabyrinth herauskamen, nachdem ich Sie befreit hatte von Handschellen und Heizung. Ich hatte und habe da so meine Zweifel, kann aber nicht Sie, das muss ich jetzt wohl einsehen, ja, lächeln Sie nur, [36] als Zeugen aufrufen, sondern muss mich selbst besinnen auf die Abläufe. Sicher scheint mir, dass ich, Sie hinter mir herschleifend, den Rückweg wählte, zur Kellertreppe hin, die ich hinuntergefallen war und die ich nun wieder hinaufzusteigen mir vornahm, notfalls huckepack mit Ihnen auf dem Rücken. So ging ich im grünlichen Schein der Notausgangsschilder voran, während Sie mir schlurfenden Schrittes folgten, mit hängenden Armen und dem Kinn auf der Brust. Erinnern Sie sich? Ich frage Sie! Denn statt das Himmelsrechteck zu betrachten, sollten Sie mir helfen zu klären, wer Sie in den Keller brachte und an den Heizkörper fesselte. Sind auch Sie, so wie ich, vor der Kirche der Heiligen Jungfrau in Bewusstlosigkeit gefallen, dort, im Nebel und zugleich unter den Sternen? So sagen Sie doch etwas! Sie sagen nichts. Stattdessen heben Sie langsam den rechten Arm und zeigen mit dem Zeigefinger [37] auf einige Vögel, die vom Wind getrieben durch das Bild gleiten, das sind sicher Möwen, denke ich, doch warum sehen wir sie von oben, nicht von unten, so frage ich mich, und da entdecke ich einen weißen Streifen im Blau, und das ist nicht der Kondensstreifen eines Flugzeugs, sondern das Kielwasser eines Schiffes, das als kleiner weißer Punkt sich langsam, ja, wie langsam nur, bewegt, bis es schließlich aus unserem Rechteck verschwunden ist. Die Möwen aber gleiten weiter durch das Bild, hin und her und in großen Kreisen, und fast meine ich, ihre Schreie zu hören. Wieder lächeln Sie mir zu, stehen dann auf, greifen in eine Schale und werfen irgendwelche Stückchen in die Luft, Brot wahrscheinlich, und die Möwen schnappen es sich im Flug und drehen ab. Schon greifen Sie wieder in die Schale, doch die meisten Stückchen fallen ins Wasser, denn mit einem Male sind alle Möwen verschwunden und [38] das Brot ist für die Fische. Was geht es mich an, denke ich, lege den Kopf in den Nacken und betrachte die weißen Wölkchen und den blauen, südlichen Himmel, denn das ist er doch, nicht wahr, frage ich Sie, südlich? Sie blicken mich an, lächeln Ihr Lächeln, schauen nach oben, so als müssten Sie zunächst prüfen, wovon ich denn spräche, dann aber endlich nicken Sie mir zu, worauf ich aufatme, mich schüttele, mich entspanne und endlich in Schlaf falle, denn als ich erwache sind es wieder die Sterne, die über mir glitzern und blinken. Wo aber sind Sie?

– Das Meer –

Wenn es nicht das Meer ist, das nach Fisch riecht, dann ist es das Schiff, das nach Meer riecht. Ein umgebauter Fuschkutter, so scheint mir, etwa zwölf Meter, so Pi mal Daumen, in der Länge. Deutlich hörbar der Dieselmotor, deutlich spürbar, denn kaum stehe ich, durchzieht mich ein Vibrieren von den Fußsohlen bis zum Schädeldach. Ich gehe ein paar Schritte, schwankend, plötzlich ist es mit einem Male nahezu stockfinster, [39] und dann sehe ich Sie als einen vagen Schatten im Steuerstand am Steuerrad. Ich stolpere eine Stufe hinauf, die Tür steht offen. Wohin fahren wir, frage ich, und ich spüre, dass Sie wohl lächeln müssen. Die Wellen klatschen an den Schiffsrumpf, ein leichtes Heben und Senken, wir sind, denke ich, auf großer Fahrt. Vor uns nichts als Schwärze mit nur einem einzigen hell leuchtenden Stern am Himmel. Die Venus? So frage ich mich. Fahren wir also nach den Sternen, sage ich, und dann sehe ich Ihren Schatten zur Seite treten und spüre selbst das Steuerrad in der Hand, wie es sich leicht, ganz leicht hin und her bewegt, her und hin, hin und her. Das Meer, denke ich, das ewige Meer.

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Fortlaufende Übertragung der am 12.11.2024 begonnenen handschriftlichen Aufzeichnungen in ein Typoskript

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[Heft I,1; Seite 1] Kennt er die Stirnwunde nur aus Erzählungen, so ist sie doch eine Stirnwunde. Eine eingegrabene Erinnerung in den Kopf. Obgleich der Kopf sich nicht erinnern kann. Oder doch? Die Narbe, die aus der Wunde entstand, steht steil mittig über der Nase. Im Alter ist sie weniger sichtbar als früher, stirnrunzelnd aber noch gut erkennbar. So man es weiß. So man darauf verwiesen wird. Schau mal! Aber ja! Mittig. Eine Wunde war es jedoch nur eine kurze Weile, bald schon trug das Kind eine Narbe. Träger dieser Wunde und dieser Narbe ist ein Kind im Kindergartenalter, das nicht in den Kindergarten hat gehen [2] wollen, der Kinder wegen, die ihm fremd und unheimlich sind. Die Wunde hat das Kind sich selbst zugefügt durch die Kante des in den Türrahmen ragenden Küchenschrankes, des Unterschrankes. Dagegen ist das Kind gelaufen. Sicher hat ein Erwachsener später mit Karacho gesagt, er sei ja mit ganz schön Karacho gegen die Kante gelaufen. Das Kind wurde auf den Armen des Vaters ins Krankenhaus getragen, wo ein Arzt nicht nähte, sondern ein Pflaster aufbrachte, was wiederum den Vater gegen den Arzt und imgrunde gegen alle Ärzte aufbrachte, das Kind aber nicht weiter beeinträchtigte. Sicher hat der Erwachsene, der mit Karacho gesagt hat, ob Mann ob Frau, Onkel oder Tante, mir mit Anerkennung für meine Wildheit über die Haare gestrichen, während mein Vater mit [3] bösen Tieraugen in die Welt starrend sich bereit machte, über die Ärzteschaft als Ganzes zu schimpfen. Herzuziehen. Und wenn dieses Kind einige Jahrzehnte später als erwachsener Mann vor dem Spiegel steht und sich stirnrunzelnd die Stirn ansieht, so entdeckt er nicht nur die Narbe der passgenau zugefügten Wunde, sondern mit der Narbe auch die Harmlosigkeit der Wunde, denn sagt ihm nicht seine Lebenserfahrung, dass die harmlosen Wunden in ihrer Oberflächlichkeit viel eher eine Narbe hinterlassen als tiefere, ernsthafte Wunden, und selbst wenn er mit dieser Erkenntnis falsch läge, so ist ihm heute, als sei das Pflasterauflegen durchaus die einzig richtige Methode gewesen, Endpunkt gewissermaßen einer Fehlerkette, so denkt er heute, von der Planung des Hauses und des Zuschnitts [4] der Räume bis hin zu der Entscheidung, einen eckigen Küchenschrank zu kaufen, der in den Türrahmen ragt. Weil er zu tief ist. Demgegenüber hat das Kind jedes Recht der Welt, mit Karacho durch die zu kleine Wohnung in der Lützowstraße 10 zu sausen, zu jagen, denn ein Kind braucht Auslauf wie ein Hund Auslauf braucht, denn wozu hat es Beine und Augen und Ohren und eine Nase und ein Gehirn, wenn es nicht durch die Welt rennen darf. Und sei es auf die Gefahr hin, gegen eine spitze Kante zu laufen, die ihm den Schädel spaltet. Und welcher erwachsene Mensch hat denn – bitteschön – keine Narbe, die ihm die Wildheit der Kindheit preist und ins Gedächtnis ruft! [5] Das Pflaster, die Wunde, die Narbe und die felsenfeste Überzeugung des heute Erwachsenen, dass die Mutter gleich dem Arzt auch nur ein Pflaster draufgemacht hätte! Sicher hatte ich Kopfschmerzen, ausgehend von der genau mittig gesetzten Verletzung an genau der Stelle, wo sich das dritte Auge zu befinden hätte, wäre der Mensch mit einem dritten Auge ausgestattet. Ich jedenfalls muss nun in jedem Fall so oder so eine Bedeutung herleiten, und zwar auch, obwohl die Wunde und die Narbe und der kleine Unfall das nicht herzugeben scheinen. [6] Gäbe es dazu keine Familiengeschichte, was hätte ich angesichts der Narbe gedacht? Wäre sie mir, wiewohl am Kopf ständig sichtbar, überhaupt ins Bewusstsein geraten, beziehungsweise darin verblieben? Und ist es nicht bezeichnend, dass ich später davon (wieder?) erfahren habe über den Umweg der Ärzte-Beschimpfung, die mein Vater bei jeder Gelegenheit anstimmte? Dabei bin ich ja nicht entstellt durch die Narbe, ganz im Gegenteil, denn sie ist ja immerhin schön mittig. Aber hat sie Potential für eine literarische Erzählung? Gute Frage. Antwort: eher nicht, wenngleich dies schon ausgeführt ist, irgendwo, der aufmerksame Leser wird’s wissen. Eingewoben in eine Textur ist die Narbe jedenfalls gut vorstellbar, auch in Verbindung mit dem „Dritten Auge“, das ja bekanntlich bei einigen Tieren Helligkeit erkennt, mehr aber auch nicht, da es mit Haut überzogen ist. Aber wie sollte solch ein Narbentext aussehen, welche Form soll er haben? Der Inhalt [7] muss wie gewöhnlich von alleine kommen, Stoff ist ja untergründig genug da und außerdem reicht auch wenig Stoff und wenig Inhalt, um einen guten Text zu schreiben – siehe Melancholie von Jon Fosse, der allerdings mit Reduktion und Wiederholung arbeitet, und zwar im besten Sinne rücksichtslos. Interessant übrigens an Melancholie und vor allem auch Heptalogie ist, dass in beiden Romanen Maler malen, die immer etwas, so heißt es, wegmalen müssen, während ich in nicht wenigen meiner Texte quasi feststehende Bilder erschaffen wollte. Der Roman Der Bildermacher ist ja sogar genau darauf ausgerichtet, nur dass ich (damals) literarisch nicht zu einem guten Ergebniss gekommen bin, was sicher Anfängerfehlern geschuldet ist. Das Gleiche gilt für den (verschollenen) Roman bzw. Kurzroman Einsamkeiten (ca. 1993), der sogar noch schlechter war. Und auch die meisten der gemalten Bilder von damals [8] waren ebenso schlecht wie die geschriebenen. Und heute? Malen kann ich gar nicht mehr, Schreiben aber kann ich. Bilder schreiben – wobei es sicher gut ist, handschriftlich vorzugehen, mit Schwung und Pigmenten. Im Handschriftlichen ist auch dem Umstand in gewisser Hinsicht zu entgehen (es sieht eben nicht aus wie gedruckt), dass eine Veröffentlichung auch eines gelungenen Textes sehr unwahrscheinlich ist. Die drei vollen Archivboxen in der Ecke sprechen Bände, und eine weitere Box sollte kein Problem sein, da ist noch Platz nach oben. Es fehlt aber noch der Anfangsfunke für einen neuen Text, worauf dann Zeit vonnöten ist, regelmäßige Zeiten, in denen ich am Text arbeite. Noch sehe ich das nicht, allerdings entdecke ich eben auf dem Rechner einen kaum zwei Wochen alten, aber schon wieder vergessenen Text: Treffen / Zwei / Sich. Drei Seiten, ein Anfang ähnlich wie bei Kein Mensch scheint ertrunken, Tauge / [9] Nichts und Nebelleben. Also Treffen / Zwei / Sich – ich werde auch diesen Text, das Manuskript, irgendwann abtippen (Heft II). Den Untertitel Eine Wüstenei habe ich aber bereits gestrichen, er wird zum Titel des ersten Abschnitts / Bildes. Unwillkürliche Erinnerung: Ring of Kerry, die freundliche Tramperin, die Schlossanlage, der Garten am Meer. Wobei dieses Erlebnis des Herumwanderns dort wie so vieles in einer Art Dunst erscheint, denke ich daran, doch das sind meist sogar eher gute Erinnerungen, schöne, die aber auf jeden Fall immer auch zusammenhängen mit dem Jungsein als eines Zustandes. Die einzelnen Bilder oder Bilderfolgen sind eher zufällig. Fotografien von meinen Reisen besitze ich allerdings ebensowenig wie Tagebuchaufzeichnungen (mit einer frühen Ausnahme), so dass allein etwa die damals benutzten Straßenkarten Erinnerungen auslösen, unscharfe und damit nachzuschärfende. Hier und da taucht [10] trotzdem ein Foto auf, etwa eines auf einem Wochenticket für den öffentlichen Nahverkehr in Dublin, Juli 1990, langes lockiges Haar, gesunde Bräune, kesser Schnäuzer, ein 26 Jahre alter Jüngling, allein in Irland unterwegs und sich seiner Welt und Jugend gewiss. Passend zu all diesen Gedanken habe ich heute Jean Amérys Essay Über das Altern zuende gelesen – es gibt, gab, also doch deutschsprachige Autoren, die die hohe Kunst des Essays beherrschen! Ein eindrücklicher Text, untergründig verschmitzt und dabei den Finger auf jede Wunde legend, fast nichts auslassend und dabei immer auch wie beiläufig mit literarischen Elementen arbeitend, etwa indem er die Figur „A“ vielfältig in Erscheinung treten lässt. Interessant auch, wie Améry die Jugendzeit so en passant links liegen lässt, über die halt nicht viel zu sagen ist, außer dass sie eine [11] Offenheit, eine Zukunft in sich trägt, die unermesslich scheint, allerdings so oder so im Altern sich erschöpfen wird oder im Suizid ihr Ende findet – wie dies im (folgenden) Essay Amérys, Hand an sich legen, beschrieben ist, das ich nun folgerichtig lese. Imgrunde geht Améry hier vor wie im ersten Essay, denn er versucht durchaus nicht, allzu scharf und sezierend zu denken, um das Thema eben nicht vorzeitig abzuhanden wie ein beliebig anderes, dem allein mit Wissen beizukommen wäre. Bei Thema Suizid weiß man eben, das betont Améry immer wieder, nicht viel und vor allem weiß man das Eigentliche nicht, etwa wo die „Reise“ denn hingeht, wie der Absprung sich ausgestaltet. Gespannt bin ich (lesend befinde ich mich etwa auf S. 13 des Essays), ob Améry die Frage erörtert, wie es zu erklären ist, dass der zum Freitod Entschlossene keine Neugierde mehr verspürt, oder warum er den Hinterbliebenden seinen Suizid zumutet. Interessant auch, dass ich das Essay ausgerechnet im November lese, [12] dem Totenmonat: Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Die Thematik passt jedenfalls sehr gut ins düstere Geschehen, aber nicht etwa, weil Thematik und Stimmung mir eine große Düsternis erzeugten, sondern ganz im Gegenteil, sie erzeugen viel eher hoffnungsfrohe Aussicht auf baldige Wiedererhellung, denn erstens interessiert [13] mich das Thema intellektuell und nicht persönlich, während es zweitens ja ab Januar wieder aufwärts gehen wird mit dem Tageslicht. Plötzlicher Gedanke: wie nur habe ich es all die Jahre geschafft, mir die Umwelt, wo immer möglich, schönzusehen, schönzureden, vielleicht sogar schönzumachen? Schon als Kind habe ich hässliche, lieblose Orte gemieden, als Jugendlicher gelitten unter dem banalen Schulgebäude der Realschule II, auf die ich abgeschoben worden bin, so es also naheliegt anzunehmen, ich hätte in Ablehnung der lieblosen und hässlichen Umwelt wo ich nur konnte das Schöne gesucht. Soweit nachvollziehbar, soweit normal. Die ständige Neugestaltung meines Zimmers spricht sogar für das Moment des Schönmachens, und zwar als eines in dem Sinne, dass es nicht ausreichte, einen schönen Gegenstand zu haben, nein, er musste schön sein im schönen Ganzen. Unbegreiflich war mir [14] immer schon die absolute Abwesenheit ästhetischen (Form-)Willens bei vielen meiner Mitmenschen, denen Praktikabilität höchstes Gut zu sein schien. Nicht mal den Grundsatz „form follows function“ wollte oder konnte man beherzigen. Da half nur Flucht – wobei ich mir schon die Frage stellen muss, ob ich mir nicht all die Jahre vieles schöngeredet habe, um nun, da die Fähigkeit dazu abzunehmen scheint, wieder da zu landen, von wo aus ich losstiefelte, nämlich in der pragmatisch angelegten Realität, der nichs Schönes innewohnt. Aber wer weiß, womöglich ist das Ganze einfach nur eine typische Erscheinung des Älterwerdens, so dass mir nichts anderes mehr übrigbleibt, als so oft wie möglich in meinem Lieblingswald zu spazieren, um so dem Schönen nicht ganz verlustig zu gehen. [15] Nicht schön erscheint mir die Vorstellung, mich dereinst an meine Jugendzeit erinnern zu müssen, während Aktuelles aus dem Blick gerät. Am besten ist es sicher, auf keinen Fall mit der – eigenen – Arbeit aufzuhören, ansonsten der Geist eben Selbstmord begehen könnte, gewissermaßen. Eine Methode wäre sicher auch, Vergangenes literarisch weiterhin zu bearbeiten, wie im Tauge / Nichts und Nebelleben, wenngleich es dann eben auch schön wäre, die Texte zu veröffentlichen, so sie gelungen sind. Ob ich mich ansonsten noch einmal für ein Romanprojekt begeistern kann, ist absolut offen, besonders wegen der notwendigen besonderen Form, die sich nicht theoretisch erarbeiten lässt und sich also nur im Schreibprozess selbst [16] entwickeln kann. Im Moment sehe ich keinerlei Ansatz, auch inhaltlich nicht. In Heft II entwickelt sich immerhin zurzeit (handschriftlich) die Episoden-Erzählung Treffen / Zwei / Sich, deren Einzelerzählungen oft mit „Ich spreche mit Ihnen“ beginnen. Imgrunde spricht immer nur einer, die Reaktion des Anderen, des anderen Ichs, ist stets imaginiert. Anders als in Kein Mensch scheint ertrunken, Tauge / Nichts und Nebelleben soll aber hier nicht die absurde Situation im Vordergrund stehen, sondern der Versuch ernsthafter Konversation, die allerdings keine Entsprechung [17] hat in einem realistischen Erzählstrang, also keinen Sinn macht und zu nichts führt. In Heft III hingegen scheint sich unter dem Titel Das Haus / Die Straße eine Erzählung zu entwickeln, in der der Ich-Erzähler allein in einem alten Haus wohnt, das an einer staubigen Allee liegt. Leichte und unaufgeregte Gedankengänge bilden sich aus aufgrund vieler kleiner Beobachtungen und Annahmen. Aufpassen muss ich, dass ich nichts erkläre, denn auch der Ich-Erzähler hat keine Intention, das zu tun, etwa ob es elektrischen Strom im Haus gibt, von wo und wie er seine Lebensmittel bezieht und so weiter. Einzig richtig ist es, wenn der Erzähler solche Dinge beiläufig erwähnt, so als sei es die normalste Sache der Welt. Am besten also, wenn er gelegentlich „protokollartig“ erwähnt, die Soundso sei dagewesen und habe frisches Gemüse vorbeigebracht. Das dürfte über[18]haupt die beste Erzählweise sein, dass nämlich der Ich-Erzähler bei seiner Binnenerzählung bleibt und damit zugleich Widersprüche konfliktfrei einbaut. Kern seiner Erzählung ist also immer das Alleinsein und -wirtschaften in diesem alten Haus an der staubigen Landstraße. [19] Der Vorteil des Mit-der-Hand-Schreibens, das ich jahrelang ein wenig vernachlässigt habe, ist, dass mir kein Empfänger, sprich: kein Leser vor dem geistigen Augen erscheint. Das Original bleibt original, eine Abschrift in den Rechner hinein wird dann schon eine Übertragung sein – wenn ich es denn überhaupt abtippe, was ich so an Erzähltem zustande bringe. Imgrunde hängt nun alles davon ab, ob ich Nebelleben veröffentlichen kann, ob es in der parasitenpresse herauskommen wird. Wir werden sehen. Wenn es nicht klappen sollte, wird womöglich der Text Jeder Pfirsich im Herbst 2025 meine letzte kleine Veröffentlichung, und zwar im Jahrbuch Literatur in Westfalen. Der Text sei, so Arnold Maxwill, schon gesetzt, die Druckfahnen kommen im Sommer. Vielleicht aber sollte ich trotz allem versuchen, wieder Mut zu fassen, die Texte, die [20] ich schreibe, auf meiner Website veröffentlichen, sie ausdrucken, in die Archivboxen tun und so weiter. Ob die Boxen dann in einem Archiv landen oder im Feuer, auf dem Müll, in der Spree oder der Havel oder im Meer, wird man sehen (oder auch nicht). Auch ohne danach zu suchen habe ich in den Zeiten des Studiums oft Spuren von (literarischen) Werken gefunden, hinter denen natürlich je ein ganzes Leben steckt, das aber trotzdem der Nachwelt völlig unbekannt ist. Während die Berühmtheiten von den Forschern und teils auch von den Lesern geradezu aufgefressen werden (Kafka natürlich, immer wieder Kafka), liegen die Unbekannten wie mumifizierte Mäuschen in Archiven und stecken resonanzbefreit in Listen. Gelegentlich werden Texte wieder ausgegraben, Emmy Hennings etwa oder Sophie Mereau, Kontexte werden erarbeitet und Lebensgeschichten erschlossen. Das allermeiste aber wird eingelagert, Veröffentlichtes in der Nationalbibliothek oder in Marbach, anderes kommt vielleicht in ein Archiv, also in Kisten [21] und Boxen. Dort bleibt es bis zum jüngsten Tag, und man weiß gar nicht so recht, ob das nicht sogar besser ist als eine Verwendung und (Fehl-)Deutung in der Zukunft. So die Situation. Wie daraus nun, so die Frage, Motivation schöpfen zum Weiterschreiben? Das ist die Frage! Aber kann man Motivation überhaupt schöpfen? Und wenn ja womit und woraus? Die Antwort allerdings ist klar, sie hat zu tun mit dem Trieb zur Schöpfung (aus dem Nichts, wie es im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus heißt), dem Trieb zum Kunsttreiben. Der Paradefall der intrinsischen Motivation, die in jeder Zeit ihre Opfer fordert, wenn man das mal so sagen will. [Naja. Lange Rede, kurzer Sinn.] Das Handschriftliche (Heft II und III) am (vorläufigen) Ende zusammenfassen unter dem Titel Trockene Texte? Immer im Wechsel, einmal ein Absatz aus II, dann aus III u.s.w.? [22] Soeben zufällig gelesen, auf Wikipedia, dass Peter Handke einst für den Vorlass seiner Notizbücher, Handschriften und Materialien immense Summen eingestrichen hat – so zeigt sich die vielbeschworene Schere, die immer weiter auseinandergeht und zwischen Arm und Reich eine immer größere Distanz schafft, auch im Bereich des Kulturellen / der Kunst. Aber muss die Schere, einmal vollends geöffnet, nicht dereinst auch wieder zusammenfahren? Um was zu zerschneiden? Das schon Zerschnittene nochmals? Oder das auch oft beschworene Tischtuch? Immerhin ist so die (schlecht oder unbezahlte) Arbeit für Literaturwissenschaftler und Germanisten auf Jahrzehnte gesichert – ist ja auch was wert. Der Titel für die Texte aus Heft II und III könnte auch lauten Trockene Texte / Abgelenkte Geschichten oder so ähnlich, oder auch Abgelängte im Sinne von verkürzt. Mal sehen, erst mal weiterschreiben. In jedem [23] Fall hat es keinen Sinn, es noch einmal mit herkömmlichen Langtexten zu veruchen, es gibt die paar misslungenen und die beiden gelungenen, Ankerlichten und Scheerbart / Hologramm, damit soll es gut sein, selbst wenn die beiden besagten Romane es nur in die Archivbox geschafft haben beziehungsweise auf meine Website. Ich bin geneigt zu sagen, und zwar dauernd: jetzt, da es vorbei ist … Aber was, was ist vorbei? Die Kneipe, die ich gelegentlich besuche, ist frequentiert von alten Männern und mittelalten Frauen, eine ästhetische Katastrophe, der nicht zu entgehen ist. Sehe ich mir meine Texte an, die nicht veröffentlichten, so spüre ich, wie dringend ich sie vernichten wollen würde, obwohl Jahre an Arbeit darin stecken. Sehe ich mir mein Leben an … ach lassen wir das, ist doch alles in allem deutlich mehr gut als schlecht. Also wirklich! Zu jammern kein Grund! [24] Jetzt also tatsächlich meinen Roman Scheerbart / Hologramm als Online-Roman auf meine Website gestellt, also quasi, wie auch Ankerlichten, durch die Hintertür veröffentlicht. Resonanz wird’s nicht geben, denke ich, obwohl: zu Ankerlichten gab es eine Kommentarstrecke (bei Falschannahmen, Hinzufügungen und am Ende immer der selbe Mist [7. April 2023]). Natürlich ist eine Veröffentlichung, die von Scheerbart / Hologramm ebenso wie die von Ankerlichten, auf der eigenen Website keine wirkliche solche, wenn auch die Anzahl der Leser betreffend eine durchaus höhere Zahl anzunehmen ist als im Falle einer Veröffentlichung im Kleinstverlag. Behaupte ich mal so. [25] Imgrunde ist es ganz gleich, was ich nun literarisch noch schreibe (zustande bringe), ich bin da ganz frei, denn veröffentlichen werde ich es nicht (können), so steht zu befürchten. Abtippen und ausdrucken kann ich es, ich kann es in eine Archivbox hineintun, ich kann es auf meine Website setzen – und das war es auch schon. Dass etwa von Peter Handke jeder Schmierzettel und jede Notiz zwischen zwei Buchdeckel gepackt wird, ist allerdings nur folgerichtig, denn das bürgerliche Lesepublikum hat Bedarf und Geld und die Verlage benötigen dringend letzteres. Dass Handke allerdings 500.000 € für Handschriften und Materialien aus zwei Jahrzehnten bekam [2007], mutet ein wenig obszön an, und auch danach hat er in diesem Bereich, ohne dass genaue Beträge bekannt sind, ordentlich abgesahnt. Nun ja, Handke hatte von Anfang an die Chuzpe, sich radikal zu vermarkten, ganz ähnlich wie Thomas Bernhard; dass die sich gegenseitig nicht leiden konnten, passt da gut ins Bild der Männerliteratur dieser Zeit Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts. Ein [26] paar wenige gute Bücher immerhin werden bleiben, von Bernhard die Autobiographischen Schriften und Auslöschung, von Handke Mein Jahr in der Niemandsbucht. Wie das eben so ist. Das Bleiben der Schriften – okay, dann bleiben sie meinetwegen, wenngleich die Frage erlaubt sein muss: Wo? Wo bleiben sie? Die Archivkeller sind tief. Texte, die nicht in den Köpfen bleiben, bleiben in den Kellern. Besser als nix, aber nicht schön. [27] Warum liest ein Mensch? Konkreter: warum sollte jemand meine Texte lesen? Neugierde / Suche nach Was, nach Wem / Lust / Anregung / Wissensdurst? Wenn ich versuche, einen gewissen Abstand zu finden zu meinen Texten, ein eigentlich unmögliches Unterfangen, so finde ich in vielen der eher kürzeren Texte einen Drang, einen Drall zum Absurden, ein bewusstes Hinstellen von Gewissheiten als Zweifelhaftigkeiten, als Fragwürdigkeiten. Stringent realistisch ist imgrunde nur Ankerlichten, alles andere ist von einer gewissen Zwielichtigkeit durchdrungen oder von wechselnder Beleuchtung geprägt, wie auch immer. [28] Zwielicht ist immer nur eine kleine Weile als übersättigtes Licht in der Luft, ist besonders im Wald fast mit Händen greifbar, erzeugt (mir) ein Flimmern vor den Augen, einen Druck um die Augen herum und eine Art Einkapselung des Kehlkopfes – so würde ich es kurz beschreiben wollen. Die matte Dunkelheit beendet schließlich jedes Zwielicht, nur ein Summen bleibt zurück, das langsam ausklingt und schließlich vergessen ist, so wie das Zwielicht selbst. Was in der Musik möglich ist, nämlich mit Tönen überpersönliche Welten zu kreieren, ist in der Literatur nahezu unmöglich; zu arbeiten aber ist an diesem Nahezu immer. In der Musik ist es der Klang, in der Literatur der Nachklang, der wirkt. Seitdem ich in einem Interview gelesen habe, dass Jon Fosse die Musik Arvo Pärts hört, füge ich die Lektüre der Texte Fosses [29] und das Hören der Musik Arvo Pärts in einen einzigen Resonanzraum ein, was klanglich und auch inhaltlich Sinn macht, wobei natürlich nicht das eine als das Gegenstück des anderen erscheint – vielmehr ergibt sich eine Symbiose, weil beiden Werken religiöse Narrative und religiöse Texte und religiöse „Bodenständigkeiten“ zugrunde liegen, ein Runterbrechen auf das Menschliche in jeder Hinsicht, ein Bestehen auch auf dem Einfachen, dem Direkten, dem Nichtintellektuellen. Geburt, Liebe, Tod. Womöglich sollte ich in meinem Schreiben nunmehr auch eben diese, nun ja, Themen einfließen lassen, so wie ich zuvor all die Jahre die absurden Momente des Seins hab wirken lassen, inklusive Tod selbstverständlich, wenngleich ich auch in dem neuen Text Treffen / Zwei / Sich dem Absurden durchaus Raum gebe. Ich kann nicht anders, denke ich, ich muss über das Absurde zum Poetischen gelangen, das In-sich-Poetische ist mir versperrt, versperrt sich mir, wie auch immer. Jon Fosse kommt oft über [30] das Alltägliche und das sich daraus schöpfende Leiden zum Poetischen, zu poetischen Momenten, bei mir ist es eben das Absurde, das Nicht- oder Falschverstehen der Welt, des Lebens, während sich die Welt und das Leben weiterbewegt, das Ich, jedes Ich mitreißend, es mitnehmend, mal grob, mal sanft. Ja: nicht nur will ich mit meinen Texten Bilder „malen“, es sollen poetische Momente erschaffen sein (schreibe ich, während wir, Ute und ich, im Bienenwagen sitzen, der Ofen vor sich hin bollert und da draußen ein Schneesturm sich zu entwickeln scheint). Schönheit soll entstehen – etwa so, wie in dem Film American Beauty die im Wind tanzende, wirbelnde Tüte Schönheit erschafft oder das Schlussbild des im Tode lächelnden Lester Burnham inmitten seines aus dem Kopf austretenden Blutes. Nicht etwa, dass Schönheit immer geschaffen sein muss, aber sie muss erscheinen innerhalb eines Prozesses, der unerkennbar sein kann. Letzteres [31] gilt besonders für das (mein) Schreiben, denn oft ist der Text nunmal schlauer als sein Autor, beziehungsweise diesem voraus. Beim Schreiben von Ankerlichten ist mir das nicht passiert, weil das, wie Daniel Ketteler einmal sagte, ein Roman ist (wäre) für den großen Markt, für einen Publikumsverlag und damit letztlich für das Publikum, während alle anderen Texte diese poetischen Momente aus sich heraus, aus dem Absurden heraus haben (wieder mit der Ausnahme eines weiteren Romans, nämlich Scheerbart / Hologramm, ein Roman, für den allerdings kein Publikum existiert). Ob allerdings der Leser bei Stadt, Angst, Schweigen das Ende eher als poetisch empfindet oder doch als eine Absurdität? Die Todesangst des einen Menschen erlöst sich ja im Tod des anderen Menschen und tritt gleichsam stellvertretend als Tod in das Leben ein und relativiert es – so könnte man meinen. Die Fortsetzung der Geschichte aber findet im Kopf des Lesers statt, allein dort, wobei sich [32] mir die Frage stellt, ob ich selbst als Leser meiner Geschichte etwa in der Art Leser bin, wie ein Leser Leser ist, der einen Text zum zweiten Mal liest und damit das Ende schon kennt. Ist in solchem Falle des Mehrmalslesens nicht jeder Leser auch Mitautor? So wie ich als Leser meiner eigenen Geschichte in höherem Maße Leser werden kann als ich Autor bin? Ich selbst entferne Bücher, meist Romane, aus meiner Bibliothek, wenn ich weiß, dass ich das Buch nicht ein zweites Mal lesen kann. So bleiben von manchen Autoren nur wenige Bücher übrig, von denen ich nicht selten fast alle Bücher besaß, Hermann Hesse etwa oder Thomas Bernhard oder Fjodor Dostojewskij usw. Dahingegen ich die drei berühmten Romane Wolfgang Koeppens, Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, schon drei Mal gelesen habe und ein jedes Mal mit, wie man so sagt, Gewinn. Wahrscheinlich ist es die jeweilige Form eines Werkes, die ein Wiederlesen [33] befördert, erheischt, denn den Inhalt vergisst man schließlich weitgehend – zumindest geht das mir so. Kaufe ich also neue Bücher, muss ich immer auch die Bibliothek durchforsten, ob etwas wegkann. Verkauft oder verschenkt werden kann. Ein Buch, so Jean Paul, das es nicht wert ist, zwei Mal gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, ein Mal gelesen zu werden. Beherzigt man diese Einsicht, verdichtet sich eine Bibliothek immerzu in ihrer Qualität und wird so auch immer lebendiger und strahlt immer mehr etwas aus: Leselust, Gedankentiefe, Lebenslust und Lebensleid, ja imgrunde wird eine solche Bibliothek zu einem Wesen, mit dem Austausch zu pflegen anregend und beglückend ist. Wie eindimensional muss ein Leben ohne Bücher und ohne Bibliothek sein, sage ich, während andere sich ein Leben ohne ausgedehnte Reisen nicht vorstellen wollen oder eines ohne Kinder, ohne eigene Firma und so weiter. Bei mir sind es eben die Bücher und die (zumeist) erzählenden Texte, die mich mit dem „Wesen der Welt“ [34] verbinden, auf spezielle und nicht immer zur Welt passende Weise zwar, dafür aber auf Dauer und ja auch lange schon, seit rund 45 Jahren nämlich, und dies eben auch von Anfang an als Schreibender, auch wenn die ersten guten, „brauchbaren“ Geschichten erst Ende der 80er Jahre entstanden und auch vieles nicht gelungen ist. Ein Teil des Gelungenen ist nun ja immerhin in meine Bibliothek eingepflegt, anderes befindet sich auf meiner Website und in den kürzlich angelegten Archivboxen, auf dass es überdauere oder eben auch nicht. Während nämlich Alban (Nikolai Herbst) viel Wert darauf legt, dass die Nachwelt seine teils neu herausgegebenen, überarbeiteten Texte entdeckt und liest, will sich bei mir diese „Hoffnung“ nicht einstellen – ich ordne meine Texte, drucke sie aus, dann gehts in die Box, und mehr kann ich nicht tun und mehr ist dazu auch nicht zu sagen. Punktum. Womöglich hat es viel zu tun mit meiner eigenen Schreibe, wenn ich in Texten immer intensiver Abfolgen vielschichtiger Bilder sehe. Mir ist, als sei das früher nicht so gewesen, vor zwanzig oder dreißig [35] Jahren. Bilderabfolgen entstehen, vielfach verzwickt, verzweigt und verschachtelt, so jetzt beim Lesen von S. Corinna Billes Dunkle Wälder, aus deren gekonnt einfacher Darstellung mir Welten entstehen, die ich in jungen Jahren hätte suchen müssen, um sie zu finden. Nun springen sie nur so herbei, ganz ausgefüllt mit Gesichtsausdrücken, Geräuschen, Gerüchen, Wind, Hitze, Kälte, mit Worten, halben und ganzen Sätzen und den Gemütszuständen aller Beteiligten. Aus dem Sich-Vorstellen von Etwas, von Abläufen, entsteht nun Vielschichtigeres, gleichsam nicht mehr grob Gemaltes, sondern in Lasurtechnik ausgeführtes. Das Gelesene wird mir somit reicher – ein weiterer Grund, gute Texte nochmals zu lesen. Neuerdings ist mir sogar so, dass ich nicht nur in Texten naturgemäß Geschichten erkenne und zugleich eine Textur, ein Muster, sondern auch die sogenannte Wirklichkeit lese wie einen Text, vor allem wenn ich mich [36] bewege oder bewegen lasse (so wie heute auf der Fahrt mit der 12er Tram von Weißensee zurück nach Prenzlauer Berg und später von Prenzlauer Berg nach Weißensee, Auto hin zur Inspektion und wieder zurück). Was da nicht alles in meinem Kopf als fertiger Text erscheint! Der natürlich mit der Wirklichkeit nur das Wirkliche zu tun hat und alles Wahre aussondert – denn wer Wahres zu erkennen meint, fällt auf sein Wünschen herein und erleidet einen Kurzschluss. Umgekehrt will ich ja schließlich auch, dass aus geschriebenem Text ein Wirken wird. Heute übrigens am frühen Nachmittag etliche Schulkinder in der Tram, einmal auch drei Mädchen mit echtrotem Haar, die sich aber nicht zu kennen schienen, was mich einen Augenblick wunderte. Sind drei nicht schon eine Bande? Zwei von denen allerdings starren auf ihr Smartphone, statt zu quasseln oder vor sich hin zu träumen. Aber das gilt auch für die meisten Erwachsenen, die [37] per Smartphone und Internet zwar in anderen Welten weilen, aber eben nicht in selbstgemachten, selbstgemalten. Ein Buch liest niemand, auch nicht auf einem Reader, aber dramatisch geht’s schon zu, so denke ich mir, liest man nur in den Gesichtern der Smartphonebenutzer. Grausame Nachrichtenhäppchen wechseln sich mutmaßlich ab mit Werbung, mit Aufforderungen, dieses zu tun, jenes zu lassen, das ein oder andere zu kaufen, so und so zu sein. Der Mensch im digitalen Getriebe der Welt. Wie schwer hat es in diesem Betrieb das Poetische? So frage ich mich. Schließlich ist ja das Alleinsein mit sich selbst durchaus Voraussetzung, es zu erschaffen, aber auch Voraussetzung, es in sich lesend oder sehend oder hörend aufzunehmen und zu beleben, es fortspinnend sich zu eigen zu machen. Obgleich: dafür gibt es sicher ausreichend Poesiewochenenden und Poesie-Workshops – mit denen gut Kasse zu machen ist, denn abgeschöpft muss es werden, das Poetische, ansonsten es ja der prosaischen Realität verlorenginge. Wieder einmal der Untergang des Abend[38]landes? Doch was geht unter? Was vollendet sich und steht am Ende seiner Lebenszeit, Lebensdauer? Kann man sagen, die liberale Epoche ende, weil der Mensch als Bürger nunmehr nur noch Spielball (globaler) Interessen ist oder sogar von diesen ausgemerzt, auf seine Funktion als Arbeitskraft reduziert wird? Man muss keine historischen Vergleiche, keinen Oswald Spengler mit seiner sehr fragwürdigen Haltung zu Demokratie und Liberalismus bemühen (Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 1918, 1922), ebensowenig einen Karl Marx, um zu erkennen, dass sich die Menschen und die verwickelten Systeme, die sie schaffen und ausmachen, stark verändert haben in den Jahren seit 1989. Geht es denn nicht wieder stark ins Völkische, ins sogenannte Identitäre? Wie aber werden sich diejenigen, so frage ich mich, erkennen, die nicht auf vermeintlich Inneres, in Wirklichkeit aber Äußeres bauen, sondern auf humane Werte? Und dies in einer Welt, in der alles verkürzt und vereinfacht auf Begriffe ge[39]bracht wird, die die Menschen sich als Label anheften, um nicht ohne Zugehörigkeit, ohne Gruppe zu sein. Wird so etwas wie ein freundschaftlicher Diskurs überhaupt noch möglich sein angesichts des ständigen Medien- und Kommerzgewitters, dem der Einzelne, sobald er ein Smartphone zu halten vermag, ausgesetzt ist? Und wäre es da nicht eine gute Idee, erst einmal damit zu beginnen, Kinder und Jugendliche vor Inhalten zu beschützen, die ihnen digital injiziert werden? Zur Schule gebracht werden viele mit Autos, in denen ihnen nichts passieren kann, mit den digitalen Gefahren aber werden sie allein gelassen? Schließlich lernen Kinder ja auch nicht das Lesen mit Texten des Marquis des Sades, warum also sie mit der gesamten digitalen Welt konfrontieren, statt ihnen den Umgang mit dieser Welt fach- und kindgerecht beizubringen? Als einen Dienst an der Gegenwart und vor allem der Zukunft, die mündige Bürger benötigt und keine emotionalen [40] Wracks. Apropos Lernen und Jungsein: wann nur habe ich bemerkt, dass ich nichts Besonderes kann? Niemand in meinem Umfeld konnte etwas Besonderes, und das war ja durchaus „Ruhrgebietsprogramm“ – wer es ausprobierte, etwas Besonderes auch nur versuchte, wurde niedergemacht, wurde beschuldigt, sich dicke tun zu wollen. Die negative Seite des Sozialismus, würde ich mal sagen. Aber was folgte für mich daraus? Ich glaube, ich habe aus dem Wissen heraus, (noch) nichts Besonderes zu können, beschlossen, dass wenigstens die Ergebnisse meiner künstlerischen Arbeit etwas Besonders sind, sein müssen, ergo ich alles mir Mögliche, und sei es noch so wenig, dafür zu tun habe. Tatsächlich habe ich dann ja mit viel Einsatz seit nunmehr 40 Jahren Kunst in die Welt gesetzt, und zwar in Bereichen, ich denen ich mir schaffend und tuend die „Dinge“ selbst beigebracht habe, immer von der Befürchtung begleitet, allenfalls Mittelmaß zu erschaffen. Habe ich? Sicher, niemand schafft es, nur Gutes [41] oder gar sehr Gutes zu vollbringen, aus ganzen Werken sticht oft nur ein Bild, eine gute Erzählung oder was auch immer heraus. So gesehen habe ich es geschafft, das Mittelmaß zu überwinden, da bin ich sicher, auch wenn ich nicht verrate, welches meiner Werke den Preis bekommt, meiner Ansicht nach. Außerdem soll doch jeder Leser und jede Leserin für sich selbst entscheiden, was das Werk ist. Womöglich sind’s sogar mehrere. Doch gleichviel, es geht weiter, die Sache selbst muss getan werden, muss getan sein, auch wenn niemand mir meine Texte aus der Hand reißt und mir für meine Manuskripte Unsummen überweist. Nun, was soll ich sagen: ich bin nicht im Geschäft, und das ist auch gut so? Nein, gut ist das nicht, aber auch keine Gefahr für meine literarische Arbeit, denn wenn ich etwas nicht kann, dann auf Erwartungen hinarbeiten. Die „Welt“ muss schon das nehmen, was ich nunmal erschaffe, ganz gleich, was sie dafür herzugeben bereit ist. Für die beiden nun (im Februar 2025) fertiggestellten Erzählungen [42] Das Haus / Die Straße und Treffen / Zwei / Sich wird zunächst natürlich nichts hereinkommen, denn selbst wenn sie ein lesender Mensch auf meiner Website entdeckt, was soll er dann schon tun außer sie lesen? Apropos Lesen: was mir neuerdings (womöglich erwähnte ich es bereits an anderer Stelle) auffällt, mir selbst zu mir, dass ich meine neuen Texte nunmehr selbst gerne lese, was nun wirklich nie der Fall war, vielmehr habe ich vor allem die gedruckten Texte immer gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Auch dieser Wundrand-Text scheint mir mir lesbar – wirklich erstaunlich! Eine dauerhafte Freude am Wiederlesen von eigenen Texten will ich aber lieber nicht prognostizieren – Alban (Nikolai Herbst) scheint diese dahingegen zu haben, und das entspricht ganz seiner Art und Weise Kunst zu machen, während ich für mich, bezüglich mir selbst, eben nicht sicher sein kann, wie das in weiterer Zukunft aussehen wird. Habe ich nicht eigentlich eine Art Hassliebe zur Literatur? Und diese sogar von Anfang an wahrscheinlich deswegen, weil die Literatur nicht zurücklieben kann, eben weil [43] sie nur flüchtig erscheint, selbst wenn sie noch so fest zwischen zwei Buchdeckeln gebunden ist. Das frage ich mich. Würde ich aber etwas anderes denken, fühlen, fragen, wenn die Literatur mich ernährte, also eine gegenseitige Befütterung stattfände? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Am ehesten scheint mir immer noch die handschriftliche Texterzeugung der Hauptgrund dafür zu sein, dass meine Texte mir jetzt mehr sind als oftmals zuvor. Naja, das sind wiederkehrende Gedanken, und das ist gut so, weil nur so der Hirnkasten gut belüftet bleibt – wenngleich sich das auch anders sehen lässt, Wiederholung des Immergleichen, thematische Stagnation und was der Schlagwörter mehr sind. Im Moment (Anfang 2025) habe ich ohnehin andere Sorgen, nämlich existentielle, sprich finanzielle, da helfen gelungene Texte nicht weiter, vor allem nicht solche, die nicht unterhalten, sondern befeuern sollen. Überhaupt ist die Frage ja die, ob für Kunst in der sich anbahnenden Kriegswirtschaft (im weiteren Sinne, nicht im engeren wie im Falle Russlands) überhaupt noch Ressourcen [44] vorhanden sein werden angesichts der menschlich verständlichen Notwendigkeit, für Ablenkung zu sorgen mit allerlei kunsthandwerklichen Produkten, die auf dem Markt naturgemäß funktionieren. Beklagen wir uns also nicht! Denn eines ist ja wohl klar, dass nämlich zumindest der Schriftsteller im Selbstauftrag agiert, und zwar mit allen Risiken, wenn er denn nicht als „Betriebslakai“ bzw. „Quotenknecht“ daherkommen will. (Alban Nikolai Herbst benutzt eben diese Begriffe, und sie passen gut. ANH: Briefe nach Triest. Arco Verlag. Wuppertal 2025. S.67.) Andererseits ist die Klage natürlich eine Kunstform, sodass Klagelieder in keinem Fall ausbleiben dürfen! Nur die kunstlose Banalklage ist, wenn möglich, auch wenn das schwer ist, zu vermeiden. Anderes Thema: ich lese weiter Texte von Jean Améry, ich habe mir Band 7 der Werke geleistet, Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Und wie auch bei der Lektüre von Jenseits von Schuld und Sühne, Über das Altern und Hand an [45] sich legen fühle ich mich seltsam aufgehoben in den Texten Amérys, in dieser sehr ernsten Entschlossenheit, die aber nicht vorder- oder hintergründig aggressiv ist, sondern den Anderen, Freund oder Gegner, ganz Mensch sein lässt. Mir fällt grad auf, dass ich statt „ernster Entschlossenheit“ auch „entschlossene Ernsthaftigkeit“ hätte schreiben können. Ich bin übrigens gespannt, wie Améry gesprochen hat, ich hätte mir natürlich längst ein Video ansehen oder eine Aufnahme anhören können aus dieser heute schon seltsam fremd wirkenden Zeit der 60er- und 70er-Jahre. Prompt tat ich es und bin angenehm nicht überrascht. Wenn man die unangenehme Agitationssprache etwa eines Günter Grass im Kopf hat, muss einem Jean Amérys Timbre natürlich gefallen; ich fühle mich geradezu beruhigt nach diesen wenigen Minuten Audio und Video. Allerdings hatte jeder Text [46] Amérys beim Lesen bereits dieses Timbre, dazu musste ich es nicht hören, das hat in meinem Kopf bereits vorher so getönt. Eine Mischung wahrscheinlich vorarlberger Sprechweisen mit dem Wienerischen und Hochdeutschen. Was nun etwa mein eigenes Sprechen angeht, so würde ich mal ganz keck behaupten, es als ein Anderer womöglich nicht als nur angenehm zu empfinden, weil man mir erstens beim Denken zuhören kann und zweitens in vielen meiner Aussagen etwas Herausforderndes liegt. Am besten ist es ohnehin, in Gruppen größer als zwei Personen, überwiegend zu schweigen, was mir durchaus immer besser gelingt, so glaube ich wenigstens. Ich habe allerdings immer schon das Zwiegespräch bevorzugt, alles andere ist zu oft ein Geplänkel. Also Schreiben statt Reden, wobei mir nach wie vor auf der [47] Seele brennt, dass manch Text wohl nie und manch anderer nur sehr vielleicht als Buch veröffentlicht wird. Nebelleben ist da auf jeden Fall noch im Spiel, die beiden Romane (der da und dieser da) hingegen in die Archivboxen bzw. im Internet versenkt. Und will ich, von Nebelleben abgesehen, überhaupt noch weitere Texte als Buch veröffentlichen? Fehlt es mir dazu nicht doch zu sehr an einem Glauben (an was auch immer) und an Naivität? Ergo letztlich an Kraft, hochkomplexe Literaturprojekte: sprich: Romane zu stemmen? Nun gehört der Selbstzweifel bekanntlich ja zur Kunst dazu, wenn auch das Fehlen desselben wohl kaum negative Auswirkungen haben dürfte. Aber was soll ich machen? Mich selbst betrügen, mir eine Wahnwelt aufbauen? Werde ich nie können, und selbst in Zeiten, wo ich etwa mit großem Enthusiasmus meine Dissertation schrieb, wusste ich um meine Naivität und die Chancenlosigkeit in der Welt da draußen. Ich würde sagen, ich habe mir diese Naivität und das Hochgefühl des wissenschaftlichen Schreibens gegönnt, und [48] zwar auch deshalb, weil ich es mir verdient hatte. So ist das! Jetzt aber, Jahre später, benötige ich einen neuen Plan für das Schreiben und den ganzen Rest. Nachzudenken habe ich in jedem Fall wieder über den Sinn des Schreibens, denn hat sich etwa dieser mit der Disseration noch eindeutig erschlossen, eben weil ich der Wissenschaft etwas hinzugefügt habe, so müssen sich jetzt natürlich Zweifel einstellen, einfach deshalb, weil kein Verlag mehr meine literischen Texte drucken will. (Obwohl: die Hoffnung …) Hätte ich mich aber auf die im deutschen Sprachraum so überpräsente realistische Literatur kapriziert, wo, frage ich mich, stünde ich heute? Wäre ich nicht gezwungen, aus dem langweiligen menschlichen Leben gut verdauliche Literatur zu machen? Statt spannender, so wie das auf seine sehr spezielle Art Jon Fosse tut. Ein deutschsprachiger Autor aber, der so speziell (und gut) schreibt, bekäme wohl heutzutage kaum eine Chance auf dem deutschsprachigen [49] Buchmarkt, jedenfalls nicht in dem Bereich, wo sich Geld verdienen lässt. Aber natürlich ist Fosse allein wegen seiner Herkunft aus einem Land mit zwei Landessprachen, die in vielem deckungsgleich sind (Nynorsk und Bokmål), ein Sonderfall, eben weil er von vornherein die eher lyrische Sprache, Nynorsk, wählen kann. Ein deutscher Schriftsteller muss sich, will er nicht die banale leipziger bzw. hildesheimer Literatursprache benutzen, seine eigene Sprache erarbeiten – was natürlich zu Irritationen führen muss bei den Vorkosterinnen in Agenturen und Verlagen. Nun ja, letztlich hat das alles durchaus zu tun mit der altbekannten heideggerschen Geworfenheit, und so bin ich nicht nur, wie als Strafe, in die deutsche Kleinstadt Schwerte geworfen worden, sondern auch in die deutsche Sprache hinein, wobei dies sicher keine Strafe darstellen kann (für was auch immer, ist ja auch nur eine Denkfigur), sondern ein Glück darstellt, denn es ist ja immer die deutsche Sprache mit ihrer ihr innewohnenden Möglichkeit zur Schönheit gewesen, die mich davon abhielt, in fremde Sprachräume auszuwandern. So [50] denke ich mir das Ganze wenigstens. Als Bildender Künstler hätte man das Problem nicht, aber auch das ist für mich nicht mehr von Belang, weil in diesem Bereich meine Schaffenskraft ganz offensichtlich begrenzt war, oder weil mir dafür die bereits angesprochene Naivität fehlte oder weil die ganze Bildende Kunst schlicht und ergreifend langweilig ist – oder alles zusammen. Aber was soll ich erwarten in einer Welt, in der die Kunst fast ausschließlich für bürgerliche Nasen produziert wird oder aber im Bereich der politischen Propaganda ihren Einsatzzweck findet! Das Ende der Kunst? Nein, aber womöglich bewahrheitet sich der von mir oft bemühte Kalauer, dass gute Kunst erst wieder nach dem nächsten Krieg möglich ist. Geld zur Finanzierung der Kunst für den bürgerlichen Kunstmarkt wird es aber schon vorher nicht mehr im gewohnten [51] Maße geben, denn nun werden wohl eher Waffen bezahlt werden müssen, um, so die Absicht, das althergebrachte Abschreckungspotential zu erhöhen, der Kalte Krieg lässt grüßen. Allerdings besser so, also kalt, als in potentieller Wehrlosigkeit Spielball der Weltmächte USA und Chinas und zudem Russlands zu werden. Leiden unter der ganzen Situation werden natürlich, wie immer, die Armen dieser Erde, direkt oder indirekt, man kennt das „Spiel“. Die Frage, ob nun in Berlin jährlich 22 oder 44 Schriftsteller ein Senatsstipendium bekommen, ist angesichts der politischen Lage natürlich unerheblich, wenngleich der ausgezahlte Gesamtbetrag dies eben auch ist. Sollte es wirklich zu einer Kriegssituation kommen, ist aktuelle Kunst ohnehin kein geeignetes Mittel zur Ablenkung. Wer sich unterhalten und ablenken lassen will, findet natürlich auch jetzt schon Unmassen von Büchern, da muss man nix fördern, das funktioniert nach [52] eingespielten Prinzipien. Wirkliche Kunst jeglicher Coleur wird, wie gesagt, erst nach dem Krieg sichtbar bzw. überhaupt erschaffen, und dann geht das Spiel wieder von vorne los, kraftvolle Kunst trifft auf aufnahmebereite Rezipienten und Käufer, die Sache bleibt eine Weile spektakulär, normalisiert sich aber dann. Aber was rede ich da, noch ist ja die Zeit vor dem Großen Krieg, zu dem es selbstverständlich gar nicht kommen darf. Apropos kraftvolle Kunst: ich lese zurzeit Briefe nach Triest von Alban Nikolai Herbst, und fast will mir scheinen, als bilde dieser Roman en passant neben dem Inhaltlichen in seiner Gesamtheit auch etwas ab, das jetzt noch gar nicht wirklich fassbar ist und in einigen Monaten oder [53] Jahren erst Einblick gewährt in die Zeit des dann „Davor“, in der ein anderer Geist wehte. Ganz ähnlich ist es ja mit Albans Wolpertinger oder: Das Blau, der 1993 in beginnender neuer Zeit den Geist der alten BRD wiederauferstehen lässt, wenn auch hier durchaus nicht en passant. Ein mögliches Mitabbilden eines vergangenen Zeitgeistes (im hegelschen Sinne) ist es auch, das mich oft dazu verleitet, aktuelle Bücher erst einmal ein paar Jahre im Regal „reifen“ zu lassen. Wolfgang Koeppens drei große Romane, ich erwähnte es bereits, lese ich alle zehn Jahre (wobei ja auch schon meine Erstlektüre eine altersbedingt sehr verspätete war), weil sie immer dichter werden, gehaltvoller, etwa auch weil in meiner Gegenwart etwas aktuell wird, das ich zuvor nicht erlebte und das im Roman inhaltlich auftaucht. Gute Bücher altern eben auch deshalb so gut, weil sie einmal absolut zeitgemäß waren. [54] Manche Bücher habe ich allerdings, eben weil sie schlecht alterten und den Ruch des allzu Zeitbehafteten und zu eng Geführten annahmen, einfach weggeworfen, so dass sich heute in meiner Bibliothek kein Grass und kein Frisch mehr befindet und von manchen Autoren auch nur noch ein oder zwei Werke. Ich habe schon oft betont, wie sehr Jean Paul recht hatte: ein Buch, das sich nicht zwei Mal zu lesen lohnt, lohnt auch nicht das einmalige Lesen. So ist es! Dementgegen stehen aber die Interessen der großen Verlage, die ja nicht wollen dürfen, dass statt eines brandneuen teuren Buches ein aus ihrer Sicht bereits altes nochmal gelesen oder antiquarisch erworben wird. So sind viele Romane heutigentags auch allzu leicht und schnell lesbar, will mir scheinen, was nicht per se falsch sein muss, siehe etwa das Werk Knut Hamsuns, aber falsch sein kann, wenn das Hirn des Lesers mit allzu leichter Kost gefüttert wird. Tue ich es mir (sehr selten) mal an, die [55] Spiegel-Bestsellerliste zu sichten, ist mein Glaube an die Qualität des deutschsprachigen Romans immer wieder dahin. Klar, einfache Sprache für einfache Leute, das ist schon okay, aber dann muss man die Dinger auch zum Groschenheftpreis verkaufen, statt mittels hoher Preise Qualität vorzugaukeln. Wenn man mich fragt, so sind die allermeisten der von mir gesichteten Bestseller-Romane reaktionärer Scheiß, im besten Fall vielleicht Ausdruck eines neuen Biedermeier, dem aber kein Vormärz beigesellt zu sein scheint. Zum Glück aber gilt immer noch, besser überhaupt etwas Erzählendes lesen als gar nicht zu lesen – wenngleich Unterforderung eben nicht nötig wäre, denn ein sprachlich zu erschließender Text ist doch in jedem Fall spannender als ein zu einfacher Text gleichen Inhalts. Ähnliches gilt natürlich auch für die Frage, ob gesunde Menschen E-Bike fahren sollten. Unterfordert ist man, um beim Thema zu [56] bleiben, beim Lesen der Briefe nach Triest nun sicher nicht, allerdings liegt eben darin der Grund, dass sich Alban Nikolai Herbst zu beklagen hat, wieder keinen echten Bestseller geschrieben zu haben, wenn auch ein wirklich gutes Buch. Ungeübte Leser kommen allerdings auch keine zwanzig Seiten weit, und ich würde mal sagen, das ist auch gut so. Und was heißt schon Bestseller? Muss man nicht thematisch passgenau den Publikumsgeschmack treffen, lange bevor er überhaupt aktuell ist? In zehn Jahren ist womöglich Altersdiskriminierung ein aktuelles und schönes Thema für einen Roman, aber da müsste man jetzt schon loslegen. Sollte ich? Mich als nörgelnder dann Siebzigjähriger darüber auskotzen, wie schlecht mich die Welt behandelt, auch weil mir die Welt der Jüngeren immer mehr abhanden kommt, ob ich will oder nicht? Während mir zugleich der Trost des Alters, der gute Lebensabend verwehrt ist, einfach auch deshalb, weil das kitschiger Schwachsinn ist? [57] Da das Ganze aber nur ein komischer Text werden dürfte, keinesfalls ein nur fade realistischer, ist ein Erfolg ohnehin von vornherein ausgeschlossen, denn komisch gibt es in Deutschland (nach Loriot) nur auf Kindergartenniveau oder eben gar nicht. Können und Dürfen kann und darf man das Ganze natürlich schon, aber dass dann daraus ein erfolgreicher Roman wird, wie es im englischen Sprachraum durchaus möglich ist, dürfte ausgeschlossen sein. Wobei es zu beachten gilt, dass etwa Flann O’Briens Roman The Third Policeman auch nicht sofort veröffentlicht werden konnte, weil er einfach zu komisch ist. So musste die Welt 27 Jahre reifen (und Flann O’Brien sterben), bis der Roman der Welt endlich hinzugefügt werden konnte. Traurig. Da habe ich mit Kein Mensch scheint ertrunken ja geradezu noch Glück gehabt! Während ich mit Scheerbart / Hologramm Pech hatte. Keine Leserschaft, niemand liest diese Art Literatur, und selbst mit einem warnenden Aufkleber, Entspricht keinem Genre, Kann verwirren, [58] fänden sich keine Käufer oder nur sehr wenige. Der Verlag weiß das und lehnt jede Zusammenarbeit ab. Dabei war ich selbst einige Male kurz davor, den Roman zu vernichten, bis ich endlich auf den Trichter kam, ihn viel eher verdichten zu müssen, ganz banal einfach dadurch, dass ich wörtliche Rede nicht in Absätzen aus dem Text herausrückte, sondern in den Fließtext integrierte, was dem ganzen Text Wucht gab und damit mir Anlass, alles noch einmal intensiv zu überarbeiten. Ehrlich gesagt habe ich den Text jahrelang nicht gemocht, ich konnte ihn kaum lesen. Jetzt aber, nach gut acht Jahren Arbeit, mag ich ihn, ich mag es darin zu lesen, denn es ist ein leichter, seltsamer, komischer Roman mit Tiefgang, wie man ihn sonst nicht findet. Auch den Sound mag ich, es hat viel Mühe gekostet, ihn so hinzukriegen, so dass es um so bedauerlicher ist, schaderer, dass nur ich ihn lesen darf. Und Fußnoten gibt es auch noch! Watt willzte mehr. Ob ich aber noch einmal [Heft I,2; Seite 59] so eine Kraftanstrengung über die Jahre hinbekomme, steht in den Sternen und hängt auch schlicht davon ab, ob ich eine tragfähige Idee entwickele. Nicht ausgeschlossen natürlich, aber doch eher unwahrscheinlich, vor allem weil Ideen ja zunächst einmal ganz unentwickelt erscheinen müssen, aufpoppen müssen. Im Moment ist es eher so, dass kürzere Geschichten entstehen, die nach 10 oder 20 Seiten ihren natürlichen Endpunkt finden, weil sie auserzählt sind und eben auch nicht mehr Personen bzw. Figuren tragen können als maximal zwei. Und überhaupt steht ja auch noch meine alte Frage im Raum, warum ausgerechnet Schreiben! Oder, warum das Schreiben, eine alte Idee, nicht kombinieren mit der Herstellung von Collagen? Nicht, weil ich [60] das ja in der Tat schon mal gemacht hätte, sondern weil es die Vorteile zweier künstlerischer Ausdrucksformen verbindet und die Nachteile ausmerzt. Spielraum ergibt! Materialität ist zu erschaffen im Sinne der Reaktion des einen Materials auf das andere; ich erinnere mich an die vielen kleinen Objekte, bei denen Tipp-Ex und Klebstoff eingesetzt wurden. Dazu dann (teils lesbarer) Text, am ehesten handschriftlich, unter Umständen ausgedruckt (Foto, PDF), um dann mit Pflanzenöl und (Wand-)Farbe eine Collage herzustellen. Auch alte Zeichnungen können so wiederverwendet, verarbeitet werden. Herauskommen soll am Ende (wie gehabt) eine Bühnensituation, eine Art Bühnenbild. Der Plan also steht, und sobald meine Finanzkrise vorbei ist und ich den Kopf frei habe, gehe ich an seine Ausgestaltung. Genau [61] genommen wird die Angelegenheit also noch eine Weile zu warten haben, gewissermaßen im Startblock verharren, bereit, wie der Blitz vorzuschnellen. Ich werde sehen, wie ich das Ganze angehe, wobei ich zwar in etwa weiß, wie es loszugehen hat, mit einer zündenden Idee nämlich, ich aber keine Ahnung habe, ob am Ende auch etwas Bewahrenswertes herauskommt. Wie nur machen das andere Menschen, die immerzu Objekte erschaffen und in die Welt hinauskloppen? Viele scheinen sich nicht weiter abzuquälen und geben der Welt, was die Welt, womöglich ohne es zu wissen, zu haben wünscht, und ja, das allermeiste mir zu Gesicht Kommende ist absolut schrecklicher Scheiß, so es also an mir liegen muss, wenn ich mich mit der Absicht abquäle, sehr gutes Zeugs zu schaffen, das die Welt zwar bräuchte, aber nicht haben will. Oder ich täusche mich auf ganzer Linie, [62] das kann auch sein. Bei dem schon mehrfach erwähnten Roman Scheerbart / Hologramm habe ich zum Beispiel versucht, eine Geschichte im Stile der belgischen Comics der 60er-, 70er-Jahre in eine literarische Form zu gießen, statt mit 08/15er-Sprache ausschließlich Inhalte zu vermitteln. Am Ende, nach jahrelanger Arbeit, ist der Roman gelungen, ich deutete es bereits an, passt aber nun überhaupt gar nicht zu den Lesegewohnheiten der heutigen Leser, wenn auch mit einer Ausnahme: Norbert W. Schlinkert. Der nämlich mag den Text sehr und liest ihn, trotz profunder Kenntnis des Inhalts, mit großer Begeisterung. Apropos, ich erwähnte die Sache an sich schon öfter: zurzeit lese ich zum zweiten Male Am Gletscher (1968) von Halldór Laxness, und dies nicht etwa, um mein Geld für den Erwerb von essbaren Lebensmitteln aufzusparen, sondern weil ich partout nichts Lesenswertes finde im aktuellen Angebot, weder [63] Bücher von Altersgenossen noch von jungen Autoren. Ich suche regelmäßig und würde gerne etwas finden, finde aber nix, wobei mir ja der Inhalt nicht weiter wichtig ist, ich also genügend Auswahl haben müsste. Imgrunde ist es ja angesichts des üblichen Schreibstils nur eine Frage der Zeit, bis die KI das Schreiben von fast allen Romanen übernimmt, und zwar sicher am Ende auch mit Einverständnis des Publikums. Alles eine Frage der Gewöhnung. Der Kunst, dem literarischen Schreiben wird die KI jedoch nicht schaden können, jedenfalls so lange nicht, wie es noch literarische Schreiberlinge gibt, Menschen, die schöpferisch tätig sind um der Schöpfung willen, wenn man das mal so ausdrücken will. So bekommt L’art pour l’art eine ganz bestimmte neue Bedeutung, nämlich als Gegensatz zu nicht zwingend von Menschen gemachter Kunst, eben weil Kunst im Sinne des L’art pour l’art [64] die Welt nicht zweckorientiert nachahmt und somit auch nicht von künstlichen Systemen, die ausschließlich zweckorientiert sind, erschaffen werden kann. KI-Gemachtes ist immer vom Zweck, von Zweckmäßigkeit durchdrungen, kann also zwar schöne Bilder herstellen und spannende Krimis schreiben, nicht aber Kunst erschaffen. Letzteres muss der Mensch tun, so lange er es um der Sache selbst tun kann, und somit ist der einzige wirkliche Zweck der Kunst der, nicht aufzugeben, das Menschsein nicht aufzugeben, sich nicht dem Willen, dem Zweck der Maschine zu beugen. Daraus ist messerscharf zu schließen, dass benutzte Kunst keine ist, dass Kunst immer nur sie selbst ist, dass Kunst eine ausdrückliche Eigenart besitzt, Ausdruck, Expression ist, und zwar immer in einer Prozesshaftigkeit, was die Kunst letztlich vom Kitsch unterscheidet. Ich kann mich erinnern, dass es in Berlin vor etwa zwanzig [65] Jahren eher selten windig war. Wenn ich aber wollte, so könnte ich eine über Jahre sich hinstreckende Geschichte schreiben, in der es in Berlin nie windig ist. Allein so ließe sich eine andere Stadt, ein anderes Berlin erschaffen, ohne dass das einen Sinn haben muss innerhalb der Gedschichte, abhängig allerdings vom Berlin-Bild des Lesers. Als ich 1990 vier Wochen in Irland war, davon etwa zweieinhalb in Dublin, musste ich das von James Joyce in mir erschaffene Dublin im realen Dublin suchen – und finden. Sah ich die Stadt dementsprechend durch eine Art Schleier? Verwandelten sich die Menschen und die Dinge, weil ich von ihrer mehrdeutigen Erscheinung wusste? So muss es wohl sein, was dann allerdings die Frage aufwirft, wie Menschen die Welt sehen und erleben, die nicht lesen und die sich nicht von Geschichten vereinnahmen lassen. Leben sie ohne diese Verzauberung? [66] Ich weiß es nicht, stelle mir aber ein Leben ohne Literatur als ein graues vor, als sehr abhängig von Äußerlichkeiten. Aber das ist natürlich nur meine Sicht, wenn es den Nichtlesenden gut geht mit ihrer Welt, umso besser. Ich hingegen muss lesen, zurzeit Am Gletscher von Halldór Laxness, das ich zum zweiten Mal lese. Interessant ist bei solchem Tun immer, was man alles vergessen hat und was nicht. Das zweite Lesen mindert zudem die Ungeduld und fördert dementsprechend die Aufnahmefähigkeit für Details, was wiederum zu einer komplexeren Gesamtschau führt. Womöglich werde ich das in ähnlicher Form mit eigenen Texten erleben, wenn es nochmal zu einem Lektorat kommt, etwa wenn ich die beiden oft erwähnten Romane doch noch unterbringe … und wenn nicht, so habe [67] ich doch meine Klage darüber oft genug zu Protokoll gegeben. Interessanter sind, zumindest für mich, Überlegungen, ob ich nicht einen neuerlichen Anlauf in Sachen Lyrik unternehmen sollte – doch wenn ich es mir recht überlege, so mag ich von meinen Gedichten nur die allerwenigsten, weil sie nämlich oft einen appelierenden Charakter haben, so als müssten sie sich in der Welt behaupten, sie mir also irgendwie falsch erscheinen oder zumindest nicht gut. Ob dann neu geschriebene Gedichte besser sind? Eher wohl nicht, ergo ich es seinlassen sollte! Gebongt! Überhaupt habe ich im Moment das Gefühl, dass meine Zeit des Schreibens irgendwie um ist, zumindest die des Schreibens „für die Welt da draußen“. So etwas wie Treffen / Zwei / Sich (Heft II) ist dieser besagten Welt jedenfalls nicht zu verkaufen, das [68] ist ma‘ sicher. Gilt auch für Das Haus / Die Straße (Heft III) und mutmaßlich alles, was noch kommen mag. Landen tut’s dann eben in den Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! Bessa alz nix! Ich weiß sehr wohl, dass ich mich oft wiederhole und den selben Mist nochmal schreibe, den ich schon x Mal irgendwo hingeschrieben habe. Das liegt imgrunde daran, dass ich zumindest in diesem Text hier gelegentlich Tagebuchartiges verfasse, wenn auch ohne Ort und Datum. Ein weiterer Grund ist aber sicher, dass sich im Leben eben auch vieles wiederholt und ich mich zusehends langweile angesichts dessen, was man so allgemein das Kulturleben nennt, ich also auf der Suche bin etwa nach guter Literatur, die ich, ich sprach es bereits an, nicht in der Buchhandlung finde, sondern in meiner Bibliothek, ich Bücher also zum wiederholten Male lese, so ich also auch beim Schreiben mich zu wiederholen trachte – [69] ergo: alles ganz folgerichtig, ganz natürlich. Vielleicht sollte ich mal wieder Nietzsche lesen, oder Klossowski, von Nietzsche liegt dementsprechend Menschliches, Allzumenschliches I und II (KSA II) auf dem Tischchen, von Klossowski (natürlich!) Nietzsche und der Circulus vitiosus deus. An und mit letzterem habe ich, es intensiv studierend, gleichsam Lesen & Schreiben gelernt, wobei ich durchaus zunächst (zu Beginn des Studiums) Probleme hatte, etwas zu verstehen, überhaupt etwas. Ich bin gespannt, wie ich es nun, 20 Jahre später, aufnehme. Wie ich Nietzsche aufnehme, weiß ich allerdings bereits, denn nachdem ich ihn jahrelang studierte, bin ich sicher, dass ich ihn nie recht verstanden habe, bestimmte Teile seines Werkes jedoch ganz sicher schwülstigen Unsinn in die Welt setzen, ja besonders [70] in Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller (KSA II) verzapft er beflissen und geradezu biedermeierlich einigen Unsinn, eben weil er kein Künstler und Schriftsteller ist, siehe das überaus schlecht geschriebene Also sprach Zarathustra – pathetisch, schwülstig, hochtrabend, anmaßend ist es geschrieben, so als kreuze man Teile der Bibel und Platons Sokrates. Helmut Heißenbüttel sieht den Zarathustra so denn auch als einen Teil der Flut historisierender Epen, ergo als einen Trivialepos. (Helmut Heißenbüttel: Der fliegende Frosch und das unverhoffte Krokodil. Wilhelm Busch als Dichter. Stuttgart 1982. S. 8) Ich wundere mich immer noch, wie wenig der doch viel bessere und interessantere Philosoph und Schriftsteller Sören Kierkegaard in Deutschland erforscht wird; hätte ich Kierkegaard früher entdeckt, so hätte ich Nietzsche sausen lassen. Aber egal, ich bin ohnehin raus aus allem, ich habe getan, was ich konnte, nämlich letztlich das poetische Ich in seiner Entwicklung erforscht, mehr war nicht drin, unter anderen Umständen hätte ich ein gewisses Dozentenniveau erreicht, ergo wie (fast) alle mit Wasser gekocht. Raus übrigens bin ich auch aus dem Literarischen, [71] jedenfalls meinem Gefühl nach, doch genau genommen fühle ich mich nur rausgeschmissen, obwohl das de facto nicht stimmen kann. Man lässt mich nicht zu, indem man meine Texte nicht aufnehmen will ins Verlagsprogramm, das schon, aber rauswerfen tue ich mich schon selber, nämlich indem ich entweder nichts schreibe oder aber das Geschriebene nicht anbiete. Kopfsache eben! Dazu kommt eine Art Widerwille gegen zu viel(e) Wort – besonders beim Radiohören (Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur …) ist mir jede Worthülse zuwider, und von denen gibt es, vor allem bei den Interviewten, reichlich. Nur echte Fachleute, die ohne Rücksicht sprechen, finden manchmal schlicht die richtigen Worte. Ist es also eher ein Widerwille gegen falsche Worte, oder gegen zu schwache Worte, ergo ein Fachmensch [72] eher mehr denn weniger reden darf und sollte? Wahrscheinlich. Allerdings habe ich ja gut reden, hier mit meiner Kopfsache, also wenn das kein ausuferndes Schwafeln ist, was dann! Eine andere Frage ist, ob überhaupt noch in ausreichendem Maße zugehört wird. Oder ob das komprimierte Geschwafel in Form von Twitter/X-Beiträgen letztlich ausreicht, Meinungen auszubilden. Könnte wohl so sein!

[…]

 

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ONLINE-ROMAN ‚SCHEERBART / HOLOGRAMM‘

Norbert W. Schlinkert

SCHEERBART / HOLOGRAMM

Roman

ONLINE-VERSION

© 2024 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

 

O es fällt ein trüber Regen,
Und verweinte Winde wehn.
Nein, ich will ins Bett mich legen
Und nach meinen Puppen sehn.
 
Spielend form ich aus den Kissen
Weiße brennende Figuren,
Welche mir gehorchen müssen:
Kinder, junge Herrn und Huren.
Klabund: Tapioka

I

Der Punkt ist folgender: Ich habe den Schreibtisch ohne mit der Wimper zu zucken ans Fenster gerückt. Die U-Bahn rattert als Hochbahn vorbei. Wer aus dem U-Bahn-Wagen rausguckt, kann mich sehen. Gäbe es noch so etwas wie Steckbriefe an jedem Zaun und jeder Laterne, ich wäre sicher längst verhaftet. Der Wachtmeister stünde vor meiner Wohnungstür, er wisse genau wer ich sei und dass ich ihm nicht entwischen könne. Widerstand sei zwecklos. Natürlich schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu und entfliehe, Balkon über Balkon, auf’s Dach. Stell’ ich mir so vor. Dabei findet sich nirgends mein Name, weder auf dem Klingelschild oder dem Briefkasten noch an der Tür. Nur Marie-Louise weiß über alles bescheid, über mich, mein Dasein und meine Geheimnisse. An lauen Abenden wie diesem liegt sie mit einem Frotteeschlüpfer bekleidet auf dem Futon hinten in der Ecke und liest Bücher über Otto Müller, Anselm Kiefer, Louise Bourgeois, Rosemarie Trockel und Pipilotti Rist. Ich frage, was diese seltsame Auswahl denn bedeute. „Eine Art Bogen“, sagt sie aus der Tiefe des hinter mir liegenden Raumes, „von der Vergangenheit zur Gegenwart.“ Ich überlege kurz. „Laut Samuel Beckett“, sage ich, „lässt sich über die Vergangenheit am besten in Form des mythologischen Präsenz sprechen.“ Marie-Louise sagt nichts dazu, wie immer, wenn sie denkt, ich redete Blödsinn. Doch Gegenwart und Vergangenheit hin oder her und welche Zeitform auch immer, Tatsache ist, dass wir nun in dieser Ein-Raum-Wohnung Unterschlupf gefunden haben. So eine typische mit einem schlauchartigen Klo. In der Küche eine Pumpdusche mit Plasteschiebetüren. Funktioniert tadellos. Fünf Minuten Warmwasser. Der Flur ist klein und besteht nur aus Türen. Der Wohnraum vier mal fünf Meter mit Balkon zur Schönhauser Allee. Auf dem zehnmal am Tag Marie-Louise, die Zigarette nachdenklich auf Stirnhöhe. Eine zarte Person. So könnte man denken. Doch wer so denkt, täuscht sich. Aber das nur am Rande. Wir haben übrigens noch so einen orangebraunen Kachelofen, der jetzt im Sommer still vor sich hin sinniert und im Dunkeln manchmal säuselt, damit wir ihn nicht vergessen. Einziges Zeichen der Moderne ist der Router im Flur. Wir leben ziemlich spartanisch. Marie-Louise hat die Wohnung für uns gefunden. Eines Tages kommt sie, ich weiß es noch als sei es gestern gewesen, über das ganze Gesicht strahlend ins Café gelaufen, rückt einen der wackeligen, unbequemen Kaffeehausstühle genau in den Weg zu den Toiletten, setzt sich und legt ihre bloßen, ziemlich dreckigen Füße in meinen Schoß. Sie trägt nicht gern Schuhe. Sie habe einen Eigenbrötler kennengelernt, sagt sie laut, worauf ich leise zurückfrage, ob ich richtig verstanden hätte. Eigenbrötler? „Wir können seine Wohnung haben, er zahlt Miete, Strom, Flatrate und so weiter. Wir überweisen den Gesamtbetrag.“ Ich bin skeptisch und frage, ob es da nicht weitere Gegenleistungen gäbe, worauf mir Marie-Louise erklärt, sie habe eine Tante in Ipsach mit Einliegerwohnung, Garten und ein paar Hunden. Der Eigenbrötler habe mit der Tante telefoniert und sei auch schon fort, gleich mit dem nächsten Zug. Sie grinst breit und drückt ungeniert ihre Zehen in meine Weichteile. Was mag das für eine Tante sein, überlege ich. Doch noch bevor ich weiter fragen kann, springt Marie-Louise auf die Füße und ist auch schon wieder weg. Auf dem Tisch, halb unter meinem Buch, liegt ein Zettel mit der Adresse, dem Namen auf dem Klingelschild, F. Jung, und einer Uhrzeit, 20 Uhr 30. Die Einzugsdaten. Erleichtert sehe ich mich im Café um. Endlich gehören wir dazu! Mein Blick trifft sich mit dem der jungen Bedienung im froschgrünen Kleid. Sie lächelt. Ich bin der mit den vielen Büchern und dem Kamillentee. Der mit der Frau mit den bloßen Füßen. Was sie nicht weiß, dass wir bisher fast jede Nacht woanders schlafen. Mal umsonst, mal gegen ein paar Euro. Meist auf einer Schlafcouch oder in der Küche auf dem Boden, manchmal auch im Atelier irgendeines Künstlers in Weißensee, wenn da nicht grad übelriechende Chemikalien aufwendig hergestellte Kunstwerke zerfressen. Der neueste Schrei auf dem Kunstmarkt. Sozusagen Edvard Munch auf die Schnelle. Man hat ja keine Zeit mehr, heutzutage, denke ich jedes Mal, wenn ich mir mit gespieltem Interesse den Kram ansehe. Nun aber Wohnen. Ein Dasein. In den Prenzlauer Bergen! Ich bestelle zur Feier des Tages einen weiteren Tee, klappe aber schließlich das Buch zu, lehne mich gemütlich zurück und betrachte die Bedienung. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich. Sie heißt Nadja. Das Kleid reicht ihr bis Mitte der muskelgestählten, braungebrannten Oberschenkel. Beugt sie sich nach vorne, um das Tablett mit leeren Gläsern und Tassen über den Tresen zur Spüle zu schieben, deutet sich unter dem groben, festen Stoff ihr Hintern an. „Seht her“, sagt er jedes Mal, „wie wohlgeformt ich bin, wie schön!“ Schön aber ist vor allem der blonde Flaum auf ihren Beinen im abendlichen Gegenlicht. Als ob ein leichter Wind durchginge. In Gedanken streichele ich zart ihre Schenkel. Sie lächelt mich an, als habe sie meine Gedanken erraten. Marie-Louise errät nie etwas. Sie ist Künstlerin auf dem Weg zum Erfolg. Manchmal, wenn ich mir ihr geschäftstüchtiges Tun so ansehe, denke ich, das Leben ist ohne jede Poesie. Und dabei war vor nicht einmal hundert Jahren sogar der technische Fortschritt die poetische Antwort auf alles Nichtpoetische. Oder etwa nicht! Es gab Tote. Sicher. Aber das ist immer so. Doch die Lebenden ließen sich nicht beirren. Heute, ein Jahrhundert später, ist der Mensch der Sklave alles Technischen. Die Menschen sind stumm, taub und tumb gegen alles Besinnen. Das ist die traurige Wahrheit. Nur gelehrt wird sie noch, die Poesie, in Kübel hinein. Am Ende ist alles Kalauer. So wie mein Untergetauchtsein eine Kalauerei ist. Man kann das übertrieben finden. Niemand aber kennt mich hier im Haus, so wie auch niemand F. Jung kannte. Das ist die Hauptsache. Die Leute im Treppenhaus nicken mir zu, wie sie jedem zunicken, und sagen Hello, alles us-amerikanische Jungs und Mädels, boys and girls, die von ihren reichen Eltern zum Hörnerabstoßen nach Berlin geschickt worden sind. Theme Park Berlin. Die zahlen jede Miete. „I’m Goofy, it’s my nickname“, säuselt mir einer in kurzen Hosen und Sneakers gleich am ersten Tag auf halber Treppe zu, der mal abgesehen von der fehlenden schwarzen Hundenase in der Tat so aussieht wie der lange doofe Kumpel von Mickey Mouse. „Hey“, sage ich, „I’m Arno, nice to meet you, and I’m so glad, und da bin ich sicher nicht der Einzige, dass ihr jetzt anderswo die Zivilisten bombardiert. Echt nett, die Leute einfach nur lebendig aus dem Kiez zu vertreiben. Thank you for that!“ Er lacht verkniffen, läuft die Treppe hoch, schließt hastig seine Wohnungstür auf und weg ist er. Der Hundsfott! Oder habe ich mir das nur ausgedacht? Das mit dem Amerikaner? Unter uns wohnt jedenfalls Frau Stein. Sie ist schon älter und schwerhörig und dreht am Sonntagmorgen den Fernseher voll auf, wenn die Messe läuft. Keine Ahnung, ob protestantisch oder katholisch. Es wird gesungen und gebetet. Sie hat mich aber gleich gefragt, als sie mich zum ersten Mal sah, ob das in Ordnung sei. Ich sagte ja, klar, und seitdem beben jeden Sonntag ab halb zehn die Dielen unter unseren Füßen, mal in Orgel, mal in Trompete, mal mit Chor, mal ohne. Ihre ältere Schwester, das erzählte sie noch, wohne seit Jahrzehnten in Prag, schon zu Ostzeiten, und sei inzwischen auch schwerhörig, also schreibe man sich eben wieder mehr Briefe statt zu telefonieren. Eine nette ältere Dame ist das. Sie lässt uns in Ruhe, von der Messe mal abgesehen. Marie-Louise sagt, die eine Woche ist es ein evangelischer, die andere ein katholischer Gottesdienst, ob ich das denn nicht unterscheiden könne! Da hat sie einen Wissensvorsprung, wie es aussieht. Ich drehe den Kopf und sehe sie an, wie sie da so im Schein der Stehlampe in einem Buch liest, der nackte Bauch mit seinem kleinen Speckhügelchen wirft Falten und die linke Brust liegt auf ihrem Oberarm wie zur Ruhe gebettet, das linke Bein ist ausgestreckt, das andere angewinkelt. Eine kleine dürre, unscheinbare Person, in die ich mich da verliebt habe. Für die Arbeit aber steckt sie ihre Füße in plumpe Pumps, und die machen aus ihren Kinderbeinen stramme Frauenbeine. Der Hintern hebt sich. Die gut zehn Kilometer zur Universität der Künste fährt sie mit dem Rad. Ihre Baseler Professorin hat ihr die Stelle vermittelt, um die Abschlussprüfungen zum Master of Arts in Fine Arts gleich mal mit der Praxis zu verbinden. So läuft das. Auf jeden Fall hat sie eine feste, seriöse Stelle für zwei Semester, für mich Grund genug, mein gesamtes Geld auf ihr Konto zu überweisen. Sinn der Sache ist, nirgends mehr aufzutauchen, kein Konto zu haben, keine Steuernummer, keine eigene Mobilfunknummer und so weiter. Für etwaige Krankheitsfälle kennt Marie-Louise in Berlin einige Ärzte verschiedener Fachrichtungen. Anwälte übrigens auch, so als Schweizerin aus Bern ist das normal. Überhaupt hat sie einen ganzen Haufen Verwandte im großen Kanton im Norden. Bis rauf nach Karlsruhe und darüber hinaus. Hat sie mir alles sofort erzählt, als wir uns kennenlernten in Basel. Vor einem Jahr. Jetzt bin ich hier, wir sind hier, Berlin, Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee, Vorderhaus, zweites Obergeschoss. Gut achtzig Kilometer entfernt von dem Ort, an dem das groß angelegte Kunstprojekt namens Amphitryon Komplex seinen Platz hat. Was das ist? Gute Frage. Doch ich bin nur der Unwissende, der Übertölpelte, in jedem Fall aber eine Figur am Rande, die nicht eingeweiht war. In was eingeweiht? Die entscheidenden Fragen! Es kommt vor, dass ich tagelang nicht an Alkmene, Karl und Max oder an Amphitryon denke. Irgendwann, so aus der schönsten Entspannung heraus, kommt es mir aber immer wieder hoch und ich sage zu Marie-Louise, dass wir vorsichtig sein müssen. Unruhig werde ich und stehe auf, gehe herum, blase Zigarettenrauch auf den Schreibtisch und beobachte mit zusammengebissenen Zähnen, wie das zarte Gespinst samtig und weich darüber hinwegrollt. So auch jetzt. „Ich kann mich in Bad Wutzenwalde jedenfalls nicht mehr blicken lassen“, sage ich, „da bin ich bekannt wie ein bunter Hund, das ist ein winziges Städtchen, da gibt es nichts weiter als die Bäckerei, die Fleischerei, die Post in einem Fernsehfachgeschäft, ein Bootsverleih und ein Moorbad am Stadtrand“, so sage ich, worauf Marie-Louise den Mund spitzt und zum ersten Mal überhaupt etwas sagt zu all dem, nämlich dass man in Bad Wutzenwalde weder sie, Marie-Louise, „noch  deinen Zwillingsbruder kennt! Den nicht!“, worauf ich wieder sage, ich hätte aber keinen. Sie schweigt und wartet, bis bei mir der Groschen gefallen ist. Sie lacht. „Nicht dein Ernst, oder?“, sage ich. „Doch! Mein voller Ernst!“, so wieder sie, „du bist in Bad Wutzenwalde auf der Suche nach deinem Bruder, deinem Zwilling, irgendwas Wichtiges steht im Raum, da fällt uns schon was ein.“ Ich war ganz baff, bin es noch und bekomme Schweißausbrüche, wenn ich über die Sache nachdenke. Wir arbeiten daran. Ich an mir vor allem. Ich muss, soll die Sache durchgezogen werden, schauspielern. Mich selbst spielen, meinen Zwillingsbruder spielen. Geheuer ist mir das Ganze nicht. Ich mache mir eher zu viele Gedanken als zu wenige. Fragen tauchen auf, mehr als mir lieb sind. Was zum Beispiel weiß Arno von mir, seinem Zwillingsbruder, was weiß er nicht, in welchen Punkten täuscht er sich? Was weiß er sicher? Und was weiß ich über ihn? Wichtige Fragen, ohne Zweifel! Und wenn ich tatsächlich auf dem Gutshof bin, denn da muss ich hin, will ich etwas herausbekommen, verrate ich mich dann nicht, wenn ich Dinge allzu selbstverständlich tue? Einen versteckten Lichtschalter betätige zum Beispiel. Oder eine knarzende Stufe wie selbstverständlich meide. Marie-Louise sagt, ich dächte zu viel nach, worauf ich erwidere, sie kenne Alkmene nicht, die sei das Misstrauen in Person. Und wer wisse schon, ob sie nicht in Wirklichkeit eine ganz andere ist als die, die ich zu kennen meine. Was, wenn sie die Künstlerin nur spiele? „Immerhin“, so sage ich abschließend zu Marie-Louise, sie wird unruhig, ihre Augen flackern schon, „haben wir nun diese Wohnung“ Sie nickt, holt tief Luft und vertieft sich in ihre Bücher. Ja, denke ich, die Hochbahntrasse wieder in den Blick nehmend, die Wohnung als sicherer Hafen, sozusagen als unser Hauptquartier. Das ich allerdings kaum verlasse. Sicher, Berlin ist groß genug, um nicht an jeder Ecke in einen Bekannten zu rennen, dennoch aber bin ich während der Zeit, die ich tagsüber im Café verlebte, lesend, meinen Tee trinkend und von Nadjas muskulös-flaumigen Oberschenkeln träumend, einmal auch erkannt worden. Von Eduard Raban. So schnell geht das. Er setzte sich umstandslos zu mir an den Tisch und begann ein Gespräch. Als sei ich nie fort gewesen. Es machte fast hörbar wusch und ich war wieder der von früher, der Kerl vor der Amphitryon-Sache. Ich sah ihn an. Das runde, böhmische Gesicht, die Nickelbrille, die kurz geschorenen blonden Haare als Kranz um die Glatze, das karierte, weit aufgeknöpfte Hemd, die schmalen Lippen, das charmante Lächeln. Ohne Zweifel Eduard! Er erzählte von seiner kleinen Wohnung in Prag, fast immer an Touristen vermietet, und dann schreibe er natürlich noch. Und so weiter. Ein Mensch, dachte ich immer wieder, ein Mensch, ein richtiger Mensch! Ich winke einmal kurz der U-Bahn auf ihren Stelzen zu. Wie so oft sind Kinder zu sehen, die auf den längs der Fahrtrichtung eingebauten Sitzbänken der U 2 knien und, den Kopf in beiden Händen, in die Welt hinausstieren. Zum Winken ist eigentlich keine Zeit, es geht zu schnell, und ein Zurückwinken kann überhaupt nicht gelingen. Die U-Bahn ist zwischen zwei Stationen und hat Tempo. An den Türen stehend Erwachsene. Manchmal stelle ich mir vor, Alkmene stünde dort und sieht mich eine Sekunde. Was würde sie tun? Stände sie binnen zehn Minuten vor meiner Tür? Ginge sie wie eine Furie auf mich los? Oder drohte sie mit irgendwelchen Anwälten? Zuzutrauen ist ihr alles. Sie hat eine Menge zu verlieren, wenn ich denn recht habe mit meinen Vermutungen. Meinem Verdacht. Ich habe übrigens keine Ahnung, ob Amphitryon (ich bleibe bei den Projektnamen) leibhaftig zurückgekommen ist auf den Gutshof. Ich weiß es nicht. Womöglich ist er von Basel aus nach Italien. Ist fort. Egal wohin. Ich aber werde nun auf jeden Fall, will ich etwas herausbekommen wollen, wieder hin müssen nach Bad Wutzenwalde, dorthin, wo ich drei Jahre lang Teil dieses Projekts war. Amphitryon Komplex. Groß aufgezogen, als das Fördergeld floss, vor allem von der Eric und Olja Kübler-Balgbützel Stiftung. Eine gute Idee, die ganze Sache, so dachte ich ganz zu Beginn und lange noch. Mit Herzklopfen hatte ich den Vertrag unterschrieben, in einer Kneipe in Kreuzberg, und fröhlich mit allen angestoßen. Ich war guter Dinge, damals. Alle waren guter Dinge. Jetzt aber sage ich in den Raum hinein, noch habe es keine Toten gegeben, aber das sei nur eine Frage der Zeit. Marie-Louise erwidert, ohne aufzublicken, ich übertriebe maßlos und nähme die Sache zu ernst. Ich wende meinen Blick wieder dem Hochbahnviadukt zu. Immer, so denke ich, nähert sich eine Bahn. Eine beständige Annäherung. Als ich mich umdrehe, um Marie-Louise diesen Gedanken mitzuteilen, steht sie mit dem Rücken an der Wand und macht ihre Übungen, Schulter, Arme, Rücken, alles ganz langsam. „Alkmene ist besessen, Marie-Louise“, sage ich, als hätte sie mir eine Frage gestellt, „ganz und gar besessen, nur weiß ich noch immer nicht, wovon eigentlich. Und was hinter all dem steckt. Damals hielt ich ihre ständige Anspannung für ganz normale künstlerische Leidenschaft.“ Marie-Louise schweigt und streckt sich in die unmöglichsten Figuren hinein. Einmal knackt es im Schultergelenk. „Die Wahrheit ist, Arno“, sagt sie endlich, „dass dein Künstlerpaar mit Dir und allen anderen zusammen aus dem Amphitryon-Mythos banalen Kitsch gemacht hat. Nicht mehr, nicht weniger. Die Welt hat das nie interessiert. Das ist die Wahrheit und womöglich auch die ganze Geschichte.“

II

Manchmal begegnen sich die U-Bahnen genau vor meiner Nase. Die Richtung Alexanderplatz und die nach Pankow. Urplötzlich tauchen sie auf, passieren sich in schnellem Takt, ein Starren, dann das Hochbahnviadukt wieder leer und der Häuser gegenüber blinde Scheiben. Oft warte ich auf nichts anderes als auf diese exakte, mittige Begegnung der Bahnen in meinem kleinen Ausschnitt der Welt. Nie geschah es zwei Mal nacheinander in all der Zeit, nicht passgenau. Ich sehe hinaus. Ich warte. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich bringe nichts zustande, ich schreibe nichts auf von all dem, was mir im Kopf schwirrt. Denn wo ansetzen, frage ich mich, während alle paar Minuten eine Bahn vorbeidonnert, wen denn nun was und vor allem wie erzählen lassen? Und geht das überhaupt, aufschreiben, was wer wie und wann und warum erzählt, sagt, erwidert? Das waren die Fragen, die mich quälten. Der Text selbst würde sie beantworten. Sobald er entstünde. Ein klassischer Fall von Deduktion, soweit ich das überblicke. Mehr festzustecken war demzufolge nicht möglich. Ich schrieb keine Zeile. Nichts über meine Zeit als Sosias, so mein Projektname in Bad Wutzenwalde. Nichts über das Projekt selbst: Amphitryon Komplex. Und erst recht nichts über meine Zweifel und Ahnungen. Ich fand die Worte nicht – oder nein, die Worte wussten sich selbst nicht, wussten nicht, was bedeuten, fanden den Weg nicht aus meinem Kopf hinaus auf das Papier vor meinen Augen, unter meinen Händen. Der Plan allerdings, nach Bad Wutzenwalde zu fahren und mich dort als mein eigener Zwillingsbruder auszugeben, ist bereits wieder perdu. Eine dumme Idee. Ich hatte mich verrannt, hatte mich anstiften lassen von Marie-Louise. Mitunter versuchte ich mir sogar einzubilden, all dies – Bad Wutzenwalde, der Gutshof, das Projekt, Alkmene und Amphitryon – sei nichts weiter als eine Hirngespinsterei. Ich selbst ein Hirngespinst. Ein Gespenst meiner selbst. Doch konnte das sein, fragte ich mich immer wieder, kann ein Hirn sich derart differenziert etwas ausmalen und auf diese Weise Texte, Melodien, ganze Gespräche erfinden, Menschen, Orte, Maschinen und Mechanismen? Ja, es kann. Sicher. Robert Musil weist immerhin ganz zurecht darauf hin, wenn ich das hier einfügen darf, dass nicht der Autor eines Romans die Figuren zum Leben erweckt, sondern diese sich selbst erschaffen. Auch Jean Paul äußert sich ein Jahrhundert zuvor in diesem Sinne. Sich selbst erfinden. Aus dem Nichts. Weil es nämlich möglich ist. Da sind wir, die Figuren, die Menschen, die Seelen des Romans! So entsteht aus dem Möglichkeitssinn eine Wirklichkeit, und zwar ganz ohne dass es eines Wirklichkeitssinnes bedarf. Bingo! Nur die wirkliche Wirklichkeit des Schreibens, die muss es wirklich geben, denn eine literarische Figur schreibt sich nicht selbst – geschrieben werden muss sie. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Und der Hund begraben. Mit Marie-Louise spreche ich selten über diese Dinge. Ich will nicht, dass sie mich für verrückt hält, und überhaupt ist sie tagsüber jetzt immer an der Uni, während ich zuhause am Schreibtisch sitze, beherrscht von dem Gedanken, wie aus drei Jahren Arbeit in Bad Wutzenwalde nichts weiter wurde als ein mäßig erfolgreiches, ja imgrunde weithin ignoriertes Kunstprojekt, von dem ich nun nicht einmal berichten kann, wie es aussieht, obwohl ich ja aus all dem Geschehenen die Vermutung ableite, dass da etwas nicht stimmt. Nicht stimmen kann! Marie-Louise hieß mich, als ich mich heute Morgen wieder einmal darüber beklagte, lachend ein Sensibelchen. So laufe das nun mal im Leben, auch im Kunstbetrieb, und man könne nicht jedes Mal gekränkt sein oder Verschwörungstheorien nachhängen, wenn etwas nicht grandios werde oder Preise gewinne. Doch was denn eigentlich, apropos, aus dem Doppelgänger geworden sei, meinem Zwillingsbruder, den zu mimen ich doch üben wollte. „Ja“, sagte ich wahrheitswidrig, „ich übe!“ Obwohl ich es nicht tue, sondern allein hier sitze und verzweifele. Also nichts, kein Text, kein Roman, kein Bericht, keine Erkenntnis, nur die ewigen U-Bahnen, hin und her und her und hin.

Am nächsten Morgen jedoch änderten sich die Dinge! Ich lag noch im Bett, Marie-Louise war eben aus der Tür und polterte das Treppenhaus hinunter, als die vorbeifahrende, von der Sonne grell bestrahlte U-Bahn nach Pankow alle anderen Geräusche überrumpelte und zugleich reflektierend die schmutzig-weiße Stirnwand unserer Behausung gelblich bestrich. Ein morgendlich wiederkehrendes sommerliches Schauspiel, gut ein Dutzend U-Bahnen strahlen herein, wenn denn nur die Sonne prall genug und von der richtigen Stelle aus vom Himmel scheint. Ich beschließe, noch ein wenig liegen zu bleiben. Ich döse vor mich hin. Die nächste U-Bahn fegt über die Wand. Ein gelber Strom, den ich blinzelnd über mich ergehen lasse. Plötzlich aber erscheint Alkmene im Zimmer. So als sei sie eben durch die geschlossene Balkontür eingetreten. Ganz deutlich erkennbar. Alkmene. Lichtübergossen. Lichtdurchstrahlt. Ich springe ohne zu zögern auf und gehe zwei Schritte auf sie zu, die mich starr ansieht, berühre sie an der Schulter, greife aber durch sie hindurch. Ein Hirngespinst, denke ich sofort, ein wahrhaftiges Hirngespinst, die reinste Vorstellung! Ich will es weglachen. Alkmene weglachen aus unserer Wohnung. Doch es kommt nur ein Krächzen aus meiner Kehle. Das gelbe Licht erlischt im selben Augenblick, ich schließe die Augen, aber nicht der Straßenlärm ersetzt den der U-Bahn und nimmt seine Stelle ein, sondern Stille. In der Ferne so etwas wie Vogelstimmen. Gezwitscher. Ich horche. Ja, Vögel. Das Rauschen von Blättern. Irritiert öffne ich die Augen und sehe mich selbst im sogenannten Gutshaus in Wutzenwalde stehen, im großen Wohnraum, von schräg oben aus einer der Ecken sehe ich mich, in denen die Kameras installiert sind, ich sehe mich, so als sei ich die Kamera. Panik steigt in mir auf und packt mich bereits an der Kehle, doch dann bin ich mit einem Male wieder ich selbst. Ich atme auf und kneife mich in den Unterarm. Es schmerzt, das schon, aber es hilft nicht. Wie ich feststellen muss, bin ich tatsächlich im Wohnraum des Gutshauses. ich erkenne die Sitzecke hinter dem offenen Fachwerk, erkenne die in die historischen Mauern hineinverbrochenen, von der Decke bis zum Boden reichenden französischen Fenster, den großen Tisch im Hintergrund. Ich träume! Träume mich zu kneifen, träume aufzuwachen, träume weiter zu träumen. In Wirklichkeit stehe ich in unserer Wohnung vor dem Bett und habe kurz zuvor versucht, das Scheinbild Alkmenes an der Schulter zu berühren. Ich griff hindurch, die Erscheinung verschwand, ich also noch dort stehen und ich mich also nur zurück ins Bett fallen lassen muss, um wieder klar zu werden im Oberstübchen.

Mit dem Hinterkopf auf dem nackten Boden aufgeschlagen. Es schmerzt fürchterlich. Der ganze Leib schmerzt. Ich öffne die Augen. Über mir eine Kamera. Spöttisch mich einäugig anstarrend. Deren Auge mir, das weiß ich, surrend folgen wird, bewege ich mich. Bis eine andere Kamera mich erfasst. Viele weitere, kleine Kameraaugen in allen möglichen Ecken und Winkeln des Gutshauses. Karl und Max, auch Jupiter und Mercurius genannt, sprachen immer von einer Sintflut an Daten, die sie zu verarbeiten hätten. Ich tat unbeeindruckt und war es auch. Habe denn nicht auch ich mit einer Sintflut zu kämpfen, mit Worten, Begriffen, Bedeutungen und all den möglichen Verknüpfungen und Konstellationen und zudem mit dem ganzen Zeugs zwischen den Zeilen! Diese technischen Menschen glauben immer, sie wären uns überlegen, dabei sind sie es doch, die sich selbst abschaffen und Büttel der Technik sein werden, bald schon. Oder jetzt schon. Und Alkmene? Sie steht draußen auf der Terrasse, den Rücken mir zugewandt, die Zigarette wie immer leicht zitternd zwischen Zeige- und Mittelfinger, der rechte Ellenbogen ruht in der linken Hand. Windstille. Ich erinnere mich: ein ganz bestimmter Tag, ein ganz bestimmter Abend. Jetzt. Oder wieder jetzt? Kein Lüftchen weht, die Bäume und Büsche am Hang starr, wie gemalt, drückende Hitze. Alkmenes Blick ins Weite gerichtet. Die Landschaft ihr zu Füßen. Sanfte Hügel abwärts zum See hin, von dem im Sommer von hier aus nichts zu sehen ist. Ihre hohe, weiße Gestalt. Buchen, Linden, Weiden, unten am See auch Birken und Erlen. Eine einsame Eiche. Die Wiesen vereinzelt hier und da sattgrün, meist aber schon sommerlich verdorrt, strohig. Quer über den Hang wie eine Narbe der gewundene Weg. Nie sah ich jemanden ihn gehen. Jenseits des Sees Strommasten und, kaum zu erkennen im Dunst, zwei Dutzend Windräder, die, so dachte ich jetzt wieder, der Landschaft das Gesicht geben, das sie verdient. Auf Alkmenes immerwährende Klage hin, ich erinnere mich, man verderbe in Deutschland die Landschaften, hatte ich einmal erwidert, die Felder, Nutzwälder, die Straßen, Eisenbahntrassen und Strommasten und die in ihr Bett zu Tode gepressten Flüsse, die Kanäle und auch das Schiffshebewerk ganz in der Nähe, all dies sei doch faktisch Industrie. Und zwar lange schon. Unübersehbar. Sie schwieg dazu. Mein Blick, scheint mir, trifft sich den Bruchteil einer Sekunde mit dem eines Kindes in der Bahn Richtung Pankow, ich erkenne nicht, ob Junge oder Mädchen, dann Hinterköpfe und dann Leere. Ich muss mich täuschen. So oder so.

Ich kneife mich in den Arm, es schmerzt, und dann trete ich hinaus auf die Terrasse. Die Hitze umfängt mich, so als habe sie nur auf ein weiteres Opfer gewartet. Dachte ich das schon damals, das mit der Hitze und dem Opfer, oder denke ich das jetzt? Ist Damals und Jetzt eins? Schräg hinter Alkmene stehend, den Kopf im Schatten, den Körper im gleißenden Licht, zünde ich mir eine Zigarette an. Der Schweiß dringt mir aus allen Poren. „Ich fühle mich sicher“, sagt Alkmene jetzt ganz leise wie zu sich selbst, „mit all diesen auf uns gerichteten, uns verfolgenden Kameras, denen nichts entgeht. Keine Bewegung, kein Ausdruck. Das ist wunderbar! Das Gegenteil vom Erwarteten ist eingetreten, es ist fast so, als passte ich in dieser Weise auf mich selber auf. Manchmal, wenn ich schlaflos bin, sehe ich mir die Videoaufnahmen des Tages an und werde zugleich wieder gesehen von all den Kameraaugen, durch die die Welt mich sieht.“ Sie nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch senkrecht nach oben. Ich sage nichts. „Die folgende Nacht, Sosias“, fährt sie fort, „wieder schlaflos, sehe ich mir dann erneut beim Beobachten meiner selbst zu. Denk dir nur, ich werde so immer eindeutiger ich selbst als je zuvor. Nach innen geht der Weg. Ja! Ich werde mehr und mehr mein eigenes Ich. Als Mensch und als Geist und als eine Projektion. Das Außen bleibt als Schattenwelt zurück, wie einst Novalis schrieb. Die Tiefen unsers Geistes, so schrieb er, kennen wir nicht, nach Innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt. Das sagt Novalis in Blüthenstaub. Wir sprachen einmal darüber, weißt du noch, Sosias? Amphitryon kann das nicht verstehen. Er ist kein Leser, er ist anders als du und ich. Du begreifst alles, das Projekt, die Kunst, den Sinn darin, mich.“

Die Hitze des nicht enden wollenden Sommers. Ich erinnere mich. Sie wirbt um mich, dachte ich, denke ich, um des Projektes, um ihrer selbst willen. Ich kannte das alles, diese Sätze aus einem ihrer Vorträge, das gehauchte Pathos. Wusste sie denn wirklich nicht, wie sinnlos das war? Am Morgen eben diese Tages hatte Alkmene die Entscheidung getroffen, die geplante Beendigung der Videoaufzeichnung unseres Lebens auf dem Gutshof zu verschieben. Den Übergang zur infinitiven Phase vorerst abzusagen! Und das, nachdem alles bis ins Kleinste geplant und von mir schließlich in Texte gegossen worden war. Zunächst solche, die die Form von Antragsprosa hatten, ganz zuletzt Pressemitteilungen, die bedeutungsschwangerer nicht hätten formuliert sein können. Doch nun würden, anders als vorgesehen, die Kameras im Wohnraum und auf der Terrasse weiter in Funktion bleiben. Die Übertragung in alle Welt per Internet ginge weiter. Dabei ist die Beendigung des Blickes auf uns Menschen, des Blickes aus der Götterperspektive gewissermaßen, ein absolut zwingender Teil des Projekts. Immer gewesen. Das Ende ist die Botschaft! So war es gedacht und konzipiert gewesen. Wir Menschen hier unten. Die Götter dort oben, die immerzu wissen, was der Mensch tut. Am Ende des Stückes aber, unseres Stückes, würde es dann eben nicht zu einem Deus ex machina kommen. Kein Gott soll, kein Gott darf durch ein Machtwort oder durch eine göttliche Tat den Konflikt lösen, so wie dies in der Tragikomödie Amphitryon des Plautus und in so vielen antiken Dramen stattfindet. Eben dies wollten wir doch ändern, es endlich anders haben, es als Möglichkeit auslöschen! Arbeit am Mythos! Den Göttern das Wissen abschneiden! Das entscheidende Blatt in die Hand bekommen. Es ausspielen. Uns selbst zwar auch Doppelgänger erschaffen, wenn wir es denn wollen, so wie dies Jupiter tat aus eigenem Willen heraus, als er Alkmene in Gestalt ihres Gatten Amphitryon erschien. Was hatten wir nicht philosophiert, Alkmene, Amphitryon und ich, über das Erschaffen von Doppelgängern in den Amphitryon-Stücken all dieser vielen Autoren, die Plautus folgten! Und immer waren es naturgemäß die Götter, die als Doppelgänger auftraten, zum eigenen Vorteil und gegen die Interessen der Menschen. Jupiter, der Amphitryons Gestalt annimmt, um in langer Nacht Alkmene zu verführen und zu schwängern! Um Herakles zu zeugen, den Zwillingsbruder des Iphikles, der indes von Amphitryon gezeugt wurde. Eine Doppelschwangerschaft, die einer göttlichen Anmaßung entsprang. Einer Anmaßung, die wir brechen wollten! Indem wir am Ende unsere eigenen Doppelgänger schaffen, als Bilder, als Hologramme, und dies alles ohne Schaden anzurichten, rein aus Lust! Das war die Idee, das war der Plan gewesen. Alkmene aber hatte alles zerstört an diesem Morgen. Ausgerechnet sie. Mit einem Federstrich. Einer Fortsetzung über das zwingende Ende hinaus. All die jahrelange Arbeit war plötzlich umsonst, so dachte ich dort auf der Terrasse, im Rücken von Alkmene stehend, die Planung, die Anträge, die Finanzierung, die Ausarbeitung, die Installation der Technik, die Broschüren. Ganze Tage auch mit Sponsoren. Die reinste Quälerei, doch für Alkmene ist so etwas immer eine Feier gewesen, sie liebt das Aufrufen hoher Geldbeträge, final praktiziert im zum Abschluss der Gespräche mit den Geldgebern privat gemieteten Restaurant in Charlottenburg. Die Herren der Werbeabteilung des deutschen Autokonzerns nahmen es lässig, rauchten wie Alkmene trotz Rauchverbot, zogen ihre teuren Jacketts aus und lockerten die Krawatten. Amphitryon hingegen ganz pragmatisch, Jupiter und Mercurius absolut selbstsicher, Könige ihrer Technikwelt. Ich aber quälte mich. Statt mir Notizen zu machen, wie ich sollte, wer weiß, sagte Alkmene, was die alles von sich geben, kritzelte ich nichts weiter als Strichmännchen in mein Notizbuch. Gute Miene zum bösen Spiel. Nicht mal rausgehen zum Rauchen konnte man. Der Übergang zur zweiten, infinitiven Projektphase, Alkmene erklärte es den Herren damals noch einmal ausführlich, ich erinnere mich, sei die Finissage in Basel. Das sei definitiv der epochemachende Übergang in das Zeitalter, in dem wir uns, so Alkmene, alle selbst begegneten. Sich selbst, dem eigenen Ich begegnen. Dem Doppelgänger. Hergestellt aus Daten, die kein anderer Mensch besäße. Eben an dieser Stelle ergriff ich damals das Wort. Alkmene zuckte zusammen, sagte aber nichts. Ich erklärte, wie ausgesprochen gefährlich es sein könne, sich selbst zu begegnen. Dies zeige sich etwa in Jean Pauls Roman Titan, wo Leibgeber, aus dem früheren Roman Siebenkäs, der hier nun Schoppe hieße, sich im Sinne des Wortes zu Tode erschreckt, weil er sich vermeintlich plötzlich seinem anderen Ich gegenübersieht, während dieses Ich aber nur sein Freund Siebenkäs ist, der ihm bis aufs Haar gleicht. Die Herren lächelten, Interesse heuchelnd, sie verstanden kein Wort. Schoppe beziehungsweise Leibgeber habe eben zu intensiv, so schloss ich, die Ich-Philosophie Johann Gottlieb Fichtes studiert, so dass er immer mehr fürchtete, der Ich werde ihm tatsächlich einmal begegnen. Die Männer nickten meine kleine Geschichte ab, einer sagte laut danke, worauf ein anderer mit den Fingern schnippte und neue Flaschen orderte. Da erkannte ich die Gier in diesen kahl gefressenen Gesichtern, den toten Augen. Irgendwann ging ich einfach zum Hinterausgang raus und schleppte mich in mein Hotel an die Bar. „Verhandlungen?“, fragte der Barkeeper, ein schwarzgewandeter Mitfünziger mit Glatze und Koteletten, der an diesem Abend bereits in die Phase des Polierens polierter Gläser eingetreten war. „Ja“, sagte ich, „sehr wichtige Verhandlungen. Wir werden die Welt verändern! Ach was, retten! Wir retten die Welt!“ Er grinste. „Kenn ich“, sagte er und stellte das Glas ins Regal, „was glauben Sie, was hier abgeht an Weltrettung, wenn Berlinale ist oder Grüne Woche oder Modemesse oder …“ „Kirchentag?“ „Ja, Kirchentag!“

Ich erinnerte mich an den Abend, während sie jetzt schweigend rauchte. Spürt sie denn nicht, dachte ich wieder, wie aussichtslos es ist, mich umgarnen zu wollen? Warum sprach sie die Angelegenheit nicht wenigstens deutlich an und erklärte, warum sie über alle Köpfe hinweg eine Entscheidung getroffen hat, die das Projekt zerstörten? Karl und Max mochte das egal sein, sie hatten ihre Verträge, der Geist des Unternehmens war ihnen egal. Aber für mich und für Amphitryon war diese Änderung des Konzepts eine Sinnentleerung. Hatte sie Amphitryon überhaupt davon schon in Kenntnis gesetzt? Ein kleiner Ruck ging plötzlich durch ihren Körper, so als sei ein Hebel umgelegt worden. Langsam schritt sie über die Wiese, den Weg querend den Hügel hinab, um schließlich zwischen den Bäumen in tiefem Schatten zu verschwinden. Eine hohe, weiße Gestalt. Meine Tage hier, dachte ich, ihr nachsehend, sind gezählt. Bald schon würde ich noch einmal nach Basel reisen müssen zur Unterstützung Amphitryons. Vor der Finissage waren die Verkaufsverhandlungen zum Abschluss zu bringen. Alkmene wird derweil dem Konzept gemäß auf dem Gutshof bleiben und ihr Leben zu leben haben. Ein Leben, dem sich bald schon eine zweite Alkmene und ein zweiter Amphitryon und ein zweiter Sosias hinzugesellen würde, ganz zu schweigen vom gedoppelten Jupiter und doppelten Mercurius. Alles war vorbereitet, die Herstellung der Hologramme lag in den Händen von Karl und Max, manches war auch ausgelagert worden an eine Firma in London. Nur dass dies alles eben, anders als geplant, weiterhin gefilmt, beobachtet, gespeichert und von oben überwacht werden soll! Kein Bruch also, so will es Alkmene, keine Selbstermächtigung des Menschen, kein Auslöschen des Deus ex machina, kein Kappen der Fäden, an denen wir alle hängen! Was für ein falsches Theater, dachte ich, an dem ich aber nicht mehr teilhätte, denn ich würde nicht, wie geplant und selbstverständlich von allen erwartet, von Basel aus auf den Gutshof zurückkehren. Alkmene ging, das wusste ich, ohne jeden Zweifel davon aus, dass ich weiterhin den Sosias spielte. Sie glaubte, ich hätte mich derart an all die Bequemlichkeiten gewöhnt, das mietfreie Wohnen, die zum Leben gut ausreichende Bezahlung, dass ich nicht einmal auf die Idee käme, den Dienst zu quittieren. Doch sie würde mit dem Hologramm-Sosias Vorlieb nehmen müssen. Verschwinden werde ich, ohne ein Wort, ohne den dummen Vertrag zu kündigen, ohne mich an irgendeine Abmachung zu halten, dachte ich lächelnd und blinzelte in die Sonne, während Alkmene schemenhaft im Schatten zwischen den Bäumen unten am See auftauchte und gleich wieder verschwunden war. Ich ging zurück ins Haus. Eine der Außenkameras nahm meine Bewegung auf, verfolgte mich und übergab mich passgenau an eine der innen angebrachten Kameras, die ebenfalls meinen Schritten folgte, kaum hörbar surrend. Alle Welt konnte das sehen. Live in der Basler Kunsthalle und auf dem Bildschirm an der Außenfassade des Gebäudes. Und auch jeder Besucher im Internet. Die Zählmaschine zählte mal fünfzehn oder zwanzig, aber auch mal dreihundert Besucher pro Tag. Zu Anfang hatte ich noch ständig an das Aufgenommenwerden gedacht, fiel mir ein, und genau abgewogen, was ich tat, nun aber war ich längst gewöhnt an das Auge der Kamera, an das Auge der Welt. Banal ist das alles, dachte ich jetzt, so wie ich das schon oft gedacht habe, es interessiert niemanden. Wir alle hier bewegen uns unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, wir unterfliegen das Radar, nicht weil wir es wollen, sondern weil wir nicht hochkommen, nicht hinauf in die Lüfte der medialen Welt.

Bevor ich das Haus verlasse, vollführe ich eine meiner üblichen Pirouetten, reiße die Arme nach hinten und verbeuge mich, mit den Fingernägeln über den Fußboden kratzend, zur nächstliegenden Kamera hin. Ich weiß, dass alle Blicke zur Kamera, jeder Bezug zum Beobachtetwerden, Mimik, Gestik, Körperhaltung, von Karl und Max penibel herausgerechnet werden müssen aus all dem Material, aus dem die Hologramme entstehen. Herausgerechnet! So sagen sie. Nicht geschnitten. Gerechnet. Sie sitzen vor ihren Rechnern und den Monitoren und rechnen unsere Doppelgänger aus, unsere anderen Ichs, die sich ganz natürlich verhalten müssen. Ein Hologramm habe sich sozusagen zu benehmen, so die Beiden unisono biederen Sinnes einmal gesprächsweise gegenüber mir. Ich habe versucht, ihnen den besonderen Witz zu erklären, wenn ein Hologramm sich vor seinem Meister ins Leere hinein verbeugt, und dass es durchaus zum Geist des Projekts passe, aber darauf konnten sie wohl nicht recht eingehen, wie ich mich erinnere, weil sie es nicht verstanden. Ich probierte es noch mit dem Beispiel des Beiseitesprechens zum Publikum hin, bei Moliere, der Commedia dell’arte, erläuterte den Zweck des Ausderrollefallens, aber ohne Erfolg, eine Verständigung war nicht möglich. Wahrscheinlich dachten sie, ich erfände das alles.

Ohne weiteres Theater gehe ich schnurstracks durch den Flur auf den Hof hinaus und zu meinem Bungalow. Zwei Minuten später stehe ich vor dem einzig modernen Gebäude der Anlage. Außerhalb der Videoüberwachung, außerhalb des Projekts. Meinem Bungalow. Ich habe, überlege ich, eine Menge zu tun, bevor ich verschwinde. Unauffällig verschwinde. Ich gehe hinein, laufe durch den kurzen Flur in den Wohnbereich und werfe mich, wie ich es gerne tue, schwungvoll in den Rollen-Sessel. So gleite ich, die Füße ausstreckend und mich langmachend, drei Meter Richtung Küchenzeile. Aber nicht nur verschwinden muss ich, denke ich, auch entleeren werde ich mich müssen. Buchstäblich, denn bin ich nicht tatsächlich randvoll mit Texten zu dem Projekt. Raus damit, auskotzen sollte ich sie. Und ist dieses Verfassen von Verkaufstexten für ein Kunstprodukt nicht überhaupt von Anfang an ein Verrat gewesen? An mir selbst. War ich nicht einfach der falsche Mann für solch eine Aufgabe? Und tatsächlich bin ich letztlich unfähig gewesen in all der Zeit, auch nur eine einzige eigene Zeile zu schreiben. Und nun auch noch diese Entscheidung zur Fortsetzung der ersten statt des Einleitens der zweiten Projektphase! Erst jetzt wurde mir richtig klar, wie sehr ich diese letzte, infinitive Projektphase als Befreiung gesehen hatte. Von den Zwängen des Projekts und von allem, was die Figur des Sosias mit mir machte. Zwar hatten Amphitryon und ich schon sehr früh durchgesetzt, nicht in albernen antiken Gewändern herumlaufen zu müssen, aber eine Rolle ist eine Rolle, ein Name ein Name. Sosias! Wer will schon ewig Sklave und Diener sein? Ewig überwacht? Und wer weiß, überlege ich, wie lange Alkmene das Weiterführen der ersten Phase schon geplant hatte? Ob denn, denke ich wieder, wenn schon nicht ich und wahrscheinlich auch nicht Amphitryon, dann doch Karl und Max eingeweiht waren? Unsere Götter auf Zeit, gewissermaßen. Oder hatten sie, fällt mir ein, vielleicht sogar die Idee gehabt!

Ich springe auf, laufe hinaus, setze mich auf den Klappstuhl und starre die Waldschneise hinunter Richtung See, der gleißend in der Abendsonne liegt, ganz rund, ein Musterexemplar seiner Art. Ich lasse den heutigen Morgen Revue passieren. Alkmene im Wohnbereich. Das weiße Kleid. Barfuß. Die dunklen, glatten Haare, mit Nadeln zu einem Knoten zusammengesteckt. Die Kameras folgen ihr, mal die eine, mal die andere, das leichte Surren. Sie geht auf und ab, das Telefon ans Ohr gepresst. Ich ohne Beachtung. Die Welt sieht zu, sieht mich stehen, statuengleich. Im Hintergrund. Stumme Bilder. „Eine Änderung, Molitor“, ruft sie, kaum war am anderen Ende abgenommen worden, ins Telefon hinein, „es geht um den Übergang von der ersten zur zweiten Projektphase. Die kann ohne einen Käufer nicht beginnen! Nicht stattfinden! Verstehen Sie, Molitor! Unmöglich!“ Ich sehe an ihrem Gesicht, Molitor, unser Anwalt und Berater, hat Einwände, die er ihr klarzumachen versucht. Sie geht hinaus auf den Hof, die Kameras erstarren und sehen nur mich, der ich von meinem Platz am Fenster sie auf und ab gehen sehe. Immer noch barfuß. Kies knirscht unter ihren Schritten. Die Worte Finanzierung, Geld, Abschreibung dringen zu mir durch, man könnte glauben, dachte ich, eine Bankerin macht Geschäfte. Dann verschwindet sie den Weg hinauf Richtung Straße. Leer der Hof. Ich gehe hinaus. Alkeme x-beinig auf der Treppe des alten Verwaltungsgebäudes, tot und leer ragt es hinter ihr auf. Links das Gerippe der Feuertreppe, die in den Himmel führt, zum Dachboden, auf dem Karl und Max ihr Studio haben. Sie spricht erregt ins Telefon, hören aber kann ich nichts. Verbissener Gesichtsausdruck, rauchend, die Knie fest aneinandergepresst. Im Bereich der Kameras würde sie sich nie so gehen lassen. Sie stößt den Rauch senkrecht nach oben, Kopf im Nacken. Die rot-weiß-getigerte Hofkatze beschreibt einen Bogen um sie, bevor sie in der spaltbreit offenstehenden Tür des alten Gebäudes verschwindet. Ich gehe quer über den Hof zum Bungalow, ich muss etwas tun, so dachte ich, und als ich nach ein paar Minuten, den Ordner mit den Verträgen unter dem Arm, zurückkomme, sitzt die Katze zwei, drei Meter neben Alkmene und gähnt. Ich setze mich auf die andere Seite. Ein scharfer Schweißgeruch geht von Alkmene aus. Whisky, Zigaretten und Angst, denke ich. Angst vor allem. Alkmene hat Angst! „Alkmene“, sage ich zu leise und zu sanft, ich merke das, ich spreche wie mit einem beleidigten Kind, „nach dem Vertrag sind wir verpflichtet, die Aufnahmetechnik fristgerecht zu deinstallieren und den vorherigen Zustand wieder herzustellen, bevor dann die Technik zur Projektion der Hologramme installiert wird.“ Sie zögert. „Sagt Molitor auch“, erwidert sie endlich, „du brauchst mir die Verträge nicht zu zeigen, Sosias, ich kenne sie auswendig. Wenn Amphitryon nur endlich einen Käufer auftreiben würde! Den Schweizer Russen meinetwegen oder die Italiener! Ganz egal, Hauptsache einen Käufer!“

So Alkmene heute morgen. Doch war sie nicht schon eine Weile übernervös gewesen! Ich erinnere mich gut an ein Arbeitstreffen. Oben im Himmel. Max zeigt uns einige Sequenzen, in denen die Hologramme interagieren. Es ruckelt. Ich erinnere mich. „Die Doppelgänger! Leben sollen sie! Leben!“, rief Alkmene dann auf einmal mit Pathos. Wir anderen aber schwiegen, niemand sagte etwas, minutenlang, die Katze schnurrte uns um die Beine, die Hologramme ruckelten durch den Raum, waren kurz mal verschwunden, tauchten dann an anderer Stelle wieder auf, bis Karl endlich die Vorführung beendete und so die Stille brach. Die Software, so referierte er mit ruhiger Stimme, wie ein Großvater, der mit seinen Enkeln spricht, sei aus einer von ihnen bereits zuvor eingesetzten weiterentwickelt. Es sei machbar, nicht nur zuvor aufgenommene Sequenzen eins zu eins als Hologramme ablaufen zu lassen, sondern ganze Abläufe neu zu kreieren, die schließlich aus sich selbst heraus stattfinden würden. Selbständig. Lebendig. Noch viel Arbeit sei das, es koste Geld und Zeit, doch der point of no return sei nicht mehr fern. Alkmene hing an seinen Lippen. „Die Software“, so erklärte er weiter, „schreibt sich vereinfacht gesagt von einem bestimmten Punkt an selbst. Die Hologramme handeln wie Schauspieler ohne festes Drehbuch, aber auf einer fest definierten Bühne und in einem fest definierten Rollenprofil, und je länger das System läuft“, fuhr er ruhig fort, „desto besser wird es funktionieren. Die Hologramme reagieren aufeinander und leben ihr eigenes Leben. Und wir hätten da auch noch eine weitere Idee.“ Er warf einen Blick auf Max, der sich mit Daumen und Zeigefinger enervierend lange den Bart strich, um dann plötzlich und ohne jedes einleitende Wort mit der Idee herauszurücken, die Hologramme sprechen zu lassen. „Dennoch sprechen zu lassen, dennoch“, sagte er mit einem Seitenblick zu mir. Das sei, fuhr er, noch bevor ich etwas sagen konnte, fort, zwar ambitioniert, sehr sogar, und es erfordere natürlich auch noch eine technische Nachrüstung, aber es sei möglich, auch wenn die Aufnahmen selbst weiter stumm blieben. Ich atmete tief ein und aus. Meine Idee ganz zu Beginn, auch Audioaufzeichnungen zu machen, war letztlich mit der Begründung abgebügelt worden, ein Sprechen der Hologramme zerstöre das Geisterhafte der ganzen Installation. Das Geisterhafte! Alkmene überlegte. „So lange es sich nicht um Banales handelt“, sagte sie endlich, „sondern um etwas Neues, Lyrisches, Poetisches, Absurdes, etwas nach dem Zufallsprinzip vom Rechner Zusammengestelltes, wie auch immer, bin ich hundertprozentig dafür! Eine gute Idee.“ Sie nickte den Beiden zu. Ich sagte nichts. Warum Streit beginnen? Auch Amphitryon tippte etwas in seinen Rechner und tat teilnahmslos. So macht er das immer, wenn etwas im Raum steht.

So hatten wir alle, oben im Studio der Götter, im Himmel, ganze Sequenzen in die Mikrofone zu sprechen. Seitenlang Romanauszüge, Zeitungsartikel, Gebrauchsanweisungen, das Alphabet, Vor- und Nachsilben und so weiter, aber auch Kehl-, Zisch- und Nasallaute, Murmeln, Räuspern, Husten, Gähnen, Niesen, Schniefen, Stöhnen, Weinen, Lachen, auch Schreien wie am Spieß. Es war grotesk. Ein Freund von Karl und Max, der bei der BBC in London arbeitet, führte Regie und glotzte uns per Monitor an, brachte hier und da Einwände vor und tat sich auch sonst wichtig. Ich frage mich, warum ich jetzt an all das denke, auf dem Klappstuhl sitzend, die Sonne tiefrot zwischen Horizont und dunklen, sich wild auftürmenden Wolken. Ich denke auch wieder an Alkmene auf der Treppe, nach dem Telefonat mit Molitor. Das war heute am Vormittag gewesen. Ich darf nicht durcheinanderkommen!

Plötzlich ein Geräusch. Unter tausenden würde ich es herauskennen, und da kommt auch schon die stämmige, uniformierte Gestalt vom Hof her leicht hinkend auf mich zu, lässig die Hand zum Gruße an die Mütze legend. Der Wachtmeister. Er schreitet, trotz seines Handicaps, mit einer dienstlichen Würde sondergleichen einher, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Gelegentlich, vor allem am Abend, sieht man ihn aber auch auf seinem stolzen, bordeauxfarbenen Hollandrad, das der hügeligen Landschaft wegen mit einer 8-Gang-Schaltung (mit Freilauf) ausgestattet ist, durch die Gemeinde radeln. „Wachtmeister!“, sage ich laut und militärisch knapp. „Herr Sosias“, erwidert er jovial und reicht mir die Hand. Er nimmt einen der Klappstühle, klappt ihn aus, lässt ihn auf die Füße fallen und setzt sich schwergewichtig drauf. „Schöner Ausblick hier“, sagt er mit seinem tiefen Bass, „auch und besonders im Sommer. Hab die Schneise selbst geschlagen, habe ich das mal erwähnt?“ Ich sage nichts, denn er erwähnt es jedes Mal aufs Neue. Vielleicht machte er sich einen Spaß daraus, mich zu verwirren. Oder es ist einfach seine Art, Zusammenkünfte rituell zu beginnen. Wie auch immer. Hinter dem rechten Ohr hat er eine Zigarette stecken, weswegen er die Dienstmütze, die wie die Uniform ohne jedes Abzeichen ist, ein wenig schief trägt. Ich gebe ihm Feuer. Wir rauchen schweigend. Der See glimmt matt in naher Ferne. „Auch am Bau Ihres Bungalows war ich beteiligt“, sagt er schließlich, „das können Sie mir glauben, ich war mit der Materialanlieferung betraut. Hinein durfte ich nicht, die Baustelle war streng bewacht. Am Anfang lag noch keine behördliche Genehmigung vor, nichts Offizielles, Sie verstehen! Am Ende gab es natürlich die Baugenehmigung, aber da stand die Kiste schon. Der Blick auf den See war damals übrigens picobello schnurgerade, nicht so verwachsen wie heute. Das nur am Rande, Herr Sosias, damit Sie im Bilde sind.“ Ich nicke knapp. Er nimmt einen letzten, tiefen Zug bis zum Filter, bläst den Rauch auf seine Stiefel, wirft die Kippe auf den Boden und tritt sie mit dem Absatz in den Kies. Auch die Historie des Bungalowbaus kenne ich. Manchmal geht er mehr ins Detail, dann kommen die Parteibonzen zur Sprache und die Angelegenheit mit den Fenstern und Türen, baugleich denen des Kanzlerbungalows in Bonn, BRD. Doppelte Bestellung, vermeintlich aus Versehen, bewies aber damals, so der Wachtmeister jedes Mal mit Nachdruck, wieder einmal die Überlegenheit des Sozialismus. Diese Fenster-und-Türen-Geschichte, die, denke ich, nicht stimmen kann, kennt in Bad Wutzenwalde jedes Kind. Und dann, so geht die Geschichte weiter, sägte sich einer in den Fuß, ein anderer wurde von einem Baum erschlagen, aber der Blick zum See sei frei gewesen. Das mit dem Fuß und dem toten Mann erzählt der Wachtmeister nur, wenn er seinen Flachmann mit dem selbsthergestellten Schlehengin der Innentasche seiner Uniformjacke entnimmt und ich infolgedessen die Schnapsgläser aus dem Sideboard hole. Der Schlehengin übrigens werde, auch das erzählt er bei diesen Gelegenheiten, mit Ingredienzien hergestellt, die er seit je her, schon zu Ostzeiten, von seinem Vetter in Thüringen bezieht, der in Bad Langensalza ebenso wie er selbst Wachtmeister gewesen sei und immer noch ist. Eine Cousine aus Warin versuche zwar bis heute, ihn zur Herstellung von Sanddornschnaps zu animieren, das aber lehne er rundheraus ab. Heute aber würde es keinen Schlehengin geben, denn der Wachtmeister sitzt, die Hände auf dem Bauch, ganz friedlich und unbeweglich neben mir, eine Zigarette hinter dem rechten Ohr. Ich sah ihn nie eine aus einer Schachtel herausfingern und sie sich hinter das Ohr klemmen. Es war, als würde die Dinger einfach nachwachsen. „Wie ich höre“, sagt er plötzlich leise ohne mich anzusehen, „gibt es Probleme beim Abverkauf der Kunst?“ Ich ziehe heftig an meiner Zigarette, erwische den Filter und huste. Woher wusste der Kerl das nun schon wieder? Wusste er etwa auch, dass Alkmene an diesem Morgen die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes verschoben hatte, eben weil noch kein Sammler und kein Museum das Projekt hat kaufen wollen? Nicht einmal der Autokonzern für das hauseigene Autokonzernmuseum. Wusste er sogar mehr als ich? Das war die Frage. Der See jetzt wie aus Blei, die Wolken mit rosa Rand. In der Mitte des Sees vage zu erkennen ein Ruderboot und Gestalten, stehend, in ihm. Manchmal wird getaucht, mit Ausrüstung, sommers wie winters. Der See soll ziemlich tief sein, tiefer als man denkt. „Nun“, sagt der Wachtmeister und reißt mich aus meinen Gedanken, „der Dienst ruft. Glückauf, mein Sohn!“ Ich erhebe mich ebenfalls und reiche ihm die Hand. Ein fester Druck, ein scharfer Blick seinerseits, dann wendet er sich um, ja er lässt sich geradezu nach hinten fallen, um sich sogleich neben dem Bungalow in die Büsche zu schlagen. Das tut er immer, selbst in tiefster Dunkelheit, eine Abkürzung zur Straße hin. Der Gute! Er nähme nie den selben Weg zurück, das könne er sich als Amtsperson nicht erlauben, so sagt er oft und zwinkert mir jedes Mal verschwörerisch zu, worauf ich wissend nicke. Dabei weiß ich nicht im mindesten, was das zu bedeuten hat. Ich setze mich wieder. Ein warmer Landregen, der nichts kaputt machen würde, beginnt herabzuperlen. Die verdorrten Wiesen und die Bäume können das gut gebrauchen, denke ich. Ich gehe ins Haus, gieße mir einen großen Whisky ein, die Flasche hatte ich Alkmene geklaut, und fläze mich wieder auf den Klappstuhl. Die nackten Füße strecke ich in den Regen. Der See liegt nun bereits in tiefer Dunkelheit. Ein Boot ist nicht mehr zu erkennen. Und die Wolken schwarz wie Pech. Ich nehme einen Schluck Whisky. Warum bleibe ich nicht einfach hier auf dem Gutshof, denke ich. Trotzdem! Ich könnte eine ruhige Kugel schieben, wenn ich denn wollte, ein wenig Geld beiseitelegen und mich aus allem so weit es geht heraushalten. Doch ich wusste imgrunde genau, warum ich das Projekt würde verlassen müssen. Angst aber habe ich nicht. Weder vor meinem eigenen zweiten Ich als Hologramm, selbst wenn es sprechen könnte, beileibe nicht, nein, und auch nicht vor den beiden Nerds dort droben in ihrem Himmel, die mir allerdings dann doppelt auf die Nerven gehen würden, wenn sie auch noch als Hologramme im Wohnraum und auf der Terrasse herumschleichen oder mit Alkmenes Hologramm in die Sitzlandschaft verschwinden, um Serie gucken. Das ist schon in Wirklichkeit nicht zu ertragen. Ins Haus kommen die Beiden zwar immer als relativ seriöse Menschen, schwarze Jeans, schwarze Shirts, schwarze Vollbärte, auch wenn das in dieser Kombination unschön ist. Kurz darauf aber lümmelen sie auch schon mit Alkmene auf dem Sofa herum, Drinks in der Hand, Zigaretten und Zigarillos rauchend. Freizeit machen nennen sie das. Erwähnte ich, dass sich hinter dem offenen Fachwerk ein Ensemble aus Ledersesseln- und sofas, Sitzwürfeln und zwei dutzend großer Kissen befindet? Das Fenster in der Nische hat Alkmene von einem pensionierten Maurer aus Bad Wutzenwalde eines Tages einfach zumauern lassen, so dass der große Monitor wie ein Altarbild aufgestellt werden konnte. Amphitryon meidet, wie auch ich, den Bereich. Dabei ist alles ganz proper, könnte man denken. Es gibt einen kleinen Barschrank aus den 50er-Jahren, rund und geschmeidig, mit Lamellentüren, gut gefüllt mit Whisky, Wodka, Gin und so weiter. Darauf legt Alkmene großen Wert. Ihr erster Gang, kommt sie nach Hause, ist der zu ihrer Hausbar, wo sie sich einen Whisky eingießt. Sie sei eben seit je her, so erzählt sie, ein großer Fan von Sue Ellen aus der legendären TV-Serie Dallas. Die mache das auch, sich nämlich einen Whisky eingießen, kaum ist sie zuhause. Eine der besten Fernsehserien ever. Sagt Alkmene. Den ersten großen Streit mit ihrem Vater, der Westfernsehen ganz und gar ablehnte, habe sie wegen dieser Serie gehabt. Acht Jahre alt war sie da. Heulend hatte sie im Bett gelegen und so lange gezetert, bis sie es dann doch durfte. Serie gucken! „Ich bin durch eine kapitalistische Serie aus den Staaten zur Künstlerin geworden“, das hatte sie mir schon ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft verraten. Und Sue Ellen sei in Wirklichkeit ebenfalls Künstlerin und habe zwei Ichs, ein starkes und ein vermeintlich schwaches, trotz, ja wegen des Alkohols! Nur die Feigheit der Produzenten habe es damals verhindert, Sue Ellen ganz und gar zu zeigen, als vollständige Person, das wisse sie aus sicherer Quelle. Ich sagte nichts dazu. Auch ich hatte die Serie als Jugendlicher gesehen, aber das einzige, an das ich mich erinnern konnte, waren Riesenhüte, das Lachen von J.R. und Fönfrisuren. Der Wachtmeister, der bei irgendeiner Gelegenheit ins Haus gebeten worden war, lobte übrigens die Gemütlichkeit der Sitzlandschaft, er sagte Sitzecke, ließ sich aber partout nicht dazu überreden, dort Platz zu nehmen.

Überhaupt, der Wachtmeister! Alkmene schien von Anfang an Respekt vor ihm zu haben, während sie manch andere Leute in Bad Wutzenwalde eher von oben herab behandelte, wie Dienstboten. Je nach Laune. Dagegen strafft sie sich geradezu, wenn sie ihn nur kommen hört. Er gibt sich nie auch nur die geringste Mühe, lautlos heranzukommen, ja er hexametert jedes Mal sogar so laut wie nur möglich über den Kies. So sagt er übrigens selbst: Hexametern! Das sei schöner als humpeln zu sagen. Oder hinken. Nicht selten murmelt er gehend auch Verse vor sich hin, die allerdings mit dem antiken Versmaß nicht das Geringste zu tun haben, soweit ich das beurteilen kann. Die Bäckersfrau in Bad Wutzenwalde erzählte mir einmal kurz vor Ladenschluss, ich war der letzte Kunde, der Wachtmeister habe als junger Mann außerordentlich viel gedichtet. Lustige Gedichte mit tieferem Sinn. Dann aber sei er dienstlich abgemahnt und sogar verdächtigt worden, mit dem Klassenfeind zu kooperieren. Eines Tages sei er dann verschwunden gewesen und durch einen Abschnittsbevollmächtigten ersetzt worden, der überhaupt nicht nach Bad Wutzenwalde gepasst habe. „So ein junger Leutnant“, setzte sie nach einer Pause mit bösem Blick hinzu, „ein scharfer Hund, der vorwärtskommen wollte, während der Wachtmeister erstens immer Unterleutnant geblieben ist und zweitens nirgendwo hinwollte und drittens immer Wachtmeister hieß für alle, nie Abschnittsbevollmächtigter.“ Schließlich sei er zurückgekommen und habe seinen Dienst bei der Volkspolizei wieder aufgenommen, lange Jahre aber gar nicht mehr gedichtet, bis er eines Tages in die Backstube gekommen sei und laut verkündet habe, sein Dichten wieder aufzunehmen, auch wenn er seitdem niemandem mehr Einblick gewähre, auch ihr nicht. Sie selbst besäße aber noch eines seiner frühen Gedichte, sie habe es damals gestickt, weil sie es so schön fand. Das sei viel Arbeit gewesen. Es hänge noch immer in ihrem Wohnzimmer und habe auch immer dort gehangen. Hinter der Tür zwar, aber immerhin. Sie zog eine Schublade auf und holte eine große Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Stickarbeit hervor, die könne ich behalten. Auf dem Weg zurück zum Gutshof las ich das Gedicht des Wachtmeisters mehrmals halblaut, Die Meise, und ich fragte mich, ob dieses Gedicht tatsächlich einen ausreichenden Grund hatte hergeben können, ihn vom Dienst zu suspendieren. Aber was wusste ich schon, wie denn die Volkspolizei der DDR getickt hat und die Staatssicherheit. Nix wusste ich. Staatsfeindlich aber erschien mir das Gedicht nicht: Es ging ’ne kleine Meise / einmal auf die Reise / und auf diese Weise / kam sie auch zum Eise. // Dort im ew’gen Eise / ward sie dann zum Greise / denn die Landeschneise/ dort im ew’gen Eise / verlief nunmal im Kreise. // So hat uns’re Meise / dort in dieser Schneise / auf nicht sehr schöne Weise / den Verkehr im Kreise / zu einem hohen Preise / und am Ende dann sehr leise / wenn auch langsam weise / landend auf dem Steise / (diese kreise Schneise) / sterbend auf dem Eise / auf todesstille Weise / zum Grab gemacht / die Meise / (so ’ne Scheise).

Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie mir hinter das rechte Ohr. Wie der Wachtmeister. In seiner Anwesenheit hätte ich das nicht gewagt. Ein Wind ging durch die Bäume, kurz und entschlossen. So saß ich also da. Eine kleine Lampe über meiner Haustür spendete ein wenig Licht. Eine Funzel. Ich ließ die Zigarette, wo sie ist. Seit ich auf dem Land lebte, rauchte und trank ich mehr denn je. Von wegen gesundes Landleben! „Ich muss hier weg, so oder so“, dachte ich laut, stand auf und begann unter dem schmalen Vordach auf und ab zu gehen. Kleine Steinchen drückten sich in meine Fußsohlen. Der Regen fiel knapp an mir vorbei. Keine Kamera folgte mir hier, außerhalb des Projekts, doch ich stellte mir, wie ich es oft tat, umstandslos eine vor. Ein leises Surren. Ich spürte das Auge. Genau so hatte ich das in unserem Katalog für die Basler Ausstellung beschrieben. Das beständige Gefühl, beobachtet zu werden. Das Wissen um die permanente Möglichkeit des Verfolgt- und Beobachtetwerdens durch ein technisches Auge. Gefühl und Wissen! Ein Essay über die Entstehung der Intim- und Privatsphäre und deren womöglich restloser Auflösung durch Datenerfassung und die ständige Überwachung jedes einzelnen Individuums, nicht zuletzt auch durch sich selbst. So eine Art Pietismus ohne Religion. Ein Mensch, so schrieb ich, der sich überwacht fühlt, ist überwacht! Die Digitalisierung frisst ihre Kinder, so die Überschrift des Textes. Ich hatte mir viel davon versprochen, Resonanz aber gab es noch keine, denn der Text ist nicht online, auch nicht die Übersetzung ins Englische. Alkmene hatte mir umstandslos im Brustton der Überzeugung erklärt, was für eine wunderbare Pointe es doch sei, ausgerechnet diesen Text nur auf Papier lesen zu können. Auf meine Nachfragen hin, Wochen und Wochen später, ob man den Text nicht endlich auf die Website, zu deren Dashboard nur Karl, Max und Alkmene Zugang haben, stellen könne, schüttelte sie immer nur den Kopf und schwieg. „Sobald ich aber hier weg bin“, dachte ich und sah direkt in die von mir imaginierte Kamera über meinem Kopf, „geht der Text online an die Öffentlichkeit, so wahr ich Arno heiße und nicht Sosias bin!“ Ich zündete mir die Zigarette dann doch an, sog den Rauch tief in die Lunge und marschierte kurzentschlossen barfuß durch den Regen Richtung Gutshaus. Im Wohnraum niemand, von der Katze einmal abgesehen, die gut ausbalanciert auf der schmalen Lehne eines Stuhls liegt und über die leere, glänzende Tischplatte glotzt. Auch die Terrasse leer. Dann glaubte ich Alkmene vage, als eine Ahnung von Weiß, zwischen den Stämmen des kleinen Waldstücks unten am See erkennen zu können. Manchmal lief sie lange, selbst bei schlechtestem Wetter, zwischen den Bäumen hindurch, die Arme vor der Brust verschränkt. Auch sie, dachte ich und warf einen scheelen Blick zu der Kamera schräg hinter mir, entzog sich der Beobachtung, so oft sie konnte. Trotz ihres Bekenntnisses zum Beobachtetwerden! Ich trat hinaus, ein fahles Licht bestrich die Terrasse, und ging ein paar Schritte zur Wiese hin. Das Auge der Kamera folgte leise surrend, ich ging wieder zurück, wieder hin, wieder her, wieder hin. Ich dachte gehend nach, im Regen, und das sollte die Welt da draußen ruhig mitbekommen, wo ich doch sonst schon keine große Rolle zu spielen hatte. Nicht spielen wollte! Fest jedenfalls steht, überlegte ich, dass ich mich ganz gegen meine Absicht zu einer Art Sekretär entwickelt hatte, ich, Sosias, der ich im richtigen Leben Arno Scheerbart heiße, während Amphitryon zum Projektmanager wurde und Alkmene die alles dominierende Künstlerin, die in der Weltkunstszene bald schon in aller Munde sein würde. So jedenfalls ihre Hoffnung, ihr Plan. Nie habe ich einen ehrgeizigeren Menschen erlebt als sie. Zugleich aber gilt sie als ruhig und geduldig, das wusste ich durchaus. Abgebrüht würde ich das eher nennen, denn das ist sie auf jeden Fall. So zeigte sie etwa keine sichtbare Reaktion, als ein Kulturjournalist ihr gleich in der ersten Kritik schon am Tag nach der Vernissage in Basel umstandslos Überkitsch, so das Wort, vorwarf. Überkitsch! Das Tragen der halbtransparenten, an die griechische Antike angelehnten weißen Kleider mit all dem Faltenwerk und das halbnackte Herumgehen des Nachts bediene nicht mehr als den Voyeurismus des Publikums, so schrieb er. Ein Artikel kurz darauf in der vierzehntäglich erscheinenden Schweizer Kunstzeitung Künstlii, ich las ihn ihr vor, hatte die Überschrift Riefenstahl reloaded. Die Kritikerin sprach davon, das fiel mir wieder ein, während der weiße Fleck in der Dunkelheit näherkam und tatsächlich zu Alkmene wurde, die ganze Installation sei nichts weiter als die reinste Pornografie, und zwar schlechte, die Direktübertragung der Bilder in die Kunsthalle und ins Internet heutigentags völlig banal. Oft, so schrieb sie, säßen Jugendliche draußen vor dem in halber Fassadenhöhe angebrachten Monitor und johlten laut, wenn Alkmene im fernen Ostdeutschland im Wohnraum auf und ab ginge oder affektiert rauche. Das muss Alkmene getroffen haben! Anzumerken aber war ihr nichts. Meinen Essay aber hat auch Künstlii nicht erwähnt. Ich drückte wütend die Zigarette im großen Standaschenbecher aus, den Alkmene für teuer Geld bei ebay erstanden hatte. „Ich muss hier weg“, murmelte ich noch einmal vor mich hin und ging, begleitet vom aufgeregten Surren der Kamera, großen Schrittes ins Haus, starrte die Katze an und machte mich dann über den Hof zu meinem Bungalow davon. Nur weg hier, dachte ich, nur weg.

III

Ich setze den Geländewagen rückwärts an den Bungalow heran. Vier große Pakete mit meinen Habseligkeiten stehen bereit, adressiert an eine Spedition im Wedding, bei der ich die kleinstmögliche Lagerfläche gemietet habe, einen Kubikmeter. Beheizt. Bezahlt für ein Jahr im Voraus. Beim Packen all diese Bilder in meinem Kopf, Erinnerungen, schwarz-weiß, grün-beige. Bootsausflüge auf der Alten Oder. Radtouren durch die Wälder. Alkoholselige Abende auf der Terrasse oder am See unten. Der Kampf gegen die Mücken. Purzelbaumwettbewerbe die Wiese runter, wenn Freunde mit Kindern da waren. Meist aber Ruhe. Alkmene und Amphitryon betrieben ihre Kunst. Ölbilder, Objekte, Installationen. Ich schrieb meine Kurzgeschichten und Novellen und nebenbei die Texte für Ankündigungen, Broschüren, Kataloge und die Website. Gelegentlich ein schlecht bezahltes Lektorat. Gebrauchstexte. Wir kamen über die Runden. Jeder für sich und alle zusammen. Schönste Ordnung. Bis das Projekt Amphitryon Komplex Gestalt annahm. Pläne wurden geschmiedet. Bald schon riefen wir uns mit den Projektnamen, Alkmene, Amphitryon, Sosias, erst noch lächelnd, dann mit allem Ernst. Schließlich stellten wir Anträge auf Förderung. Der Anfang vom Ende.

Genau genommen aber, dachte ich jetzt und hievte die Pakete auf die Ladefläche, kam erst mit Karl und Max etwas ins Spiel, das einen anderen Sound hatte. Die Ankunft. Wir konnten den LKW hören, bevor wir ihn sahen. Die Arme vor der Brust verschränkt standen wir auf dem Hof. Schweigend zu warten. Der Zufahrtsweg seit Ostzeiten nicht mehr repariert. Schlaglöcher, Mulden, weggebrochene Ränder. Schwer schwankend kommt der LKW schließlich näher, ein geliehener 7,5-Tonner, Kurve um Kurve, kaum in Schrittgeschwindigkeit. In der Frontscheibe spiegelt sich die beginnende Dämmerung. Rotorange, dunkelblau. Zwei, drei trockene Äste werden krachend von den Bäumen gerissen. Der Motor heult immer wieder auf, dumpfes Gebrüll. Eine Kuhle, in der oft das Wasser steht, wird nur mit Mühe gemeistert. Wir drei rühren uns nicht vom Fleck. In der letzten Kehre vor dem alten Verwaltungsgebäude verbiegt sich der ganze Wagen noch einmal und knarzt, als schriee er vor Schmerzen, rollt dann aber, schwankend noch, doch siegreich, so denke ich in diesem Augenblick tatsächlich, siegreich, auf uns zu. Der Motor erstirbt. Zwei dünne, vollbärtige Männer springen heraus, schwarze Jeans, schwarze Turnschuh, dunkelgraue Rollkragenpullover, und landen sicher im Kiesbett. Ein Moment der Stille und der Erstarrung, dann setzt sich Alkmene wie ein zum Leben erweckter Automat in Bewegung, stakst auf die Männer zu und umarmt sie unbeholfen, zunächst den Älteren, dann den Jungen. Amphitryon und ich sehen uns an. Die Männer nicken uns zu. „Karl, Max“, sagt Alkmene, „Amphitryon, Sosias.“ Im Laderaum nicht mehr als zwei dutzend nicht sehr große Metall- und Holzkisten und ein paar große Leinensäcke mit Kabeln und Steckern. Dazu zwei Stühle, Arbeitsplatten und Böcke. Einige Kisten sind verplombt gewesen und stammen aus Los Angeles, USA, und London, Great Britain, den Aufschriften nach. Alkmene betrachtet alles mit strahlenden Augen, die Hände in die Hüften gestemmt. „Amphitryon Komplex“, sagt sie laut, „die Welt wird Augen machen!“ Wir laden aus. Im Treppenhaus des alten Verwaltungsgebäudes bricht Max mit einem Bein durch eine Bodendiele und zieht sich eine lange Risswunde zu. Nicht sehr tief. Alkmene kümmert sich. Zwischenlagerung des Geräts bei mir im Bungalow. Ein Experte aus Alkmenes Freundeskreis sieht sich die Sache an. Der Dachboden wird als sicher erklärt, Zugang aber nur von Außen. Organisieren der Feuertreppe. Das alles nimmt viel Zeit, zwei, drei Wochen in Anspruch. Alkmene jedoch bester Dinge. Ich aber spürte vom ersten Augenblick an, dass da etwas in unser Leben eindringt. Etwas Fremdes. Wenn ich sie sah, Karl und Max, im Gespräch untereinander oder mit dem Rechner auf den Knien, setzte in meinem Kopf jedes Mal ein ganzes Orchester ein. Wie im Film. In schwerem, was sage ich: in schwerstem Moll. Ich bin kein musikalischer Mensch, nicht explizit, aber mein Kopf erschuf tatsächlich ohne jede Verzögerung diese Musik. Unheilschwanger. Den Gesprächen bei Tisch, anfangs aßen wir noch gemeinsam zu Abend, konnte ich nicht folgen, weil das Gesagte gegen den Klang in mir nicht ankam. Die Geigen und Bratschen und Cellos, Trompeten und Jagdhörner übertönten alles. Nach einer Weile dann brach die Musik mit einem gemeinen Geräusch ab, so als risse jemand den Tonabnehmer von einer Schallplatte. Von da an musste ich zuhören. Überwiegend ging es um Technisches. Alkmene fragte, Karl und Max antworteten, während Amphitryon fast immer schwieg, ebenso ich. Bald schon entzogen Amphitryon und ich uns der lästigen Pflicht des abendlichen Zusammenseins, aber auch dies schien …

„Warte einen Augenblick!“ Ich erschrecke heftig. Alkmene steht hinter mir. Wie aus dem Nichts. „Sorry“, sagt sie, tritt auf mich zu und zündet sich direkt vor meiner Nase eine Zigarette an. Ich kann die Hitze der Feuerzeugflamme spüren. Ihr Atem riecht nach Whisky. „Ich habe endlich Amphitryon erreicht, im Zug nach Zürich. Verhandlung mit dem Russen, der eigentlich Schweizer ist. Oder umgekehrt. Amphitryon ist der selben Ansicht wie ich, die zweite Phase mit der Deinstallation der Kameras und der Projektion der Hologramme beginnt erst, wenn alles in trockenen Tüchern und das Projekt verkauft ist.“ Sie lächelt und bläst den Rauch scharf und spitzlippig neben meinem Kopf gegen die Scheibe der Fahrertür. Ahnt sie, dass ich mich aus dem Staub machen will? „Es bleibt also bei der kleinen Verzögerung“, fährt sie fort, „aber du kannst ja in Basel selbst deinen Teil beitragen. Sobald die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen sind, bekommst du deinen Doppelgänger. Wir alle! Wir alle bekommen uns noch einmal hinzu.“ Sie sieht mich herausfordernd an. Ich sage nichts. „War doch schon immer dein Thema, nicht wahr! Doppelgängertum, Wiedergänger, die Wiederholung des Immergleichen!“ Ich nicke, steige ein, starte den Motor und fahre los. Wir hatten uns oft über das Thema unterhalten in den guten Zeiten, und tatsächlich war ich es gewesen, der Alkmene auf das Thema Doppelgänger aufmerksam gemacht hatte. Ich war es, der ihr damals einen Band mit allen Amphitryon-Stücken zu lesen gab, der ihr von Jean Pauls Siebenkäs erzählte, von E. T. A. Hoffmann, Dostojewskij, Robbe-Grillet und so weiter. Das hatte einen Punkt getroffen, denke ich, und all das zuvor so nebulöse Tun hatte plötzlich ein klares Ziel: Die Erschaffung von Doppelgängern. Hätte ich das Thema bloß nicht aufgebracht, denke ich, während ich im Rückspiegel zitternd, verschwimmend, kleiner werdend, Alkmene stehen sehe, den rechten Ellenbogen in der linken Hand. Rauchend. Eine hohe, weiße Gestalt.  Seltsam, denke ich noch, auf die Straße einbiegend, wenn ich Amphitryon anzurufen versuche, ist immer nur die Mailbox dran. Sie lügt!

Ich parke direkt vor Fernseh-Knocke. Hauptsächlich Postfiliale. Die Schlange reicht bis auf den Gehweg. Ein Mann dreht sich um und hat diesen Hier-darf-man-aber-nicht-parken-Blick. Ich beschließe, im Auto sitzen zu bleiben und zu warten, bis es leerer ist. Auf dem Beifahrersitz liegt die fast vergilbte Maiausgabe des Bad Wutzenwalder Anzeigers, das örtliche, monatliche erscheinende Blatt mit neunzig Prozent offener und zehn Prozent versteckter Werbung. Ich hatte bisher noch nicht hineingesehen. Auf dem Titel ein Foto des Bürgermeisters mit dem, so die Bildunterschrift, Künstlerpaar Alkmene/Amphitryon. Ich nehme die Zeitung zur Hand. Im Text auf Seite drei, die Überschrift lautet einfach AMPHITRYON KOMPLEX, wird die Basler Installation als Multimediaperformance bezeichnet. Die Grundidee liege in der griechisch-römischen Antike, in der die Götter die Menschen ständig beobachteten und in Kenntnis all ihrer Heimlichkeiten in deren Leben eingriffen. Ausgangspunkt sei die Amphitryon-Tragikomödie des Plautus und die darauf fußenden Stücke von Molière, Heinrich von Kleist, Jean Giraudoux, Georg Kaiser und Peter Hacks, in denen der Gott Jupiter die Gestalt von Alkmenes im Krieg sich befindlichen Gatten Amphitryon annehme und mit der so getäuschten Frau eine Liebesnacht verbringe, in der Herkules gezeugt werde. Die Performance, las ich weiter, werde bald auf dem Gutshof dauerhaft präsentiert als eine Projektion von Hologrammen, die aus den live nach Basel in die Kunsthalle übertragenden Videobildern extrahiert werden. Die Gastronomie und die Hotels Bad Wutzenwaldes versprächen sich steigende Umsätze durch Gäste, die den Gutshof mit ihren Bewohnern, den realen und den projizierten, besuchten und auch das umfangreiche Angebot an Freizeitaktivitäten in der Region … bla, bla, bla. Mein Name, mein Projektname, Sosias, taucht in dem Artikel nicht auf. Ich hatte mich geweigert, für ein Foto zu posieren. Alkmene hatte darauf bestanden. Es gab Streit. „Alle machen hier mit, nur du mit deiner Sturheit stellst dich quer“, hatte sie mich angeblafft. „Aber Herrin“, hatte ich erwidert, „warum soll denn der Sklave genannt sein? Ich bin doch nichts weiter als eine reizende, kugelrunde Null!“ „Gut“, zischte sie, „lassen wir das!“ und stiefelte wütend mit hochrotem Kopf davon. Ich hingegen war außerordentlich zufrieden mit meiner Erwiderung, auch wenn diese geklaut ist.[1]

Endlich lichten sich die Reihen. Mit zwei Paketen betrete ich den kleinen Laden. Noch immer drei Leute vor mir, zwei Rentner in Beige-Braun-Grau und ein dürres, x-beiniges Schulmädchen mit einem zerknüllten Abholzettel in der Hand. Ich stelle die Pakete auf den Boden und gehe noch mal raus, die beiden anderen zu holen. Kaum stehe ich wieder in der Reihe, von hinten plötzlich zwei Sanitäter. Eine Rentnerin hinten in der Ecke am Boden zwischen den Postkartenständern. Ohnmächtig. In blauem Kostüm und Bernsteinkette. Silbergraues Haar. Die jungen Männer in roten Overalls knien, einer hantiert herum, einer redet mit der Frau, die jetzt zu sich kommt. Ein Gehstock liegt quer. Dazu ein zitternder Pinscher mit eingezogenem Schwanz. Wir alle, auch Knocke hinter seinem Tresen, der ja immerhin auch schon im Rentenalter ist, gucken verschämt hin. Der Rentner vor mir tut ein paar Schritte und streichelt den Pinscher, der ihn fragend und zugleich dankbar ansieht. Dann kommt der Spitz vom Knocke ganz zappelig angelaufen und schnüffelt dem Pinscher am Hintern herum. Ziemlich unpassend natürlich. Zehn Minuten später gebe ich die Pakete auf und versuche dabei, ganz unschuldig auszusehen. Hier nämlich bleibt nichts lange im Verborgenen. Der Frau geht es inzwischen besser. Sie sitzt auf einem Stuhl und atmet tief ein und aus, den Pinscher auf dem Schoß. Ich sehe dem Hund in die Augen und könnte schwören, das ist überhaupt kein Hund! So wie der guckt!

Auf der Rückfahrt hupe ich und bremse scharf beim Gemüsehändler, der trotz seiner bestimmt achtzig Jahre mit seiner blauen Schürze um den Leib aus seinem Laden eilt und eine Kiste für Alkmene auf die Ladefläche schiebt, dann die Heckklappe krachend zuschlägt und auf’s Dach klopft. Ich hasse das, hupe aber noch einmal, winke mit der Hand aus dem Fenster und gebe Vollgas. So macht man das hier, das muss man drauf haben. Bald aber bin ich weg, denke ich, dann könnt ihr mich alle mal gern haben! Als Hologramm nämlich. Die Serpentinen nehme ich mit Karacho, sieben, acht Kurven. Ich halte auf dem Hof, trage die Kiste mit dem Gemüse in die Küche und gehe dann zu meinem Bungalow. Die Schneise zum See. Er glänzt matt in der Nachmittagssonne. In der Mitte, genau in der Mitte, ein Ruderboot. Aber ich kann mich täuschen. Das Licht ist oft trügerisch hier, und nicht nur das Licht. Ich gehe hinein. Ich muss irgendwie kaschieren, dass mein Zeug fehlt, überlege ich, und wenn auch nur für den Wachtmeister mit seinem scharfen Blick. Am Abend ruft mich Alkmene an, ich soll ins Gutshaus kommen, das mit der Pressemappe für die Finissage sei noch zu besprechen. Die Druckerei habe angerufen, ein Text müsse gekürzt werden und so weiter.

Drei arbeitsreiche Tage später reise ich ab von Bad Wutzenwalde in Richtung Basel. Der Bungalow leer. Die schweren, dunklen Vorhänge zugezogen. Die Tür fällt ins Schloss. Der Blick zum See. Alkmene nirgends aufzufinden, Karl und Max, die ich ignoriere, auf der Terrasse. Zu Fuß mit den beiden kleinen Koffern zur Bushaltestelle. Bis Eberswalde und von dort mit dem Zug nach Berlin, dann ICE erster Klasse, einmal umsteigen, bis Basel. Zehn Stunden, in denen ich darüber nachdenke, wo meine Flucht mich denn hinbringen wird. Soll! Flucht, Fluchtpunkt denke ich in einer Dauerschleife. Amphitryon empfängt mich in Basel am Bahnhof und erklärt mir ohne Gruß und Umschweife, wie er die entscheidenden Verhandlungen angehen will. Heute noch gäbe es ein Treffen mit dem Schweizer Russen. Amphitryon hat sich sehr verändert, finde ich, der Arme, in all den Wochen an der Verhandlungsfront. Irrer Blick, fahrige Gesten, eine zappelige Schwarz-Weiß-Figur in einem Farbfilm. Ich frage mich, was ich mit all dem noch zu tun habe. Wir gehen zu Fuß zur Kunsthalle. Nach einer Weile fällt mir wieder mal auf, dass nirgends Werbetafeln zu sehen sind. Schön ist das. Dann stehe ich zehn Minuten staunend vor dem Fasnachtsbrunnen, was Amphitryon stoisch hinnimmt, und gehe schließlich hinein in die Kunsthalle, während Amphitryon draußen bleibt und auf meine Koffer aufpasst. Ich hatte ihm klarzumachen versucht, dass das erste, was ich zu tun hätte doch wäre, die zu verkaufende Ware mir wenigstens noch einmal anzusehen. Ich begutachte kurz die Bachelor- und Master-Ausstellung, durch die ich ohnehin hindurch muss, dann ziehe ich einer Eingebung folgend mein Mobiltelefon aus der Tasche und rufe Alkmene an. Sie live auf den Bildschirmen in ihrem weißen Kleid sehr aufrecht am Tisch. In einem Bildband blätternd. Das tut sie täglich. Das reinste Theater. Ich stehe direkt neben der zur Installation gehörenden, nominell von Amphitryon stammenden Installation Palast Amphitryons in Theben, eine verwinkelte Konstruktion aus Glas und Stahl, die ein arbeitsloser Architekt, der sein Geld letztlich für sein Schweigen bekommt, entworfen hat. Meine Lieblingsecke übrigens. Kein Mensch beachtet das Konstrukt, so dass ich von hier aus an den Tagen nach der Vernissage hatte beobachten können, wie denn unsere Arbeit aufgenommen wird. Die wenigen Besucher meist ziemlich irritiert. Bildschirme mit Ansichten eines Raumes oder einer Terrasse mit einer Wiese und Bäumen im Hintergrund? Manchmal Menschen. Die Katze. Die meisten entdecken bald die Tafeln mit der Erläuterung des Konzepts (auf deutsch, englisch, französisch, italienisch, rätoromanisch, keltisch, spanisch, schwedisch, dänisch, flämisch, türkisch, russisch, polnisch, serbisch, kroatisch, griechisch, ungarisch, finnisch, arabisch, hebräisch, japanisch und chinesisch; unten rechts das Logo von LIST, einer internationalen Sprachschule, die die Übersetzungen meines Textes gesponsert hat). Sie lesen, sobald sie ihre Sprache gefunden haben, aufmerksam den Text, sind danach aber nicht minder ratlos. Einmal dreht sich eine Gruppe von sechs, sieben beigefarbenen Rentnern geschlossen zum Wächter um. Alle ziehen die Schultern in die Höhe. Des Wächters Schultern zucken ebenfalls, zack-zack geht das. Der selbe Wächter wie damals wirft mir, als ich das Telefon zum Ohr führe, scheele Blicke zu. Ich ignoriere ihn. Es klingelt drei, vier Mal, bevor Alkmene reagiert. Auf dem großen zentralen Bildschirm mit der Gesamtsicht des Wohnbereichs sehe ich (und der Wächter und die Besucher der Website), wie sie das Mobiltelefon zur Hand nimmt. „Ich bin’s, Sosias“, sage ich laut, bevor sie etwas sagt, „ich stehe mitten in der Ausstellung. Heute noch haben wir einen Termin mit unserem Schweizer Russen.“ Sie benötigt einen Moment und sieht dann direkt in die Kamera. Mich an, gewissermaßen, ohne mich sehen zu können. Unwillkürlich lächele ich. „Ich rufe später noch einmal an“, sage ich, „der Aufpasser macht mir böse Zeichen“. Ich drücke das Gespräch weg. Sie ist wütend. Jeder kann das sehen. Aber nur ich weiß warum.

Nach dem Essen in einem Altstadt-Restaurant, bei dem Amphitryon kaum etwas sagt, verabschiede ich mich und gehe zu meiner Unterkunft. Da ich unangenehme Überraschungen vermeiden wollte hatte ich kurzfristig, und daher mit etwas Glück verbunden, das selbe Zimmer in der selben Pension gebucht wie drei Monate zuvor während der Vorbereitungen zur Vernissage. Die Pensionswirtin des Stampfli, Frau Klöti-Stampfli, war inzwischen allerdings verstorben, wie ich bei Eintritt in die kleine Halle feststellen musste. Eine sehr nette Frau war das gewesen. Sie hing als lebensgroßes Ölgemälde, versehen mit einem Trauerflor, hinter dem kleinen Tresen, von wo aus sie jeden Eintretenden freundlich ansah, ganz wie zu Lebzeiten. Hatte ich nicht vor ein paar Tagen noch mit der Frau telefoniert? Und was hatte zuvor an der Stelle des Gemäldes gehangen? Doch wohl kein Kreuz? Ich konnte mich nicht erinnern. „Guten Tag, Grüß Gott, Grüzi“, sagte eine jüngere Kopie der Frau Klöti-Stampfli, allerdings in Hochdeutsch, „womit kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ich legte den Ausdruck der Bestätigungsmail auf den Tresen. „Sie haben ein Sternchen“, sagt sie. Ich sage nichts. „Ein jeder Gast“, fährt sie lächelnd fort, „hat immer einen Stern weniger als Besuche in unserem Haus. Bei jedem zehnten Stern gibt es eine Überraschung.“ Ich lächele unsicher. „Kommen denn viele Gäste so oft?“, frage ich. „Aber ja“, sagt sie. „Zimmer 4?“, frage ich. „Zimmer 4!“ Ich atme tief durch.

Ein goldener Stern auf dem Kopfkissen aus Schweizer Schokolade, Lavendelduft in der Luft, das kleine Fenster zur Gasse geöffnet und gedämpfter Straßenlärm. Alles also wie beim ersten Besuch? Nein! Denn hatte nicht schon Sören Kierkegaard in seinem Roman Die Wiederholung ausführlich beschrieben, dass sich partout nichts wiederholen lässt, sein zweiter Aufenthalt in Berlin also keineswegs die Wiederholung des ersten bedeuten könne. Und wenn das schon nicht zu machen ist, wie soll sich dann, so ja das Hauptthema seines Romans, die erste Liebe wiederholen lassen? Tja, dachte ich, man steigt eben nicht ein zweites Mal in den selben Fluss. In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht – so sagte ja schon Heraklit. Aber ich lasse Heraklit erstmal einen guten Mann sein und räume in aller Ruhe die Wäsche in den Schrank. Da also muss ich nun durch, denke ich, durch die Finissage, die natürlich streng durchgeplant ist, wie ich wusste. Eine Basler Eventagentur wird Schnittchen, Hostessen, Kellner, einen Barkeeper und auch einige Bodybildertypen in Anzug und mit Sonnenbrille schicken, dazu erklingt gedämpfte Musik vom Band. Bei der Eröffnung hatte man Fahrstuhljazz gewählt. Sollte also nicht zufällig ein Ehekrieg eskalieren oder jemand beim Koksen auf der Toilette einen Herzinfarkt erleiden, so würde es ein langweiliger Abend werden. Meine Idee der Livezuschaltung Alkmenes, eine kleine Ansprache ihrerseits, war abgebügelt worden. Das würde die Aura verletzen, hatte sie gesagt. Dabei kann sie das gut, das Redenhalten. Doch das sollte mir ja alles egal sein!

Ich schlafe bestens und ganz traumlos, obwohl ich ja am nächsten Morgen Amphitryon auf seinen Streifzügen durch die Welt des Schweizer und internationalen Kapitals zu begleiten hatte. Alkmene nannte das meine Pflicht um des Erfolgs willen. Ich hätte natürlich protestieren sollen. Im Namen der Kunst! Stattdessen aber saß ich dann jedes Mal mit dem schlechtesten Anzug aller Anwesenden brav am Tisch. Arno Scheerbart im Anzug! Ich sah aus wie verkleidet! Wie ein Clown. Wie einer, der nicht dazu gehört. Ein Statist. Später erinnerte ich mich mit Grausen vor allem an das Treffen am dritten Tag. Wir mit den Russen, die alle jetzt Schweizer sind, in der Sauna. Fünf Männer mit ihren Pimmeln, baumelnden Hodensäcken und speckigen Hüften. Sogar der Dolmetscher strahlte so etwas aus wie bürgerlichen Wohlstand. Dabei hatten wir alle die gleichen reinweißen Bademäntel ausgehändigt bekommen und saßen nackig und mit schwitzenden Arschbacken auf den gleichen, reinweißen Handtüchern. Keine Ahnung, wie solche Leute das hinkriegen, das mit dem nackt wohlhabend aussehen. In der Umkleidekabine, eine eigene für jeden Gast natürlich, hing ein Messingschild mit dem Hinweis, die Bademäntel und die großen und kleinen Handtücher könne man käuflich erwerben, 150 bzw. 60 bzw. 45 Franken seien zu berappen, zahlbar mit der Abschlussrechnung. Natürlich nichts weiter, dachte ich, als eine Aufforderung, die Dinger zu klauen. Was ich nicht tat. Ich warf das reinweiße Zeug in das dafür vorgesehene Behältnis und war, erinnere ich mich, als erster in der Lobby. Keine Russen weit und breit, und als Amphitryon endlich auftauchte, schnauzte er mich gleich an. „Du machst es mir beileibe nicht leicht“, zischte er mir zu, „wenn du nicht einmal eine einzige Bemerkung machst. So für die Stimmung, irgendwas über Frauen und Geld oder Autos, was Russen eben so mögen.“ Ich machte ein dummes Gesicht. „Mir war schlecht“, sagte ich, „ich vertrage keine Sauna. Und wer weiß, was der Dolmetscher dann übersetzt. Am Ende habe ich die russische Mafia am Hals und lande im Fundament einer Brücke.“ Amphitryon grinste. „So machen die Italiener das“, sagte er, „die Russen machen das anders. Willst du wissen wie?“ Ich sagte nichts. Kaum zu glauben, dachte ich, dass wir mal befreundet gewesen waren.

Eine Woche nach meiner Ankunft änderte Amphitryon die Verhandlungsstrategie. Mit oder auch ohne Wissen Alkmenes. Statt der Betonung des Eventcharakters und der technischen Besonderheiten des Projekts argumentierte er nun eher intellektuell. Was er dafür hielt! Man erschaffe, so sagte er bei einem vormittäglichen Informationsgespräch mit den Vertretern eines niederländischen Museums, ein Gesamtlebenskunstwerk. Wir saßen im Restaurant der Kunsthalle Basel. Er hauchte das Wort sozusagen in die Runde. Gesamtlebenskunstwerk. Etwas Einmaliges sei das, nämlich eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, nur eben nicht als ein Negativum, als ein Zusammenprallen teils schädlicher Entwicklungen, sondern als Überwindung derselben. Ich wusste in etwa, wo er das her hatte (und jetzt, später, weiß ich es genau[2]) und nickte eifrig. Etwas dazu sagen wollte ich aber nicht, da half auch kein langer böser Blick Amphitryons. Hätte er mich eben vorher informieren müssen über die neue Strategie, dachte ich, während er bereits wieder drauflos redete über Hologramme im Museum, Figuren, die sich spielerisch bewegten unter den Besuchern und immer wieder Szenen der Amphitryon-Stücke spielten und somit Kernfragen unserer Moderne buchstäblich in den Raum stellten. Das sei epochemachend und so weiter und so fort.

Ich höre nicht mehr zu. Stattdessen tauchen, während abgeräumt und kurz darauf für alle Espresso serviert wird, Bilder vor meinem geistigen Auge auf, eine Art Erinnerung, die mir plötzlich präsent ist. Ich sitze unten an unserem See, gegen Abend, es ist kühl geworden, rauche eine Zigarette und beobachte eine hübsche, etwas melancholisch wirkende Ente mit grünem Kopf, ein Erpel, der an dem kleinen Sandstrand hin und her watschelt. Immer hin und her, so als warte er auf jemanden, die Flügel auf dem Rücken zusammengelegt. Er wirkt ärgerlich. Dann endlich flutscht er unversehens ins Wasser und schwimmt quakend davon, noch bevor ich aufgeraucht habe. Wo er wohl hinschwimmt, frage ich mich, und plötzlich steht der Wachtmeister hinter mir. Eines Tages, sagt er, habe er von dieser Stelle aus in dienstlicher Funktion mittels eines von seinem Vater aus dem Krieg mitgebrachten Feldstechers, alles noch zu Ostzeiten, beobachtet, wie von einem Boot in der Mitte des Sees Enten rechtswidrig gejagt wurden. Weiße, verwilderte Hausenten. Das habe ihn sehr geschmerzt, doch die Sache sei dann abgebügelt worden. „Das Argument war am Ende“, sagt der Wachtmeister, der sich gesetzt hatte und den Rauch seiner Zigarette auf seine Stiefel pustet, „dass es zur Herstellung von exklusiven Federbällen notwendig sei, die Enten zu bejagen. Ein Federballturnier in der Waldsiedlung, hieß es. Natürlich unter der Hand, offiziell wusste niemand etwas. Wahrscheinlich spielten die Kandidaten des Politbüros gegeneinander, würde ich mal sagen, oder der Besuch einer russischen Kommission stand an. Allerdings gab es durchaus keinen Mangel an Federn damals. Wenn wir alles so üppig gehabt hätten wie Federn, sähe die Welt heute anders aus!“ Er saugt an seiner Zigarette, während ich zu meiner eigenen Überraschung, den Wortbeitrag Amphitryons unterbrechend, etwas sage, nämlich „Mensch ist man ja nur, wenn man denn spielt, so wie dies schon Friedrich Schiller vor zwei Jahrhunderten so schön behauptete! Nicht wahr!“ Stille. Alle sehen mich an. Amphitryon ist sichtlich überrascht, stockt, sucht nach dem Faden seiner Rede, findet ihn aber nicht. Wer weiß zu welchen Höhenflügen er grad eben ausgeholt hatte. Die Amsterdamer blinzeln mir derweil mit ihren blauen Äuglein zu, während die Dame an der Stirnseite des Tisches, Amphitryon gegenüber, ihre Handtasche vom Schoß auf den Tisch stellt, aufsteht, die Lesebrille von der Stirn zieht und in die Tasche knallt. Dann klickt sie die Tasche entschlossen zu, alles steht auf, Händeschütteln, vielen Dank, wir bleiben in Kontakt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie der Chef ist, die Dame mit der Handtasche. Amsterdam jedenfalls würde nicht kaufen, das stand fest.

Jeder Satz von mir ist ein Risiko. Ich weiß das. Am Abend gehe ich dann noch einmal allein in die Kunsthalle. An der Tür wie gehabt ein Wächter, dem ich zunicke. Ich stelle mich, wie immer, vor die Installation Palast Amphitryons in Theben. Alkmene auf dem Bildschirm, auch Karl und Max kurz auf der Terrasse. Die Katze. Über Lautsprecher dann auch schon die freundliche Aufforderung, die Kunsthalle binnen einer viertel Stunde bitte verlassen zu haben. Aber noch war es nicht so weit. Ich ging aus dem Komplex hinaus, um mir die Fotoausstellung in einem anderen Raum noch einmal anzusehen. Oder genauer gesagt ein Foto, das mich beeindruckt hatte. Es zeigt, schwarz-weiß, einen zu einer Art Wohnatelier umgebauten Bunker an einer Küste, das Gebäude im Anriss rechts im Bild, Blick auf die Dünen, das Gras, breiter Sandstrand, die feinen Wellen wie eingefroren, einige Möwen im Mittelgrund auf halber Höhe, Wolkenberge über der See. Unten links mit feinem Silberstift signiert. U. Z. 2024. Ich betrachtete die Fotografie einige Minuten, dann schlendere ich wieder hinüber zum Amphitryon Komplex. Ich betrete den Saal und stutze: Eine ganz offensichtlich, ganz unverkennbar als Alkmene verkleidete junge Frau steht mitten in der Ausstellung. Sehr aufrecht. Weiß. Und rauchend! Den rechten Ellenbogen in der linken Hand. Auch Alkmene raucht, sehe ich, auf der Terrasse des Gutshauses, siebenhundertundfünfzig Kilometer Luftlinie entfernt. Gut zu erkennen auf dem großen Monitor. Ist das hier nun Nachäffen oder schon Kunst, frage ich mich. Und kein Museumswächter weit und breit. Ich nähere mich der Szene. Zwei weitere Besucherinnen hocken hinten an der Wand, sonst niemand. Nun ja, denke ich, dem Kleid Alkmenes, auf meinen Vorschlag hin entworfen nach einer Vorlage der Madam Grès, hatte die Basler Alkmene kaum etwas entgegenzusetzen. Nicht mehr als eine schlechte Kopie, wahrscheinlich aus einer Gardine gefertigt. Halb transparent, die nackte Haut mehr zu ahnen als zu sehen. Soll ich etwas sagen, anmerken, fragen, geht es mir durch den Kopf, doch da wird mir erst klar, dass die beiden Frauen im Hintergrund filmen. Leichtfüßig schweben sie bald schon mit ihren Kameras bewaffnet links und rechts an mir vorbei und kreisen um die Protagonistin herum, offensichtlich bestrebt, die auf dem Monitor zu erkennende, immer noch rauchende Alkmene mit ins Bild zu nehmen. Warum, denke ich beschämt, ja, ich schäme mich plötzlich, weiß ich nichts von der Aktion! Weiß Alkmene davon? Amphitryon? Eine der Kamerafrauen umkrabbelt nun die Alkmenedarstellerin, zoomt aus der Dackelperspektive auf ihr Gesicht, um dann aufzuspringen und ihr die Kamera wie eine Pistole auf die Stirn zu pressen. Die Basler Alkmene zuckt nicht mit der Wimper. Ich mache, endlich Tatkraft gewinnend, mit meinem Smartphone ein Foto mit beiden Alkmenen und den beiden Kamerafrauen und schicke es kommentarlos, während die drei Frauen sich zum Tor von Theben zurückziehen, Alkmene. Ich warte. Kaum zu erkennen im Hintergrund ihr Telefon auf dem Tisch. Gleich wird sie hineingehen, denke ich, doch da passiert etwas Seltsames. Ich traue meinen Augen kaum. Die Zigarette fällt ihr, Alkmene, wie sie da so auf der Terrasse steht, stolz und aufrecht, einfach aus der Hand. Zwischen den Fingern heraus. Sie wirft wütend die Lippen auf, zertritt die halb gerauchte Zigarette drehenden Fußes, marschiert ins Haus, nimmt ihr Smartphone zur Hand und sieht das Foto. Sie selbst und die andere Alkmene. Dann geht sie auch schon mit einem Ruck Richtung Hof ab, wie ferngesteuert. Soll ich sie anrufen, frage ich mich, doch da umhummeln mich plötzlich die beiden jungen Frauen mit ihren Kameras, und ebenso plötzlich steht die Basler Alkmene vor mir. „Cut“, sagt sie und machte mit der linken Hand eine scharfe Bewegung durch die Luft. Zack! Die Kameras werden zu Boden gelegt. „Marie-Louise, Kunststudentin“, sagt sie ernst, „und das sind die Kamerafrauen Luna Zett und Lara Icks.“ – „Arno, Sosias“, sage ich geistesgegenwärtig. „Verstehe“, so Marie-Louise nach ein paar Sekunden, „Sie kamen mir auch gleich so bekannt vor. Gehen Sie mit auf einen Drink?“

Später im Stampfli, sehr betrunken platt auf dem Bett liegend, lausche ich auf die Geräusche der Nacht. Gesichter umwirbeln mich. Die Basler Alkmene: Marie-Louise. Die zwei anderen, etwas jünger, sicher kaum fünfundzwanzig, voller Energie. Zuerst hatten sie alles wissen wollen über Amphitryon Komplex und stellten tausend Fragen, aber als ich dann ansetzte, die Hintergründe zu erklären, hörten sie nicht zu. Stattdessen überschlugen sie sich mit einem Male geradezu, dachte ich, mich erinnernd, mir ausführlich zu erzählen, wie sie mit geliehenen Stempeln und dem geklautem Briefpapier der Direktion sich die Aktion in der Kunsthalle selbst genehmigten. „Sind gespannt auf den Ärger, den das geben wird“, strahlten mich die beiden Kamerafrauen an. Marie-Louise lachte. „Ärger wird’s geben“, sagte sie, „aber nicht wegen der Stempel oder der Briefbögen, nein, nein, das Rauchen im Museum wird’s sein, das wird Ärger bringen.“

Gegenüber Amphitryon erwähnte ich nichts von der studentischen Kunstaktion, wahrscheinlich hatte Alkmene es ihm ohnehin schon gesteckt. Wir trafen nun also weiterhin Tag für Tag mehr oder weniger interessierte Kunstmenschen, kamen aber zu keinem Abschluss. Nicht mal Zahlen standen im Raum, obwohl ich keines der Gespräche störte, ja sogar die ein oder andere passende Floskel einstreute und fleißig Hände schüttelte. Aber es half alles nichts. Amphitryon war am Boden zerstört. Ich sagte noch, womöglich seien wir unserer Zeit voraus, aber auch das tröstete ihn keineswegs. Ich habe das natürlich auch nicht ernst gemeint, und vielleicht spürte er das.

Endlich aber stand, trotz des Desasters, trotz des Nichtverkaufs der Multimediainstallation, schließlich die Finissage an. Schnittchen, freie Getränke, kurzberockte Hostessen auf mittelhohen Hacken mit charmantem Lächeln, ein Kerl von einem Barkeeper, die Bodyguards im Hintergrund für das VIP-Gefühl. Musik vom Band. Alles perfekt, nur einen Käufer für das Projekt gab es nicht. Wochenlange Arbeit lag hinter uns, erreicht worden war nichts. Die Holländer waren zwar anwesend und der Schweizer Russe auch, hatten aber zuvor mitgeteilt, nicht kaufen zu wollen. Ansonsten wie gehabt die Kulturschickeria aus Basel, Zürich und Bern, die Schweiz ist ein kleines Land, die es sich gut gehen ließ, die aber schließlich, nach knapp zwei Stunden, mir nichts dir nichts wie auf Kommando als Ganzes verschwand. Fast so, dachte ich, als seien sie durch die Wände diffundiert. Einfach weg! Der Raum fast leer. Eine der Hostessen hatte sich, ein untrügliches Zeichen, dass der Abend seinem Ende zuging, bei Amphitryon eingehängt und schlich mit ihm durch seine Installation, ein paar ältere Männer quatschten in Mundart mit dem Barkeeper und die Putzkolonne scharrte im Gang zu den Toiletten mit den Hufen. Marie-Louise war gar nicht erst erschienen, was mich wunderte, und ich hatte sie auch telefonisch nicht erreichen können. Das machte mich unruhig. Amphitryon, so sah ich, legte eben den Arm um die Hostess, als mein Mobiltelefon leise Laut gab, die Erinnerungsfunktion, FLUCHT! blinkte es auf dem Display. FLUCHT! Zeit also, mich zur Pension aufzumachen, die im Abstellraum deponierten Koffer zur Hand zu nehmen und zum Bahnhof zu eilen. Morgen früh um sieben würde ich in Berlin sein, dachte ich und machte mich durch den Hinterausgang davon. Es nieselte zum Abschied. Noch einmal versuchte ich Marie-Louise zu erreichen, doch wieder nichts. Ob Amphitryon mich wohl suchen würde oder doch eher mit der Hostess loszöge, fragte ich mich, verlor aber nun keine Zeit mehr mit dummen Fragen, denn vor morgen früh ging kein weiterer Zug. Die Tochter der Frau Klöti-Stampfli hatte die Koffer schon bereitgestellt und schüttelte mir persönlich die Hand, die Mutter lächelte auf uns herab. „Auf ein baldiges Wiedersehen“, sagte sie, „und Grüße!“ „Werde ich ausrichten“, sagte ich, ohne zu wissen, wen sie denn meinen mochte. Sie meinte Marie-Louise, aber das begriff ich erst, als ich sie auf dem Bahnsteig erkannte, wie sie da so auf ihren Koffern hockte. „Ich habe neu gebucht für uns“, sagte sie ohne aufzustehen, „die junge Klöti hat mir gestern dabei geholfen. Zweier-Abteil! Wozu hat man Ersparnisse!“

IV

„Ich bin nicht Sosias!“, rufe ich laut, springe auf und bin mit drei, vier Schritten auf dem Balkon. „Ich bin nicht Sosias!!!“ Die Straßenbahn jault vorbei, ein Wettkampf mit der oben fahrenden U-Bahn, den die Straßenbahn verlieren wird. Die Kreuzung, die Ampel, der Verkehr. Auf dem Gehweg direkt unter mir eine Frau mit schwarz-grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren in einem dunklen Kleid mit weißen Punkten. Die Einkaufstaschen schleifen fast über den Boden. Sie unterquert das Viadukt, dann ist sie weg. Ich höre eine U-Bahn aus der anderen Richtung, klackklack macht es, sie beschleunigt aus der Station heraus. Kurz darauf rast sie an mir vorbei. Kein Kind. Ich gehe zurück ins Zimmer und schließe die Balkontür. Marie-Louise behauptet, vor allem an Regentagen stierte ich stundenlang aus dem Fenster, ohne etwas zu schreiben, keine Zeile. Stimmen kann das nicht, denn am Ende jeden Tages drucke ich die Seiten aus und versenke sie in der Munitionskiste von F. Jung, die er uns hinterlassen hat. Aus dem Zweiten Weltkrieg, denke ich jedes Mal, diese Kiste stammt aus dem Krieg, aus ihr heraus wurde getötet. Nur ich habe den Schlüssel für das schwere Vorhängeschloss, das ich mir nebenan im Werkzeugladen besorgt habe. Sicher, man kann sie aufbrechen, eine ordentliche Brechstange, ein Knippeisen reicht. Aber wer sollte das tun? Außerdem schicke ich jede neue Textversion per Mail an meine Zweitmailadresse, die ich überall auf der Welt abrufen kann. Nur für alle Fälle. Falls ich verschwinden muss. Die Website zu Amphitryon Komplex ist übrigens offline, seit wann weiß ich nicht. Die Direktübertragung des Lebens auf dem Gutshof ist gekappt. Was aber nicht heißt, dass alles zum Erliegen gekommen sein muss, ganz im Gegenteil. Denn wenn etwas mir Unbekanntes hinter all dem steckt, dann ist dieses Unbekannte nun womöglich noch besser verborgen als zuvor. „Wenn etwas dahintersteckt, Arno“, sagt Marie-Louise. Morgen fährt sie nach Bad Wutzenwalde. Sie will da tatsächlich hin. Wir sprechen noch einmal alles durch. Sie legt einen Aktenordner auf meinen Schreibtisch. „Das habe ich gestern auf der Arbeit zusammengestellt, ein paar Anrufe in die Schweiz genügten.“ Ausdrucke, so sehe ich auf den ersten Blick, der Broschüren und Pressemitteilungen zu der Ausstellung in Basel. Dazu Artikel aus Tages- und Wochenzeitungen, Magazinen und von Websites samt vereinzelter Kommentare. In einem zweiten, eingehefteten dünneren Ordner die Abrechnungen der Basler Kunsthalle. Eine Studienfreundin mache dort Praktikum, sagt Marie-Louise. Alles sauber abgeheftet, in Klarsichthüllen. Greifbar. Wer wisse schon, für was so etwas gut sein könne. „Ich werde in Bad Wutzenwalde auf dem Gutshof nicht einfach behaupten können, dass mich das Projekt interessiert, Arno, ohne etwas in der Hand zu haben. Ich werde sagen, ich bereite mit dem Material ein Seminar zum Thema vor. Alkmene wird mich nicht wegschicken können. Es bleibt dabei, morgen fahre ich mit Eduards Auto nach Bad Wutzenwalde.“ Ich sage nichts. Der bronzefarbene alte kleine Honda, Eduard würde mal wieder eine Weile in Prag sein, steht bereits unten vor dem Haus. Mir war nicht wohl bei der Sache. „Ich werde sie an ihre eigene Studentenzeit erinnern“, sagt Marie-Louise zum x-ten Mal, „sie wird wie eine Mutter zu mir sein.“ Ich schüttele den Kopf. „Und denk doch mal darüber nach, was ich ihr biete. Ein Seminar an der UdK zu Amphitryon Komplex. Ein Kapitel in meinem geplanten Buch. All das wird ihr schmeicheln.“ Ich blase die Backen auf. „Du kennst Alkmene nicht!“, sage ich. Dann schweigen wir. Marie-Louise schläft bald ein, während ich am Schreibtisch sitze und U-Bahnen zähle. Hatte ich ihr auch wirklich alle wichtigen Informationen gegeben, frage ich mich ein ums andere Mal. Setze ich sie nicht einer kaum zu beurteilenden Gefahr aus? Und nahm sie die Sache nicht doch zu leicht? Ich hatte den Eindruck, sie hielt meine Vermutungen, etwas anderes als nur Kunst stecke hinter dem Ganzen, tatsächlich für übertrieben. Für Hirngespinste! Andererseits hatte sie sicher recht, ihre Stelle an der Universität würde sie schützen. Kein Zweifel, Alkmene wird sofort ihren Namen googeln. Womöglich aber, fiel mir ein, wird sie Marie-Louise auch direkt fragen, ob sie mich kennt. Sie ohne Umschweife fragen, was sie über Sosias weiß? Arno Scheerbart. Und sie wird ihn ihr zeigen. Als Hologramm. Mich ihr zeigen und ihr dabei direkt ins Gesicht blicken, um zu sehen, ob sie lügt. Mich ansieht wie jemanden, den sie kennt. Liebt. Wenn ich nur wüsste, ob die Hologramme inzwischen überhaupt funktionieren. Von mir, von Alkmene, von uns allen. Ich sehe im fahlen Licht zu Marie-Louise hin. Die Decke ist zur Seite gerutscht. Das Bärchen auf dem hellblauen Schlüpfer blickt mich treuherzig an. Wäre es nicht wirklich besser, überlege ich wieder, wir würden die ganze Sache abblasen? Nicht weiter nachforschen und einfach jeden Verdacht vergessen? Doch was wäre, was ist, hätte ich recht? Zieht man den Kunstfaktor ab, so sind Hologramme eine Form der künstlichen Intelligenz, potentiell jedenfalls. Oder wenigstens die äußere Form davon. Das, was den Menschen erscheint, ihnen gezeigt wird. Oder ist das eine absolut laienhafte Sicht? Ich öffne die Augen. Ich hatte geträumt, am Schreibtisch gesessen und gegrübelt zu haben. In Wirklichkeit liege ich im Bett und Marie-Louise hockt neben mir und sieht mich im fahlen, von außen hereinsickernden Licht mit großen Eulenaugen an. Das träumte ich nun sicher nicht. „Kann schon sein“, sagt sie plötzlich ansatzlos, „dass deine IT-Spezialisten die Kunst nutzen, benutzen für irgendwelche Experimente. Und auch dass ein Autokonzern nicht einfach nur Kultur fördert, sondern ebenfalls handfeste Absichten verfolgt. L’art pour l’art war gestern, so naiv ist heute niemand mehr. Nicht mal Kunststudenten. Aber das macht das alles nicht schon zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit. Arno! Hörst du!“ Ich sage nichts, stehe auf und öffne die Balkontür. Warme Luft wabert herein. „Du hast sicher recht“, sage ich tonlos, dann liegen wir schweigend nebeneinander. Alle paar Minuten wie Karnevalsmusik so schrill die U-Bahn auf ihrem Viadukt. Ab und an betrunkener Lärm vom Gehweg her. Die Betrunkenen früherer Zeiten haben noch Lieder mit Text gegrölt[3], doch das ist vorbei, denke ich, wir leben in Zeiten abnehmender Kultur. Und morgen Abend würde Marie-Louise, so sie denn zum Bleiben aufgefordert wird, auf dem Lande sein. Auf dem Gutshof. Je später sie dort eintrifft, sagt sie, desto eher sei es wahrscheinlich, dass sie nicht wieder in die dunkle Nacht vertrieben wird. Eine kleine Reisetasche steht neben dem Kleiderschrank auf dem Boden, kaum etwas darin, es sollte nicht so aussehen, als ob sie erwartete, dort übernachten zu können. Würde sie im Bungalow schlafen? Im Netz ist übrigens, das habe ich vergessen Marie-Louise zu sagen, aber jetzt schläft sie, keine Spur zu finden von Karl und Max. Mit ihren Projektnamen Jupiter und Mercurius tauchen sie auf, sonst aber nicht. Ich bin sicher, mich an den Nachnamen der beiden richtig zu erinnern. Ein polnischer Name, Brzozowski, Karl und Max Brzozowski. Ich dachte damals, klar, Polen ist ja nur zehn Kilometer entfernt, warum dann nicht ein polnischer Nachname. Doch nun nicht eine einzige Fundstelle im Internet. So als gäbe es die Beiden nicht. Brzozowski & Sohn. Oder erinnere ich mich doch falsch? Möglich. Als ich erwache ist Marie-Louise längst auf den Beinen. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Es dauert eine Sekunde, ein lauter Knall, eine Explosion, der Baum muss wohl in Flammen stehen, die Funken fliegen nur so. Lachend dreht sie sich zu mir um und sieht sofort, dass ich eine Erektion habe. „Männer haben am Morgen Lust, Frauen am Abend“, sagt sie, kommt herein und wirft die Bettdecke über mich. „Man fragt sich, wo trotzdem die vielen Kinder herkommen. Aber gib dir keine Mühe, ich schlafe nur noch mit Alkmene. Ich habe mich verliebt. Wir können Freunde bleiben.“ Ich wache auf. Ein Albtraum. Ich schwitze. Marie-Louise ist längst auf den Beinen. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Ich habe ihr schon tausendmal gesagt, dass sie das sein lassen soll. Nicht auszudenken, sagte ich, einem Fußgänger oder Radfahrer landet die noch glühende Kippe auf dem Kopf oder fällt in die Kapuze. Klar, hatte sie gesagt, oder der Baum explodiert! Sie kommt herein, hockt sich auf mich und hat fast sofort einen Orgasmus. Sie trommelt wie wild mit den Fäusten auf meine Brust und brüllt irgendetwas. Sie würgt mich. Ich kriege keine Luft mehr. Ich weiß, gleich bin ich tot. Dann wache ich wirklich auf. Marie-Louise ist längst auf den Beinen. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Nichts passiert. Sie dreht sich zu mir um, sieht dass ich eine Erektion habe, kommt herein und streichelt mir über den Kopf. Jetzt aber bin ich wirklich wach. „Ich muss los“, sagt Marie-Louise, „zur Uni. Ich fahre dann von da aus direkt nach Bad Wutzenwalde.“ Sie wirft sich ihr Kleid über den Kopf und die Pumps in die Tasche, ich sehe sie enttäuscht an, sie küsst mich, dann ist sie weg. Die Wohnungstür fällt hart ins Schloss. „Marie-Louise“, rufe ich. Sie aber hört mich nicht, der Straßenlärm. Sie steht obenherum mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Balkon und raucht. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und lehnt sich weit über die Brüstung. Die Zigarette schnippt sie in den Baum vor unserer Wohnung, eine holländische Linde mittlerer Höhe. Eine Sekunde später metallisches Geschepper, ein Schrei. Habe ich es ihr nicht tausendmal gesagt, denke ich, halte aber meine Klappe. „Na, endlich wach?“, sagt sie und hockt sich umstandslos auf mich. Jetzt aber wirklich, denke ich, wirklich, wirklich, wirklich.

Als ich eine halbe Stunde später allein bin, denke ich an Bad Wutzenwalde. Prompt springt mir die dortige Telefonzelle, postgelb und mit Münztelefon, vor das geistige Auge. Weder ist sie beschmiert noch sind die Scheiben zertrümmert. Das „Fasse dich kurz!“-Schild fehlt nicht. Es riecht natürlich, so fällt mir ein, nach Zigarettenrauch in ihr. Die Telefonzelle in Bad Wutzenwalde steht unter Denkmalschutz. Die örtlichen Hundebesitzer haben eine Art abendlichen Wachdienst eingerichtet, damit kein jugendlicher Rabauke auf die Idee käme, seinen Hormonüberdruck ausgerechnet an einer solchen Sehenswürdigkeit auszulassen. Manch Hundebesitzer geht öfter als nötig mit seinem Hund Gassi. An die Zelle gepinkelt wird trotzdem nicht, das versteht sich von selbst. Selten aber, dass mal jemand telefoniert. Doch wenn, dann wird der Name Bad Wutzenwalde in die Welt hinausgetragen. Undenkbar nämlich, dass ein Telefonierender nicht erwähnte, er oder sie sei tatsächlich in einer Telefonzelle, und zwar in Bad Wutzenwalde, und wie schwer dieser Hörer in der Hand liege und wie seltsam, inmitten der Welt in einer Zelle zu stehen und von allen beim Telefonieren beobachtet werden zu können. „Ja“, hatte ich zu Marie-Louise kürzlich gesagt, als ich ihr von den örtlichen Gegebenheiten erzählte, „beobachtet schon, aber nicht abgehört! Von dort aus kannst du mich also anrufen. Ein Fremder erregt beim Telefonieren in der Telefonzelle keinen Verdacht. Im Gegenteil, die Leute sind stolz auf das Ding. Denk dir nur, das ist die letzte noch betriebene Telefonzelle in Deutschland!“ Sie wunderte sich. „Sagtest du nicht, es ist vom Gutshaus bis in den Ort eine Viertelstunde stramm zu Fuß. Kann ich denn nicht einfach zu diesem See runtergehen und dich von da aus anrufen?“ Sie stemmte tatsächlich die Hände in die Hüften und sah mich herausfordernd an. „Nein“, sagte ich, „vom See aus erst recht nicht. Karl und Max können sicher mithören, das haben die locker drauf. Abhören ist für die ein Leichtes.“ Marie-Louise lachte. „Das Frollein vom Amt konnte das früher auch. Und der Sicherheitsdienst bei den Nazis und die Stasi in der DDR …“ Ich holte tief Luft. „Aber das gibt es doch alles nicht mehr, jetzt gibt es nur noch Karl und Max. Und Consorten. Der freie Markt machtbesessener Ingenieurswesen.“ Sie lächelte. „Wie du meinst“, sagte sie. „Erzähl einfach, wie sehr du dich in die Telefonzelle verliebt hast, wenn einer von denen mitbekommt, dass du immer von dort aus telefonierst.“ – „Darf man da wenigstens drin rauchen?“ Jetzt musste ich lächeln. „So lange du dich kurz fasst, ist eine Zigarette erlaubt!“

Seltsam, aber ohne den Wachtmeister wäre mir die Telefonzelle nicht einmal aufgefallen. Eines Abends nämlich saßen wir bei klirrender Kälte vor meinem Bungalow, rauchten Zigaretten und tranken Schlehengin. Plötzlich zückte er einen voluminösen Schlüsselbund und hielt mir einen der Schlüssel, schwarz mit dreizackigem Bart, vor die Nase. „Das, mein Sohn“, sagte er, „ist der Schlüssel zur kleinsten Zelle der DDR!“ Ich nickte freundlich und befürchtete das Schlimmste. Zu dieser Zeit war mir die Geschichte um des Wachtmeisters Dichtkunst und seine zeitweilige Abberufung längst bekannt. Vor mir tauchte ein graues Loch auf, in dem man kaum stehen oder liegen konnte, aber da setzte er bereits zu einer Erläuterung an. „Eine Zelle nämlich mit Telefonanschluss, von der aus man die Polizei verständigen konnte. Obgleich lautes Rufen ansonsten ja ausreichte, die Polizeipräsenz war damals ja ungleich höher als heutigentags. Aber gleichviel, es handelt sich bei dieser Zelle in der Tat um eine Telefonzelle. Die seit je her einzige in unserer kleinen Gemeinde. Sie tut auch heute noch ihren Dienst und steht überdies unter Denkmalschutz.“ Er steckte den Schlüsselbund wieder ein. „Ich wusste gar nicht, dass man Telefonzellen abschließen kann“, sagte ich. „Ich selbst war es“, sagte er, meinen Einwurf ignorierend, „der nicht weniger als drei Straftäter, zwei Diebe und einen allseits bekannten Radaubruder, in die Telefonzelle sperrte und diese von außen verschloss.“ Ich nippte am Gin und überlegte krampfhaft, wo denn zum Teufel in Bad Wutzenwalde eine Telefonzelle zu finden ist. Natürlich fiel mir die postgelbe Zelle beim nächsten Mal gleich ins Auge. Sie ist nicht zu übersehen. Eigentlich. Es lässt sich auch wunderbar von ihr aus telefonieren, das muss man sagen, ein ganz anderes Gefühl, als sich mit einem Mobiltelefon in die Ecke zu drucksen oder blindlings durch die Leute durchzumarschieren. Ein Gespräch in ihr hat einfach mehr Würde, mehr Stil. „Und was macht nun“, fuhr der Wachtmeister fort, „ein straffällig gewordener Volksgenosse, der eingeschlossen ist und erkennen muss, dass die Amtsperson, die ihn festsetzte, nichts weiter tut? Ihn also nicht in Gewahrsam verbringt? Keinen Streifenwagen da zu stehen hat?“ Ich zögerte. „Nun? Ich erwähnte es schon.“ Gespannt sah er mich an. „Er ruft die Polizei?“ – „Darauf einen schönen Schlehengin! So ist es!“ Er goss mir nach. „Der Straftäter ruft selbst an und bittet um Inhaftnahme. Was für ein Fortschritt! Eine Belobigung von höherer Stelle, mit der ich, muss ich zugeben, geliebäugelt, ja fest gerechnet hatte, blieb allerdings aus. Anrufbar ist sie auch, die Zelle, nach wie vor. Wenn Sie mich also einmal erreichen wollen, lieber Herr Sosias …“ Er zog einen Zettel mit einer gestempelten Nummer und einer handschriftlichen aus seiner Jackentasche und gab ihn mir. „Dies ist“, er zeigte auf das Gestempelte, „die Nummer der Zelle.“ – „Danke“, sagte ich und steckte den Zettel ein. „Ich schlafe immer bei offenem Fenster und bin im Nu unten“, fügte er hinzu. Ich nickte. „Die andere Nummer ist für den Anschluss in meiner Wohnung. Aber niemand, hören Sie, Herr Sosias, niemand kann diese Nummer anrufen. Es sei denn, diese Person tut dies von einer Polizeidienststelle oder der besagten Telefonzelle aus. Nur so geht’s! Verstehen Sie!“

Ich sprang endlich aus dem Bett. Die Stelle, an der Eduards bronzefarbener Honda gestanden hat, ist leer. Die Schönhauser Allee kaum befahren, ein Lieferwagen, eine Taxe, das war’s auch schon. Zwei Minuten später ein Schub Autos, ein, zwei Motorräder und ein halbes Dutzend elektrischer Motorroller, dann wieder Leere. Nach der Arbeit würde sich Marie-Louise also auf den Weg machen nach Bad Wutzenwalde. Eine Schweizerin im Barnim. Ich begleite sie in Gedanken. Ich hatte ihr genau erklärt, an welcher Stelle sie von der Straße abzubiegen und welcher Weggabelung sie zu folgen hat, der nach links nämlich, rechts ginge es den Weg hinunter zum See, wo aber schon mancher Wagen steckengeblieben ist. Dann müsste sich der Wachtmeister den Geländewagen des Gemüsehändlers leihen, ein ganz modernes, sauteures Ding, und die Karre aus dem Dreck ziehen. Außerdem, gab ich zu bedenken, ist es nicht gut, sich Alkmene von der Seeseite her zu nähern, von hinten gewissermaßen. Sie ist bei allem sehr empfindlich. Ich stelle mir also vor: Marie-Louise fährt mit dem bronzefarbenen Honda an der Gabelung links und dann auf den Hof des Gutshauses, der nach der letzten Kehre plötzlich leer vor ihr liegt. Links das alte Verwaltungsgebäude mit der auffälligen Feuertreppe an der linken Außenwand, rechts das Wohnhaus. Der Kies knirscht unter den schmalen Reifen. Es ist unmöglich, von dieser Seite geräuschlos anzukommen. Die weiß-rot-getigerte Katze auf dem Fenstersims links neben der Haustür bleibt unbeeindruckt. Sie öffnet die Augen, rührt sich aber nicht vom Fleck. Eine Katze ist kein Hund. Wie nun den Wagen parken, das fragt sich Marie-Louise, oh ja, ich kenne sie, sie fragt sich unentwegt solche Sachen. Während die meisten Menschen einfach irgendwie parken und sich so alle Möglichkeiten auf eine willkommene Ankunft von vornherein verbauen können, hat Marie-Louise ein Problem zu lösen. Sie schwitzt, nicht weil ihr zu warm ist, sie trägt eine Bluse und einen kurzen Rock und ist barfuß, sondern weil sie eine diffuse Angst verspürt, seit sie von der Straße abfuhr. Wenn sie Angst hat oder nervös ist, verfällt sie in ihre schweizer Sprechweise und fühlt sich unterlegen, sagt sie. Wie also jetzt parken? Jedes Zögern gäbe der Kies gleich weiter, also muss sie intuitiv in ein, zwei Sekunden richtig entscheiden. Sie lässt den Wagen ausrollen und parkt rechts von der Eingangstür mit der Nase nach vorne zur Hausfront, leicht schräg, im Schatten. War das richtig? Die Pumps liegen auf dem Beifahrersitz, dunkelgelbe, sie greift danach, öffnet die Fahrertür, zieht die Schuhe an und geht, die Wagentür offen lassend, ohne zu zögern auf die Haustür zu. Jetzt erst sieht sie die Katze auf dem Fenstersims und erschrickt. An der Tür keine Klingel. Ich hatte nicht daran gedacht, ihr das zu sagen. Sie klopft, es macht tock, tock, tock ins Innere des Hauses hinein, ein Kopf drinnen dreht sich zur Tür hin, aber nichts geschieht. Keine weitere Bewegung. Marie-Louise wartet, den Zündschlüssel in der Hand. Der Weg dort hinten muss wohl zum Bungalow führen, Arno hat mir, denkt sie, alles genau beschrieben. Sollte sie gleich sagen, trifft sie jemanden, sie sei Dozentin an der Universität der Künste in Berlin und arbeite zum Projekt Amphitryon Komplex? Das wäre wohl das beste. Der Wagen knackt aus dem Motorraum, dem ein leises Tickern folgt. Die Katze gähnt. Du kannst auch, hatte Arno gesagt, erinnert sie sich, um das Haus herumgehen auf die Terrasse. Der Schweiß läuft ihr aus den Achseln die Hüften herab. Noch einmal klopft sie. Doch wieder geschieht nichts, nur ein Kopf dreht sich. Marie-Louise zögert, noch einmal zu klopfen. Sie geht zum Wagen zurück, zieht die Schuhe aus, wirft sie auf den Beifahrersitz, steigt ein, steckt den Zündschlüssel ins Schloss und startet den Motor. Kurze Zeit später stellt sie den Wagen in Bad Wutzenwalde auf einen der properen Parkplätze vor einem kleinen Hotel und schlendert zur Telefonzelle. Barfuß. So lange, denkt sie, Karl und Max nicht Witterung aufgenommen haben, gibt es eigentlich keinen Grund, Arno nicht einfach mit dem Mobiltelefon anzurufen. Trotzdem zieht sie die Tür der Telefonzelle auf. Warme Nikotinluft schlägt ihr entgegen. Das also, denkt sie, ist die berühmte Bad Wutzenwalder Telefonzelle! Nun ja. Zehn Minuten zuvor, das denke nur ich mir jetzt, erscheint Marie-Louise auf dem großen Bildschirm. Dachboden. Götterhimmel. Jupiter und Mercurius, respektive Karl und Max. Der Bildschirm teilt sich in vier Teile. Vier Kameras erfassen Marie-Louise. Automatisches Scannen von Gesicht und Iris. Karl zoomt auf Marie-Louises Füße und die linke Hand, die den Autoschlüssel hält. Dann erfasst er das Nummernschild des Honda. Kurz darauf reckt Max vor seinem Laptop den Daumen hoch. „Marie-Louise Lisst“, sagt er, „Künstlerin aus Basel. Der Wagen gehört einem Eduard Raban, Kulturwissenschaftler aus Berlin.“ Karl gibt einen Flötenton von sich. „Eine Verbindung zu unserem speziellen Freund?“, fragt er. „Ich arbeite dran!“ Diesem Vorgang entgegengesetzt achtet kein Mensch auf Marie-Louise, als sie die Tür der Telefonzelle aufzieht. Unsinnig eigentlich, jetzt zu telefonieren, nur um zu sagen, dass niemand auf dem Hof ist, denkt sie. Münztelefon. Die Luft trocken, dumpf. Fasse dich kurz!, liest sie. Menschen gehen langsam vorbei, niemand unter sechzig, so scheint es. Natürlich weiß sie Arnos Nummer nicht auswendig, auch so ein Verlust an Freiheit, eine Abhängigkeit von Gerätschaften, doch noch bevor sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche ziehen und nachsehen kann, welche Nummer sie zu wählen hat, klingelt das Münztelefon. Sie erschrickt heftig. Ein helles, schrilles Klingeln. Ein Schrillen. Zögerlich nimmt sie den Hörer zur Hand. „Hallo?“, sagt sie. „Sind Sie verwandt oder befreundet mit Herrn Sosias?“, fragt eine sonore Stimme. „Nein, also, ja“, erwidert sie stockend und ärgert sich sogleich, „ich …“ Wild sieht sie sich um, auf dem Platz aber ist jetzt niemand. „Bleiben Sie wo Sie sind, schauen Sie nicht zu meiner Wohnung hoch, ich hole Sie ab und gehe mit Ihnen durch den Ort. Ich lege jetzt auf, behalten Sie den Hörer in der Hand. Bewegen Sie ab und an den Mund und sagen Sie etwas. Egal was. Bleiben Sie ganz ruhig.“ Die Stimme des Mannes hatte zugleich so beruhigend wie unheilverkündend geklungen. Und was sollte das heißen, durch den Ort gehen? Warum? Sie friert plötzlich. Gefangen in einer Zelle, denkt sie und sieht hinüber zum Wagen. Ein paar Schritte nur, Zündschlüssel ins Schloss, starten, wenden und dann links, raus aus dem Kaff hier! Doch da kommt bereits eine korpulente Figur in Uniform leicht hinkend auf die Telefonzelle zu, öffnet umstandslos die Tür, legt lässig zwei Finger der rechten Hand an die Dienstmütze, gibt ihr die Hand und zieht sie heraus. Sie schafft es grad eben noch, den Hörer auf die Gabel zu bringen. „Unter Denkmalschutz“, sagt der Mann mit einem Lächeln, „ein Stück Bad Wutzenwalder Geschichte. Ich selbst war es, der spät am Abend des 9. November 1989, von einem Dienstgang heimkehrend, das Telefon“, er sieht es fast zärtlich an, „klingeln hörte und abnahm. Auf diese Weise kam die inzwischen weltberühmte Übergangsregelung zur Ausreise der DDR-Bürger über die innerdeutsche Grenze bis zu uns nach Bad Wutzenwalde, und zwar bereits vor jeder Meldung in der Presse und im Rundfunk. Ich erzählte es sogleich jedem und allen. Man hielt mich für verrückt und erwog sicher schon Maßnahmen. Hier entlang bitte, Frau …, wie war doch gleich Ihr Name?“

Und dann lässt sich Marie-Louise vom Wachtmeister also den Ort ausbuchstabieren. So nannte er das immer, wenn er jemandem den Ort zeigte, ausbuchstabieren. Das passt zu ihm. „Ich buchstabiere Ihnen Bad Wutzenwalde aus, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen“, sagte er also, „folgen Sie mir!“ Hätte ich Marie-Louise warnen müssen vor des Wachtmeisters Präsenz? Sicher, ich hatte ihr das ein oder andere über ihn erzählt, auch die mitunter langen Gespräche vor meinem Bungalow nicht unerwähnt gelassen, doch das muss ihr womöglich nicht recht im Gedächtnis geblieben oder gar als Hirngespinsterei erschienen sein. Das passiert mir öfter als mir lieb ist: Die Leute glauben mir nicht oder hören mir gar nicht erst richtig zu. Achten nicht auf Details. Nun, jedenfalls läuft das seltsame Paar eine Weile durch Bad Wutzenwalde, Marie-Louise mehr und mehr paralysiert, während der Wachtmeister allen freundlich zunickt, vor der Bäckerei mit der Bäckersfrau ein paar Worte wechselt, jedermanns Hund streichelt und zwischendurch die ein oder andere Bemerkung fallen lässt, dieses Haus hier war zu Ostzeiten … in jener Gasse dort drüben hat sich einmal …, so in der Art, bis sie schließlich wieder an der Telefonzelle anlangen. Es dämmert bereits. „Gut also, das wäre getan“, brummt er, „warten wir nun also noch, bis es zur Gänze dunkel ist, Frau Marie-Louise, dann versuchen wir es vom See her. Der Kies des Hofes ist allzu tückisch. Haben Sie einen Feldstecher dabei?“

An diesem Abend sieht mich Marie-Louise zum ersten Mal in meiner Rolle als Sosias. Im Kostüm gewissermaßen, auch wenn ich keins trug. Den Weg aus dem Ort hinaus zum Gutshof hatten sie schweigend zu Fuß unternommen. An der Weggabelung gingen sie rechts zum See hinunter. Der Mond schien durch Schleierwolken hindurch. Eine Eule flog absolut lautlos über ihre Köpfe hinweg. Am Seeufer liefen sie vorsichtig ein paar hundert Meter parallel zum Hauptgebäude, das, so flüsterte der Wachtmeister Marie-Louise zu, hinter dem Waldstück läge. Schließlich schlichen sie vorsichtig zwischen den Bäumen den Hang hinauf. Die Wiese vor ihnen im fahlen Mondlicht. Position bezogen sie nahe der Schneise (an deren oberen Ende mein Bungalow liegt), von wo aus sie von einem kleinen Hügel mit einer Mulde obenauf, in die man sich wunderbar hineinlegen konnte, so Marie-Louise später mir gegenüber, gute Sicht auf die Rückseite des Hauses hatten. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber tauchte ich auf, einfach so, erzählte Marie-Louise mir mit einem Schaudern, mein Doppelgänger also, der eine Weile rauchend auf der Terrasse stand, und wäre nicht die Katze durch meine Beine hindurchgelaufen, sagte Marie-Louise noch, sie würde mich für real gehalten haben auf die Entfernung. „Überhaupt“, berichtete sie mir später mit glänzenden Augen, „sind dann alle einfach immer durch sich selbst oder andere hindurchgegangen. Der Wachtmeister erzählte mir, dass es am Anfang noch Zusammenstöße gegeben hat, Karl und Max und Alkmene seien einige Male zusammengerasselt, weil sie ihr Gegenüber für ein Hologramm hielten. Perfekt, sagte er, habe das alles aber trotzdem nie gewirkt, das mit den Dingern, Dinger sagte er, denn manchmal sind die Hologramme wohl unscharf oder bewegen sich hackelig oder fallen sogar einfach aus und sind dann plötzlich weg.“ Ich zog scharf die Luft ein. „Aha! Und nur Amphitryon und mich gab es an diesem Abend nicht doppelt?“ „Ja, sonst alles doppelt. Selbst die Katze!“ – „Die Katze?!“ – „Ja.“

V

Dreiviertel Acht. Marie-Louise todmüde. Augendeckel auf Halbmast. Ich hatte sie nicht hereinkommen hören. „Und?“, frage ich. Sie zuckt mit den Schultern. Auf dem Hof sei niemand gewesen, aber den Wachtmeister habe sie kennengelernt, in dessen Datsche sie aber nicht übernachten hätte wollen. Kurz nach Mitternacht sei sie in den Wagen gestiegen, um dann auf einem Autobahnrastplatz bis zur Morgendämmerung mehr schlecht als recht ein wenig zu schlafen. Ich schlage vor, ins Café Schildkrödt in der Wichertstraße zu gehen. Sie nickt müde. Zuletzt war das Café einige Male in den Schlagzeilen, weil Kinder dort nicht erwünscht sind. Ein freundliches Schild informiert über das Ruhebedürfnis Erwachsener. Mobiltelefone sind ebenfalls untersagt. Kürzlich gab es einen Einbruch mit Vandalismus. Die Polizei ermittelte, ohne Erfolg, und nun läuft seit ein paar Tagen der Betrieb wieder. Statt des Hinweises auf nichterwünschte Kinder heißt es nun offiziell Schildkrödt – Café für Erwachsene. Wir drängeln uns an den lebendigen Excel-Tabellen vorbei, die ohne Coffee-to-Go nicht auf der Arbeit erscheinen dürfen. Hinten in der Ecke Eduard, ich erkenne ihn sofort an seiner buckligen Sitzhaltung. Er ist oft der erste Gast. Links und rechts Bücherstapel. Er hackt etwas in seinen Rechner. „Prag?“, rufe ich ihm leise zu, als er kurz aufsieht. „Erst heute Abend, hatte noch zu tun“, sagt er laut. Wir setzen uns ans Fenster. „Und was nun, Arno?“, fragt Marie-Louise. Sie hat knallrote Augen wie ein Zombie. „Ein zweiter Versuch?“, sage ich. „Nicht allein“, erwidert sie, „der Wachtmeister hat da so Andeutungen gemacht.“ Ich winke ab. „Der erzählt viel, wenn der Tag lang ist“, sage ich lächelnd. Seltsam, jetzt war ich es, der das Ganze für nicht so gefährlich erklärte. Wir bestellen Frühstück. Marie-Louise bleibt ernst. Wir schweigen eine Weile. Eduard fragt gestisch, Lenkrad, Daumen wackelnd, ob wir mit dem Auto zufrieden sind, wir nicken, dann starrt er wieder auf seinen Rechner. Ein Buch über Nahtoderfahrung.[4] Er sitzt bereits mehrere Jahre daran, theoretisch, wie er immer wieder sagt, rein theoretisch. Vielleicht, denke ich, sollten wir Eduard in unsere Nachforschungen einweihen. Wir frühstücken lange und sie erzählt die ganze Geschichte und wie der Wachtmeister sich sehr routiniert in die Beobachtungsmulde auf dem Hügel gleiten ließ. Wie ein Walross, sagt sie lächelnd.

Ich mache mir Sorgen. Ohne Zweifel ist sie ziemlich durcheinander, und dies, obwohl sie doch die Installation in Basel kennt und wir alles x-mal durchgesprochen hatten. Womöglich hat sie ihre Kräfte überschätzt. Oder war es der Wachtmeister, der ihr am meisten zugesetzt hat? Sie sagt, sie habe ihn immer wieder, ganz widersinnig natürlich, wie aus Versehen berührt, nur um sicherzugehen, dass er echt ist, aus Fleisch und Blut. „Sicher ist immerhin, dass es Alkmene nicht verwundern kann, wenn sich eine Kunststudentin, noch dazu aus Basel, für das Projekt interessiert“, sage ich, nur um sie ein wenig zu beruhigen. „Es wird am besten sein“, entgegnet sie, „wir greifen die Zwillingsidee auf und ich nehme deinen Bruder mit, den Vernünftigeren von euch beiden.“ Ich nicke, doch noch bevor ich etwas sagen kann, ein Prasseln und Krachen. Kinder, so fünf, sechs Jahre alt, werfen Steine und Sand gegen die Scheiben und laufen daraufhin quiekend zu einem mattgrünen, auf dem Fahrradstreifen stehenden SUV[5], dessen rechte hintere Tür eine dünne junge Frau in einem weißen Hosenanzug aufhält. Als alle drin sind, geht die Frau energisch um den Wagen herum, steigt ein und gibt Vollgas. Dann ist wieder Ruhe. „Wir brauchen einen Plan“, sage ich. Später zuhause mache ich mich noch einmal an die Recherche, auch mit italienischen, französischen und englischen Suchbegriffen. Das Kunstprojekt Amphitryon Komplex schien aber tatsächlich fast sang- und klanglos aus dem Bewusstsein der Kunstszene verschwunden zu sein. Auf der Website der Kunsthalle Basel findet sich ein Text (von mir), ein paar Fotos und Daten, mehr aber nicht, auf der des fördernden Autokonzerns nur allerlei über die Kultur- und Kunstförderung, der übliche Feigenblattaktionismus, nichts aber zu unserem Projekt. Allein die Kübler-Balgbützel Stiftung hat umfangreichere Informationen und zwei Dutzend Fotos auf ihre Seite gestellt, doch kein Verlag kündigt ein Buch an, kein Reiseveranstalter offeriert einen hochpreisigen Besuch des Gutshofes mit anschließender Bootsfahrt und Besichtigung des Schiffshebewerks, oder was auch immer. Nichts. Auf Wikipedia ebenfalls nichts. Die Google-Bildsuche ergibt drei zusätzliche Bilder. Drei! Täuschte ich mich, oder war das Ganze schon sehr früh ein Rohrkrepierer gewesen, und das wahrscheinlich schon zu der Zeit, als ich mir noch die Finger wund schrieb für die Broschüren und Anträge? Oder ist das, frage ich mich, jetzt nicht einfach ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das ganze Projekt nur Tarnung ist? Denn die einzigen, die womöglich von der ganzen Chose profitieren, sind Karl und Max und ihre möglichen Hintermänner und -frauen. Außerdem frage ich mich ja schon länger, wo denn Amphitryon abgeblieben ist. Zuletzt mit ihm gesprochen hatte ich am Abend der Finissage in Basel. Er saß kurz vor Beginn in einem Nebenraum auf einem Hocker, spuckte auf seine Schuhe und polierte sie. „Heute muss es einfach klappen, Arno“, sagte er damals, irrer Blick, wie ein waidwundes Tier, „heute machen wir den Fang und verkaufen den Komplex!“

Was also ging da wirklich vor? Doch noch bevor ich dies alles mit Marie-Louise besprechen konnte, bekam sie noch am selben Tag urplötzlich das Angebot, in Cork zu unterrichten. Ihre Professorin, die jedes Jahr zwei mal nach Irland reiste und dort lehrte, hatte sich bei einem Fahrradunfall in Zürich beide Arme gebrochen. Mit dem Vorderrad in die Straßenbahnschienen, ausgerechnet auf Höhe des Kunsthauses am Pfauen, und zwar beim Anblick des Erweiterungsbaus, über den sie sich schon in der Planungsphase fürchterlich aufgeregt hatte, so Marie-Louise. Sie nahm das Angebot an und flog schon am nächsten Nachmittag nach Irland. „Wir skypen“, rief sie mir noch zu, als sie in Schönefeld mit ihrem Handgepäckkoffer in den Wartebereich verschwand. So schnell kann’s gehen! Mit einem Kloß im Hals fuhr ich zurück, suchte dann lange einen Parkplatz und taperte schließlich missgelaunt die Schönhauser Allee runter. Wie immer lief viel Menschenvolk gewohnheitsmäßig durcheinander. Jeder Einzelne mit seinem eigenen kleinen privaten Glück beschäftigt, der Suche danach, der Pflege des vermeintlich Erreichten, was auch immer. Die Unwissenden![6] Ich ging in die Schönhauser Allee Arcaden und kaufte eine große Süßkartoffel, Zucchini, Paprika, Kohlrabi, Zitronen, ein Sechserpack Bier, ein großes Stück Cheddar und eine Papiertüte mit Werbung drauf. Marie-Louise in Cork, dachte ich die ganze Zeit, bis die Professorin die Arme wieder bewegen kann. In etwa sechs Wochen, so der Plan, kommt sie zurück nach Berlin. Sechs Wochen! Sollte ich etwa allein nach Bad Wutzenwalde, um dort meinen Zwillingsbruder zu mimen? Ich verließ das Einkaufszentrum durch die Drehtür. Unter dem Hochbahnviadukt spielte ein greiser Gitarrist dröhnend die Filmmusik von Dead Man. Neben ihm ein Pulk Menschen, auf Grün wartend, teils armselige Gestalten mit verhärmten Gesichtern, gebeugt, mit hängenden Köpfen und nach unten gerichteten Mundwinkeln, dazwischen die üblichen, selbstbewusst dreinblickenden jungen Grobiane. Und unter ihnen, mitten darin, wie eine Erscheinung, fast hätte ich aufgeschrien, Alkmene! Eine hohe, schwarze Gestalt! Kein Zweifel. In schwarzem Trenchcoat, die Haare streng nach hinten gebunden. Mein Herz wummerte heftig. Ich drehe sofort auf dem Absatz um und laufe über den Bahnsteig der S-Bahn bis zur Greifenhagener Straße und dann nach Hause. Hoffentlich hatte sie mich nicht gesehen, dachte ich. Endlich sitze ich am Schreibtisch und betrachte die Häuserfront gegenüber. Ich beruhige mich langsam. Die U-Bahnen zischen regelmäßig durchs Bild. Glück gehabt, denke ich immer wieder. Glück gehabt!

Marie-Louise in Cork. Plötzlich war sie weg. Natürlich fehlt sie mir. Ich versuche, sie mir vorzustellen. Im Baumwollschlüpfer oder mit einem Shirt bekleidet auf dem Futon. Rauchend auf dem Balkon. Ist sie unten herum nackig, so sagt sie immer irgendwann plötzlich, ohne dass ich auch nur die geringste Andeutung gemacht habe, da müsse eben Luft ran. Aber ich schweife ab. Für sie ist es jedenfalls ein Glück, denke ich, das mit Cork. Eine schöne Möglichkeit, Kontakte zu machen. Auch wenn ich mich fragte, wie man sich denn bei einem Radunfall beide Arme bricht. Man fliegt doch nicht geradeaus über den Lenker! Aber gleichviel, Tatsache ist, Marie-Louise ist fort und ich hatte Alkmene gesehen. In Berlin! Ausgerechnet jetzt. Ich wünschte, es wäre Phantasie gewesen. Gut nur, dass ich nicht dreißig Sekunden später raus bin aus dem Einkaufszentrum. Dann wären wir uns womöglich vor dem Eingang begegnet. Alkmene, wie sie leibt und lebt. Eine hohe, schwarze Gestalt. Sicher hätte sie mir umstands- und ansatzlos die Faust ins Gesicht gerammt. Wer hätte mir schon geholfen? Niemand! Alle gehen davon aus, dass ein Mann, trifft es ihn von einer Frau, genau das verdient hat. Und noch mehr! Würde sonst, so denken alle, eine zarte Frau zu solchen Mitteln greifen? Wie gesagt, Glück gehabt! So sitze ich nun also nachdenkend am Schreibtisch, ohne etwas arbeiten zu können. Das Hochbahnviadukt. Die Häuser gegenüber. Als es dunkel wird lege ich mich aufs Bett und mir einen getragenen Schlüpfer Marie-Louises aufs Gesicht. Eine kurze Weile komme ich mir pervers vor, denke dann aber, dass jeder das machen würde in meiner Lage, oder zumindest jeder Zweite. Der eine legt sich das Höschen aufs Gesicht, der andere nicht. Und schon steht da wieder die Sache mit dem Zwillingsbruder im Raum. So skeptisch ich auch gewesen sein mochte gegenüber der Zwillingsidee, nun schien sie mir auf einmal machbar zu sein. Wirklich machbar! Ich springe auf und stelle mich vor den großen, an der Wand stehenden Spiegel, ein Überbleibsel von F. Jung, und prüfte meine Fähigkeiten zur Metamorphose. Ich kombiniere die unterschiedlichsten Kleidungsstücke, probe verschiedene Körperhaltungen und Arten zu stehen, auf einem Stuhl zu sitzen, auf dem Laptop herumzuhacken, zu lächeln, mich zu kratzen, ja ich zog sogar Marie-Louises Slip an und onanierte auf den Spiegel – das nämlich täte einer der beiden Zwillingsbrüder nie, so sagte ich mir. Nie! Fragt sich nur welcher! Eben das würde ich noch herausbekommen müssen. Und einen Namen musste er natürlich auch bekommen. Klar. Die Zwillingsbruderschaft hatte perfekt zu sitzen, keine Frage! Nach vier, fünf Zigaretten und zwei Bieren, unten herum nackig auf dem Balkon, taufte ich meinen Bruder dann schließlich Robert. Einfach so. „Hallo Robert“, rief ich hineingehend und sah in den Spiegel, auf dem das Sperma langsam antrocknete. „Hallo Arno, Bruderherz“, sagte Robert und lächelte mich zart an. Doch das Gespräch stockte unmittelbar, mir fiel nichts ein, ihm auch nicht, wir hatten uns nichts zu sagen. Immerhin aber, dachte ich, hat der Prozess begonnen. Wir öffneten die dritte Flasche Bier, prosteten uns zu und nahmen einen tiefen Schluck.

Eine weitere Frage war noch zu klären: Sollte ich Eduard nun einweihen oder nicht? Ihm alles von Anfang an erläutern? Denn allein war die Sache womöglich zu gefährlich. Und dann der Wachtmeister! Würde er mich nicht ohnehin durchschauen, wenn ich in Bad Wutzenwalde auftauchte als Robert, dem Zwillingsbruder Arnos? Kurz vor Mitternacht deutscher Zeit meldete sich Marie-Louise per Skype aus Cork. Alles gut. Sie sah toll aus. Im Hintergrund die Couch, auf der sie schlafen würde, darauf ein hellgrauer Flokatiteppich und ein Kissen. Ich sagte ihr nichts davon, dass ich drauf und dran war, ihre Idee mit dem Zwilling nun tatsächlich in die Tat umzusetzen. Stattdessen lenkte ich das Gespräch auf Eduard, den Marie-Louise ja nur sehr flüchtig kannte, und erzählte ihr, wie er vor Jahren nach einem eigentlich glimpflich verlaufenden Autounfall plötzlich ins Koma gefallen war. Tage später. Zusammengebrochen mitten auf der Straße. „Als er nach Wochen im Krankenhaus plötzlich erwachte, war er wie ausgewechselt gewesen. Ein Anderer. Er aber sagte, er sei noch immer der selbe Eduard wie zuvor. Nachwirkungen keine! Dabei konnte jeder sehen, wie getrieben er nun war, in allem. Wie ausgewechselt. Wie gesagt, bis heute.“ Pause. „Okay, erzähl ihm die Sache“, sagte Marie-Louise schließlich, „I have to walk the dog, bis bald,“ worauf sie etwas mir Unverständliches in den Raum rief und der Flokatiteppich in die Höhe schnellte und ihr jaulend in den Rücken sprang. Sie lächelte, winkte mir zu und weg war sie.

Und Robert war auch weg, irgendwie. Mit dem vierten oder fünften Bier kam er zurück. Das wurde mir aber erst in dem Augenblick klar, als ich schwankend und mit verheultem Gesicht vor dem Spiegel stand und mir mit einem Male Sorgen um Arno machte. Um meinen Zwillingsbruder. Ich, der Vernünftigere, Robert, sorgte mich um ihn. Wo mochte der Kerl nur stecken, fragte ich mich, und was hat sein Verschwinden mit diesem Projekt zu tun, Amphitryon Komplex? Sicher bin ich, damit war auf jeden Fall zu rechnen, nicht der Einzige, der nach ihm sucht. Denn womöglich wollte man ihn unschädlich machen! Aber wer? Als ich am Morgen erwachte, war ich wieder Arno. Es reicht nicht, sich zu betrinken und rührselig zu werden. Ich konnte nicht einfach ohne weiteres in eine Rolle hineinschlüpfen, nein, ich musste tatsächlich Robert werden. Für eine Weile. In Wirklichkeit. Eine Metamorphose durchmachen. Ich dachte nach. Ovid widmet sich in seinen Metamorphosen bekanntlich ja nichts anderem als dem Gestaltwandel, während ich aber einen Persönlichkeitswandel im Sinn hatte, nach außen getarnt durch die Zwillingsidee. Wie also vorgehen? Mich äußerlich zu verändern tat nicht not, naturgemäß, das war klar. Eine Tätowierung allerdings, eine kleine Veränderung nur, die wäre nicht schlecht. Um so en passant klar zu machen, ich bin der Andere! Aber so etwas, eine Tätowierung meine ich, braucht eine Weile und darf dann ja auch nicht nagelneu aussehen. Doch ging das überhaupt, eine Tätowierung so stechen lassen, dass sie wie eine uralte wirkte? Außerdem war ich nicht der Typ für so etwas. Ich, Arno. Und das Entfernen hinterließ dann sicher eine Narbe. Oder sollte ich mir einfach einen Bart wachsen lassen, mir irgendwie Geld leihen und ein Motorrad besorgen? Würde sich Alkmene dadurch blenden lassen, würden Karl und Max, die mich ja als lebendes Hologramm erschaffen hatten und alle nur möglichen Bilder und Daten auf dem Rechner horteten, mich nicht gleich erkennen? Mir ins Gesicht lachen und sagen, netter Versuch, Arno! Und stünde ich dann sozusagen neben mir selbst, neben Sosias, also dem Hologramm-Sosias, wäre dann nicht alles noch augenfälliger?

Am Abend lief ich dann vor den Schrank von F. Jung, ein furniertes Ungetüm aus den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts. Genauer gesagt mit Karacho vor die offen stehende Schranktür, die ich im Zwielicht der Wohnung nicht gesehen hatte. Ich erwischte die Außenkante. Mittig mit Nase und Stirn. Ich taumelte zurück und fiel aufs Bett. Vorsichtig betastete ich die lädierte Nasenspitze und die Prellung über der Nasenwurzel. Aber erst als ich vor dem Spiegel stand, mir die Bescherung anzusehen, kam mir die entscheidende Idee. Ich würde mir, überlegte ich, einfach eine schöne alte Wundnarbe auf die Stirn tätowieren lassen! Keinen roten Zacken wie Harry Potter, sondern schön mittig einen geraden Strich. Nicht zu tief gestochen, damit er wieder verschwindet, wenn das alles vorbei sein würde. Konnte ja nicht die Welt kosten. Nur alt und nicht frisch musste die Narbe aussehen. Unbedingt! Und Schuld daran war natürlich Arno, eine Kindheitsgeschichte, die musste es natürlich auch geben. Arno, der aus einem Kantholz und einem Seil ein Pendel hergestellt hatte, in das ich prompt hineinlief. Ich, Robert. Oder Robert rennt als Kind vor die Küchenschrankkante! Ohne Arnos Schuld. Gefällt mir fast noch besser! Weder Alkmene noch Amphitryon hatte ich etwas von meiner Kindheit und Jugend erzählt. Weder etwas Wahres noch Erlogenes. Dass meine Eltern ursprünglich aus dem Böhmischen stammten, weiß also keiner. Oder aus Schlesien. Oder meine Mutter aus Südtirol und mein Vater aus Königsberg. Oder beide aus Westfalen. Oder Pommern. Egal, dachte ich, ich muss mich nur für etwas entscheiden und in Bad Wutzenwalde Robert sein. Das ist eigentlich alles.

Der Tätowierer in einem Studio gleich nebenan, den ich anderntags fragte, meinte mit einem toten Blick aus seinen schwarzen Augen, er sei Künstler, er mache so etwas nicht. Eine Narbe tätowieren! Und dann auch noch, so sagte er, als Temptoo! Wo käme man denn da hin! Da sei die Tür. Statt mich unnötig über den Idioten aufzuregen fuhr ich mit Marie-Louises Rad nach Kreuzberg, wo direkt vor mir in einer wüsten Straße ein Tätowierstudio auftauchte. Als hätte ich’s gewusst. Ich schloss das Rad an eine Straßenlaterne an und betrat schweißüberströmt den kleinen Laden. Schwarze Wände mit dutzenden von gerahmten Fotos, Krake auf Oberarm, Drache auf Busen, Flammen über weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen, ein Anus in Flammen, ein Äffchen auf einem Anker auf Unterarm, Florales auf Wade, ein VW-Bus auf Mannesbrust, Rosen auf Arschbacken, Backstein auf Stirn, chemische Formel auf prallem Bauch, Zappa auf dem Klo auf Bizeps und so weiter. Nach zwei, drei Minuten bewegt sich endlich ein schwarzer Vorhang und es erscheint eine über und über mit züngelnden Flammen tätowierte Tätowiererin im knappen Bikini mit Netzkleid darüber, barfuß. Ich schildere kurz und knapp mein Anliegen, eine Kindheitsnarbe, alt und lange schon verheilt, worauf sie zur Uhr blickt, mich an den Schultern packt, auf den Zahnarztsessel schiebt und gleich die Nadel anlegt. Betäubung ginge auch, wenn ich denn wollte, ich wäre ja an dieser Stelle schon etwas lädiert. „Nein“, sage ich, „Kunst muss wehtun!“ Sie strahlt mich an. „Schön, also genau in die Mitte, da wo die Prellung ist! Ich mach dir eine Kontur mit ein wenig Farbe. Das wird reichen. Hält dann aber auch nur ein paar Wochen, je nachdem. Ist ein Zwanni dafür okay? Und schön stillhalten!“ Mit einer Folie auf der Stirn, einem Merkzettel und der Visitenkarte von Barbara in der Hand trete ich eine halbe Stunde später wieder auf die Straße. In ihrer Kundenkartei, denke ich, steht nun ein Robert Scheerbart. Ich. An Marie-Louise sende ich gleich eine Nachricht. „Die Transformation hat begonnen“, schreibe ich, „Liebe Grüße von Arno & Robert.“ Jetzt weiß sie es. Sie sendet zwei Ausrufezeichen zurück. Ich fahre zurück in den Prenzlauer Berg, kaufe ein und verkrieche mich wieder in unserer Wohnung. Wen, überlege ich, sollte ich noch einweihen? Eduard? Oder sogar den Wachtmeister? Niemanden? Ein paar Tage lang mache ich mir Listen und Notizen. Zu Robert. Welchen Kleidungsstil er pflegt, was er gerne isst und was nicht, welche Zigarettenmarke er bevorzugt. Und so weiter. Und ob ich mich für Sport interessiere oder Philosophie, oder beides, wie mein Verhältnis zu meinem Bruder Arno ist, welchen Beruf ich habe. Nicht so einfach, sich ganz neu als sein eigener Zwilling zu erfinden.

Marie-Louise meldet sich jetzt nur noch mit SMS-Nachrichten. Der Corker Dialekt sei interessant, so langsam höre sie sich ein, schreibt sie. Ende der Woche treffe ich Eduard im Schildkrödt, zufällig wie immer. Er löffelt eine vegane Schildkrötensuppe, neben dem veganen Kinderteller für Erwachsene die Spezialität des kleinen Cafés. Ich nehme einen Kaffee, schwarz und humorlos. „Prag war gut“, sagt er ungefragt. „Fällt dir etwas auf an mir?“, erwidere ich. „Wo ist denn Marie-Louise?“, fragt er zurück. Es ist nie leicht, sich mit Eduard zu unterhalten, am Anfang ist es immer ein Kampf um die Hoheit. Ich erzähle ihm die Sache mit Marie-Louises Einsatz in Irland und dem Malheur ihrer Baseler Professorin in Zürich. Auch er findet es seltsam, sich bei einem Fahrradunfall beide Arme zu brechen. „Ich habe vor einer Weile“, sagt er, „mal einen Kerl im Urban-Krankenhaus kennengelernt, der hatte seinen besten Freund aufgefangen, als der besoffen vom Balkon gefallen ist. Beide Arme in Gips.“ Ich nicke. Eine gute Geschichte. „Jedenfalls ist Marie-Louise jetzt ein paar Wochen weg“, stelle ich noch einmal fest und frage zum zweiten Mal, ob ihm an mir nichts auffallen würde. „Sollte mir denn etwas auffallen?“ – „Schon gut“, sage ich. „Ich hatte einen seltsamen Traum in Prag“, beginnt Eduard plötzlich ernst, „stell dir vor, ich war tot und zugleich angeklagt, mich umgebracht zu haben. Ich träume immer so ein Zeug, wenn ich in Prag bin.“ Ich betaste meine Stirn, grinse und sage, „sei froh, dass du nicht als Käfer aufgewacht bist!“ Er aber geht auf den Scherz nicht ein und schiebt mir mit ernstem Gesicht zwei Blätter zu, beidseitig über und über bedeckt mit seiner seltsamen Handschrift. Die Großbuchstaben schreibt Eduard auf dem Kopf oder spiegelbildlich oder er legt sie quer ins Bild. Mit Rotstift sind einzelne Passagen nummeriert. „Gut, dass wir uns getroffen haben“, sagt er, „du kannst mir helfen. Hier sind die Fakten, die Traumfakten. Aufgeschrieben, so gut es ging.“ Er atmet schwer. „Arno, ich dachte, dass ich tot aufwache! Oder schon tot aufgewacht bin! Ich war total fertig. Mach daraus eine Geschichte! Ich hab’s selbst versucht, wie du siehst, der Anfang ist getan, aber ich kann das nicht selbst zuende schreiben.“ Ich weiß nicht recht, was tun. Eduard ist generell schwer einzuschätzen. Man weiß oft nicht, woran man mit ihm ist. Manchmal flaniert er wie selbstverständlich mit den denkbar schönsten Frauen durch den Kiez, schwatzt auf dem Markt mit dem Gemüsehändler oder rattert auf seinem uralten gelben Hollandrad über das Kopfsteinpflaster, winkend und grüßend, der reinste Sonnenschein. Nicht selten aber schleicht er auch mit gesenktem Kopf und kleinen Schritten durch die Gegend, gierig an einer filterlosen Zigarette saugend, niemanden ansehend, niemanden grüßend. Fragt man ihn etwas, ist er nicht nur wortkarg und kurz angebunden, er ist feindselig. Ich nehme also die Blätter an mich und nicke ihm freundlich zu. „Gut“, sage ich, „mach ich.“ – „Ich gebe dir vierhundert Euro dafür, ich habe gut verdient in Prag. Du weißt schon.“ Ich weiß zwar durchaus nicht, wovon er spricht, nicke aber wieder, trinke meinen Kaffee und verabschiede mich kurz darauf. Da habe ich mir ja etwas Schönes eingebrockt, denke ich, mache mich aber, kaum zuhause, sofort an die Arbeit. Ende der Woche lese ich ihm seine fertige Geschichte im Schildkrödt leise vor, obwohl außer uns so spät ohnehin niemand da ist. Vorne poliert einer versonnen Gläser, das ist alles.

Sie sind nicht Eduard Raban, hört er eine Stimme sagen. Der Kopf des Richters wirkt klein über der roten Robe. Er sagt es noch einmal, etwas lauter diesmal, so als sei er nicht sicher, ob der Mann ihn verstanden habe. Der Mann sagt nichts. Doch er verweigert keineswegs die Aussage, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Er spürt sein Herz schlagen in dumpfen, wie in Zeitlupe ablaufenden Schlägen: Kawumm, kawumm schien es zu machen. Von der Seite eine weibliche Stimme, die fragt, ob ihm nicht gut sei, ob er ein Glas Wasser wolle. Möchten Sie ein Glas Wasser?, fragt die Frau, ruft aber schon nach dem Saaldiener, der Angeklagte benötige ein Glas Wasser. Man wartet schweigend. Jemand stellt es neben ihn auf die Bank. Im schräg in den Gerichtssaal fallenden Sonnenlicht erkennt er, dass das Wasser nicht ganz sauber ist. Er nimmt einen Schluck, voll Widerwillen, das Wasser ist lauwarm, und stellt das Glas wieder auf die helle Buchenholzbank, die ursprünglich hochglänzend lackiert gewesen war, nun aber dort, wo die Angeklagten saßen, nur noch matt glänzte; die Hosenböden der Beschuldigten hatten den Glanz zum Ermatten gebracht. Auch die Armlehnen waren matt, während unter ihnen, am Rand der Sitzfläche, eine Spur des alten Glanzes erhalten geblieben war. Sind Sie in der Lage, weitere Fragen zu beantworten, hört er den Richter sagen. Der Mann hinter ihm stößt ihn leicht an, sein Verteidiger. Dieser hatte vor der Verhandlung versucht mit ihm zu sprechen, aber er hatte nicht ein Wort sagen können, nicht eine der Fragen hatte er ihm beantwortet, so als sei er plötzlich stumm geworden. Nun gut, hatte sein Verteidiger endlich gesagt, ich erkläre Ihnen die Zusammenhänge und Sie nicken, wenn Sie verstanden haben. Dann waren verschiedene, wichtige Zeichen ausgemacht worden, leichtes Anstoßen, Räuspern oder kurz den Rotz in der Nase hochziehen, die Ja oder Nein oder Ich kann mich nicht erinnern bedeuteten, eben das, was er sagen sollte, wenn der Richter oder der Staatsanwalt etwas fragte, nur wusste er jetzt nicht mehr, welches Zeichen nun im Einzelnen Ja oder Nein oder Ich kann mich nicht erinnern bedeutete. Warum, hört er den Richter jetzt sagen, geben Sie sich als Eduard Raban aus? Ein Ventilator in großer Höhe surrt, seine Füße sind eiskalt und das Wummern in seiner Brust schlägt ihm bis in den Hals, ja es scheint ihm fast, als müsse man sein Herz deutlich sehen, wenn er nur den Mund weit genug öffnete, wie es in den Mundraum drängt, pulsierend, rot schimmernd, immer ein wenig mehr sich hinein- oder vielmehr aus dem Körper sich herausarbeitend, um schließlich den Mundraum völlig auszufüllen. Wir wissen, Sie können nicht Eduard Raban sein, hört er den Richter sagen, bevor ihm schlecht wird. Er bekommt keine Luft, er atmet wie gegen ein Ventil, ein wie auch immer verkehrt herum eingesetztes Ventil. Das Glas mit dem Wasser fällt zu Boden, es dreht sich, auf der Seite liegend, einige Male um sich selbst, bevor es endlich still liegt. Es glotzt ihn an. Er ist zu Boden gesunken. Was nur wollte man von ihm? Er wusste doch selbst, dass er nicht Eduard Raban ist. Natürlich wusste er das. Er hatte es nie behauptet. Wäre ich Raban, dachte er, so läge ich im Leichenschauhaus, kaum zweihundert Meter von diesem Saal entfernt. Das wussten doch alle, oder etwa nicht? Das jedenfalls würde er sagen, wenn man ihn nur ließe, wenn er nur könnte. Ein seltsames Gesicht beugt sich über ihn, weitere drängen herbei, ein Jemand packt ihn unter den Achseln, von hinten, so dass er zwei Fäuste vor seinem Gesicht hat, geballt und zu allem bereit. Ein Anderer hat seine Füße ergriffen, vielmehr seine Fersen, so dass ihn nun diese Beiden, der Jemand, von dem er nur die Fäuste sieht, und der Andere, von dem er nichts sieht, forttragen. Der Ventilator summt noch immer weit oben an der Saaldecke, er bekommt noch immer keine Luft und seine Füße sind noch immer eiskalt. Er hebt ein wenig den Kopf, auch wenn es ihn sehr anstrengt. Der Andere, der ihn an den Fersen trägt und rückwärts geht, fast so als sei er es gewöhnt und mache es regelmäßig, kommt ihm durchaus bekannt vor, doch ist es nicht etwa sein Verteidiger, keineswegs, und auch durchaus nicht der Richter, auf keinen Fall. Er lässt den Kopf wieder in den Nacken sinken. Der Ventilator bewegt sich langsam aus seinem Blickfeld heraus, noch immer schlägt sein Herz dumpf und wie in Zeitlupe, sein Mund steht offen, er erkennt den Türrahmen aus Eiche, die zweiflügelige Tür, die er nur im Anschnitt sehen kann, dann den Flur, die Tonnendecken, die weißen, erleuchteten Kugellampen, in denen tote Insekten den unteren Bereich grau und schmutzig erscheinen lassen. Auch als es eine große und breite Treppe hinuntergeht, er konnte sich nicht erinnern, sie hinaufgegangen zu sein, und er den immer noch rückwärts gehenden Anderen besser sehen kann, will ihm nicht einfallen, wer dieser Andere nur sein könnte. Ein Tropfen fällt auf seine Stirn und läuft ihm die Nase hinab in den Mund. Er ist salzig, er schmeckt es deutlich unter seiner Zunge. Auch der Andere schwitzt jetzt, so scheint es ihm, als sie eben die Eingangstür des Gebäudes durchschreiten und ins Freie treten. Er erkennt einen blauen, tiefen Himmel. Vögel. Keine Wolken. Kies knirscht unter den Schuhen, sie schreiten voran, wie Soldaten, im Gleichschritt, nur dass Soldaten nicht rückwärts marschieren, wie der Andere es tut. Er hört sie keuchen, und er spürt, dass sie sich ansehen und sich gegenseitig Mut machen, nur mit den Augen. Der Jemand hinter ihm fasst jetzt nach, indem er ihn kurz nach oben stößt und die Fäuste neu ballt, was den Anderen aus dem Tritt zu bringen scheint, jedoch nur leicht. Linker Hand jetzt Baumkronen, die Schritte aber nicht mehr zu hören, so als liefen sie auf Gras. Nur ein leichtes Keuchen ist noch zu vernehmen, ein kurzes Hüsteln, ein pfeifendes Atmen, mehr nicht. Auch sie bekommen schlecht Luft, wenngleich nicht in dem Maße, wie er selbst. Der Andere musste nun, nur kurze Zeit später, so schien es, mit der Sohle eine Tür aufgestoßen haben, die in ihren Angeln quietschte, eine Pendeltür, so hörte es sich an. Eine weitere Tür folgte, ein Türrahmen aus Metall, kaltes Licht in einem Raum, von einer weißen Decke ausgehend, ohne dass Lampen oder Leuchten zu sehen wären. Eine Tür fiel ins Schloss und der Jemand, der ihn, um nachzufassen, nochmals leicht nach oben stieß, zog den Rotz in der Nase hoch. Oder war es der Andere, der nicht ein Mal hatte nachfassen müssen? Der Raum war kühl, und irgendwo tropfte sicher ein Wasserhahn, wenn auch nichts zu hören war außer den jetzt schlurfenden Schritten. Er wandte noch einmal alle Kraft auf, den Kopf ein wenig zu heben, im selben Moment aber stießen ihn beide Männer seitlich von sich. Er spürte die harte Unterlage. Er lag wieder, diesmal aber nicht auf dem Boden, wie im Gerichtssaal, er lag höher, auf einer schmalen Pritsche womöglich, über ihm eine weiße Decke, hell, ohne Lampen oder Leuchten. Wenn er jetzt nur den Kopf ein wenig drehen könnte, das musste gelingen, es war deutlich leichter als ihn zu heben, so viel Kraft sollte er noch aufbringen, unbedingt, dann konnte er nochmals einen Blick werfen auf den Anderen und, zum ersten Mal, auf den Jemand. Es gelang ihm. Zwei Gesichter sahen ihn an. Der Jemand, der ihn unter die Achseln gefasst und so getragen hatte, war ohne Zweifel sein Verteidiger. Er schwitzte, der Schweiß rann ihm von der Stirn. Die Ärmel seines Oberhemdes waren aufgekrempelt, die Jacke musste er im Gerichtssaal gelassen haben. Er atmete schwer und blickte ernst auf ihn hinunter. Der Andere aber, mit vor der Brust verschränkten Armen dastehend, wirkte keineswegs ernst, im Gegenteil, er schien zufrieden und lächelte. Wer nur mochte er sein? Nach einer Weile schließlich nickten beide sich wortlos zu und schoben die Lade, auf der er lag, mit leichtem Schwung in die Tiefe der Wand. Ein Klicken noch, dann umschloss ihn kalte Dunkelheit, tiefe Stille und eisige Kälte. Wer aber war der Andere, den er nun zwar gesehen, dennoch aber nicht erkannt hatte? Diese Frage stellte er sich unentwegt, auch noch als die Dunkelheit ohne Übergang einer blendenden Helle wich, und als die Stimme des Mannes, dessen Kopf über der Robe so klein wirkte, sagte, dass er nicht Eduard Raban sein könne, begriff er, so als erinnere er sich endlich, ja, natürlich, ich bin nicht Eduard Raban! Aber es ist zu spät, für immer, dachte er, es sei denn, er sagte es, sprach aus, dass er nicht Eduard Raban sei, selbstverständlich nicht, dass er mitnichten dieser Mann sein könne, der im Leichenschauhaus läge, kaum zweihundert Meter entfernt, und an dessen Tod er Schuld zu tragen angeklagt sei, auch wenn er nicht wisse, warum. Das alles Entscheidende aber war nun, er wusste es jetzt, er wusste es schon immer, es tatsächlich zu sagen, der Welt zu bestätigen, dass sie im Recht sei, dass er es jetzt und hiermit zugäbe, nicht der Genannte sein zu können. Der Richter wiederholte die Frage, doch noch bevor er antworten konnte, fragte ihn eine andere Stimme, ob ihm nicht gut sei und ob er ein Glas Wasser wolle. Das Sonnenlicht schien hell in den Saal und in großer Höhe surrte der Ventilator. Alles wartete schweigend. Als er das Wasser endlich bekam, erkannte er, dass es nicht ganz sauber war. Es schwebte etwas zwischen Grund und Oberfläche, ohne dass er zu erkennen vermochte, was es ist. Trotzdem führte er das Glas an die Lippen und trank.

„Ende der Geschichte“, sage ich. Keine Reaktion. Schließlich aber nickt Eduard mir mit zusammengepressten Lippen ernst und bedeutungsvoll zu, nimmt die Blätter zur Hand, steckt sie umständlich in seine wie immer übervolle Aktentasche, zählt mir acht 50-Euro-Scheine auf den Tisch, flüstert mir ins Ohr, ich hätte ihm das Leben gerettet, echt wahr, und geht in übertrieben aufrechter Haltung hinaus. Meine Narbe aber hat er wieder nicht bemerkt. Später sitze ich lange im Dunkeln am Schreibtisch, schwitze und starre hinaus in die schwarzgelbe Nacht. Marie-Louises Schlüpfer habe ich gewaschen. Er liegt auf ihrem Kopfkissen. Eine U-Bahn dröhnt vorbei Richtung Pankow, in ihr nur wenige Gestalten. Ich knipse die Schreibtischlampe an, suche den mit meinen Notizen übersäten ersten Ausdruck von Eduards Geschichte heraus und lese alles samt aller Kritzeleien noch einmal durch. Ich lege die acht Fünfzig-Euro-Scheine daneben. So viel Geld, denke ich, und erst da wird mir klar, dass Eduard die Geschichte für sein Buch über Nahtoderfahrung benötigt! Klar! Aber warum hat er mir das nicht gesagt? Ich knipse die Lampe wieder aus und starre hinaus, eine U-Bahn in Richtung Alexanderplatz, sehr voll. Dann wieder Leere. „Ich muss mich weiten“, sage ich plötzlich laut, ohne zuvor gedacht zu haben, „ich muss Robert sein, ohne Arno aufzugeben. Arno sein mit Robert.“ Weiter komme ich an diesem Abend nicht. Anderntags aber greife ich mir die Unterlagen zur Causa Amphitryon Komplex und knalle sie auf den Schreibtisch, dass es wackelt! Die Broschüren, der Katalog, dazu viele erst kürzlich kreuz und quer mit Ideen und Argumenten vollgeschriebene Blätter. Angst spricht daraus, denke ich jetzt. Angst vor dem Gedanken der Rückkehr nach Bad Wutzenwalde. Da ganz real als Robert zu erscheinen auf der Suche nach Arno. Wobei Robert im Moment viel eher noch Schimäre ist denn Mensch. Und überhaupt war alles noch andersherum, so wurde mir klar, genau entgegengesetzt. Arno suchte nach Robert, statt Robert nach Arno. Und erst wenn Robert gefunden ist, kann ich mich auf den Weg machen. Als Robert!

Was hatte, fiel mir ein, der Wachtmeister zu Marie-Louise gesagt? Die Hologramme funktionierten nicht richtig? Genau so erging es mir mit Robert, er funktionierte noch nicht, er drohte sozusagen jeden Augenblick wieder auseinanderzufallen, unscharf zu werden, zu verschwinden. Wie also beginnen? Zu allem Anfang musste ich den Wachtmeister anrufen! Als Robert! Den Zettel, den er mir einmal gegeben hatte mit der Nummer für die Telefonzelle vor seinem Haus, hatte ich im Portemonnaie. „Die einzige Möglichkeit, mich telefonisch zu kontaktieren“, hatte er mir noch mehrmals gesagt, er sah mich dann immer sehr ernst an und fuhr fort, in seiner Wohnung benötige er kein Telefon, auch wenn er, wie ich ja wisse, eines besäße, das aber heutigentags ausschließlich von der Telefonzelle aus zu erreichen sei. Naja, und notfalls von einer Polizeidienststelle. Er habe das so schalten lassen. Mobilgeräte lehne er, wie alle wüssten, ganz und gar ab, er sei kein Maschinenmensch. So weit, so klar, ich erinnerte mich, alles schön und gut, aber wie sollte ich erklären, die Nummer zu kennen und auch noch zu wissen, wen ich erreichen würde? Hatte Arno mir davon berichtet? Ja, natürlich, wie sollte es anders sein. Aber warum hatte Arno mich niemals erwähnt, seinen Zwillingsbruder Robert? Zwillinge sind gemeinhin sehr eng miteinander. So auch wir, hoffe ich.

Mit all diesen Gedanken sitze ich nun tagelang frierend oder schweißgebadet am Schreibtisch, verschicke Nachrichten gen Irland und denke nach über Eduards seltsamen Traum. In erster Linie aber mache ich mir weiterhin Gedanken, wie Robert zu erschaffen ist. Hatte ich mich nicht schon immer mal verändern wollen? Und war jetzt nicht die Gelegenheit dazu? In einem Film gäbe es einfach einen Schnitt. Schon stünde der neue Mensch, der neuerschaffene Zwilling vor der Tür des Gutshauses und klopfte, verbunden und verknüpft mit einer aufmunternden oder unheilverkündenden Musik. Doch bevor das im wirklichen Leben geschehen kann, muss ich meine Lage eindeutig bestimmen. „Was bin ich, wer bin ich jetzt?“, überlege ich laut. „Imgrunde ein Fremder, ganz gleich wo“, beantworte ich mir die Frage zögernd selbst. Nicht etwa, dass ich, bevor ich für drei Jahre auf den Gutshof übersiedelte, in dem von mir frequentierten Berlin – Mitte und Prenzlauer Berg, auch Kreuzberg und Friedrichshain – Hinz und Kunz, Krethi und Plethi, Stan und Ollie, Tünnes und Schäl, Pat und Patachon, Susi und Susanne und Maria und Magdalena gekannt hätte. Keineswegs! So einer bin ich nicht. Aber dass ich nun außer Eduard überhaupt niemanden mehr traf und kannte, das war seltsam. Manchmal starrten mich Leute an, die mir bekannt vorkamen, aber das waren Menschen, die es in jeder Stadt gibt, typische Vertreter bestimmter Milieus, deren individuelle Eigenartigkeit das allgemeine übliche Maß nicht zu überschreiten vermag. Niemand kannte mich, ich kannten niemanden. So sah es aus. Mein früheres Leben etwas weiter südlich im Prenzlauer Berg, auf der Barnimkante, war verloren, vergangen und vergessen. Überhaupt war alles jetzt anders. Die schrägen Vögel, die Künstler und Lebenskünstler, die Enthusiasten – wo waren die, fragte ich mich, alle hin? Um die Ecke gebracht? In die Vororte vertrieben? Tot? Geisteskrank? Zum Feind übergelaufen? Oder erkannte ich sie einfach nicht mehr wieder? Und sie mich nicht? Auch möglich! Drei Jahre als Sosias hatten einen neuen Menschen aus mir gemacht. So sah es aus. Ich war schon ein Anderer! Warum also nicht einen weiteren neuen Menschen kreieren: meinen Zwillingsbruder. Ich musste, dachte ich, Robert gleichsam gebären! Robert Scheerbart. Sagte ich schon, ich hieße Scheerbart? Arno Scheerbart. Ich sagte es! Jetzt erinnere ich mich. Nun also Robert!

Später am Tag zog ich aus einem Buch eine unbeschriebene Postkarte[7] heraus, die als Lesezeichen dort steckte. Und da war sie plötzlich : die Idee : Postkarte an mich. Robert : Von Arno ! Ich schrieb also an Robert Scheerbart, c/o F. Jung und so weiter. Write yourself a postcard if there’s something left to say. Liebe Grüße, dein Bruder Arno. Im Spätkauf dann ein paar Bier für den Abend besorgt, eine Briefmarke gekauft, Postkarte in den Kasten. Fertig. Ich atmete auf, der erste Schritt war getan. Wieder oben in der Wohnung schaltete ich den Boiler der Pumpdusche an. In zwanzig Minuten fünf Minuten warmes Wasser. Aber war das nicht grundfalsch, dachte ich plötzlich. Ich schaltete den Boiler wieder aus. Denn eines war ja wohl klar, Robert ist aus anderem Holz geschnitzt. Er duscht kalt. Seit je her, von Kindesbeinen an. Fußballspielen, exzessives Radfahren, Motorradfahren, alleine durch fremde Länder trampen, durchgeknallte Freundinnen. So ist Robert. Einzig gemein hatten wir das Schreiben, auch wenn Arno immer der realistischen, Robert der expressionistisch-phantastischen Schreibe zuneigte. Das hat seine Ursache ganz sicher in der jeweiligen Lektüre, die einem jungen Menschen anfangs ja eher zufällig in die Hände gerät. Während Arno also realistische, ja politische Literatur bevorzugte und Manés Sperber ebenso las wie Anna Seghers, Alfred Andersch, Simone de Beauvoir, Albert Camus und Alexander Kluge, so zog Robert phantastische Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Howard P. Lovecraft, Witold Gombrowicz, Flann O’Brien und später dann Alban Nikolai Herbst oder auch expressionistische wie Franz Jung, Katarina Botsky, Peter Baum, Klabund und Alfred Döblin den realistischen vor. Robert war sogar strikt der Ansicht, der Nachname Scheerbart (nicht verwandt und nicht verschwägert mit dem bekannten Autor Paul Scheerbart) verpflichte sie beide geradezu, den Realismus in der Literatur zwar zur Kenntnis zu nehmen, ihm aber keinesfalls strikt zu folgen oder gar zu huldigen. Ich weiß noch, unsere Mutter sagte einmal, von mir oder eurem Vater habt ihr das nicht, das mit dem Schreiben, wahrscheinlich seid ihr im Krankenhaus vertauscht worden. Robert lachte darüber, er verstand den doppelbödigen Witz, während Arno schwer gekränkt war. Ich erinnere mich.

Die Narbe juckte bald wieder, das tat sie öfter, und ich fror wie ein Schneider. An’s Kaltduschen musste ich mich definitiv noch gewöhnen. Heute jedenfalls würde ich als Robert ausgehen. Im Treppenhaus traf ich Goofy, der zwar grüßte, sich aber an der Wand entlang an mir vorbeischob und dann so schnell wie möglich die Treppe hinaufpolterte. Ich hörte ihn panisch den Schlüssel ins Türschloss stochern. Meine Laune hob sich und ich stromerte eine Weile grinsend im Helmholtzkiez herum. Wie gehabt und wie an jedem nur halbwegs warmen Tag war viel Volk an den Café- und Restauranttischen zu finden, essend, trinkend und redend, so als gäbe es kein Morgen. Schließlich eine Bar an einer Kreuzung. Draußen an wackligen Tischen ein paar Gestalten. Drinnen niemand, nur der Barkeeper, ein Mitdreißiger, Fünf-Tage-Bart und weit aufgeknöpftes Hemd, ein Frauentyp, so denke ich sofort. Tresen über Eck. An beiden Seiten die Terrassentüren geöffnet und ganz zur Seite geschoben. Alles offen. Die Straßenbahn Richtung Weißensee donnerte vorbei. Ich dachte an die mit schwerem Tuch verhängten Gasthausfenster früherer Zeiten, Butzenscheiben, das Kind, das ich gewesen bin, der scharfe Geruch nach Schnaps, Zwiebeln, Zigaretten und Männerschweiß. Der kleine Arno, der sich an den Vater presste. Über ihm all die trinkenden und rauchenden Männer am Tresen. Ich weiß noch, denen wuchsen die Haare aus der Nase. Und den Ohren. Robert drüben bei der Mutter in der Frauenecke. So hieß das, Frauenecke. Likör auf dem Tisch, rot oder weiß und klebrig, auch Eierlikör, an dem Robert nippen durfte. Im Sommer die bunten Blusen, Achselhaare und Parfümgeruch. Süß und schwer und sauer. Ich erinnere mich, so oder so. „Hallo! Ein schönes Bier bitte!“ – „Schönes Bier hamwa nich’, nur auf Flasche, in der Flasche meine ich, böhmisch oder norddeutsch.“ – „Norddeutsch.“ Ich schob meinen Hintern auf einen Barhocker. Blick auf die Kreuzung. Ich, Robert, suche also Arno! Doch dass er, dachte ich angestrengt, nun einfach da draußen vorbeilaufen oder aus der Straßenbahn steigen würde, ist natürlich nicht zu erwarten. Das war mir klar. Jemand, der nicht mal per Telefon zu erreichen ist, tauchte nicht einfach so auf. Ich nahm einen Schluck, kramte meine Zigaretten raus und zündete mir eine an. Der Barkeeper schob mir einen Aschenbecher hin. Welche Informationen, fragte ich mich, besaß ich denn als Robert? Über Arno. Die Eltern machten sich Sorgen. Deswegen war ich nach Berlin gereist und hatte mich in eine kleine Wohnung eingemietet, als möblierter Herr sozusagen. Seit gut einem Jahr keine Spur von ihm. Wie vom Erdboden verschluckt. Wo er die drei Jahre zuvor gewesen war und was er getrieben hatte, war allerdings kein Geheimnis und auch recht leicht zu recherchieren gewesen. Nicht im Detail, aber genau genug. Zum Glück hatte Arno einmal, bei einem unserer seltenen Telefonate, das Schlagwort Amphitryon Komplex fallen lassen. „Endlich mal eine Möglichkeit, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, Bruderherz“, hatte er gesagt, „meine 30-Stunden-Stelle ist gekündigt und die Wohnung auch, die war ja ohnehin ein Loch, ist nicht schade drum.“ Ich erinnere mich. Ich hatte ihm Glück gewünscht. Seitdem aber nichts mehr, von Postkarten zu unserem Geburtstag mal abgesehen. Die Eltern immerhin hat er noch angerufen. Bis vor einem Jahr. Dinge, an die man sich erinnert. Erinnern muss. „Noch ein Bier?“ – „Ja“, sage ich, „schöne Idee!“ Wortlos stellt mir der Barkeeper die Flasche vor die Nase, ohne die leere wegzuräumen. „Du blutest!“, sagt plötzlich eine weibliche Stimme. „Was?“ Ich benötige eine Sekunde, um zu mir zu kommen. Die Tätowierung! Vorsichtig taste ich meine Stirn ab. Tatsächlich! „Eine alte Narbe aus der Kindheit“, sage ich, „mein Bruder Arno hat mir die verpasst. Oder ich bin vor den Küchenschrank gelaufen. Kann auch sein. Es gibt zwei Versionen, ich kann mich an keine erinnern.“ Die Frau sieht mich an und der Barkeeper nähert sich neugierig. Noch ist wenig los in der Bar. Draußen ein älterer Weißhaariger mit Schnäuzer, Joint in der Hand, einen schwarzen Flokatihund auf dem Schoß, drinnen die Frau und ich. „Bluten kostet hier extra“, sagt der Barkeeper, stellt das Glas zurück ins Regal und stemmte die Hände in die Hüften, „Pflaster auch.“ Mir bricht der kalte Schweiß aus. „Miriam“, sagt die Frau mit einem Seitenblick auf den Barkeeper und streckt mir straff ihre Hand entgegen, „meine Mutter hat mal als Statistin bei einer Oper mit dem Titel Mirjam auf der Bühne gestanden und dort meinen Vater kennengelernt. Daher der Name. Und falls ich dir irgendwie bekannt vorkomme, ich habe mal in einem Film mitgespielt, der auf der Berlinale lief. Lange her.“ – „Nackt mitgespielt“, wirft der Barkeeper ein, der sich als Björn vorstellt. „Robert!“, sage ich, wische das Blut an der Hose ab, ergreife beide Hände und schüttele sie kurz und knapp. Ein Anderer werden, denke ich. Nicht zweimal in den selben Strom steigen. Dann irgendwie ein Riss, die Zimmerdecke gähnt mich an, kaum bin ich aufgewacht. Das Gelb der U-Bahn, die Sonne. So einfach ist das alles nicht, denke ich, das mit Robert, das mit dem Werden, beileibe nicht, aber ich würde dranbleiben. So einfach gebe ich nicht auf. Diese Miriam übrigens stell ich mir ganz dünn und konturlos vor, nicht dürr, aber dünn. Überhaupt: Ich stelle mir etwas vor, und dann gehe ich hinein in die Vorstellung. So werde ich es machen. Ich betrete die Bühne, um mir mich vorzustellen als Robert und dann in die Rolle hineinzuschlüpfen, als sei sie ein alter Schuh. Sobald ich die Bühne betrete, bin ich Robert! Ich muss das schon gestern Abend in der Bar gedacht haben. Meine Bühne! Miriam hatte mich, so erinnere ich mich vage, ein paar Leuten vorgestellt und wir tranken und quatschten, das heißt, ich hörte eher zu und dachte mir meinen Teil. Die Frage ist nur, das überlegte ich jetzt, wie ich Robert werden kann, ohne Arno zu verlieren. Das heißt, verlieren konnte ich ihn schon, wenn ich ihn nur wiederfand! Ich lachte und sprang auf, taumelte, knickte weg, hielt mich aber im letzten Moment am Schreibtisch fest. Die meisten Unfälle passieren zuhause. Einiges vertilgt gestern, sagte ich mir, holte tief Luft und zog mich bolzengerade in die Höhe. „Ich muss wissen, was hinter dem Projekt Amphitryon Komplex steckt, hol mich der Teufel“, rief ich laut. Dann leise: „Sosias bin ich ja immerhin auch geworden, dort oben auf dem Gutshof. Also kann ich auch Robert werden. Nicht nur Götter können das!“ – „Kannst du bitte mal aufhören, mit dir selbst zu quatschen, Sweetheart!“ Ich starre zum Bett hin. Ist das Miriam? So nach und nach, in kleinen, ruckartigen Denkschritten, erinnere ich mich. Miriam. Verlegen wirkt sie jedenfalls kein Stück. Sie bleibt einfach nackt, während ich mich nach und nach, wie nebenbei, anziehe. Erinnern kann ich mich an nichts. Kein gutes Zeichen. Beim Pinkeln merke ich aber, kein Zweifel, mein Schwanz riecht deutlich nach Geschlechtsverkehr. Seltsam, denke ich. Als ich wieder ins Zimmer trete, ist Miriam angezogen und drückt mir einen Zettel mit ihrer Adresse und Telefonnummer in die Hand. „Für dann mal“, sagt sie. „Dann?“ – „Ciao!“

Ein paar Tage später telefoniere ich mit Marie-Louise, so gegen Abend. Sie warnt mich eindringlich, alleine nach Bad Wutzenwalde zu fahren, selbst wenn ich nun Robert sei. „Ich werde mit dem Wachtmeister die Lage erkunden“, sage ich, so ruhig und überzeugt wie möglich, „mach dir keine Sorgen!“ Im Hintergrund Stimmengewirr und Fetzen von Musik. In einem Pub sei sie, sagt Marie-Louise. Ich sage, „ich rufe den Wachtmeister an und stelle mich als Robert vor, den Text schreibe ich mir vorher auf, damit …“ Ein Trompetenstoß ist zu hören, wie eine Fanfare. „Ich muss Schluss machen, Arno, die Band legt gleich los!“ Kurz noch eine Fiddel im Hintergrund, dann tutet es. Na toll. Ich sehe hinaus. Zwei U-Bahnen treffen sich genau vor meinem Fenster, passieren sich und ziehen ein Loch, ein langes und immer länger werdendes, bevor die nächsten Bahnen es an anderer Stelle wieder ineinander schieben, sich passieren, dann ein Loch ziehen und so weiter. Also beides, Löcher ziehen und Zusammenschieben. Komischer Gedanke. Ich werde noch verrückt hier!

Ich sollte Pläne schmieden. Und vor allem die Gefahren abschätzen. Würde etwa Alkmene meinen Ausweis sehen wollen, so fiel mir ein. Das war ihr durchaus zuzutrauen. Selbst wenn ich überzeugend lüge, den hätte ich nicht dabei und so weiter, wäre sie misstrauisch, und dann ist die Show vorbei. Ich schreibe also erst einmal den Text für das Telefonat mit dem Wachtmeister, das würde mich beruhigen, dachte ich. Als ich damit fertig war, probte ich den Anruf. Mannomann, war ich aufgeregt! Von wegen sich beruhigen. Ich lasse es also in Gedanken klingeln. Mein Herz pocht wie wild. Die postgelbe Telefonzelle. Der Wachtmeister, stelle ich mir vor, in Hosenträgern, ohne Jacke, aber mit Dienstmütze, geht gemessenen, leicht unrunden Schrittes auf die Zelle zu, öffnet die Tür und nimmt den Hörer zur Hand. „Wer spricht?“, sagt er. „Guten Tag“, sage ich, „hier spricht Robert Scheerbart, der …“ – „Herr Robert! Der Zwillingsbruder des Herrn Sosias! Frau Marie-Louise hat mir bereits vom Zwillingsbruder erzählt. Robert also!“ Ich schlucke. Warum zum Teufel hat sie mir das nicht gesagt! Oder hat sie? „Ja“, sage ich, „dann wissen Sie, dass wir Arno …“ – „Herrn Sosias!“ – „Ja … suchen. Wir suchen Arno. Sosias. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“ „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Herr Robert. Kommen Sie nach Bad Wutzenwalde, betreten Sie die Telefonzelle und rufen Sie mich an. Ich hole sie ab. Haben Sie meine Nummer?“

Eine Woche später, einem Freitag, etwas diesig aber leidlich warm, mache ich mich auf den Weg. Als Robert. Ich hatte tagelang geübt. Ich schließe den Wagen auf und setzte mich hinter das Steuer. Eduards alter Honda hat alles, was ein Auto braucht. Er riecht etwas moderig und es quietscht an allen Ecken und Enden. Auf der B 2 Richtung Eberswalde nimmt die Karre dann jede Linkskurve mit einem hohen, zitternden Ton, in Rechtskurven klappert es, Steigungen aber werden klaglos im dritten Gang bewältigt. Die Fenster sind runtergekurbelt und ich genieße den Geruch von Wald und Erde. Motorradfahrer überholen, ein Sportwagen schießt vorbei. Einmal ein Trecker mit einem Zirkuswagen im Schlepptau, hinter dem ich eine Weile festhänge. Je näher ich dem Ziel komme, desto nervöser werde ich. Am Morgen hatte ich noch vor dem Spiegel gestanden und den Robert gegeben, die Postkarte, die ich an mich selbst gesandt habe, in der Hand. Dass Miriam mich als Robert kannte, half auch ein wenig. Sie hat so gar nichts von Marie-Louise, dachte ich immer wieder, so vom Typ her. Schwarze Mireille-Matthieu-Frisur, Platten auflegen, Swing, Blues und Rock’n’Roll, das ist ihr Ding, asiatische Kampfsportarten und späte Besuche in ihren Lieblingsbars. Und plötzlich erinnerte ich mich, mit einem Male war die Erinnerung da an diese erste Nacht mit ihr. Oder täuschte ich mich, log ich mir selbst in die Tasche, erinnerte ich mich eigentlich nur an die zweite? Vorgestern. Oder vorvorgestern. Wieder betrunken. Und nehme also nur an, dass die erste Nacht ähnlich verlaufen sein musste? Sex, einfach so, ohne Worte? Als dann endlich das alte Schiffshebewerk imposant vor mir auftaucht, schlägt mir das Herz bis in den Hals. „Mein Gott, Robert“, sage ich laut, „reiß dich zusammen!“ Die Narbe juckt, wie zur Antwort, der Honda klappert vor sich hin.

Bad Wutzenwalde! Vor Knocke wieder mal eine Schlange. Ich parke. Die Telefonzelle leer. Natürlich. Münzen hatte ich in der Hosentasche. Ich schloss den Wagen ab, analog sozusagen, mit dem Schlüssel, wie früher, und schlenderte über den kleinen Platz. Rechter Hand im ersten Obergeschoss musste der Wachtmeister wohnen. Vielleicht beobachtete er mich bereits. Ich zog die Tür der Zelle auf. Geruch nach Tabak, Metall und Plaste. Ich wartete zwei, drei Minuten, warf dann die Münzen ein, nahm den Zettel aus der Tasche und wählte die Nummer. Nach wenigen Sekunden bereits die Stimme des Wachtmeisters, unverkennbar, mit einer gewissen Dienstlichkeit. „Bleiben Sie wo Sie sind, schauen Sie nicht zu mir hoch, ich hole Sie ab und gehe mit Ihnen durch den Ort. Ich lege jetzt auf, behalten Sie den Hörer in der Hand. Bewegen Sie ab und an den Mund und sagen Sie etwas. Egal was. Bleiben Sie ganz ruhig.“ Klack. Ich sagte ein paar Mal leise mein neues Mantra auf, „ich bin Robert Scheerbart und auf der Suche nach meinem Zwillingsbruder Arno, ich bin Robert Scheerbart …“, da sah ich auch schon den Wachtmeister auf die Telefonzelle zugehen. Amtlich gemessenen Schrittes, leicht unrund, in Uniform, die Mütze ein wenig schief und die Zigarette hinter dem rechten Ohr. Ich atmete tief durch und hängte den Hörer ein, im selben Moment öffnet er die Tür und legt lässig, mit einem angedeuteten Lächeln, die Hand zum Gruße an die Mütze. „Herr Robert“, sagt er, „kommen Sie, ich buchstabiere Ihnen Bad Wutzenwalde aus, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen. Kommen Sie schon, nur keine Müdigkeit vortäuschen!“ Und so lernte ich Bad Wutzenwalde neu kennen, als Robert. Ich hatte das Gefühl, dass jeder, dem wir begegneten, meine Narbe auf der Stirn anstarrte. Auch die Bäckersfrau, bei der wir uns mit Proviant, Gebäck und zwei kleinen Flaschen Wasser versorgten, sah mir direkt zwischen die Augen. Erkannte sie mich? Und der Wachtmeister? Hatte er mich schon durchschaut? Das fragte ich mich fortwährend. In jedem Fall stellte er mich allen Leuten, die uns über den Weg liefen, als Herrn Robert vor, der werte Bruder, Zwillingsbruder des Herrn Sosias. Fragen? Keine! Später standen wir eine Weile schweigend an der alten Oder, auf der drei, vier Ruderboote zu sehen waren, und rauchten. „Wissen Sie, Herr Robert“, sagte der Wachtmeister plötzlich, „Ihre Narbe da auf der Stirn, die blutet, und das macht Sie den Leuten in Bad Wutzenwalde ein wenig suspekt. Zum Glück ist niemand hier religiös.“ Ich sah ihn entsetzt an. Und tatsächlich, er hatte recht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Ich kann damit leben, Herr Robert“, sagte er endlich und legte mir seine rechte Hand auf die linke Schulter, „keine Sorge.“ „Womit leben?“, fragte ich. „Mit den Narben natürlich“, erwiderte er mit ernstem Gesichtsausdruck, „mit den Narben.

VI

Ich bin ganz bei mir. Den Tisch habe ich ohne mit der Wimper zu zucken gleich am ersten Morgen ans Fenster gerückt. Einen Ausblick gewähren die blinden Scheiben allerdings nicht. Nur Schemen sind zu erkennen. Und des Nachts heulen die Wölfe. Ich schreibe also wieder und versuche, Klarheit in diese Geschichte hineinzubringen. Mit Verwirrung ist niemandem geholfen, auch mir nicht. Ich befinde mich in der Datsche des Wachtmeisters in (oder bei) Bad Wutzenwalde, nachdem ich mich in Berlin in Robert verwandelt habe. Den Zwillingsbruder Arnos, Robert. Ich. Mich. Das war einfacher, als ich gedacht hatte. Ich habe zwei Mal als Robert mit Miriam geschlafen. Arno hingegen hätte den Schwanz eingekniffen, da bin ich sicher. Gewissensbisse hätte er gehabt. Die Datsche des Wachtmeisters befindet sich in einer locker gestreuten Siedlung mehr oder weniger großer Häuschen, die meisten aus Holz. Kaum Zäune, kein Vereinsheim, keine Verbotsschilder. Überhaupt keine Schilder. Des Wachtmeisters Datsche, eher klein, aber in gutem Zustand, liegt oben am Hang. Über dem Ganzen. Man hat einen schönen, weiten Blick, vor allem vom Flachdach aus. Man kann einfach hinaufklettern, eine Leiter steht bereit. Hügel und Wälder und der See. Herrlich! Still ist es hier. Manchmal leise das Geräusch eines Handrasenmähers. Die Entfernung zum Gutshof ist die selbe wie nach Bad Wutzenwalde, Luftlinie zwei Kilometer. Schätze ich. Vielleicht auch zweieinhalb. Ein Dreieck also, der Ort, der Gutshof, die Datsche. Das Gelände ist hügelig.

Am zweiten Abend sitzt ein Fuchs auf dem Dach und schaut in die Ferne, Richtung Sonnenuntergang. Der Wachtmeister nennt mich nun also Herr Robert. Mit einem gewissen Unterton, so kommt es mir jedenfalls vor. Aber ich kann mich täuschen. Ich gehe hinaus und setze mich auf die etwas altersschwache Bank. Die Sonne scheint blass wie durch verdünnte Milch. Ich rauche und erinnere mich an gestern, der Wachtmeister sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz des alten Honda. Ich ziemlich aufgeregt. Nicht aus der Rolle fallen, dachte ich, nicht aus Robert fallen! Wir sind auf dem Weg zur Datsche, wo ich übernachten soll. Stockfinster ist’s. „Ich helfe gern, Ihren Herrn Bruder ausfindig zu machen, Herr Robert“, sagt der Wachtmeister, „kenn’ ihn ja gut, nette Gespräche gehabt.“ Ich überlege, ob ich ihn gleich mal auf Amphitryon ansprechen sollte, im selben Augenblick aber boxt er mir schmerzhaft gegen den Oberarm und sagt, ich müsse da links abbiegen. Ich erkenne nichts, für mich ist da nur Dunkelheit. „Da, dort, hier, los!“, schreit er und macht Anstalten, mir ins Lenkrad zu greifen. Ich steuere den Wagen also mit mulmigem Gefühl ins Dunkel, es kracht, wir werden ordentlich durchgeschüttelt. Ich schalte in den zweiten Gang und gebe Gas. Nach allem, was ich im Scheinwerferlicht erkennen kann, holpern wir bergauf mitten über eine Wiese auf einen Waldrand, oder nein, auf eine Reihe Obstbäume zu. Testete er mich, wie ich auf Stress reagiere und ob ich wirklich Robert bin? Zuzutrauen wäre ihm das, denke ich, direkt gefolgt von dem Gedanken, dass ich, Robert, den Wachtmeister ja kürzlich erst kennengelernt hatte und an nichts, absolut nichts denken sollte, was ich nicht wissen durfte. „Wir sind da“, sagt er, „meine Datsche!“ – „Gut“, sage ich und ziehe die Handbremse. In ein paar Metern Entfernung im Scheinwerferlicht drei, vier Apfelbäume. Ich drehe den Zündschlüssel. Der Motor dieselt etwas nach, schüttelt sich ein paar Mal und erstirbt. (Eduard hatte etwas gesagt von Ventile einstellen lassen, wäre schön, wenn ihr das machen könntet. Der gute Eduard!) Stille also. Scheinwerfer aus. Fast sofort über uns die Sterne, Milchstraße mit allem Zipp und Zapp. Das Ende der Welt, Mittelpunkt des Universums, denke ich. „Zigarette?“, fragt der Wachtmeister, zieht die seine vom Ohr und hält mir mit der anderen Hand eine zerknüllte Packung hin. „Danke“, sage ich und wische mir mit dem Handrücken über die Stirn. Ich konnte machen, was ich wollte, ich blutete aus der Tätowierung heraus. Zwei, drei Blutstropfen, die mir dann irgendwann über die Nase liefen oder die ich mit einer fahrigen, halb unbewussten Handbewegung wegwischte, weil es juckte. Mit einem Pflaster drauf war es noch schlimmer, dann brannte mir gleich die ganze Stirn und ich bekam Pickel. Klar, ich hatte mir schließlich in eine Verletzung hinein eine Tätowierung stechen lassen.

Am dritten Tag meines Datschen-Aufenthalts, wir saßen so gegen Mittag auf der wackeligen Bank und blickten auf Wald und Tal, fragt mich der Wachtmeister, was es denn auf sich habe mit der Narbe. Worst case! Blitzartig aber steht die Geschichte vor mir, zumindest die Stichworte: Westkindheit, Hagen in Westfalen, Lützowstraße 10, der Resopalküchenschrank, zu tief für die schmale Küche, so dass er in den Türrahmen ragt, das Kind mit Karacho punktgenau und stirnmittig dagegen. Keine Ahnung, ob das alles so genau stimmte, aber es kam mir so vor. „Es war einfach so, Herr Wachtmeister“[8], schließe ich die kleine Erzählung, „dass mir die winzige Wohnung nicht genug Auslauf bot. Das Wohnzimmer, ich weiß noch, der Ölofen in der Ecke, kleines Badezimmer mit Badewanne, Schlafzimmer der Eltern, die Küche, ich frage mich glatt, wo ich denn geschlafen habe. Wohnungsnot damals noch, Herr Wachtmeister, Warten auf eine größere Bleibe.“ – „Wo schlief denn Ihr Bruder, der Herr Sosias, also der Herr Arno?“ – „W…wir“, stottere ich, denn wie konnte ich nur meinen Zwillingsbruder vergessen, „haben sicher in einem Bett geschlafen, aber ich kann mich nicht erinnern. Hat Arno Ihnen denn nichts erzählt, Herr Wachtmeister?“ Ich atme auf. Eben noch die Kurve gekriegt! „Nein“, sagt er knapp, „hat er nicht. Hat gar nichts erzählt, der Herr Sosias. Haben über ganz andere Dinge gesprochen.“ Der Wachtmeister zuppelt eine Zigarette zwischen Ohr und Mütze hervor und zündet sie an. Ich winke ab, als er Anstalten macht, die Packung aus der Seitentasche zu nehmen. Hatte Marie-Louise den Wachtmeister nicht immer wieder, fällt mir ein, wie aus Versehen berührt, nur um sicher zu gehen, dass er echt ist, aus Fleisch und Blut? Das hat sie erzählt, auch wenn es nicht stimmen musste. Sie hat sicher übertrieben. Ich habe solche Zweifel natürlich nicht, ich sehe und rieche den Zigarettenrauch, außerdem biegt sich die Bank doch bedenklich durch unter unser beider Gewicht. Beweis genug. Nur nicht verrückt machen lassen. Es gibt Grenzen des technisch Machbaren. „Mein Vater hat mich dann auf den Armen ins Krankenhaus getragen, kaum einer hatte damals Telefon, aber da haben die nur ein Pflaster drauf gemacht, statt es zu nähen. Deshalb die Narbe. Immer noch.“ – „Bei uns hatten zu der Zeit nur die von der Staatssicherheit Telefon“, erwidert er. Eine Weile sagen wir nichts. „Nun, Herr Robert“, fährt er schließlich fort, kaum mehr als den Filter der Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, den Rest an Glut vorsichtig absaugend, „wie ich Ihrer Frau Marie-Louise schon sagte …“ Ich unterbreche ihn. „Marie-Louise ist nicht meine Frau, Herr Wachtmeister, und auch nicht die meines Bruders. So weit ich weiß.“ Wie dumm, denke ich und spüre eine leichte Hitze in mir aufsteigen. Warum nur hatten wir das alles nicht genau genug abgesprochen. Aber wer konnte auch ahnen, dass Marie-Louise direkt mal vom Wachtmeister vereinnahmt wird? Also keine Beziehung. Weder zu Arno noch zu mir. Merken! „Nun gut, Herr Robert, wie auch immer, jedenfalls spielen sich seltsame Dinge ab auf dem Gutshof. Und dies nicht erst, seit Ihr Bruder verschwunden ist, wie übrigens auch der Herr Amphitryon nicht wieder aufgetaucht ist. Nun, wir, Frau Marie-Louise und ich, lagen jedenfalls flach auf Beobachtungsstation, aber das wissen Sie ja …“ – „Nein!“ –„Aber Sie sind“, er räuspert sich ausgiebig, „im Bilde über das Kunstprojekt, an dem Ihr Bruder mitwirkte?“ – „Ich habe recherchiert“, erkläre ich trocken, „und auch Marie-Louise, mit der ich telefonierte, hat mir einige Informationen …“ – „Nun also“, unterbricht er mich, „wir lagen auf Beobachtungsstation und konnten Katz und Mensch unter die Lupe nehmen. Die Herren Sosias und Amphitryon in einfacher Hologramm-Ausführung, die Frau Alkmene, die Herren Jupiter und Mercurius und die Katze doppelt, jeweils eine lebensechte Ausführung und eine als Luftspiegelung. Alles hier notiert, fein säuberlich.“ Er trommelt mit den Fingern auf der Brusttasche seiner Uniformjacke herum, die er trotz der spätsommerlichen Wärme trägt, und zückt ein schwarzes, an den Kanten blechbeschlagenes Notizbuch. Ich wundere mich, denn ich hatte nie ein solches Notizbuch bei ihm gesehen. Seitenweise Einträge, mit Bleistift in einer kritzeligen Beamtenschrift. Ein Lageplan vervollständigte das Ganze. „Frau Marie-Louise und ich lagen hier auf der Lauer, sehen Sie, Herr Robert“, er tippt auf die Zeichnung, „genau hier. Einer der ganz wenigen Plätze, die weder vom Dach des Verwaltungsgebäudes aus eingesehen werden können noch im Bereich der Kameras liegen. Strategisch günstig. Hinter uns das Waldstück, hier die Schneise zwischen Bungalow und See. Heute Abend werde ich Ihnen alles zeigen.“ Er klappt das Büchlein wieder zu. „Ah, da kommt der Mechaniker“, ruft er, „den Wagen abzuholen. Ventile und Dichtungen und was sonst noch so zu machen ist. Aber keine Sorge, Herr Robert, Kosten entstehen nicht, ich habe noch einiges gut bei den Herren Mechanikern hier am Ort.“

Später wieder der Fuchs auf dem Dach. Er sieht mich kurz an. Ein Mensch, muss er wohl denken, wie langweilig. Ich schreibe Marie-Louise eine Nachricht nach Cork, dass der Wachtmeister und ich uns auf Beobachtungsposten begeben würden. Good luck, schreibt sie zurück. Dann rufe ich die Telefonzelle an, ich will genau wissen, wann es heute Abend losgeht und wo wir uns treffen. Der Fuchs gähnt und zeigt mir sein Vampirgebiss. „Ich hole Sie ab, keine Sorge“, raunt der Wachtmeister und hängt gleich wieder ein, bevor ich etwas sagen kann. Ich spüre deutlich mein Herz wummern. Ja, ich habe Angst. Ich muss es zugeben. Vor allem vor Alkmene habe ich Angst. Sicher, an diesem Abend geht es nur ums Beobachten. Aber eines Tages musste ich ihr gegenübertreten, keine Frage, und zwar als der Zwillingsbruder Arnos. Was hatte sie einmal zu mir gesagt, respektive zu Arno? Das Doppelgängertum sei doch schließlich mein Ding, ebenso wie die Wiedergängerei und auch die Wiederholung des Immergleichen. Da war es nun ja nur folgerichtig, als Zwillingsbruder, als eine Art Doppelgänger hier aufzutauchen. Und wenn ich herausbekommen wollte, was in Wirklichkeit auf dem Gutshof geschieht, was es mit dem Projekt Amphitryon Komplex nun tatsächlich auf sich hat, so blieb mir ja auch nichts anderes übrig, als in die Offensive zu gehen. Die Konfrontation zu suchen. Mich der Lage zu stellen. Neugierig zu bleiben. Ich gehe in der Datsche auf und ab, von dem kleinen Tisch am Fenster zur Klotür, von der Klotür zur Eingangstür, von der Eingangstür zur Küchenecke, von der Küchenecke zur Schlafcouch und von der Schlafcouch zum Tisch und so weiter und so weiter. Zwei, drei Schritte, eine Wendung, Schritte, Wendung. Ich bleibe abrupt stehen, als der Wachtmeister, ohne zu klopfen, aber es ist ja seine Datsche, plötzlich vor mir steht. Fast wäre ich vornüber gefallen. Er begrüßt mich zackig mit einem Kopfnicken. „Es dämmert, aufgehender Mond, schleierartige Bewölkung, der Fuchs sitzt nicht mehr auf dem Dach, unsere Pläne sind gemacht und harren der Ausführung. Einen Schlehengin zur Beruhigung?“ Ich trinke einen Schluck. Eine halbe Stunde später machen wir uns auf den Weg. Der Wachtmeister humpelt vor mir den Waldweg entlang und spricht über seinen Feldstecher, den er unnachahmlich nennt, ohne aber zu erklären warum. „Unnachahmlich“, ruft er, „Herr Robert, unnachahmlich! Nun aber sollten wir uns Schweigen auferlegen. Wir wählen den Weg unten am See entlang, dort aber ist nicht selten Frau Alkmene zu finden, vor allem wenn das Ruderboot auf dem Wasser ist.“ – „Das Ruderboot?“ – „Nun aber leise“, flüstert er, ohne auf meine Frage einzugehen. Natürlich wusste ich das mit dem Ruderboot, das oft in der Mitte des Sees zu sehen ist, aber ich musste ja schließlich den Unwissenden spielen. Leicht geduckt schleichen wir kurz darauf am Rande des Waldstücks entlang. In der Ferne über dem See ein, zwei Lichter im Dunst, weit weg. Mein Herz bollert. Es ist nicht zu vermeiden, auf trockene Äste zu treten, und jedes Mal dreht sich der Wachtmeister zu mir um, vage schält sich sein Gesicht aus dem Dunkeln, Zeigefinger auf den Lippen, weit aufgerissene Augen, das Kinn böse in meine Richtung gereckt. Er knurrt wie ein Hund, worauf er weiterschleicht und ebenso viel Lärm macht wie ich. Ich ärgere mich. Dann ein Zischlaut, der Wachtmeister bleibt stehen, prompt stoße ich gegen ihn. „Dort!“, flüstert er. Tatsächlich, Alkmene! Eine hohe weiße Gestalt am Ufer des Sees, am kleinen Sandstrand. Kaum zu erkennen. Ich bekomme schlecht Luft. „Pssst“, zischt mein Begleiter, „und sehen Sie da, das Ruderboot!“ Ich sehe nichts, es ist zu dunkel. Für mich ist da kein Ruderboot, nur Alkmene, ganz unbeweglich. „Was tun?“, flüstere ich dem Wachtmeister ins Ohr. „Warten“, sagt er, „warten“, und lässt sich sofort mit einiger Wucht lautstark ins Unterholz plumpsen, mich mitziehend. Alkmene rührt sich nicht. „Alter Militärtrick“, flüstert er, „nicht leise Krach machen, sondern laut Krach machen. Wie ein Bär, ganz natürlich.“ – „Okay“, flüstere ich. Meine Stimme zittert. „Einen Schlehengin? Herr Robert!“ Nichts geschieht. Alkmene ist vage als Silhouette zu erspähen. Die Glut ihrer Zigarette. Ab und an schwappt eine winzige Welle ans Ufer, kaum zu hören. Kein Ruderboot, nirgends. Der Wachtmeister neben mir sitzt völlig still. Ich wusste nur zu gut, Alkmene verbrachte nicht selten eine Stunde oder mehr hier unten. Das kann ja heiter werden, denke ich, doch da wendet sie sich plötzlich um und geht langsam Richtung Haus, quer durch das kleine Waldstück, ein Trampelpfad, drei, vier Meter von uns entfernt. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. „Kommen Sie“, flüstert der Wachtmeister kurz darauf, „aufrücken, Beobachtungsposten einnehmen.“ Einige Minuten später erreichen wir in nahezu völliger Dunkelheit, in der der Wachtmeister sich aber erstaunlich sicher bewegt, den kleinen Hügel, der obenauf die Senke aufweist. Die Stelle, an der er mit Marie-Louise gelegen hat. War mir zu meiner Zeit hier nie aufgefallen. Das schwach beleuchtete Gutshaus in etwa dreißig Metern Entfernung. Wir nehmen unsere Position ein. Ich bekomme noch immer schlecht Luft, denn schließlich würde ich, so nehme ich an, nun zum ersten Mal überhaupt mein eigenes funktionierendes Hologramm zu sehen bekommen. Mir ist denkbar mulmig zumute. Bisher allerdings war da nichts, stellte ich enttäuscht fest, nur jetzt wieder Alkmene auf der Terrasse, rauchend. Nichts sonst. Der Wohnraum fahl beleuchtet. „Wir warten“, sagt der Wachtmeister. Und dann lag ich, das war das Nächste, was ich mitbekam, auf dem Rücken. Die Schlafcouch? Ich hustete und öffnete die Augen. Eine Decke aus einfachen Holzlatten. Ich richtete mich mühsam halb auf, der Tisch, die blinden Fenster, natürlich, dachte ich, ich bin in der Datsche. Ich werde das doch wohl nicht geträumt haben, schoss es mir durch den Kopf, Alkmene am See, auf der Terrasse, der Wachtmeister und ich auf Beobachtungsposten? Ich setze mich aufrecht und drehe den Kopf. Da steht der Fuchs mit einer weißen Schürze am Herd und rührt in einem großen Topf. „Herr Robert“, ruft der Wachtmeister, „so wachen Sie doch auf!“ – „Gibt es Suppe?“, frage ich. „Es gibt gleich etwas hinter die Löffel, Herr Robert! Kommen Sie doch zu sich!“ Wie sich herausstellt, ich konnte mich an nichts erinnern und vertraue ganz den Schilderungen meines Begleiters, bin ich auf unserem Beobachtungsposten im selben Moment in Ohnmacht gesunken, als mit einem Ruck alle Hologramme auf einmal erschienen. So der Wachtmeister. „Verstehen Sie“, sagt er, „Herr Sosias tauchte an der selben Stelle auf, wo Frau Alkmene stand, die echte, und das ist wohl zu viel für Sie gewesen, da Ihren Bruder so plötzlich zu sehen, in Frau Alkmene sozusagen.“ Ich erwidere nichts. Ich hatte keine Erfahrung mit Ohnmachten. Einmal war ich beim Augenarzt nach der Verabreichung von Tropfen fast weggesackt, da ist alles. Und nun so etwas. Es riecht aber wirklich nach Suppe. Jemand steht am Herd und rührt in einem großen Topf. „Zum Glück“, sagt der Wachtmeister, der meine Überraschung erkennt, „hat die Bäckersfrau heute Abend eine Lieferung von Brot und Gebäck auf dem Gutshof abzuliefern gehabt. Ich erkannte gleich ihren Wagen am Geräusch, kurz vor dem Abbiegen von der Straße auf den Zufahrtsweg. Ihre Art, den zweiten Gang reinzuknallen, dazu dieses Singen, das zerschlissene Differential, ganz typisch für einen Mercedes 190.“ – „Aber sonst ein gutes Auto“, kommt es vom Herd, „die Hinterachse ist mal ausgetauscht worden, ja, und es gab auch einmal ein Problem mit den Nockenwellen, aber ansonsten alles tippitoppi.“ Ich lächele unsicher. Der Fuchs? Die Bäckersfrau? „Es blieb mir“, fährt der Wachtmeister fort, „nichts anderes übrig, als Sie ohnmächtig dort liegen zu lassen, in stabiler Seitenlage natürlich, und die Bäckersfrau auf ihrem Rückweg vom Gutshaus abzufangen. An der Weggabelung zum See hin. Was bin ich gelaufen, das können Sie mir glauben, Herr Robert. Und dann haben wir Sie, wir zwei alten Leute, bis zum Auto getragen, auf die Rückbank verfrachtet und hierher gebracht. Nicht wahr?“ – „So war es. Doch vor den Doppelgängern“, sagt die Bäckersfrau lächelnd, immer noch rührend, „diesen Hologrammen, müssen Sie keine Furcht haben, Ihr Bruder hatte sicher auch keine. Der Wachtmeister sagt, er ist verschwunden? Ein netter junger Mann ist das. Etwas Sauerrahm in die Suppe? Sie mögen doch Suppe?“

Kurz darauf sitzen wir alle drei an dem kleinen Tisch mit der Wachstuchdecke. Ich lobe die Köchin, der Wachtmeister nickt heftig und tätschelt der Bäckersfrau den Unterarm. Ich bin immer noch verwirrt. In Ohnmacht gefallen? Beziehungsweise, ich lag ja bereits, ohnmächtig geworden. Beim Anblick der Hologramme? Ich kann mich tatsächlich an nichts erinnern. An absolut nichts. Das letzte Bild ist jenes mit der rauchenden Alkmene auf der Terrasse. Der Wachtmeister räuspert sich. Ich blicke auf. Hatte ich etwa vor mich hin gemurmelt? Zwei Augenpaare sehen mich interessiert an. Dann verstehe ich. Der Blutstropfen! Der ewige Blutstropfen. Jeder nimmt noch einen Schlag Suppe. Wir essen schweigend. Der Wachtmeister, fällt mir auf, hat die Eigenart, den Löffel fast bis in den Schlund zu stecken und ihn dann mit Gewalt, gegen den Widerstand der Mundmuskulatur, wieder herauszuziehen. Ich, also Arno, hatte ihn bisher immer nur trinken oder rauchen gesehen. Nie essen. Die Bäckersfrau hingegen schlürft die Suppe kokett quer vom Löffel. Alles sehr seltsam, denke ich, aber was soll’s, jetzt stecke ich, wir alle stecken mitten in der Geschichte. Und zwar weil ich wissen will, was das alles zu bedeuten hat, was dahinter steckt, hinter all diesem Aufwand, hinter dieser ganzen Kunstangelegenheit! Diesem Kunstgedöns! Immerhin sind Fördergelder geflossen. Die sogenannte Privatwirtschaft hat was springen lassen. Und das nicht zu knapp. Hochkomplexe Technik ist installiert worden, sicher sind summa summarum hunderte, was sage ich, tausende von Arbeitsstunden dabei draufgegangen. Und für was? Steht da nicht die alte Frage im Raum, die immer zu stellen ist, nämlich wer denn einen Nutzen hat von all dem! Wie im Krimi. Oder in der Politik. Selbst Marie-Louise sagt, niemand mehr glaube an die reine Zwecklosigkeit der Kunst, nicht einmal die Kunststudenten. Was ist dagegen der gute Immanuel Kant doch für ein Naivling gewesen mit seiner Ansicht zur Kunst, nein, zum Schönen, zum Schönen als einem interesselosen Wohlgefallen. Einerseits. Während er ja andererseits durchaus schlaue Gedanken hatte, ewigen Frieden zu stiften zum Beispiel auf der Grundlage von Vernunft und Gerechtigkeit, was allerdings leider auch naiv ist, nimmt man es genau. Hegel war ihm da ja durchaus gefolgt, und die Junghegelianer sowieso, wenn ich mich recht erinnere, wobei schon auffällt, möchte ich meinen, wie abfällig die Begriffe Vernunft und Gerechtigkeit mitweilen benutzt werden, heutigentags, eine Abkehr von der Idee der Vernunft scheint sich zu vollziehen, hin zu einer Politik des Stärkeren, einem primitiven … „Herr Robert! Hören Sie zu? Die Bäckersfrau fragt Sie etwas.“ Sagt der Wachtmeister etwa Bäckersfrau zur Bäckersfrau? Fällt mir das jetzt erst auf? Und ja, ich erinnere mich, in Bad Wutzenwalde ist das eine stehende Redewendung: Die Bäckersfrau sagt, die Bäckersfrau meint, die Bäckersfrau ist der Ansicht.“ – „Entschuldigung!“ – „Würden Sie“, sagt sie charmant lächelnd, „am morgigen Abend mit mir auf Beobachtungsposten gehen? Der Wachtmeister ist verhindert.“ – „Aber ja“, erwidere ich. „Und dass Sie mir nicht in Ohnmacht fallen, Herr Robert, hören Sie!“ Wenig später ruckelt der weiße Mercedes 190 mit den beiden Insassen den Hügel hinab, durchfährt die kleine Senke, biegt mit durchdrehenden Rädern rechts ab und verschwindet in der Dunkelheit. Jetzt wusste ich auch, was der Wachtmeister mit diesem Singen meint, das seiner Ansicht nach vom zerschlissenen Differential herrührt. Ich gehe hinein und lege mich wieder auf die Couch. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich muss wohl bei der Frage angelangt sein, wem das Ganze nützlich ist. Zumindest stellt sie sich. Das gute alte Cui bono.[9] Arnos Vermutung, hinter dem Treiben von Karl und Max respektive Jupiter und Mercurius müsse so etwas stecken wie ein groß angelegter Testbetrieb, bei dem die sinnvolle Verbindung von Hologramm und künstlicher Intelligenz das Ziel sei, ist allerdings womöglich weit hergeholt. Realitätsfern. Und ich, Robert, denke naturgemäß ganz ähnliche Gedanken wie Arno. Weil wir Zwillinge sind. Eineiig und ein Herz und eine Seele. Beide haben wir zum Beispiel zeitgleich die Beobachtung gemacht, dass sich die meisten Menschen beim Begriff Roboter feste Materie vorstellen, die im Idealfall wie ein menschlicher Körper auszusehen hat und am besten noch schwitzt und riecht und, wenn notwendig, rund um die Uhr schlechte Witze macht. Aber ist denn nicht, dachte ich zumindest, der offensichtlich gewollten Vermenschlichung der künstlichen Intelligenz am besten gedient, wenn alle Nachteile des Körperlichen getilgt und zugleich diese Wesen wie reale Menschen zu handeln in der Lage sind. Natürlich kann ein Hologramm eine echte Teekanne nicht von A nach B tragen, aber durchaus materiellen Hilfsrobotern, sozusagen Dreifüßen oder goldenen Mägden[10], dafür den Befehl erteilen. Warum den Menschen immer eins zu eins ersetzen wollen! Geht es denn nicht um Systeme, vielfältige Einheiten, in denen Aufgaben ganz natürlich gelöst werden, ohne sich ausgerechnet für jeden Programmpunkt den Menschen als Vorbild zu nehmen? Kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten ist schließlich derart unspezifisch veranlagt, wenn auch manche sagen, der Daumen unterscheide den Menschen vom Tier. Der Daumen mache die Pfote zum Multitool. Schön und gut, dachte ich, aber trotzdem muss der Mensch der Zukunft die Kanne nicht selbst tragen. Ja er gibt nicht einmal zwingend selbst den Befehl dazu, würde ich sagen – weil nämlich alle verfügbaren Daten, in diesem Falle der Teewunsch, schon im Zentral-, im Allrechner angekommen und bereits weitergegeben worden sind, bevor der Mensch den Wunsch überhaupt realisiert hat. Das ist laienhaft gedacht, klar, aber so wird es laufen: Das Hologramm spricht, kaum dass man Tee will, mit angenehmer Stimme zum Roboter, „bitte den Tee und die Haferkekse ins Arbeitszimmer.“ Und was spräche dagegen, dem Hologramm die Gestalt eines berühmten Schauspielers zu geben, wenn man das denn partout möchte, oder die der Mutter, des Vaters, die einer Comicfigur. Einige implantierte Sensoren dürften bei der ganzen Chose völlig ausreichend sein, dem Menschen jeden Wunsch ablesen zu können, ja womöglich klingelt der attraktive, menschengleiche Sexroboter, mit allen Wünschen bereits programmiert, fünf Minuten nachdem so ein ganz bestimmtes Kribbeln eine Person befallen hat.

Nun gut, denke ich, genug gedacht. Ich gehe aufs Klo, Marke Datsche-Eigenbau, und betrachte mich im fleckigen Spiegel über dem Waschbecken. Die Narbe etwas angeschwollen, im Augenblick aber kein Blut zu sehen. Eine alte, echte Narbe, dem Anschein nach. Die aber hoffentlich, wie von Barbara versprochen, wieder verschwinden würde. Lange sehe ich mich an. Ob ich die Narbe würde nachstechen lassen müssen, wenn sie zu früh verblasste? Und ob ein Nachstechen nicht etwa die Gefahr erhöhte, sie permanent zu machen? Was tun, wie vorgehen? Plötzlich aber dreht sich mir alles. Ich packe mit beiden Händen das Waschbecken. Wo kommt denn das so plötzlich her! Minuten später am Tisch, zu dem ich sicherheitshalber gekrochen bin, vor meinen Aufzeichnungen sitzend, wird mir klar, dass mein Körper etwas begriffen hatte, was der Verstand noch außerstande gewesen war zu akzeptieren: Dass nämlich mit einer echten Narbe auf der Stirn, wenn die Tätowierung nicht wieder verschwinden würde, Arno unauffindbar bleiben würde. Für immer! Ist eine Tätowierung auch nur um ein Winziges zu tief gestochen, sind die Pigmente in eine zu tiefe Hautschicht eingedrungen, so bleibt sie. Barbara hatte mir das während des Stechens erklärt und zugleich behauptet, sie könne das mit den nichtpermanenten Tattoos sehr gut, als Einzige in dem Laden. Und die Nachfrage sei ja auch gestiegen, denn vor allem Alleinstehende nähmen oft ihren gesamten Jahresurlaub im Winter und verschwänden ins Warme, und die hätten einen starken Bedarf an coolen Tattoos, die sie aber bei der normalen Arbeit nicht haben dürfen. Polizisten, Soldaten, Zollbeamte. Auch eine Staatsanwältin sei Kundin. Das lasse doch tief blicken!

Mit Einbruch der Dunkelheit, so habe ich es mit der Bäckersfrau verabredet, würden wir uns an der Abzweigung zum See hin treffen. Vorsicht aber sei vonnöten, denn nicht nur Alkmene könne am See oder im Wald herumstromern, sondern auch Karl und Max. Sobald der Fuchs auf dem Dach steht, mache ich mich auf den Weg. Prompt läuft mir unten auf der Straße Herr Knocke von Fernseh-Knocke über den Weg, der mit seinem Spitz spazieren geht. Mist, denke ich, mit der Spitzfindigkeit von Hunden hatte ich nicht gerechnet. Arno mochte keine Hunde, da würde es wohl besser sein, wenn ich, Robert, sie mag. Ich knuddele also den Hund, der freudig an mir hochspringt, trete dann entschlossen auf Knocke zu und schüttele ihm die Hand. „Robert Scheerbart“, sage ich, zu laut und zu deutlich, aber was soll’s, das kann passieren, „ich bin der Bruder von Arno, den Sie ja vielleicht kennen.“ – „Ah, der Herr Zwillingsbruder! Der Wachtmeister erzählte mir kürzlich von Ihnen.“ Eine Pause entsteht. „Sie wollen …?“ – „Ja, ich kann meinen Bruder nicht erreichen, ich dachte, womöglich ist er in Bad Wutzenwalde.“ Knocke lächelt, während der Hund im Unterholz verschwindet. „Sie wissen ja“, fahre ich fort, „diese Künstler, diese Schriftsteller verbarrikadieren sich oft geradezu, reagieren auf keinen Anruf und so weiter. Um große Werke zu schaffen.“ Ich lache Zustimmung heischend. Herr Knocke sieht mich ernst an und schweigt. Der Hund kommt zurück und guckt von unten knopfäugig von einem zum anderen, immer hin und her. „Na und“, scheint er zu sagen, „und was nun?“ – „Große Werke“, sage ich noch einmal und laufe rot an, „aber finden muss ich ihn, Familienangelegenheiten, wissen Sie, also wenn Sie …“ – „Aber ja“, sagt er beflissentlich, „übrigens Knocke mein Name, Fernsehfachgeschäft, Postfiliale, sicher sehen wir uns mal. Auf Wiedersehen, der Hund muss noch mal und es wird ja bald dunkel.“ – „Sicher“, sage ich, „auf Wiedersehn!“ Im selben Augenblick fällt ein Blutstropfen von meiner Nasespitze zwischen meine Füße, aber da ist Herr Knocke mit seinem Spitz schon auf dem Weg in den Wald. Zwanzig Minuten später treffe ich an der Weggabelung ein. Auf ein Neues also! Im Westen, so kann ich durch die Bäume erkennen, ein schmaler Streifen Licht über dem See. Unter dem Blätterdach ist es bereits ziemlich finster. Keine Bäckersfrau weit und breit. Ich warte. Schleiche ein wenig herum. Alkmene ist nicht am Seeufer, auch sonst niemand. Man kann schon den Herbst riechen, denke ich. Dann ein Rascheln. Mein Herz wummert ein paar Mal unregelmäßig. Die Bäckersfrau. Knickerbocker, Kniestrümpfe, Wanderschuhe, ein Spazierstock und, natürlich, ein Feldstecher. „Die Luft ist rein, Herr Robert“, sagt sie statt einer Begrüßung, „kommen Sie!“ Wir laufen längs durch das Waldstück, beide leicht gebückt wie die Indianer, die Bäckersfrau vor mir mit bestechender Trittsicherheit. Manchmal knackt ein Ast, aber das ist ja normal in einem Wald, dass mal ein Ast knackt, auf den man tritt, denke ich ärgerlich. Endlich erreichen wir die Stelle auf dem kleinen Hügel mit Senke obenauf. Das Gutshaus, so stelle ich enttäuscht fest, liegt finster da. Nichts zu sehen, nichts zu hören, die großen, bis zum Boden reichenden Fenster, die ganze Fensterfront ganz und gar schwarz, während das Dach mit seinen roten Ziegeln und den drei Dachgauben wie aus sich heraus schwach leuchtet. Die Bäckersfrau nimmt ihren Feldstecher zur Hand. „Sehen Sie da und dort die roten Pünktchen blinken? Die Internetübertragung ist zwar eingestellt worden, die Kameras aber wurden nicht entfernt. Wir lagen übrigens genau hier, Herr Robert, der Wachtmeister und ich, als alles getestet wurde, nächtelang.“ Sie atmet ein paar Mal tief ein und aus. „Das hätten Sie mal sehen sollen“, fährt sie schließlich fort, „Grizzlybären liefen herum, eine Monsterwelle raste durch das Wohnzimmer, ein Wal strandete auf der Terrasse und so weiter. Faszinierend, auch wenn es keinen Sinn macht. Der Wachtmeister allerdings …“ In eben diesem Augenblick plötzlich gleißendes Licht. Einen Moment lang erkenne ich, völlig geblendet, gar nichts und reibe mir die Augen. Ich ducke mich tiefer in die Senke. Und dann sehe ich es! „Ganz ruhig“, flüstert die Bäckersfrau mir ins Ohr und tätschelt mir den Rücken, „atmen Sie tief durch!“ Ich atme. „Das ist“, flötet sie leise vor sich hin, „alles nur Show, Herr Robert! Nur Hologramme!“ Tatsächlich ist mir schwindelig. Hellerleuchtet der Wohnraum, in ihm Alkmene und Amphitryon, beide auf und ab gehend. An der Wand im Hintergrund stehend Karl und Max in ihrer Rolle als Jupiter und Mercurius. Vorne quert die Katze mit dem Näschen nach oben die Szenerie, und dann, ich schreie auf, erkenne ich mich. Also Arno! Sosias! „Leise! Das ist nur ein …“ – „Ich weiß, ein Hologramm“, keuche ich. Das Ich! Mein Ich! Der Ich! Arno tritt derweil auf Alkmene zu und bewegt den Mund. Alkmene fuchtelt mit den Armen herum. Ich folge ihr in die Sofaecke. Und tatsächlich, ich kann mich, wie ich da so in der Mulde liege, an die Szene erinnern, die sich da vor unseren Augen abspielt. Es ging um meinen Essay, den ich endlich online stellen wollte. Ich weiß noch, ich drohte ihr mit irgendetwas. Wie lange war das jetzt her, fragte ich mich. Und dann mit einem Male alles aus. Schwärze. Auf der Netzhaut kurz noch die Szenerie und tanzende Pünktchen. Wieder reibe ich mir die Augen. Die Bäckersfrau guckt ungerührt durch ihren Feldstecher. Das Deckenlicht wird eingeschaltet und vom Flur her kommt Alkmene, ohne Zweifel die echte, mit großen Schritten in den Wohnraum hinein, öffnet die Terrassentür und tritt hinaus. Ihr folgt jemand. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich da nicht in Ohnmacht gefallen bin, denn die Frau, die hinter ihr ins Freie tritt, eine Zigarette in der Hand, sie anzündend und einen tiefen Zug nehmend, ist niemand anderes als Marie-Louise. Meine Marie-Louise!

VII

Sobald eine Idee vage aufscheint, rumort es in mir. Ein Zugriff jedoch ist lange noch unmöglich. Da ist nichts Benenn- oder Greifbares. Der Kopf aber geht schwanger. Mehr als einem lieb sein kann. Es schwirren Begriffe und Entitäten herum. Schattenhaft. Eines Tages aber, man ist längst schon an dieses unabhängig vom Willen sich vollziehende Tun gewöhnt und beachtet es kaum noch, stößt ein gewisses Etwas hinzu. So scheint mir. Ein von außen Heran-, von außen Hineingetragenes. Oder aber ein von innen Hinzugefügtes, aus einem Urgrund heraus. Oder müssen alle Zutaten, ob von außen oder innen, hinzugefügt sein, um zu einem Ergebnis zu kommen, eine Idee zu gebären? Doch gleichviel, da steht sie steht plötzlich und blickt einem tief in die Augen. Die Idee. „Meintest du etwa mich“, scheint sie zu sagen, „gut. Hier bin ich!“ Von diesem Augenblick an muss jeder Versuch, sich ihrer wieder zu entledigen, scheitern.

So entstand die Idee mit diesen vermaledeiten Hologrammen. Alkmene, Amphitryon und ich hatten sie gleichzeitig, fast als seien unsere Gehirne miteinander verschaltet gewesen. Hätte ich bloß zuvor die Klappe gehalten! Alles für mich behalten. Denn es müssen wohl all meiner Reden über Wieder- und Doppelgänger gewesen sein, die sich zu einer Idee in gleich mehreren Köpfen verdichteten. Eine Idee, plötzlich ganz und gar da. Lebensfähig geworden. Wirkmächtig durch die Umsetzung in eine andere Sphäre! Ich glaube, die Beiden wussten selbst nicht, auf was sie sich da einließen. Ich wusste es auch nicht. Wir waren naiv, die Idee hatte die Herrschaft über uns übernommen. Das Doppelgängertum! Wie schlicht es doch gedacht ist, das sage ich seit eh und je, einem Menschen nur ein einziges, konstantes Ich zuzubilligen. Und selbst ein eigenständig handelndes zweites Ich ist ja noch immer nur eines von vielen möglichen! Man denke nur an diese Geschichte, die ich, respektive Arno, viele Jahre später nach den Traumnotizen Eduard Rabans schrieb. Ich erst machte diese konkrete Doppelgängergeschichte daraus. Aber natürlich hat so ein Traum einen Grund, eine Grundlage im wirklichen Sein. Nicht von ungefähr heißt es ja, jemand sei außer sich, sei nicht recht bei sich, sei nicht er oder sie selbst. Bei Eduard jedenfalls gibt es offensichtlich mindestens zwei Seinsweisen, die des offenherzigen Eduards und die des verkapselten. Und da komme mir keiner mit irgendwelchen Krankheitsbildern! Oder man bedenke nur Goethes Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Die eine will sich von der andern trennen. Aber was genau ist dann ein Hologramm? Einfach ein 3D-Avatar! Ein schlichtes Abbild ohne eigentliches Sein? Kein Doppelgänger also? Darüber dachte ich viel nach. Von Amphitryon wusste ich, er hatte sich offensichtlich einiges angelesen, dass man für echte Hologramme Displays benötige, deren Pixel ein Fünfhundertstel bis zu einem Tausendstel Millimeter groß sind, was der Größe der Wellenlänge von Licht entspricht. Naja, dachte ich, wenn es nur das ist, dann ist ja alles auf dieser Welt nur Licht und Luft.

All diese Überlegungen fielen mir wieder ein auf dem Weg vom Gutshof zur Backstube, den die Bäckersfrau und ich schweigend zurücklegten. Jetzt trinken wir Schnaps und Schlehengin und verzehren Huckelkuchen. Der Wachtmeister hat sich zu uns gesellt. Kaum sind die Gläser gefüllt, klärt er mich in aller Sachlichkeit darüber auf, dass Marie-Louise seit ein paar Tagen im Bungalow wohne und täglich lange Interviews mit Alkmene, Jupiter und Mercurius führe. Die Bäckersfrau nickt dazu und lächelt. Mir liegt manche Frage auf der Zunge, zuerst natürlich die, warum mir davon nichts gesagt worden ist. Allerdings habe ich weiterhin ernsthaft damit zu kämpfen auseinanderzuhalten, was ich als Robert denn wissen konnte und was nicht. Ich entscheide mich sicherheitshalber dafür, nichts zu wissen, nichts zu sagen und vor allem nichts zu fragen. „Frau Marie-Louise ist ja bereits kürzlich einmal auf dem Gutshof gewesen, Herr Robert“, sagt auf einmal die Bäckersfrau ganz unvermittelt, „ohne jemanden anzutreffen.“ – „Sie war“, ergänzt der Wachtmeister, „davon gehen wir fest aus, auf Geheiß des Herrn Sosias, also Herrn Arnos hier.“ – „So dass der Herr Arno vor kurzem wohl noch vorhanden gewesen sein muss“, so die Bäckersfrau. Vorhanden, denke ich, wieso vorhanden? „Wir werden Frau Marie-Louise einfach bei Gelegenheit zu fragen haben, nicht wahr?“, sagt der Wachtmeister, „oder den Herrn Sosias selbst.“ – „Jedenfalls war sie dann plötzlich wieder hier“, ruft die Bäckersfrau in den Raum hinein, „in Irland sei sie gewesen, zwischenzeitlich.“ – „Die Bäckersfrau hat Frau Marie-Louise dann mit dem Wagen mitgenommen“, sagt der Wachtmeister, „und sie der Frau Alkmene und den Herren Jupiter und Mercurius vorgestellt. Dass sie auf dem Gutshof Interviews führen will hat sie gleich gesagt und alles erklärt.“ – „Die Interviews sind für ihre Abschlussarbeit“, sagt jetzt die Bäckersfrau, setzt sich sehr aufrecht hin und kippt einen Schnaps hinter. „Hat sie uns alles erzählt“, sagt jetzt wieder der Wachtmeister und drückt ebenfalls den Rücken durch, trinkt aber nichts. Ich sitze nur da. In meinem Kopf rattert es. Wer hatte wem was erzählt, frage ich mich? Und warum überhaupt ist Marie-Louise nicht mehr in Irland? Ich lächele unsicher. „Ich kenne die Frau nur von einem Foto“, sage ich schließlich und werde rot, „ich weiß nicht, vielleicht ist sie ja doch die Freundin meines Bruders.“ Ich werde noch röter. „Schweizerin ist sie“, sagt der Wachtmeister mit Nachdruck, „das auf jeden Fall.“ –  „Und so hübsch“, sagt die Bäckersfrau lächelnd. „Gebildet und charmant dazu“, ergänzt der Wachtmeister. „Voll Leidenschaft und Hingabe“, murmelt die Bäckersfrau nachdenklich, „und …“ – „Mutig“, ruft der Wachtmeister, „und …“ – „Schön“, so die Bäckersfrau mit Nachdruck, „eine schöne Frau, und …“ – „… und sicher froh“, beendet der Wachtmeister den Satz, „dass sie ihren Freund jetzt wieder bei sich in der Nähe haben kann!“ – „Ja“, lacht die Bäckersfrau nach einem kurzen Moment absoluter Stille los und spuckt Kuchenkrümel auf meinen Bauch, „zumindest den einen von den beiden!“ Der Wachtmeister lacht nicht, sieht mich aber bedeutsam an, legt die Stirn in Falten und steht langsam auf. „Das Spiel ist aus, Freundchen“, erklärt er in dienstlichem Ton, „gestehen Sie, Herr … Herr Arnobertosias!“ Kurze Stille, und dann lacht auch er. Der ganze mächtige Leib des Wachtmeisters bebt. Schließlich legt er mir eine Hand auf die Schulter. „Einen Schlehengin? Herr Robert!“ Ich sitze da wie gelähmt. Des Wachtmeisters Gelächter verebbt langsam. Ich hatte ihn niemals zuvor lachen sehen. Die Bäckersfrau kichert still in sich hinein. Vom Hof her, so scheint mir, ist leise das Gebimmel einer Fahrradklingel zu hören. Sicher das Hollandrad des Wachtmeisters mit seinen acht Gängen und Freilauf. Alles, alles jubiliert! Ich aber schäme mich meines tumben Versuchs, ein Anderer zu werden, mein eigener Zwillingsbruder zu sein. Komischerweise fällt mir ausgerechnet jetzt, da ich so verwirrt in der Bäckersstube sitze, Die Feuerzangenbowle ein, der Lieblingsfilm meiner Eltern, doch da macht Heinz Rühmann ja aus sich nur sein jüngeres Ich, das er in gewisser Weise einmal hätte gewesen sein können, während ich ja aus dem Nichts heraus Robert zu sein versuchte und ihn, den nie zuvor Vorhandenen, unvermittelt zu verkörpern trachtete. Ach Gottchen, wie blöd muss man sein! Der Wachtmeister macht ein fragendes Gesicht. „Ja, bitte“, sage ich tonlos. „Wollen Sie nichts sagen?“ – „Nein“, erwidere ich, „was soll ich dazu noch sagen?“ Ich versinke in mir. Der Wachtmeister gießt mir nach. Ich sitze nur da. Den Kopf in den Händen. Mit Sausen in den Ohren. Endlich räuspert sich der Wachtmeister und sieht mich ernst an, auch die Bäckersfrau hat sich wieder im Griff. Man bemüht sich nun redlich, mir alles ernsthaft zu erklären, vor allem warum Alkmene, Jupiter, Mercurius und, sollte er wieder auftauchen, Amphitryon durchaus glauben sollen, der Zwillingsbruder Arnos, Robert nämlich, sei auf der Suche nach ihm, also mir, Arno. Auch im Ort solle man das ruhig glauben, denn nur so bestünde die Möglichkeit, die ganze Geschichte hinter dem Amphitryon Komplex aufzudecken. „The whole story, wie der Amerikaner sagt, the big picture, alles, was mit dem Gutshof zu tun hat“, sagt der Wachtmeister kehlig, klemmt die Daumen in die Achselhöhlen und legt sein Doppelkinn auf die Brust. „Frau Marie-Louise ist natürlich auf unserer Seite“, sagt die Bäckersfrau, „sie weiß genau, was sie tut.“ Ich nicke und kippe den Schlehengin hinter. Ich bin völlig verwirrt.

Zwei Stunden später liege ich wohlig betrunken in der Datsche auf der Schlafcouch. Ich starre auf die tanzenden Holzlatten der Zimmerdecke und weiß absolut nicht, ob ich mich ärgern oder mich freuen soll. Marie-Louise anzurufen wäre ein zu großes Risiko, das ist mir klar. Ich selbst hatte ihr ja eingeschärft, das Mobiltelefon nicht zu benutzen, weil die Götter, weil Jupiter und Mercurius, es womöglich abhören. Oder waren das die Wahnphantasien eines technisch völlig Unbedarften? Hockte ich da wie das Kaninchen vor der Schlange, die am Ende nur eine Blindschleiche ist? Der ganze Abend lief noch einmal vor mir ab, vor allem auch das Gespräch, nachdem sich die Bäckersfrau und der Wachtmeister als Genossen geoutet hatten. Als wahrhaft Wissende. Zuletzt noch kam die Rede darauf, schon morgen ein großes Treffen in des Wachtmeisters Wohnung stattfinden zu lassen, sozusagen in aller Öffentlichkeit. „Das soll“, so hatte die Bäckersfrau gesagt, „ruhig jeder mitbekommen. Wo kann man ein Buch am besten verstecken, Herr Robert?“ Ich sehe mich mit den Achseln zucken, wieder und wieder. Ich konnte gar nicht mehr damit aufhören. Was sollte denn das jetzt! „Nun?!“ – „Ich weiß es nicht!“ Sie lächelte nachsichtig. „In einem Bücherregal unter Büchern natürlich, Herr Robert! Und wo verstecken wir also den Herrn Arno am besten? Na? Im Herrn Robert! Na also, sehen Sie, jetzt haben Sie’s kapiert.“

Ich wache mit einem Schrei auf. Es klopft. Ich springe auf und tapere zur Tür. Es muss wohl früh am Morgen sein, jedenfalls ist es blendend hell da draußen. Ein junger Automechaniker in blauer Latzhose steht im Gegenlicht, drückt mir wortlos den Zündschlüssel von Eduards Wagen in die Hand, weist mit dem Kopf hinter sich, wo der alte bronzefarbene Honda blitzblankgeputzt steht, dreht sich um, geht zum Wagen, nimmt aus dem offen stehenden Kofferraum ein orangefarbenes Klapprad heraus, knallt den Kofferraum zu, hantiert am Rad herum, setzt sich schließlich drauf und lässt sich den Berg hinunterrollen. „Danke!“, rufe ich ihm hinterher.

Ich mache mir einen Kaffee. In was für eine Geschichte bin ich da nur hineingeraten! Oder vielmehr, was habe ich selbst da für eine Geschichte ins Leben gerufen? Womöglich ist das alles ja wirklich nur ein misslungenes Kunstprojekt! Ohne etwas dahinter! Ohne Resonanz, ohne Wirkung. Ein klarer Fall von kannste vergessen. Von denen gibt es ja wer weiß wie viele … ein innerer Zirkel, der sich interessiert zeigt oder das wenigstens vorgibt, wenn man Glück hat Gelder von irgendwoher, Stipendien, Preise, und das war es dann auch schon. War es das? Ich nehme mein Mobiltelefon zur Hand und rufe die Telefonzelle an. „Herr Robert!“, meldet sich die Stimme des Wachtmeisters, „Herr Robert! Kaufen Sie für das große Treffen bei der Bäckersfrau Gebäck für vier Personen und kommen Sie um 16 Uhr 30 zu mir zum Kaffee.“ Ich stiefele zeitig los. Die Bäckersfrau bedient mich wie jeden anderen Kunden. Ich nehme sechs Hörnchen und vier Bienenstich. Sollte reichen. Herr Knocke und der Gemüsehändler stehen hinter mir. Beide nickten mir zu, als ich mich umdrehe. „Bis später dann, Herr Robert“, sagt die Bäckersfrau noch, weder zu laut noch zu leise. Ich nehme also mein Gebäckpaket und mache mich auf den Weg zum Wachtmeister. Sagte ich schon, dass Marie-Louise neuerdings hellblonde Haare hat? Sie muss sie sich in Cork gefärbt haben. Sie steht mit dem Rücken am offenen Fenster der Wachtmeisterwohnung im ersten Stock. Unübersehbar. Ich schreite an der Telefonzelle vorbei und klingele. (Anstelle des Nachnamens steht da, ich glaub es nicht, tatsächlich Wachtmeister.) Marie-Louise öffnet, streicht mir mit dem Zeigefinger über die Stirnnarbe, lächelt, sagt aber nichts. „Kommen Sie herein, Herr Robert“, dröhnt stattdessen der tiefe Bass des Wachtmeisters, „ah, der Kuchen. Kaffee kommt gleich.“ Ich sehe mich um. Die Wände des Wohnzimmers bestehen aus nichts anderem als aus Bücherregalen, prall gefüllt. Vieles aus dem Aufbau-Verlag, siebziger und achtziger Jahre. Hier und da neue Bücher, Lexika. Ich war überrascht, denn lesend konnte ich mir den Wachtmeister überhaupt nicht vorstellen. In der Mitte des Raumes ein runder, niedriger Tisch, so eine Art Küchentisch mit abgesägten Beinen, um ihn herum fünf Cocktailsessel mit etwas zerschlissenem Stoff, mattblau, mattgelb, mattrot, mattgrün und mattgrau. Auf einem Regal über der Heizung dutzende Notizbücher mit blechbeschlagenen Kanten. Kurz darauf trifft die Bäckersfrau ein, sie muss wohl einen Schlüssel haben, auch sie mit einem Gebäckpaket, größer noch als meins. Wir plaudern. Natürlich hatte ich verstanden, dass dieses Treffen in erster Linie der Installation Roberts, so würde ich das mal nennen, dienen sollte. „Sie hätten natürlich auch Sosias beziehungsweise Herr Arno bleiben können“, sagt der Wachtmeister plötzlich ansatzlos. Ich stutze. „Aber dann wäre ich gegen meinen Willen zurückgekommen“, gebe ich zu bedenken, „ich als Arno bin ja dem Gutshof und Bad Wutzenwalde entflohen!“ – „Wir freuen uns ja, den Herrn Robert kennenzulernen“, mischt sich die Bäckersfrau schelmisch ein. „Und außerdem“, sagt Marie-Louise, „hätte Alkmene sicher Vorbehalte gegen mich, wenn ich hier als die Freundin Arnos aufträte. Mit Robert, in den ich mich in Berlin verliebt habe, ist das ein ganz anderes Ding.“ Sie lächelt, weicht aber meinem Blick aus. Meine Narbe juckt. „Stimmt wohl“, sage ich, „Alkmene hätte dich, als Arnos Freundin, sicher nicht einquartiert.“ – „Die erste Nacht im Bungalow war übrigens seltsam. Ich war sicher, irgendjemand schleicht ums Haus herum. Ich lag auf dem Bett, angezogen, und rechnete jeden Augenblick damit, dass dieser Jemand durch das geschlossene Fenster hereinspringt.“ – „Vielleicht war es nur der Fuchs“, sagt der Wachtmeister und nimmt sich ein Stück Bienenstich. „Und so ein Zischen habe ich auch gehört.“ – „Dann waren es die Eulen!“, sagt die Bäckersfrau und stopft sich ein Hörnchen in den Mund.

Marie-Louise liest uns ihre Interview-Abschriften vor. Es überrascht mich, dass Alkmene gegenüber Marie-Louise unumwunden zugibt, das Projekt Amphitryon Komplex sei teilweise gescheitert. „Wie wirkte sie denn, als sie ihr Scheitern zugab?“, frage ich. „Ich würde sagen gefasst.“ Der Wachtmeister nimmt sich ein weiteres Stück Kuchen. „So stellt sich die Frage, was sie plant.“ – „Was die ganze Bande plant!“, sagt die Bäckersfrau. „Ich denke weiterhin“, mische ich mich ein und merke gleich, wie ich rot werde, „dass Jupiter und Mercurius das Ganze als eine Versuchsanordnung ansehen, bei der sie testen können, inwieweit sich künstliche Intelligenz und Robotertechnik verbinden lässt mit der Hologramm-Technik.“ Ich erläutere, wie man die Erscheinungsform einer menschlichen Welt erhalten könne, selbst wenn überhaupt keine echten Menschen mehr an einem Ort notwendig seien. Sondern nur noch Hologramme und Roboter. Und dass das dann zwar alle wüssten, es aber eben trotzdem menschlich wirke. Nach und nach fände eine Konditionierung statt, die den einzelnen Menschen dieser schönen neuen Welt völlig ausliefere. „Roboter selbst können ja auch menschlich wirken“, ruft die Bäckersfrau kauend. Ich nicke. „Womöglich geht es um viel Geld und Frau Alkmenes Enthusiasmus ist nur benutzt worden, eine Testreihe in der realen Welt durchzuführen“, sagt der Wachtmeister ernst. „Es geht um die Durchsetzung der künstlichen Intelligenz, also darum, Macht zu gewinnen über die Menschen“, sage ich, „um so aus unserer Demokratie eine Scheindemokratie zu machen! Die Weltregierung säße dann im Silicon Valley und bestünde aus machtgeilen Nerds und Spießern!“ Pause. Wir hatten unser Pulver verschossen. „Mutig müssen wir nunmehr sein!“, sagt der Wachtmeister dann aber schließlich und steht auf. Auch wir erheben uns. Er schenkt Schlehengin ein. Wortlos klackern die Gläser aneinander. Das große Treffen war beendet.

Marie-Louise und ich verlassen gemeinsam die Wohnung und spazieren Richtung Gutshof. Ich schleiche mich von hinten von der Straße und durch das kleine Wäldchen heran. Mein Bungalow! Ich klettere, während Marie-Louise die Vordertür nimmt, durch das rückwärtige Fenster hinein und sehe mich um. Das Bett, der Küchentisch, die paar Stühle, die Kommode. Nichts hatte Alkmene geändert, ja ich bezweifelte sogar, dass sie das Haus überhaupt betreten hatte. „Alles gut?“, fragt Marie-Louise. Sie steht nackt in der Badezimmertür, nimmt Anlauf und springt ins Bett. Ich folge. Stunden später wache ich allein auf. In meinen Klamotten ein Zettel: Bin drüben im Gutshaus, komm doch nach. SIE weiß nun bescheid über Robert und seine Suche nach Arno. Zerreiß den Zettel und spül ihn ins Klo. M-L. Mein erster Gedanke war, Marie-Louise müsse verrückt geworden sein. Alkmene einfach so mit Robert zu kommen! Was da nicht alles schieflaufen kann! In meinem Kopf rumort es. In Filmen sehen die Dinge immer so zielstrebig aus, aber wenn man selbst drinsteckt in einer Geschichte, ist man nicht selten komplett orientierungslos. Ich spüle den zerrissenen Zettel ins Klo und gehe rüber. Ich muss unbedingt, schärfe ich mir ein, zum ersten Mal hier sein. Marie-Louise öffnet mir die Tür auf mein leises Klopfen hin. Alkmene, die selbe hohe, weiße Gestalt wie immer, kommt aus dem Hintergrund auf mich zugeschritten. Sie trägt ihr antik anmutendes Kleid und ist barfuß. „Guten Tag“, sagt sie. Aufmerksam betrachtet sie mich. Marie-Louise tritt einen Schritt zurück, ich bemerke es. „Guten Tag“. – „Marie-Louise hat es Ihnen wahrscheinlich schon gesagt. Ihr Bruder ist am Tag der Finissage in Basel einfach verschwunden. Nicht etwa, dass wir uns wirkliche Sorgen gemacht haben! Auch mein Mann, Amphitryon, verschwand am selben Tag, nachdem er mit einer der Hostessen Sex hatte. Man berichtete mir davon. In einem Büro der Kunsthalle. Es gibt Aufnahmen der Überwachungskameras. Wenn Sie wollen, können wir uns das mal ansehen. Wissen Sie, er war schon immer ein Schmierenkomödiant, der gute Amphitryon, selbst wenn er die Eroberung junger Frauen gut beherrscht, keine Frage!“ Sie lächelt zweideutig. Typisch für sie, mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich lasse mir nichts anmerken. „Einen Tee, Herr Scheerbart, oder darf ich Sie Robert nennen? Vielleicht eher einen Whisky? Für Tee ist es ja zu spät. Ich könnte jetzt jedenfalls einen gebrauchen. Marie-Louise? Sie auch!“ Natürlich, denke ich, als wir in der Sitzecke Platz nehmen, weiß Alkmene, dass ich nicht Robert bin! Dass es keinen Robert gibt und Arno vor ihr sitzt. Stirnnarbe hin oder her. Ich hoffe fast, die Narbe begänne zu bluten.

Alkmene berichtet nun ausführlich vom Komplex, sie sagt immer nur Komplex, und lässt kaum etwas Wichtiges aus, weder das Konzept betreffend noch die Technik noch den Einfluss der, so nannte sie sie tatsächlich, Herren Karl und Max Brzozowski. Ich habe große Mühe, interessiert zu wirken, denn es sind ja oft meine Worte, die sie da benutzt, ganze Textblöcke scheint sie auswendig zu wissen. „Sosias“, sagt sie dann endlich nach einer kleinen Pause, „also Ihr Bruder Arno, hat jedenfalls hervorragende Arbeit geleistet, das muss ich sagen.“ Ich nicke und versuche gleichgültig zu gucken. „Allerdings“, fährt sie fort, „hat die Freundschaft doch sehr gelitten im Laufe der drei Jahre. Am Ende waren wir uns spinnefeind. Auch das muss ich sagen, bedauerlicherweise.“ Ich schlucke. „Aber natürlich“, sagt sie lächelnd und mir eine Hand auf das Knie legend, „werde ich Sie bei Ihrer Suche bestmöglich unterstützen. Verlassen Sie sich darauf!“ – „Vielen Dank“, sage ich steif. „Aber ich bitte Sie! Und nun zeige ich Ihnen mal die Aufnahmen der Überwachungskamera der Kunsthalle Basel. Keine Angst, die Hostess ist sehr hübsch! Ah, da sind die Beiden ja! Darf ich vorstellen. Karl, Max, respektive Jupiter und Mercurius. Das ist Robert, er ist auf der Suche nach seinem Bruder Arno, also Sosias! Setzt euch doch!“ Hände werden geschüttelt. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Alkmene betätigt die Fernbedienung. „Bitte achten Sie“, sagt sie, „auf die Hand meines Mannes, die permanent auf der linken Hüfte der jungen Frau liegt oder sie zumindest leicht berührt. Da nämlich ist in diesem Augenblick ohne Zweifel die erogene Zone der Frau, bevor es zur Sache geht. Das Geheimnis der Verführung – spüre, wo der Körper des Anderen die Berührung herbeisehnt. Amphitryon hat dafür ein Händchen, wortwörtlich. Das muss man ihm lassen. Der Akt ist dagegen grob zu nennen“, sie spult ein wenig vor, „das geht nun vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden so.“ Hat die Hostess daran wirklich Spaß gehabt, denke ich, während ich zusehe, wie Amphitryons blanker Hintern auf und ab wippt. Verspürt sie wirklich sexuelle Lust? Schlecht zu sagen. „Die kurze Nacht des Amphitryon“, sagt Alkmene, „worauf sich dann all seine Spuren verloren haben, bis heute.“ Sie lächelt dumpf. Karl und Max verabschieden sich, während Alkmene mir und Marie-Louise Whisky nachgießt. „Und nun zu Ihnen, Robert. Erzählen Sie mal.“

VIII

Glauben Sie nicht, lieber Arno Scheerbart, oder wer Sie sonst sein mögen, Robert Scheerbart meinethalben, dass es durchaus berechtigt ist zu sagen, je mehr Handlung ein solcher Bericht beinhaltet, desto weniger Tiefsinn wird er haben können? Ich (keine Angst, ich antworte mir selber) halte dagegen, ganz im Gegenteil sei doch außerordentlich viel Sinn im Spiel, da alle Personen, von Marie-Louise bis zum (sagen wir ruhig) Fuchs, eigenständig denkende Wesen sind, denen es nicht um das Handeln als solches zu tun ist, sondern allein um die Sache, um ihre Sache, der sie ständig denkerisch im Rahmen ihrer Möglichkeiten obliegen. Das sich nun daraus ergebende Geschehen als Ganzes entsteht somit folgerichtig durch die Verknüpfung all dieser unterschiedlichsten Denkfäden, so dass sich ein mehr oder weniger stabiles Netz ausbildet oder, wie manche sagen, eine Textur. Die Handlung ist somit das Ergebnis unablässigen Zusammenknotens der unterschiedlichsten Fäden. Kaum ist ein Knoten ausgeführt, kaum eine neue Verbindung hergestellt, so tauchen bereits neue Denkfäden auf, dutzende neuer Fäden, die mit dem zu verbinden sind, was schon geknüpft ist, so dass nach und nach ein Knüpfwerk entsteht, dessen Sinn innerhalb des durch Denkfäden entstandenen Musters lesend zu erspüren ist. Verstehen Sie?

Ein Nachtrag zum großen Treffen: Wenn es die DDR gegeben hat, dann hat es auch den Wachtmeister gegeben! Den gibt es immer noch. Und der arme Kerl kann jetzt gar nicht mehr anders, als mich in seine Dienste zu nehmen. Eine kugelrunde Null, ich! Der Wachtmeister sagt sogar, er sei froh und er hätte es sich nicht besser ausdenken können, dass ich nun Robert bin. Über die Null lacht er. Auch die Bäckersfrau ist, wie sich herausstellt, begeistert. „Sie gefallen mir als Robert“, das hatte sie beim großen Treffen zum Abschied noch gesagt, „sogar besser. Sie haben mehr, wie sagt man doch gleich in Westdeutschland, mehr, mehr … Schmackes!“ Fast wäre ich, als Arno, ein wenig beleidigt gewesen. Oder schlimmer noch, eifersüchtig.

Zum Stand der Dinge: Die Datsche[11] ist mein neues Zuhause und der Wachtmeister ist mir in all meiner Einsamkeit der einzige Freund geblieben! Die Bäckersfrau die einzige Freundin! Wie ich mich freue, wenn ich den alten Mercedes 190 den Weg heraufknarzen höre! In der Backstube backen sie, auch wenn es keiner zugibt, von allem immer ein bisschen mehr, um mich mit den so entstehenden Resten durchzufüttern. Um nicht dick zu werden fahre ich, wann immer das Wetter es zulässt, Rennrad. Der Wachtmeister, wer sonst, hat es mir besorgt, fast neu aus einer kreisstädtischen Asservatenkammer, es habe als Fluchtfahrzeug gedient. Die passende Kleidung aus Plaste (Polyamid, Elastan, Polyester), Klickschuhe und einen schnittigen Helm habe ich mir im Internet bestellt. Der Postbote kannte den Weg. So ist alles eingerichtet. Auch der Fuchs sitzt noch immer zu jedem Sonnenuntergang auf dem Datschendach. Er begrüßt mich träge gähnend, wenn ich klatschnassgeschwitzt bei schon tiefstehender Sonne von meinen Rennradtouren zurückkomme. Natürlich hätte ich auch die Wahl gehabt, einen auf Arno Schmidt zu machen und mich mit billigem deutschen Schnaps totzusaufen. Oder mit Wodka oder Whisky. Aber das lehne ich ab, das ist so altherrenhaftes Getue. Übrigens weiß nur Marie-Louise, dass ich alles auf-, ja gleichsam mitschreibe, um einen Roman daraus zu machen. Muss ja auch nicht jeder alles wissen. Ah, es klopft (schreibe ich mal), da ist sie ja, die Bäckerfrau mit dem in rosafarbenes Papier eingepackten Backwerk. Sie ist wie eine Mutter zu mir. Letztens hat sie vergessen die Handbremse anzuziehen, beim 190er-Mercedes zieht man, und den Gang hatte sie auch nicht eingelegt. Sie stand wie heute mit dem rosa Gebäckberg strahlend vor der Tür, während ich an ihr vorbeisehend dem Wagen nachsah. Zum Glück rollte er rückwärts passgenau gegen einen Apfelbaum, der das gut überlebt hat, und die Äpfel wären ja ohnehin irgendwann runtergefallen. (Später machte sich eine Horde halbverhungerter, brandenburgischer Frutarier über das Obst her. Ich ließ sie gewähren.) Auch der Wagen hat kaum Schaden genommen, nur dass er eben jetzt ein bisschen mehr klappert. Den Honda hat jetzt übrigens Marie-Louise. Sie sagt, Eduard käme auch bald, ihn abzuholen. Für’s Protokoll: Das mit dem Beobachten des Gutshauses habe ich aufgegeben. Marie-Louise ist ja vor Ort, wie man so sagt. Außerdem hat der Wachtmeister so etwas wie eine Kameraüberwachung in Arbeit. Es gäbe einen teilweise hohlen, ziemlich alten Baum, der aber noch zur Hälfte voll im Saft stehe. Eine Eiche. Kaum nämlich habe damals das Totenglöcklein der Staatssicherheit geschlagen, so erzählte er vor ein paar Tagen, der Fuchs auf dem Dach blickte blinzelnd gen Abendsonne, wir tranken polnischen Wodka, sei auch schon die im Baum installierte, übrigens aus dem Westen importiere Kamera entfernt worden. Sie steckte in einem Vogelhäuschen an der toten Seite. Die Bäckersfrau, die in jungen Jahren Fotografin gelernt habe, würde sich in Sachen Neuinstallation um alles Technische kümmern. Praktischerweise gäbe es ein dreihundert Meter langes unterirdisches Rohr längs der Schneise, in das man das Kabel für die Kamera verlegen könne, ich wüsste schon, für die sichere Datenübertragung. „Aha“, sagte ich. „Für die Stromversorgung will die Bäckersfrau Akkus in Kombination mit Solarzellen. Alles so klein wie nur möglich und sowohl wasserdicht als auch käferresistent. Und bestenfalls nicht zu orten für Jupiter und Mercurius.“ – „Eben das“, sagt die Bäckersfrau jetzt (Obacht: wir sind in meiner Datsche, die Bäckersfrau nimmt vorsichtig das Papier vom Backwerk, während ich Kaffee mache), „das Orten durch diese Kerle da oben, ist der unsichere Faktor der ganzen, schönen Angelegenheit. Man muss die technische Überlegenheit der beiden Hanseln nämlich durchaus anerkennen.“ Sie nickt eine Weile mit geschürzten Lippen vor sich hin wie ein Wackeldackel, und dann ist endlich auch der Kaffee fertig.

An Regentagen gehe ich im Wald spazieren. Das Rennrad bleibt fest angeschlossen in der Datsche. Der Fuchs folgt mir in gebührendem Abstand, ich sehe es im Augenwinkel. Manchmal schießt er plötzlich ins Unterholz. Seine rotbraunes Fell kommt gut zur Geltung in der mattnass dunkelgrün schimmernden Kathedrale des Waldes. Ein Eichhörnchen, das mir ebenso folgt, manchmal springt es in großer Höhe von Baum zu Baum, schon eile ich mit ausgebreiteten Armen hinzu, es zu retten, aber natürlicherweise fällt es nicht, ist eine Spur röter als der Fuchs. Ich wünschte, ich hätte rotflammendes Haar, aber das wäre dann ja wohl doch ein wenig übertrieben. Ich habe viel Zeit nachzudenken. Nicht nur beim Rennradfahren, konzentriert, mit Druck auf den Pedalen und zugleich entspannt, sondern auch beim gemäßigten Wandern denke ich tief in mich hinein, ja das Wandern vor allem lässt nichts anderes zu als Denken. Wandern ist Denken. Ich denke mich also in einen Gedanken hinein, spiralförmig, und ebenso aus diesem Gedanken wieder heraus, wieder hinein, wieder heraus, naja, und so weiter. Ich spreche, zische, puste und flöte vor mich hin, fletsche die Zähne, balle die Fäuste, ziehe die Augenbrauen zusammen (womöglich blutet die Narbe deswegen!), umrunde mit der Zunge die Zähne, schnippse mit den Fingern, ziehe mir an den Ohrläppchen, trommele mit in die Achselhöhlen eingehängten Daumen und spitzen Fingern eine Melodie auf der Brust, und so weiter und so weiter. So sehr bin ich versunken, wandere ich, dass ich letztens in die hiesige Försterin hineinrannte, die mit geschultertem Gewehr und zwei Hasen, links und rechts an den Hinterläufen gepackt, um die Ecke kam, hinter einem mächtigen Baum hervor, einer Buche. Rabumms machte es. Ich dachte sofort, und daran erkennt alle Welt auf dem Lande sogleich den Städter (wenn er so dumm ist das kundzutun), die will mich doch sicher kennenlernen und hat nur darauf gewartet, mich umzurennen. Lagen wir also alle vier auf dem weichen Waldboden, die Försterin und ich auf dem Rücken, die beiden Hasen tot wie sie waren auf der Seite. Das Gaumenzäpfchen der Försterin war trotz des trüben Lichts gut zu erkennen, kein Wunder, denn sie hatte den Mund aufgerissen und gab ein leises Ahhhhhhh! von sich. Das Gewehr! Wir rappelten uns hoch. Über dem Kopf der Försterin erschien neugierig das Eichhörnchen und sah mich mit Knopfaugen an. Der Fuchs hielt sich bedeckt.

„Scheerbart“, sagte ich, „Robert Scheerbart.“ Sie räusperte sich, zog die Bluse unter der Armeejacke stramm, streifte sich den rechten Handschuh ab und gab mir kräftig die Hand. „Ich bin die hiesige Försterin“, sagte sie und wies mit einem Nicken auf die beiden toten Hasen, zog den Handschuh wieder über, nahm die Hasen auf und blickte mich eindringlich an. Das Eichhörnchen legte den Kopf schief. „Ich kenne Ihren Zwillingsbruder, Herr Scheerbart. Arno. Ich höre, er ist verschwunden?“ Ich bin völlig überrumpelt. Ich sehe die Frau zum ersten Mal! Sie lügt. Warum? „Kommen Sie doch einmal vorbei, das Försterinnenhaus ist dort“, sie wies vage mit dem kleinen Fingerchen durch eine Schneise hindurch, so als meine sie, es läge hinter den sieben Bergen, „ihr Bruder kam immer gerne.“ Sie lügt! Und wie! Sie stapfte davon, das Eichhörnchen flitzte den Stamm hoch, und auch der Fuchs war sicher noch irgendwo in der Nähe. Seltsam, dachte ich, schüttelte mich und machte mich auf den Weg, den sie mir gewiesen hatte, die Schneise entlang. Ein Försterinnenhaus dürfte ja wohl nicht zu übersehen sein. Später aß ich dann Hasenbraten, und zwar zum allerersten Mal. Dazu geröstete Kartoffeln aus dem eigenen Garten, der, mit einem kräftigen Eisengitter geschützt, hinter dem Försterinnenhaus liegt. Ein Ort zum Wohlfühlen, so tief im Wald und so heimelig. Man muss sich geradezu näherkommen. Und wer kann es mir übelnehmen? Marie-Louise ist nah und doch so fern, und außerdem handelt es sich in Sachen Försterin um eine völlig andere Performance. Marie-Louise ist zart, mit kleinen Brüsten und feinen Bewegungen, kein Haar ist unterhalb ihres Kopfes zu finden, selbst ihr Anus ist vollkommen haarfrei, alles ist glatt und fein und butterweich gepflegt. Nur ihre Füße, die sind dreckig, immer. Aus Prinzip. Die Försterin aber ist ganz das Gegenteil Marie-Louises, nämlich von kräftigem Wuchs, stämmig und mit großen Brüsten und einem mächtigen Hintern, Vagina und Anus sind nur zu erahnen unter dem schwarzen Wildwuchs. Außerdem geht sie durchaus anders vor, denn kaum erkannte sie mich, wie ich da auf ihrer Schwelle saß und wartete, eilte sie auf mich zu, zog mich ins Haus, schleuderte den Hasen (den anderen musste sie wohl irgendjemandem gegeben haben) in die Ecke, riss sich geradezu die Kleider vom Leib und fiel über mich her. Ich dachte, sie tötet mich, aber ich dachte auch, das ist es wert! Als wir endlich beide schwer atmend aufeinander lagen, sie bäuchlings unter mir, beschloss ich, ihr das einfach mal wider besseren Wissens zu glauben, dass nämlich auch Arno schon im Försterinnenhaus gewesen war. Natürlich wusste ich am besten, dass Arno zu so etwas gar nicht fähig ist, er wäre glatt in Ohnmacht gefallen, der Arme. Da unterscheiden wir uns doch ziemlich, Zwilling hin oder her. Gönnen tue ich es ihm trotzdem. Wir trieben es dann noch mal wie die Wildschweine, und dann, dann gab es wie gesagt den ersten Hasenbraten meines Lebens. Als ich später, von Fuchs und Eichhörnchen begleitet, an meiner Datsche anlangte, dämmerte es bereits. Ich roch wie ein Eber, und ich weiß nicht, was der Fuchs jetzt von mir denkt. Ich hoffe nur Gutes. Jedenfalls nahm er ohne zu zögern sogleich seinen Platz auf dem Dach ein, der Sonne gegenüber, von der aber kaum noch ein Widerschein die Welt der wachtmeisterischen Datsche erhellte. Minuten später schon war es stockfinster, der Fuchs sprang vom Dach und verschwand.

Ich duschte und wusch mir gründlich den Försterinnenschweiß aus allen Ritzen, denn nun musste ich mich wieder, das war mir nur allzu klar, auf die Hauptsache konzentrieren. Für Nebensächlichkeiten war kein Platz. Aber war ich nicht eigentlich zur Untätigkeit verdammt! Denn während alle anderen ihre Aufgaben haben, sitze ich in der Datsche und rede mit dem Fuchs. Durch die Decke. Oder ich gehe hinaus und füttere das Eichhörnchen mit Nüssen. Ansonsten schreibe ich. Und warte. Auf eine Idee, eine Eingebung. Nicht etwa, dass mir Material fehlte, das nicht, aber es ist schwierig zu entscheiden, was denn nun der Erwähnung bedarf. Das Wie und Was zu gestalten, dazu brauche ich Ideen, und zwar solche, die mich weiterbringen, die mich verstehen lassen, um was es geht. Der Abend zum Beispiel, an dem Marie-Louise mich Alkmene vorstellte, hat sich mir tief eingeprägt. Emotional. Aber was davon berichten, im Einzelnen? Das ist die Frage. Was wäre näher auszuführen? Dass Alkmene die ruchlose Künstlerin spielte und uns das Video mit Amphitryon und der Hostess vorführte, dürfte jedenfalls eher als banal zu gelten haben, denke ich. Zum Glück ist die Qualität des Videos denkbar schlecht, schwarz-weiß und krisselig, auch wenn der Sex auf dem Sofa als solcher gut erkennbar ist als ein rhythmisches Beackern. Alkmene sah gelangweilt zu, rauchte und sagte nichts. Die Beine mit den Pumps wackelten in der Luft, dazwischen der nackte, weiße Arsch Amphitryons. Neunmalkluge werden jetzt natürlich prompt sagen, jeder Text werde ja am Ende noch einmal überarbeitet, dann könne ich ja endgültig entscheiden, was hinein käme und was nicht. Ja, schon, sicher, hätte ich zu erwidern, allerdings befürchte ich, dass es womöglich nicht dazu kommen wird, noch einmal am Text zu arbeiten. Ich kann mich glücklich schätzen, denke ich, wenn ich es noch schaffe, das Manuskript an Eduard zu schicken. Klar, es auf dem Rechner zu haben ist vorteilhaft, und natürlich sende ich wie gehabt die jeweilige Fassung bei jeder Gelegenheit an meine Zweitmailadresse, zu der Eduard Zugang haben wird, sobald er den Briefumschlag öffnet. Auch alle sonst noch notwendigen Passwörter, Adressen und so weiter sind hinterlegt. Ich traue Eduard durchaus, ich habe oft mit ihm gesprochen. Gespräche, ernst und eindringlich, an die ich mich allerdings Stunden später meist nicht mehr genau entsinnen konnte. Nur daran, dass sie stattgefunden haben. Der Stimmung des Gesprächs nachzuspüren aber war immer möglich gewesen, und darauf kommt es ja an. Für Eduard Raban steht handschriftlich auf dem Umschlag, persönlich, nur im Falle meines Todes zu öffnen. Arno Scheerbart. Eine Sache zwischen Eduard und mir. Niemand sonst weiß davon. Eduard hat den Umschlag, ich wusste gar nicht, dass er so organisiert ist, sofort ohne Umschweife in seinem Bankschließfach deponiert und seinen Notar darüber in Kenntnis gesetzt. Ich war ganz baff, er aber sagte nur, das habe er schon immer so gehalten, Bankschließfach und Notar gehöre zu seiner Grundausstattung in Deutschland. Der gute Eduard!

Anderntags. Ich steige aufs Dach der Datsche und prüfe per Daumen das Wetter. Internet habe ich hier nicht, ich kann aber nach Feierabend in die Backstube kommen. Für heute stelle ich däumlings spätsommerliche zwanzig Grad fest, kein Regen in Sicht und noch vier Stunden bis Sonnenuntergang. Ich gehe nicht in den Wald (obwohl es mich juckt) und befreie sogleich das Rennrad von seinen Ketten, steige in meine Radhose, ziehe das Trikot über und den Helm auf, die Klickschuhe an, und schon lasse ich mich locker den holprigen Abhang hinunterrollen. Anfangs fuhr ich mir oft die Muskeln sauer, nun aber habe ich ein Gespür für die genau richtige Übersetzung, das genau richtige Tempo, die richtige Trittfrequenz. Am Wegesrand hier und da frisch herausgeputzte junge wie ältere Frauen, die ich lässig grüße und deren Duft ich mit mir forttrage, dem Band der Straße folgend. Mein Rad, die Straße, der Wald. Was kostet die Welt! Volle Konzentration. Der Kopf frei zu denken, was immer er will. Wenn der eine Teil des Gehirns präzise aufpasst, kann der andere Teil sich mit anderen Dingen beschäftigen. So einfach ist das, und so erscheint der Wachtmeister grad jetzt, einer Tagträumerei gleich, vor meinem geistigen Auge. Er beobachtet mit seinem Feldstecher das Ruderboot, von dem aus Tauchgänge stattfinden. Ich sehe mich neben ihm stehen, klein wie ein Kind. „Sind das Wissenschaftler“, frage ich mit heller Stimme, er antwortet nicht, aber die Bäckersfrau steht hinter uns und sagt, „die wohnen da unten, mein Sohn, unter dem See“, worauf ich mich umdrehe und sie anstarre. Ich schrecke hoch. Ich muss wohl, noch in den Fahrradklamotten, eingedöst sein und geträumt haben, wenn auch der Wachtmeister tatsächlich nicht selten das Boot in der Mitte des Sees ins Visier nimmt. Eines Tages sagte er, so erinnere ich mich mit einem Male, wir saßen vor meinem Bungalow, all diese Taucher trügen exakt die gleichen Tauchanzüge, bis ins kleinste Detail seien die gleich, aber trotzdem könne er die Kerle unterscheiden, er sei ja nicht blöd, ein junger Kerl bewege sich nun mal ganz anders als ein alter Sack. „Vielleicht sollten wir auch mal tauchen gehen“, fügte er am Ende noch hinzu, erinnere ich mich, worauf ich nickte, ohne zu wissen, ob er das ernst meinte.

Als ich am selben Abend, frisch geduscht, etwas nachschwitzend und den Laptop unter dem Arm, die Backstube durch den Hintereingang betrete, steht da Herr Knocke und streicht sich übers Kinn. Der Spitz springt an meinen Beinen hoch. Im letzten Moment fällt mir ein, wie sehr ich Hunde mag. Knocke sieht mich an, grüßt aber nicht. In der Hand hat er ein kleines, postgelbes Paket. „Ich kann nicht länger warten“, sagt er plötzlich, drückt mir das Paket in die Hand, ruft „komm, Spitz!“, der Hund guckt mich irritiert an, ich tue nichts, heißt der Hund etwa Spitz, frage ich mich, und da kommt auch schon die Bäckersfrau, kaum ist Knocke raus, lachend mit Marie-Louise um die Ecke. Marie-Louise küsst mich auf den Mund und die Bäckersfrau nimmt mir im selben Augenblick das Paket aus der Hand. „Die Kamera“, flüstert die Bäckersfrau, „und die Akkus und die Solarzellchen, narrensicheres Zeug. Super. Nur das mit der Funkstrecke macht mir noch Sorgen.“ – „Ich dachte“, sage ich, „wir verlegen ein Kabel durch das Rohr.“ – „Nur wenn’s nicht anders geht. Können Sie klettern, Herr Robert?“, fragt mich die Bäckersfrau. „Nein!“, sage ich deutlich. – „Ich muss mal telefonieren“, sagt sie und verschwindet um die Ecke, „das mit der Funkstrecke klären.“ Ich setze mich zu Marie-Louise. „Heute ist übrigens eines der Hologramme ausgebüxt“, sagt sie, „ausgerechnet Amphitryon, aber wir haben es wieder eingefangen.“ – „Was!“ Sie lacht. Ich finde das nicht lustig. Sie ist ganz in blassgelb gekleidet, ein sommerlicher Leinenanzug. Und barfuß. Die Bäckersfrau kommt zurück. „Funkstrecke geht nicht“, sagt sie ärgerlich, „eine Schnapsidee meinerseits. Bei dreißig Meter Reichweite zahlen wir schon ein paar hundert Euro nur für Sender und Empfänger. Also doch Kabel.“ Sie geht wieder. „Max läuft auch gerne barfuß, wusstest du das?“ – „Wie?“ – „Und die Hologramme können jetzt auch auf der Wiese ihr Spiel spielen, Karl und Max haben das so eingerichtet. Jetzt im Ernst. War viel Arbeit. Neue Technik. Sie sagen, sie wollen noch was Vernünftiges machen, bevor es nach Amerika geht. Ein Riesenauftrag für einen Vergnügungspark, sagen sie. Ich habe sie schon telefonieren hören mit Kalifornien, alles great and wonderful.“ Ich denke mir meinen Teil.

Zwei Tage später das nächste große Treffen, wieder in des Wachtmeisters Wohnung. Wie sich herausstellt bin ich eine viertel Stunde zu früh da. „Setzen Sie sich, Herr Robert. Kaffee?“ Erst jetzt bemerke ich so eine Art Hundekorb in der Ecke, aus dem ein braunes Köpfchen mit treudoofen Augen ragt, die sich schüchtern wieder abwenden, als ich hinstarre. „Ist das Ihr Hund, Herr Wachtmeister?“, frage ich vorsichtig. „Der kleine Kerl da“, kommt es aus der Küche, „nein, nein, Herr Robert, den haben wir ausgeliehen von der hiesigen Försterin.“ – „Ah“, sage ich. Ich hatte da keinen Hund gesehen. Schon aber durchläuft mich ein wilder Schauer. Der Wachtmeister tut hereinkommend so, als hätte er es nicht bemerkt, stellt einen Becher vor mich hin und gießt ein. „Wie heißt er denn?“ – „Es ist eine Sie, genau genommen, und sie heißt Teckel.“ – „Ah“, sage ich wieder, stehe auf und streichele Teckel, die sich ganz steif macht dabei. „Sie hat eine wichtige Aufgabe, mit der sie uns einen großen Gefallen tun wird. Ich glaube sie ist ganz froh, mal aus dem Zwinger herauszukommen und was anderes zu sehen als immer nur Wald, Wald, Wald.“ – „Ja“, sage ich, „kann man nachvollziehen.“ – „Ein Jagdhund hat in der Wohnung nichts verloren, sagte mir die Försterin. Ich musste ihr versprechen, Teckel unten im Hof anzubinden. Also kein Wort!“ Er zwinkert mir zu und lässt sich in einen Sessel fallen. „Warum ich Sie noch sprechen wollte, Herr Robert! Ein Mitarbeiter des Bad Wutzenwalder Anzeigers erwartet uns, nach dem großen Treffen. Es geht um Ihre Suche nach Sosias, respektive Herrn Arno. Ich hoffe, Sie sind einverstanden, es dient unserer Sache. Ein kleiner Artikel. So wissen nur wir Vier weiterhin von den wahren Hintergründen, während alle anderen nur etwas zu wissen glauben. Was sagen Sie dazu?“ Ich zögere. „Gut“, ruft der Wachtmeister, „bestens!“ Kurz darauf höre ich den Schlüssel im Schloss, die Bäckersfrau und Marie-Louise. Die Bäckersfrau knuddelt lange den Hund und setzt sich schließlich zu uns. „Es ist, wie ja bereits alle wissen, ein Kameraproblem aufgetreten“, sagt sie, den Hund auf dem Schoß, „das mit der Funkstrecke hat sich erledigt. Wir werden auf die eher altmodische Lösung zurückgreifen müssen.“ – „Und unsere Teckeldame wird uns dabei helfen“, wirft der Wachtmeister ein und dem Hund zugleich ein kleines Stück Kuchen zu, das aber an der Hundeschnauze abprallt und zu Boden fällt. Teckel guckt ungläubig. „Das zum Thema Jagdhund“, sagt Marie-Louise mit seltsamer Stimme, „die Försterin hat uns doch eindeutig aufgetragen, den Hund in keiner Weise zu verwöhnen. Und auch nicht zu kraulen!“ – „Och“, sagt die Bäckersfrau und rubbelt den ganzen Hundekopf zwischen ihren Händen, „ein bisschen Liebe hat noch keinem geschadet, nicht wahr, meine Süße!“ Ich räuspere mich, so laut ich kann. „Wie“, werfe ich ein, „soll uns der Hund denn helfen?“ Der Wachtmeister räuspert sich seinerseits. „Nun“, sagt er, „ich habe ein schönes Potpourri aus verschiedenen Leckereien zusammengestellt und einen batteriebetriebenen Ventilator besorgt. Der Hund wird das Kabel durch die Röhre zur halbhohlen Eiche transportieren, immer dem Geruch nach. Ein Halsband, an dem das Kabel zu befestigen ist, ist auch schon besorgt. Die Zugänge zu der Röhre habe ich letzte Nacht probeweise freigelegt.“ Ich staune, sage aber nichts. „Alkmene“, sagt Marie-Louise, „fährt von Sonnabend auf Sonntag nach Polen, erst zu einer Galerie in Posen und dann zu einer Kunstmesse in Danzig. Das ist die Möglichkeit, die Kamera zu installieren. Karl und Max bleiben natürlich eine Gefahr.“ Ich hebe die Hand und werfe ein, es gäbe doch sicher weit modernere Lösungen. Die Bäckersfrau holt tief Luft. „Eine IP-Kamera, Herr Robert“, sagt sie, „ja, sicher, aber dafür bräuchten wir WLAN, einen Router und am besten noch einen Stromanschluss. Alles nicht machbar, so dass wir also auf alte Technik zurückgreifen müssen, Akku, Kabel, Zeitschaltuhr und so weiter.“ Ich sehe betreten zu Boden. „Die Daten“, mischt sich der Wachtmeister mit kompetenter Miene ein, „werden per Kabel in eine wasser- und mottendichte Kiste mit einem Rechner geleitet. Ein Risiko, nur ein paar hundert Meter vom Gutshaus entfernt, aber kein größeres, als in dreißig Metern Entfernung mit einem Feldstecher auf diesem Hügelchen zu liegen. Wussten Sie eigentlich“, der Wachtmeister wendet sich direkt an mich, als ob es speziell mich beträfe, „dass im Krieg vier von zehn Spähern aufgrund einer Lichtreflexion des Feldstechers respektive des Glases entdeckt und beschossen werden. Plötzlich blitzt es im Wald auf und Alkmene weiß Bescheid!“ – „Aber sie schießt nicht!“, sagt Marie-Louise empört. Alle lachen, außer Marie-Louise. Eine Stunde später ist der Plan gemacht. „Am Sonnabendabend“, so der Wachtmeister, „um neun Uhr an besagter Eiche!“ Dann gibt es noch einen Schlehengin, worauf Marie-Louise und die Bäckersfrau schwatzend verschwinden, während der Wachtmeister und ich uns auf den Weg zum Wutzenwalder Anzeiger machen, der in einem kleinen Ladenlokal gegenüber von Knocke untergebracht ist, direkt neben der Fleischerei. Ist mir nie aufgefallen. Dort erwartet uns ein windiges Männchen. Gesichtshaut wie Käserinde, zum Pferdeschwanz gebundenes schütteres graues Haar, fahles Grinsen. Es stellt sich heraus, dass ein rührseliger Aufruf geplant ist, so in der Art von verzweifelter Zwilling sucht seinen Bruder. Der Möchtegernjournalist, der zugleich für die Fotos zuständig ist, fordert mich auf, tieftraurig, besorgt und zugleich hoffnungsvoll in die Kamera zu blicken. Dann gibt der Wachtmeister die notwendigen Auskünfte. Ich nicke ernst, sage aber kein Wort.

Am Sonnabend bin ich als Erster an der Eiche und warte, das dunkle Gutshaus fest im Blick, eine ganze Weile, bis die Bäckersfrau in Knickerbockern und Rucksack, den Hund auf dem Arm, endlich auftaucht. Sie scheint ganz entspannt zu sein. Der Wachtmeister kommt Minuten später die Schneise vom Bungalow herunter. Marie-Louise, so höre ich, sei sicherheitshalber im Haus und warne uns, wenn Jupiter und Mercurius ihren Himmel verlassen. „Kommen Sie, Herr Robert“, ruft der Wachtmeister, „machen wir uns an die Arbeit.“ Zu meiner Überraschung findet sich direkt neben der Eiche unter einem Dornbusch eine Metallplatte, bedeckt mit einer Schicht lockerer Erde. Wir ziehen die Platte zur Seite. Im fahlen Licht der Taschenlampe ist die Röhre gut zu erkennen ist, orange, ausgerechnet orange ist sie und misst etwa fünfundzwanzig Zentimeter im Durchmesser. Ich staune. „Sind Sie sicher“, frage ich, „dass die Röhre frei ist?“ – „Notfalls ziehen wir Teckel am Kabel wieder raus, keine Sorge.“ Und schon legt die Bäckersfrau Teckel das Halsband an und stiefelt ab in Richtung See. Das Bereitstellen des Hundefutters, garniert mit ein paar Würsten, und das Ausrichten des akkubetriebenen Ventilators ist schnell vollzogen. „Nun heißt es warten, Herr Robert, ob unsere Teckeldame der Aufgabe gewachsen ist!“ Die Taschenlampe wird ausgeknipst. Im selben Augenblick, ich bemerke es im Augenwinkel, geht hinter uns im Gutshaus das Licht im Wohnraum an. Ich zucke zusammen und werfe mich auf die Erde. Der Wachtmeister bleibt einfach stehen. „Frau Marie-Louise hat wie verabredet das Licht angemacht, Herr Robert“, sagt er, „wenn die Herren Götter über den Kies auf das Haus zugehen, macht sie es aus.“ Ich rappele mich hoch, sage aber nichts und atme tief durch. Der Ventilator summt leise, die Baumkronen über uns knarzen ein wenig, sonst ist nichts zu hören. Wie lange braucht ein Hund mit einem Kabel am Halsband für die dreihundert Meter, frage ich mich. Ob sich Teckel überhaupt hineintraut? Eine Röhre ist kein Fuchsbau! Der Wachtmeister muss wohl ähnliche Gedanken haben, denn er legt die mit einem Taschentuch abgedimmte Taschenlampe direkt vor die Öffnung. Das Licht am Ende des Tunnels gewissermaßen. Wir warten. Ist da nicht ein Geräusch zu hören? Ein Schnüffeln. Ein Tapsen. Und tatsächlich, wie aus dem Nichts schnellt ein Fuchs aus der Röhre heraus, schnappte sich zwei der Würste und verschwindet im Unterholz. Der Wachtmeister murmelt etwas Unverständliches. „Wie sind denn die Kabel ursprünglich verlegt worden?“, frage ich. „Das Rohr ist mit den Kabeln verlegt worden, die damaligen Hausbewohner wurden an dem Tag nach Berlin bestellt. Gewusst haben sie es trotzdem“, erwidert er trocken. „Aha!“ Wir warten. Teckel kommt nicht. „Sie wird sich doch nicht verlaufen haben“, versuche ich einen Scherz. „Malen Sie den Teufel bloß nicht an die Wand, Herr Robert!“, erwidert der Wachtmeister ernst. Endlich aber hören wir ein Hecheln, der Wachtmeister nimmt die Taschenlampe zur Hand, und da erscheint sie auch schon, unsere Teckel. Ein wenig gehetzt sieht sie aus, finde ich. Wir befreien sie sogleich vom Kabel. Um das Hundefutter kümmert sie sich aber kein bisschen, selbst nicht, als ich sie direkt davorsetze. Der Wachtmeister zuckt mit Schultern, schließt die Klappe und schiebt mit dem Fuß Erde darüber. „In der Morgendämmerung installieren wir die Kamera dann oben im Baum. Halten Sie sich bereit, wir treffen uns um fünf Uhr.“ Noch bevor ich protestieren kann, ich bin doch hier nicht der Hansel vom Dienst, taucht plötzlich die Bäckersfrau aus der Dunkelheit auf. „Alles gut?“, fragt sie. „Alles tippitoppi, wie manch Zeitgenosse gerne sagt“, sagt der Wachtmeister und klopft mir auf die Schulter. „Wie gesagt, fünf Uhr hier an unserem Baum, Herr Robert. Sie dürfen hinaufklettern!“

Bald sind alle in der Dunkelheit verschwunden. Ich gehe die Schneise hoch, über der jetzt die Sterne blinken. Marie-Louise erwartet mich bereits im Bungalow, die Vorhänge zugezogen, das Licht gedämpft, Tee steht bereit und eine Flasche Whisky. Ich gehe ins Badezimmer und dusche. Hatte ich nicht deutlich gesagt, ich könne nicht klettern, fällt mir ein. Kaum war ich im Wohnzimmer, umfängt mich Marie-Louise. „Trink was“, sagt sie und meint den Whisky. „Fünf Uhr!“, sage ich, worauf sie lächelt, mir eingießt und sich sogleich an mich hängt. Wir trinken. Ich sehe mich schon vom Baum stürzen und tot daliegen. Andererseits bin ich früher gerne in Bäume geklettert, wohingegen ich nie auf die Idee käme, einen Berg ausgerechnet an seiner steilsten Stelle bezwingen zu wollen. Eine gewisse Höhenangst habe ich ohnehin, es ist dieses Sich-selbst-Sehen als Toter im Abgrund, was mir zu schaffen macht. Um zehn vor fünf klingelt ihr Telefon. Die Bäckersfrau. Ich musste wohl grad eben eingenickt sein. Ich bin wie erschlagen. Warum muss denn ich auf den Baum, frage ich mich, warum nicht Marie-Louise?

Kurz darauf stapfen wir in die klamme Kälte hinaus. Der Baum wirkt abweisend. Klettere bloß nicht auf mich drauf, scheint er sagen zu wollen. Ich friere wie ein Schneider. Der Wachtmeister ist nicht da, aber die Bäckersfrau kommt bald schon angewatschelt, eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Tüte mit Gebäck in der Hand. Die gute Seele! Marie-Louise, so stellt sich heraus, muss mit hinauf. Die Bäckersfrau zeigt uns mittels einer Skizze, wo das Vogelhäuschen zu finden ist, das Loch müsste wohl ein wenig größer gebohrt werden, sagt sie, das Kameraobjektiv sei ziemlich groß, ein Handbohrer finde sich in der Werkzeugtasche. Nun gut, denke ich, gehen wir es an. Beim ersten Versuch komme ich vor Schwäche nicht mal auf den ersten Ast. Ich trinke einen weiteren Kaffee und esse ein weiteres Stück Kuchen. Dann klappt es, die Bäckersfrau schiebt meinen Hintern hinauf und Marie-Louise klettert mir nach, die Kamera im Rucksack. „Alles klar?“ Ich nicke. Fünf Minuten später hocken wir dann in bestimmt zehn Meter Höhe, eine Sekunde, so denke ich ständig, von meinem eigenen, plötzlichen Tod entfernt. Eine Sekunde! Zwei vielleicht. Knirschend bohre ich das Loch größer, während Marie-Louise das Dach des Vogelhäuschens mit Holzschutzfarbe einstreicht, manche Leute denken eben an alles, dann die Kamera hineinsetzt, sie mit zwei Schrauben fixiert und auf das Gutshaus ausrichtet. Auf das Dach schraubt sie die Solarzellen, eine Platte von zehn mal zehn Zentimetern, und führt das kleine Kabel von hinten ins Häuschen hinein. Alles läuft glatt. Ich mache tausend Kreuze, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Zwanzig Minuten später liegen wir wieder im Bett. Ich schlafe sofort ein. Nicht mal ein Gewitter weckt mich vollständig. Es rappelt nur und donnert kapital an den Rändern meines Bewusstseins, das ist alles. Aber da kommt Marie-Louise auch schon patschnass herein, rüttelt mich wach und starrt mit offenem Mund und aufgerissenen Augen ins Leere. „Unser Baum, der Blitz“, zischt sie. Was soll ich dazu sagen! Ich glaube nicht an höhere Mächte, doch der Meteorit, der mich dereinst erschlagen wird, das weiß ich, ist bereits unterwegs. Wenn er unterwegs ist, denn das ist er erst dann gewesen, wenn er mich getroffen haben wird. Es geht wahrscheinlich um wenige Meter, denke ich mir, ob ich also etwa links oder rechts herum einer Pfütze ausweiche. So etwas in der Art. Der Mensch ist beweglich. Daraus folgt, dass das mit dem Blitz und dem Baum demnach hat so sein sollen, denn ein Baum macht keine Bögen. Es lief genau darauf zu! Ich sehe mir die Bescherung am Abend im Schutz der Dämmerung an. Der Wachtmeister ist wieder nicht da, nur die Bäckersfrau in gelbem Friesennerz. Sie schüttelt, die Fäuste in die Hüften gestemmt, ausdauernd den Kopf.„Sehen wir es als ein Zeichen, als einen Hinweis von ganz oben“, sagt sie schließlich.Der dreihundert Meter entfernte Computer in seiner wasser-, motten- und käfersicheren Kiste, so stellen wir später fest, ist ebenfalls zerstört. Er tut keinen Mucks mehr, obwohl er heil aussieht. Die Eiche allerdings ist wirklich und wahrhaftig in zwei Hälften gespalten, wie mit einem riesigen Samuraischwert durchtrennt, quer durch den toten und den lebendigen Teil hindurch bis zum Boden. Das frische Holz, noch regennass, riecht nach Lagerfeuer.

In der Nacht ein weiteres Gewitter, dem Dauerregen folgt. Die reinste Sintflut. Der Wachtmeister kommt aber trotzdem anderntags mit seinem Hollandrad zu mir hinaufgeradelt und steht plötzlich in schwarzglänzender Regenbekleidung mit Teckel an der Leine vor der Tür, das heißt, eigentlich platzt er einfach herein. „Bringen Sie den Hund zurück, Herr Robert“, sagt er statt einer Begrüßung. Mühsam schält er sich aus Jacke und Regenhose und wirft sie in die Ecke. Teckel schüttelt sich und blickt mich ernst an. „Einen Wodka?“ Der Wachtmeister sieht unglücklich aus. „Herr Robert“, sagt er schließlich, „nichts ist beschämender als eine Niederlage solchen Ausmaßes!“ Ich stelle die Flasche auf den Tisch und hole die Gläser. „Der Baum?“, sage ich vorsichtig. „Der Blitz!“, sagt er, „der Blitz!“ und schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Sie meinen“, sage ich, „Jupiter hat diesen Blitz geschickt?“ Er sieht mich verständnislos an. „Papperlapapp! Jupiter!“ Ich gieße ein, wir kippen es hinter, ich gieße nach. „Das mit dem Blitz, Herr Robert, ist einfach ein billiger, romanhafter Einfall des Schicksals, uns zu beschämen. Doch wir lassen uns nicht unterkriegen! Nicht kleinkriegen! Ganz im Gegenteil, das Geschehen muss unser Tun beschleunigen, auf dass etwas Gutes daraus erwächst. Punktum.“ Er legt den Kopf in den Nacken und kippt den Wodka hinter. „Vorsehung ist das gewesen, wenn Sie mich fragen, Vorsehung!“ – „Fatum!“, sage ich. „Wussten Sie“, fährt er fort, „dass es ein Forschungslabor unter dem See gibt, dessen Ursprünge in den 30er-Jahren liegen? Ich hab das Ihrem Bruder nie erzählt, Sie wissen schon, mit diesen Dingen soll man nicht spaßen. Allerdings hätte er es erfahren können, es gibt Bücher, in denen das erwähnt wird. Zwei Bücher genauer gesagt, eines von 1938, in dem der Fortschritt gefeiert wird, ein Nazibuch, und ein westdeutsches von 1972, in dem die Gefahren thematisiert sind, die vom Warschauer Pakt ausgehen. Auch Propaganda, wenn Sie mich fragen. Kein gutes Buch. Ein rechtslastiger Journalist hat es geschrieben. Keiner hat es ernst genommen. Finden sich beide in der Staatsbibliothek in Berlin.“ – „Ich hatte keine Ahnung, aber …“ – „Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass unser See hier künstlich angelegt worden ist? Vorher war da nichts weiter als ein großer Teich, das sieht man auf alten Karten. Die Umfassungsmauer aus Beton ist doch an vielen Stellen noch gut zu sehen, und dann die Reste der Pumpwerke. Nie darauf geachtet? Und was glauben Sie, warum hier sommers wie winters Tauchgänge stattfinden?“ Der Wachtmeister gießt sich ein und trinkt. Ich kann mir nicht helfen, aber ist das noch der selbe Wachtmeister? Woher plötzlich dieser Drang, sich klar auszudrücken? Statt es wie sonst bei blümianten Andeutungen zu belassen. Sollte das daher rühren, dass ich nun gleichsam ein Anderer bin? „Weiß denn Alkmene davon?“ – „Das, mein lieber Herr Robert, ist der Casus Knacksus, genau das will ich herausbekommen! Unter anderem. Von dem Boot und den Tauchgängen weiß sie, keine Frage, aber ob diese Kunstsache, Amphitryon Komplex, etwas mit den Forschungen zu tun hat, die dort unten mutmaßlich stattfinden? Wir wissen es nicht! Die wesentliche Frage ist natürlich, ob die Herren Karl und Max Brzozowski darin verstrickt sind! Und ob das Kunstprojekt also nur die Oberfläche einer viel weitergehenden Angelegenheit ist! Das sind die Fragen, mein Lieber!“ Ich bin baff. Absolut baff. Platt. Auch Teckel guckt skeptisch auf den Wachtmeister, der einen weiteren Wodka hinterkippt, dann abrupt aufsteht, sich missmutig die Regenkleidung überzieht und mit einem Nicken zur Tür hinaus ist. „Ach ja“, ruft er, sich aufs Rad schwingend, „heute noch. Der Hund! Die Försterin besteht darauf!“ Teckel guckt mich an, als wolle sie sagen, „bitte bring mich nicht zurück, nicht in den Zwinger!“ Aber was sollte ich machen. Zunächst aber setze ich mich an den Rechner und mache mir Notizen. Unglaublich, denke ich, dieser Wachtmeister! Und meine Vermutung ist ja nun mal tatsächlich eine ganz ähnliche, die selbe sogar, zumindest was den Amphitryon Komplex angeht als Feigenblatt für  IT-Forschung, oder so etwas in der Art. Ich weiß, das ist und bleibt schwammig, aber man wird sich doch wohl noch auf sein Gespür verlassen dürfen, seine Intuition! Andererseits, wenn da schon in den dreißiger Jahren geforscht wurde, dann doch sicher auch zu DDR-Zeiten! Hätte ich das gewusst, wäre ich ja erst recht misstrauisch geworden, und das sicher auch zu einem viel früheren Zeitpunkt. Oder hatte ich permanent etwas Wichtiges übersehen, Anspielungen überhört? Winke mit dem Zaunpfahl nicht beachtet? Hätte ich es also erfahren, hätte es wissen können?

„Wuff!“ Ich hole ein paar Essensreste aus dem Kühlschrank und stelle sie Teckel in einer Schüssel hin. „Wuffwuff!“ Es stellt sich heraus, dass ich mich getäuscht habe in Bezug auf Teckels Absichten. Sie will doch zurück in den Zwinger. Ich nehme meine Jacke vom Haken, ziehe die Stiefel an und nehme Teckel an die Leine. Der Regen hat ein wenig nachgelassen. Wir gehen zügig. Die Wege im Wald sind noch verhältnismäßig trocken. Hier und da grüßen Schirmpilze. Ich lasse den Hund von der Leine und schreite stramm aus Richtung Försterinnenhaus. Teckel bleibt brav an meiner Seite. „Brav, Teckel“, sage ich. Durchs Blätterdach sind inzwischen wieder tiefschwarze Wolken zu erkennen. Es wird bereits deutlich dunkler. Ich kenne die Wege im Wald, aber kannte ich sie auch gut genug, um mich unter erschwerten Bedingungen nicht zu verlaufen? Das ist die Frage. Doch der Hund, sage ich mir, würde den Weg zum Försterinnenhaus schon finden. „Nicht wahr, Teckel!“ – „Wuff.“ Ein langes Grollen ist zu hören. Also wieder ein Gewitter. Über uns knarzen die Baumkronen wild auf. Ein Sturmböe. Lange konnte es nicht mehr dauern. Und dann ist der Hund weg! Ganz plötzlich. Hat sie etwa Witterung aufgenommen? „Teckel“, rufe ich, „Teckel, bei Fuß!“ Nichts. Nur Grollen, Donnern, ein Blitz, feiner Regen, gefiltert durch das Blätterdach. Aber wo ist Teckel geblieben? Die Försterin würde mich vierteilen, wenn ich den Hund nicht wohlbehalten zurückbrächte. Alle Knochen bräche sie mir! „Teckel!“, rufe ich noch einmal lauter, „komm her!“ Vielleicht ist sie ja, versuche ich mich zu beruhigen, vorausgelaufen und schon bei der Försterin. Es donnert und grollt. Es würde hier ja wohl keine Wildfallen geben, wo der Hund hineingeraten könnte? Nicht auszudenken, ich fände Teckel mit halb abgerissenem Kopf in so einer Falle, wie man sie aus Filmen kennt, die so ein fieser Trapper gelegt hat, so einer mit Biberhut und Schnapsfahne. „Teckel!“, rufe ich. Ich laufe weiter in die Richtung, in der das Försterinnenhaus liegen muss. Ein paar dicke Regentropfen treffen mich. Schwüle, schwülstige Luft kommt mir entgegen und hüllt mich ein. Dann endlich höre ich Teckel wie wild kläffen, ganz plötzlich, irgendwo rechts von mir, im Unterholz, entfernt zwar, aber deutlich. „Teckel“, rufe ich, „komm her!“ Ich stakse los, kreuze einen Waldweg, dringe wieder ins Unterholz ein, es knackt und knirscht, ich stolpere, knicke um, Zweige schlagen mir ins Gesicht, und da sehe ich sie endlich, oben auf einem kleinen Wall, ein kleiner, hüpfender schwarzer Körper jenseits eines Baches oder einer länglichen Pfütze. Ich patsche hindurch, Wasser dringt in meine Stiefel. Der Hang ist steiler als gedacht, ich rutsche aus. Völlig außer Atem halte ich inne. „Teckel!“, rufe ich. Doch sie bellt, jetzt keine zwei Meter entfernt über mir, einfach weiter wie wild einen Baum an, so scheint es. Oder eher jemanden hinter dem Baum? Wer konnte das sein? Mein Herz bollert. Teckel bellt, ohne Unterlass. Schwer zu sagen, ob angriffslustig oder ängstlich. Wie sollte ich das wissen, ich habe nie einen Hund gehabt. Ich versuche es noch einmal, doch ich komme diesen verdammten Hügel nicht hinauf! Wie verhext ist es. Schließlich rutsche ich mit beiden Füßen zugleich weg, versuche mich zu fangen und lande mit dem Hintern im Wasser. Ich beschließe, einen Bogen zu gehen, um mich von hinten der Szenerie zu nähern. Blitze durchzucken Himmel und Wald. Ein Platzregen geht nieder. Ich wende mich nach rechts, hier ist es etwas flacher, erklimme einen Hang im ersten Anlauf und stakse weiter in Richtung des Bellens. Blitze, Donnern. Der Regen lässt nach. Wie lange würde ein Hund bellen, bevor er angreift oder sich zurückzieht? Zieht ein Hund sich überhaupt zurück? Knurrend? Fiepend, den Schwanz eingekniffen? Was für ein Theater, denke ich, was für ein Theater! „Teckel“, rufe ich wütend, „komm her, du Mistvieh!“ Ich zwänge mich durch eine Reihe junger Bäume und Büsche. Teckel muss nun unmittelbar vor mir sein. Wieder ein Blitz, kurz darauf ein schwerer Donner, noch ein Blitz, und dann sehe ich ihn! Regungslos, unbestimmt irgendwo hinblickend, eine dunkle Statue. Kaum zu erkennen im Zwielicht, eindeutig aber Amphitryon! Kaum zwanzig Meter entfernt. Ich hole tief Luft und gehe mit kleinen Schritten auf Teckel, die ich mehr ahne als sehe, und die Erscheinung zu, die immer noch wie versonnen in die Ferne blickt und nun langsam die Hände in die Hosentaschen schiebt. Keine Statue also. „Amphitryon?“, rufe ich laut. Und dann, plötzlich, alles wie ausgeknipst! Ein Donnern grollt melodramatisch. Teckel hört abrupt auf zu bellen. Als sei nichts gewesen. Sie trottet zu mir hin, streift, wie eine Katze das tun würde, meine Beine, trippelt an mir vorbei und läuft dann einfach immer weiter, quer durchs Unterholz bis zum nächsten Weg, absolut zielsicher. Ich habe Mühe, ihr zu folgen. Amphitryon, denke ich die ganze Zeit, Amphitryon? War er es selbst gewesen? Oder sein Hologramm? Sein Geist?

„Wuff!“, macht Teckel vor der Tür des Försterinnenhauses. Ich verberge mich hinter einem Baum. Die Lust auf eine Begegnung, die ich mir, bevor Teckel verschwand, so schön auszumalen begonnen hatte, ist mir nun absolut vergangen. Die Försterin, in schweren Stiefeln und Tarnkleidung, öffnet, gibt ihrer Hündin einen Klapps, sieht sich um, lässt sie hinein und schließt die Tür. Und ich stehe da wie blöde hinter einem Baum, mitten im Wald, klatschnass und frierend. Ich weiß nicht recht wie, aber ich finde den Weg zur Straße. Das Gewitter ist jetzt genau über mir. Donner und Blitz sind eins. Es regnet in dicken Tropfen, heftige Windböen treiben das Wasser über den Asphalt. Natürlich weiß ich, dass ich mich mit geschlossenen Knien in den Graben hocken muss, aber ich gehe einfach weiter. Soll mich doch der verdammte Blitz treffen! Amphitryon, denke ich wieder, oder sein Hologramm! Sein Wiedergänger! Doppelgänger! Hatte Marie-Louise nicht diesen blöden Scherz gemacht, Amphitryons Hologramm sei ausgebrochen? Aber erstens konnte das nicht sein, das war unmöglich, und zweitens würde doch der Hund kein Hologramm anbellen. Oder? In der Datsche angekommen ziehe ich mich aus, rubbele mir bibbernd mit einem Handtuch die Haut von den Knochen, trinke einen Wodka nach dem anderen und lege mich dann hin. Was für ein Tag, was für ein Tag!

Kaum aber bin ich eingeschlafen, rüttelt mich die Bäckersfrau wach. Sie habe die Reste der Kamera aus dem Vogelhäuschen herausgenommen und das Kabel aus der Röhre gezogen. Es sei sonst schließlich nur eine Frage der Zeit, bis Alkmene und diese Götter das entdecken. Ungehalten stellt sie Gebäck und die Thermoskanne auf den Tisch. „Es gab eine Meinungsverschiedenheit mit dem Wachtmeister“, sagt sie, „er will aufs Ganze gehen.“ Ich setze mich auf. „Wissen Sie, er war schon immer ein Draufgänger. In so einem kleinen Ort kann das fatal sein, heute ebenso wie … früher. Und die Protagonisten der Gegenseite sind ja auch immer noch da, die Alten, wie wir sie schon damals nannten, Knocke vor allem und in seinem Schlepptau der Gemüsehändler Senior.“ Ich reiße die Augen auf. „Knocke?“ Die Bäckersfrau lächelt bitter. „Ein ganz Strammer! Hatte zwar nie irgendwelche Parteiämter inne, wusste aber immer alles ganz genau. Den Bau des Bungalows hat er durchgesetzt, zusammen mit dem Gemüsehändler. Das Schlagen der Schneise, dann der Aushub und der Bau des Tunnels zum See hin, das ist alles auf seinem Mist gewachsen. Manche sagen, er sei in der Waldsiedlung ein und aus gegangen.“ Mir schwirrt der Kopf. Ein Tunnel? Unter der Schneise? Von einem Tunnel hatte der Wachtmeister nichts gesagt! Zitternd gieße ich Kaffee ein. „Sie kennen ja das Gedicht des Wachtmeisters. Das war seine Art, mit der ganzen Angelegenheit umzugehen. Beim Schlagen der Schneise ist es passiert. Sein Freund Heinrich wurde von einem Baum erschlagen, den Wachtmeister trafen noch die äußeren Äste der Krone. Er stürzte und sägte sich mit der Kettensäge in den Fuß.“ Sie nimmt einen Schluck. „Er hat oft Andeutungen gemacht.“ – „Er spricht nicht gerne darüber. Versuchen Sie erst gar nicht, von ihm die ganze Geschichte zu erfahren! Kuchen?“ Ich nicke. „Kennen Sie denn die ganze Geschichte?“, frage ich. Sie legt mir ein Stück Bienenstich auf den Teller. „Ich habe als junge Frau das Gedicht des Wachtmeisters ja immerhin gestickt! Damit es nicht verloren geht. Es ist voller Anspielungen, denen ich damals nachgegangen bin, als der Wachtmeister auf Abberufung war.“ Dieses Wort, denke ich: Abberufung! „Wir hatten alle Mühe, den Wachtmeister wieder nach Bad Wutzenwalde zurückzuholen. Letztlich half ausgerechnet Knocke ganz entscheidend, und der lässt ihn das bis heute spüren. Aber nun genug davon! Ein Schweineöhrchen?“

Von einem Moment zum anderen, gerade eben war der Mercedes mit der Bäckersfrau aus meinem Blickfeld verschwunden, nur das zerschlissene Differential ist noch zu hören, ich stehe in der Tür der Datsche und sehe hinaus in den Regen, habe ich Sehnsucht nach Berlin. Heimweh sozusagen. Drei Jahre lang war ich, als Sosias, meist froh, auf dem Lande zu sein, selbst noch als sich die Spannungen immer weiter verschärften. Ich hatte ja meine Ruhe im Bungalow. Nun aber, als Robert, wollte ich zurück in die Stadt. Was sollte ich noch hier! All diese Vermutungen, was nicht alles hinter Amphitryon Komplex stecken könnte, kamen mir abgeschmackt vor. Ausgerechnet jetzt, wo es konkret wurde. Wo sich meine Vermutungen zu bestätigen schienen, nur eben anders, echter, relevanter, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ja, was hatte ich mir denn überhaupt vorgestellt? Ich habe nur die Pferde scheu gemacht, denke ich, ohne den kleinsten Schimmer zu haben, was wirklich Sache ist. Zum Trottel habe ich mich gemacht. Absolut. Ich rufe Eduard an. Er ist, wie sich herausstellt, wieder für ein paar Wochen in Berlin. Ich sage ihm, ich bräuchte zwei Bücher, die ein Forschungslabor unter dem Wutzenwaldersee erwähnten oder beschrieben, eines von 1938, eines von 1972, beide mutmaßlich in der Staatsbibliothek. „Der See, das Labor“, sagt er. „Marie-Louise hat mir davon erzählt. Spannende Sache das, Robert.“ Ich schlucke. „Marie-Louise hat dir wohl einiges, wenn nicht alles erzählt, wie es scheint?“, erwidere ich trocken. „Wir telefonieren regelmäßig. Die Bücher bringe ich mit, wenn ich den Wagen abhole. Ciao!“ Ich lasse mich aufs Sofa fallen. „Es machen alle, was sie wollen“, sage ich leise vor mich hin, „selbst der Hund! Und der Fuchs! Der Wachtmeister! Marie-Louise! Eduard! Die Bäckersfrau! Alle! Ich bin der Volltrottel vom Dienst, mit einem Wort: der Romancier!“

IX

Meine Stirnnarbe blutet noch immer. Gelegentlich. Ich befürchte weiterhin, sie werde zur Unzeit verblassen. Der Artikel im Bad Wutzenwalder Anzeiger ist erschienen. Die Überschrift lautet: „Mitarbeiter des Bad Wutzenwalders Multimediaprojekts verschwunden. Zwillingsbruder auf der Suche.“ Mit Foto, ich starre bunt verpixelt in die Kamera. Der Text: „Robert Scheerbart (Foto) ist auf der Suche nach seinem Zwillingsbruder Arno, Mitarbeiter des bekannten Multimediaprojekts Amphitryon Komplex (der Bad Wutzenwalder Anzeiger berichtete). Arno Scheerbart war von einer beruflichen Reise nach Basel nicht wie vereinbart nach Bad Wutzenwalde zurückgekehrt. Dennoch geht Robert Scheerbart davon aus, dass es sich nur um ein Missverständnis handelt. Etwaige Hinweise bitte an den Bad Wutzenwalder Anzeiger!“ So weit der Text. Es war natürlich nie die Rede davon gewesen, Hinweise an die Zeitung zu schicken. Aber gleichviel, es kommen ja ohnehin keine. Wichtig ist nur, dass eben alle wissen, was Sache ist, vermeintlich jedenfalls. Der da, der wie Arno aussieht, ist Robert und wohnt in der Datsche des Wachtmeisters. Operation geglückt!

Langsam wird es herbstlich und der Wachtmeister weiht mich in die Kunst ein, den Dauerbrandofen eben genau dazu zu bringen, dauerhaft Wärme zu spenden. Holz ist ausreichend vorhanden. Marie-Louise wird nach Berlin zurückkehren, die Universität der Künste hat mit einem Zweijahresvertrag gewinkt, direkt nach ihrem Abschluss. Sie hat ihren Kram gepackt, sich von Alkmene, Karl und Max verabschiedet und ist dann bei mir in der Datsche aufgetaucht. Schon als sie aus dem Auto steigt, sehe ich ihr an, dass sie abgeschlossen hat mit unserer Sache. Mit uns. Mit mir. Überrascht bin ich nicht. Marie-Louise gehört zu den Menschen, die etwas lernen, um es konsequent anzuwenden. Um sich damit durchzusetzen. Sie hat, im Gegensatz zu mir, nicht mit Zweifeln zu kämpfen. Ich schalte auf Gleichmut und habe plötzlich, so empfinde ich es, ein ganz flaches Gesicht. „Ich mach uns Kaffee“, sage ich. Kuchen ist noch ausreichend da, eine süße Zutat zur Bitternis, die in mir aufsteigt. Marie-Louise sitzt mir gegenüber im Schneidersitz auf dem Stuhl. Kurzes Röckchen. Ein feines Höschen. Das rosa Geschlecht scheint ein wenig durch. Doch nichts regt sich bei mir. Ich bin nun ganz und gar flach, zweidimensional, und Marie-Louise sitzt einfach so da, ohne besondere Absicht. Sie kaut versonnen den Kuchen. „Eduard holt mich ab, er kommt mit dem Zug“, sagt Marie-Louise. „Gut“, sage ich, so als sei ich im Bilde und das Kommen Eduards überdies die natürlichste Sache der Welt. „Ich mach nochmal Kaffee“, streue ich in unser Schweigen ein. Kurz darauf klopft es. Eduard, braunrote karierte Mütze mit Ohrenklappen, Wanderschuh und Knickerbocker, dazu einen Wanderstock mit Schlaufe. „Die drei Seiten zum Thema Labor unter dem Wutzenwaldersee habe ich dir kopiert“, sagt er, „gibt aber auch was dazu im Internet.“ Marie-Louise reicht ihm einen Becher Kaffee. „Ah“, sage ich, „danke, darauf bin ich gar nicht gekommen.“ – „Bei Wikipedia und bei so einer Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte. Ist ganz interessant.“ Seltsam eigentlich, denke ich, ist doch immer die erste Idee, im Internet zu suchen, heutigentags. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Eine Stunde später setzt sich Eduard ans Steuer seines Honda. Marie-Louise küsst mich auf den Mund. In diesem Augenblick weiß ich sicher, dass Eduard meine Stelle einnehmen wird. Er allerdings ist noch völlig ahnungslos, das kann ich deutlich erkennen. Der Arme! „Ich komme nach“, sage ich, „wenn ich in Bad Wutzenwalde alles geklärt habe.“ – „Okay“, sagen beide unisono. Ich werde den Teufel tun und winken, denke ich, winke dann aber doch, wie automatisch. Ich gehe hinein und schreibe auf, wie Marie-Louise aus meinem Leben verschwunden ist.

Gegen Abend des selben Tages brennt es auf dem Gutshof. Ich sehe die Rauchsäule, kurz darauf Feuerwehrsirenen. Ich laufe los. Die Bäckersfrau kommt mir entgegen, völlig außer Atem. „Der Dachboden des Verwaltungsgebäudes brennt“, ruft sie. „Ah!“, sage ich. Irgendwie bin ich erleichtert. Ich stelle mir vor, wie die Flammen aus den Dachfenstern schlagen. „Und Karl und Max?“, frage ich lapidar. Sie zuckt mit den Schultern. „Werden sich doch wohl über die Feuertreppe gerettet haben, gesehen haben wir sie nicht.“ – „Gehen wir hin?“ – „Nein!“ In der Backstube essen wir Kuchen und warten auf den Wachtmeister, der bald auftauchen muss. Es ist aber schon völlig dunkel, als er endlich angeradelt kommt. Die Zerstörung sei eine vollkommene, berichtet er, das ganze Gebäude sei nun einsturzgefährdet und müsse abgerissen werden. Die Feuerwehr habe eine Drohne über den ausgebrannten Dachstuhl fliegen lassen, Leichen seien auf den Bildern nicht zu sehen gewesen. „Karl und Max sind also verschwunden?“, frage ich tonlos. „Offensichtlich. Ebenso wie die Hologramme wahrscheinlich für immer verschwunden sind. Die ganze Technik ist nur noch Klump. Frau Alkmene hat wohl keine Ahnung, wo ihre Götter Sicherheitskopien haben könnten. Fragt man sie etwas, so sagt sie immer nur Ach!“ – „Armes Ding!“, sagt die Bäckersfrau. „Am Ende also“, sage ich, „ein ganz und gar misslungenes Kunstprojekt! Viel Aufwand, wenig Ertrag!“ Der Wachtmeister nimmt sich ein Stück Kuchen. „So sieht es aus, Herr Robert. Frau Alkmene ist auch sogleich abgereist, und zwar gegen meine ausdrückliche Anordnung, denn so lange die Brandursache nicht geklärt ist, ist sie verdächtig. Ich habe das an das zuständige Bundespolizeirevier weitergegeben.“ – „Wohin ist sie abgereist“, frage ich. – „Nach Italien. Sie hat wohl schon gepackt gehabt. In Sarsina nämlich ist ein deutscher Künstler von einem eifersüchtigen Ehemann angeschossen worden. Laut der örtlichen Polizei, so habe ich erfahren, ist der Mann in Bad Wutzenwalde gemeldet. Unwahrscheinlich, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Nun ja, ein Unglück kommt selten allein.“

Ich blase alle Luft aus den Lungen. „Uff“, sage ich. Doch was hieß angeschossen? Das konnte vergleichsweise harmlos sein, aber auch lebensgefährlich. Ich versuchte mir die Szene vorzustellen, doch ich sehe vor meinem geistigen Auge nur ein Büro und eine Couch, wie in Basel, aus Sicht der Kamera und schwarz-weiß. Nur dass eben jemand hereinkommt, „figlio di puttana“ brüllt und den aufspringenden Amphitryon niederschießt. Hilflos, in heruntergelassener Hose und mit einer veritablen Erektion steht er da, die Arme abwehrend und zugleich beschwichtigend ausgestreckt, während die Frau flehentlich halbnackt auf ihren Gatten zukriecht und sich an seine Beine hängt, seinen Namen ruft (Francesco wahrscheinlich), dann nach der Pistole greift, worauf sich ein Schuss löst und Amphitryon trifft, nämlich a) zwischen die Augen, b) ins Herz, c) in den Bauch, d) in die Genitalien, e) in den Oberschenkel, f) in den Fuß. Tot könnte er in fast allen Variationen sein, in den Fällen a und b sogar sicher. Der Ehemann wird sagen, er habe nicht schießen wollen, der Schuss habe sich gelöst, als seine Frau nach der Waffe griff. Freispruch wahrscheinlich und natürlich Aussöhnung der Ehepartner. Ich frage, ob Näheres bekannt ist, doch der Wachtmeister hält sich bedeckt. Weiteres Nachfragen sinnlos. „Einen Schlehengin, Herr Robert?“

Später gehe ich zurück zur Datsche und dann ganz in Gedanken vorwärts aufs Klo, statt wie sonst meistens, der Enge wegen, rückwärts. Ich renne mit dem Kopf heftig gegen die Türkannte. Und töte damit, wie mir sofort klar ist, Arno! Diese Narbe nämlich, passgenau in die tätowierte platziert, die ja wiederum in die frühere Verletzung hineingestochen war, würde nie wieder verschwinden! Ich sehe nur noch verschwommen. Kotzübel ist mir. Was tun? So ruhig wie möglich ein- und ausatmen. Mich auf den Boden legen. Da liege ich also. Es blitzt. Ich höre metallene Geräusche. Ein Schwertkampf. Nach einer Weile stehe ich vorsichtig auf, nehme hockend eine Dusche und lege mich dann auf die Schlafcouch. „Morgen bin ich wie neu“, sage ich laut, wie um mir Mut zu machen.

Der Wachtmeister weckt mich, es ist hell, es scheint früher Morgen zu sein. „Ich dachte, es interessiert sie“, ruft er, mitten im Raum stehend, die Hände in die Hüften gestemmt, „das Verwaltungsgebäude wird bereits heute abgerissen, der Statiker hat nicht eine Sekunde gezögert. Der Bagger mit der Abrissbirne ist schon unterwegs. Kommen Sie!“ Er rüttelt mich an der Schulter, und erst in diesem Augenblick sieht er die Wunde. „Aha“, sagt er, „das haben Sie ja fein hinbekommen, Herr Robert! Nun gut, dann zuerst zum Herrn Doktor. Ich hoffe, wir verpassen die Sause deswegen nicht. Können Sie mit dem Rennrad fahren?“ Der Wachtmeister fährt die ganze Zeit neben mir, zur Sicherheit, und wir kommen heil an. „Nähen oder klammern?“ fragt mich der Doktor, ein Pensionär mit Nietzscheschnäuzer, nachdem er die Wunde gesäubert hat. „Nähen“, sage ich. „Beeil Dich, Michail“, drängt der Wachtmeister, „die Chose beginnt gleich!“ Und Michail beeilt sich, so dass wir rechtzeitig ankommen. Ich schwitze. Der Baggerführer setzt eben die Abrissbirne in Bewegung. Zwei Bauarbeiter, drei Feuerwehrleute im Spritzenwagen und vier THW-Mitarbeiter sind anwesend. Der alte Herr Knocke ist auch da, ohne Hund. Er nickt uns zu. Dann geht es los, und nach nicht mal zehn Minuten liegt das Gebäude danieder. Zehn Minuten! Der Baggerführer lässt die Kugel noch ein paar Dutzend mal von oben auf die Trümmer krachen. „Das ging schnell“, sagt Herr Knocke. „Ja“, erwidert der Wachtmeister, „manches geht schnell, anderes währt dafür umso länger.“ Knocke strafft sich. „Es wird eine Untersuchung geben, Wachtmeister. Sachverständige waren da, Brandstiftung ist nicht auszuschließen. Guten Abend, die Herren!“

Während die Feuerwehr die Trümmer benässt, die Arbeiter im Sprühnebel den Bauzaun aufbauen und die THW-Menschen an freigelegten Stromkabeln irgendwelche Sicherheitsmanschetten anlegen, schlendern der Wachtmeister und ich, die Räder schiebend, den Zufahrtsweg entlang zur Straße. „Wie ich höre, hat Sie die Bäckersfrau in Kenntnis gesetzt in Sachen Schneise und Tunnel. Nun denn, dann wissen Sie ja jetzt so einiges, scheint mir.“ – „Und mir scheint, ich bekomme alles nur häppchenweise serviert“, protestiere ich in scharfem Ton, fast zu meiner eigenen Überraschung. Es war mir so rausgerutscht. „Nun, Herr Robert“, sagt der Wachtmeister und stoppt abrupt, „Sie vergessen offensichtlich, dass Sie mit Frau Alkmene, diesen Brzozowskis und dem Herrn Amphitryon eine Gruppe bildeten, die uns, der Bäckersfrau und mir, zunächst als eine geschlossene Einheit erscheinen musste. Wer hätte garantieren können, dass Sie nicht, von uns ins Vertrauen gezogen, alles brühwarm Frau Alkmene und Consorten erzählen! Warum hätten wir Ihnen, Sosias, mehr trauen sollen als den anderen!“ Ich sage nichts. Der Wachtmeister blickt mich ernst an, keine Spur mehr der liebenswerten Kauzigkeit, an die ich mich gewöhnt hatte. „Dazu kam noch, dass Sie ausgerechnet im Bungalow wohnten und nicht im Gutshaus. Wir hätten durchaus nicht gezögert, nach dem Tunneleingang zu suchen, der, das wussten wir natürlich schon immer, sich unter dem Fußboden im Bungalow befindet.“ – „So weit ich jetzt weiß“, werfe ich kühl ein, „ist das Labor unter dem See durchaus kein Geheimnis, und auch die Forschung nach der Wende …“ – „Dem Abverkauf der DDR!“ – „ … ist nie ein Geheimnis gewesen. Wahrscheinlich war ich der Einzige, der von nichts wusste!“ Der Wachtmeister grinst. „Ihr Freund Amphitryon ist auch ganz ahnungslos gewesen, das können Sie mir glauben. Der hatte immer ganz andere Dinge im Kopf.“ – „Ihre Besuche bei mir waren also von Anfang an darauf angelegt zu testen, ob Sie mich sozusagen ins Boot holen können?“ Wir setzen uns wieder in Bewegung. „Zu Anfang ging es“, brummt er, „eher um banale Informationen. Als wir allerdings bemerkten, dass Sie skeptisch wurden gegenüber dem Projekt, ja, da haben wir in Erwägung gezogen, Sie miteinzubeziehen.“ Ich bin also, denke ich, den Wachtmeister scharf von der Seite fixierend, nur Mittel zum Zweck gewesen! Nichts weiter! „Ihre Idee, als Robert hier aufzutauchen, hat uns dann aber überzeugt, also beruhigen Sie sich“, höre ich den Wachtmeister sagen. Wir schweigen eine Weile. „So steht der Sache jetzt ja nichts mehr im Wege“, sage ich schließlich, „alle sind weg und der Bungalow leer. Nicht mal die Hologramme scheint es noch zu geben!“ Mir fällt Amphitryon ein, den ich im Wald gesehen hatte, sage aber nichts. „Ja, Herr Robert, die Zentrale, der Himmel ist zerstört, durch einen wie auch immer ausgelösten Brand. Gearbeitet aber, das können Sie mir glauben, hat da oben schon lange niemand mehr.“ Ich brauche eine Weile um zu begreifen, was der Wachtmeister da sagt. „Wollen Sie andeuten, dass Karl und Max …“ – „Andeuten will ich nichts, Herr Robert“, erwidert er scharf, „ich will herausbekommen, was da unten geschieht, unter dem See!“ Ich bleibe stehen. „Gut“, sage ich. „Rufen Sie mich morgen früh an, Herr Robert“, sagt der Wachtmeister, „es geht los!“ Dann schwingt er sich grußlos in den Sattel und radelt davon.

Ich mache mich auf den Weg zur Datsche. Ich habe so über einiges nachzudenken, scheint mir. Wie verabredet rufe ich am nächsten Vormittag die Telefonzelle an. Der Wachtmeister meldet sich. „Wir müssen jetzt handeln, Herr Robert“, sagt er eindringlich, „heute Abend um halb zehn in der Backstube!“ – „Gut“, sage ich kehlig und schlucke hart, „handeln wir.“ Ich werfe das Telefon auf die Couch und setze mich an den Rechner, alles aufzuschreiben, denn wer weiß, was am Ende von mir noch übrig bleiben wird. Am späten Nachmittag kommt die Bäckersfrau mit Erbsensuppe und Kuchen bei mir vorbei. Ein paar Tage lang hatte sie sich nicht blicken lassen. Skeptisch betrachtet sie meine Stirn. „Hat der alte Doktor dann doch noch mal Hand angelegt“, meint sie und fährt mit dem Zeigefinger über die Fäden. Ich zucke zurück. „Naja, nicht schön, aber selten.“ Ich lächele verzagt. „Um halb zehn dann also, Herr Robert. Hoffentlich wissen Sie, auf was wir uns da einlassen.“ –  „Kommen Sie denn mit?“ – „Aber ja! Natürlich!“

Schweigend löffeln wir die Suppe. Was nur, überlege ich, hatte ich überhaupt drei Jahre lang hier gemacht, als Arno? Warum habe ich nie gefragt, was das Ruderboot auf dem See zu suchen hat und wer da taucht? Und warum überhaupt getaucht wird in so einem popeligen See, zu welchem Zweck? Wahrscheinlich wäre sogar jeder in Bad Wutzenwalde bereit gewesen, mir alles mögliche zu erzählen, von jetzt, von damals, alles. Warum also fragte ich nicht? Die einfache, gleichwohl richtige Antwort ist, dass ich kein Interesse hatte und annahm, in so einem Kaff gäbe es nichts von Bedeutung. Außer unserem Projekt natürlich. Wie hochnäsig! Die Bäckersfrau verabschiedet sich. Ich lege mich noch etwas hin und versuche zu schlafen. Um kurz nach neun mache ich mich dann auf den Weg. Dunkel ist’s, kein Mond, nirgends. Der Wachtmeister und die Bäckersfrau sitzen bereits im Auto, ich steige grußlos hinten ein. Es geht los. Kurz darauf schon lenkt die Bäckersfrau den Mercedes langsam über den Anfahrtsweg, dann streichen die Autoscheinwerfer über die Trümmer des alten Verwaltungsgebäudes. Die Feuertreppe am Boden. Obskur anzusehen. Baustellenzaun drumherum. Warnschilder, Eltern haften für ihre Kinder. Der Kies auf dem Hof durchfurcht von schweren Reifenspuren. Wir parken vor dem Gutshaus. Die Katze auf dem Fenstersims, die Augen leuchten kurz und bösartig auf. Im Haus alles dunkel. Wir gehen langsam zum Bungalow, der Wachtmeister gibt das Tempo vor, der Strahl seiner Taschenlampe pendelt über den Weg. Dann zieht er seinen voluminösen Schlüsselbund aus der Tasche und schließt den Bungalow auf. Wundert mich überhaupt nicht. Wir machen Licht, die Vorhänge sind zugezogen. Vor der Küchenzeile liegt schweres Werkzeug, Spitzhacke, Vorschlaghammer, ein großer Bohrhammer, ein Trennjäger, eine Spannsäge, ein Spaten, eine Schaufel, dazu in einer Kiste Ohrschützer, Schutzbrillen und zwei weitere, große Taschenlampen. „Ich war so frei“, sagt der Wachtmeister, „alles schon einmal vorzubereiten.“ – „Gut“, sage ich und nicke mit dem Kopf. „Jaja“, sagt die Bäckersfrau. „Niemand weiß genau, wo der Eingang ist“, fährt der Wachtmeister fort und sieht mich eindringlich an, „außer Knocke. Und der wird den Teufel tun, uns das zu sagen. Der Fußboden ist außerdem Anfang 1990 neu gemacht worden.“ – „Westkacheln“, sagt die Bäckersfrau, schnappt sich ohne weitere Bemerkung den Vorschlaghammer und stiefelt nach hinten. „Der Eingang ist hier, genau hier“, ruft sie, „darauf verwette ich meine Pension. Die Verlängerung der Schneise ins Haus hinein. Fast zu einfach.“ Ein Vorschlaghammer, so auch dieser, verweilt, bevor er seine Wirkung tut, einen kleinen Augenblick in schönster Ruhe am höchsten Punkt, dann geht es brutal nach unten. Die Bäckersfrau schlägt zu. Krachend entsteht ein Riss. Des Wachtmeisters Augen blitzen, er greift zur Spitzhacke, und bevor ich auch nur einen Handschlag hätte tun können, sind die Beiden schon dabei, mit Wucht den Boden zu zerstören. Meinen Boden, in meinem Bungalow! Ich beginne, die Trümmer wegzuräumen, Zement, Erde und Kies kommen zum Vorschein. An eine Schubkarre hat niemand gedacht. Ich schaufele alles einfach zur Seite. Wachtmeister und Bäckersfrau arbeiten jetzt im selben Rhythmus, sie wühlen sich geradezu ein. Wortlos. Das Loch wird größer und größer, der Berg an Schutt auch. Und was ist, denke ich, wenn der Eingang unter dem Schuttberg ist? Schon der Gedanke macht mich schwitzen. „Die Schüppe!“, ruft die Bäckersfrau mir plötzlich zu. Es hatte ein dumpfes Geräusch gegeben, da musste ein Hohlraum sein. Und tatsächlich, bald schon wird, nachdem eine Schicht Schalbretter knirschend entfernt worden ist, eine in den Boden eingelassene doppelflügelige Stahltür sichtbar, mattdunkelgrün lackiert. „Der Tunnel!“, ruft der Wachtmeister und strahlt die Bäckersfrau an. „Wenn denn nicht alles verschüttet ist“, sage ich. Ich ernte einen bösen Blick von Beiden. Der Wachtmeister zieht an der Türklinke. „Nicht mal abgeschlossen!“, ruft er. Wir ziehen mit vereinten Kräften an den Türflügeln gegen einigen Widerstand, es knirscht ordentlich in den Scharnieren, dann endlich ist es geschafft. Eine Treppe aus Backstein kommt zum Vorschein. Kalte, feuchte Luft dringt uns entgegen, ein moderiger Hauch. Ich habe Angst, ganz unmittelbar. Der Wachtmeister und die Bäckersfrau beschließen, ich werde nicht gefragt, am nächsten Tag weiterzumachen. So treten wir kurz nach Mitternacht aus dem Bungalow ins Freie. Leichter Regen. Ich bin hellwach. Der Wachtmeister schließt ab, nickt uns zu und nimmt den Weg durch die Büsche zur Straße hin. Ich gehe mit der Bäckersfrau zum Wagen. Wir setzen uns hinein. „Damit wir uns recht verstehen, Herr Robert, es wird ernst!“ Ich ziehe die Kopien zum Unterseelabor aus der Tasche. „Hier“, sage ich und reiche sie der Bäckersfrau. Sie wirft nur einen kurzen Blick darauf. „Aus den Büchern, in denen das Labor beschrieben ist? Kenn ich. Die Nazis haben Strahlenexperimente gemacht, wird da jedenfalls behauptet. Woher aber dieser Journalist aus dem Westen die Informationen hatte, dass dort unten auch zu DDR-Zeiten geforscht wurde, ist mir ein Rätsel.“ – „Es gab ja, wie Sie wissen, Überläufer, Doppelagenten. Wie auch immer, geglaubt hat’s keiner im Westen, wie es aussieht. Nicht mal mitbekommen.“ – „Tatsache aber ist, Herr Robert, die Schneise ist geschlagen und der Bungalow gebaut worden, um einen geheimen, vor allem aber besseren Zugang zum Labor zu bekommen als den damaligen über die Unterwasserschleuse. Ende der 70er-Jahre hat es einen Unfall gegeben. Der einzige Sohn Knockes kam ums Leben und mit ihm ein Parteibonze. Irgendetwas mit der Schleuse war nicht in Ordnung, die beiden Männer sind ertrunken, die diensthabenden Ingenieure mussten zwei Wochen im Labor bleiben, bis alles repariert war und sie rausgeholt werden konnten. Einer der Ingenieure, ein junger Kerl aus Dresden, ist später tot aufgefunden worden. Herzinfarkt hieß es, aber alle wussten, dass es Selbstmord war. Die Idee, einen Tunnel zu bauen, lag nahe. Kennen Sie die Bilder vom Bau der ersten Berliner U-Bahnen? Man hat einfach den Boden ausgehoben und dann einen Deckel draufgemacht, schon war die Röhre fertig. Vom Bungalow aus bis zum Ufer ist man genau so verfahren. Vom Labor bis kurz vor das Seeufer aber gab es bereits einen Tunnel, den hatten die Nazis gebaut, dann aber nicht mehr fertigstellen können. Bis sich dann die DDR, irgendein Zentralinstitut für Strahlenforschung, der Sache annahm. Wie gesagt, erst nach den tragischen Ereignissen.“ – „Aber das alles lief doch nicht im Geheimen ab, oder?“, frage ich. Sie lacht. „Doch, es lief im Geheimen ab. Keiner sprach darüber. Jeder aber wusste bescheid. Der ganze Ort, jeder Einzelne, wurde eingeschworen, nicht darüber zu reden. Es gab Hausbesuche. Eine Familie, deren Sohn Theologie studierte, wurde umgesiedelt. Ein paar kritische Geister blieben natürlich trotzdem noch. Der Wachtmeister und sein bester Freund Heinrich sprachen sogar demonstrativ offen über die Tunnelangelegenheit, als einzige, ich glaube, sie hatten auf irgendeine Weise Spaß daran. Das Ende vom Lied war, dass sie zum Schlagen der Schneise verpflichtet wurden. Und das mit dem Baum war kein Zufall, Herr Robert, ein Baum fällt nicht plötzlich zur falschen Seite hin, und fast hätte es ja auch den Wachtmeister erwischt.“ – „Das Gedicht ist also alles andere als witzig gemeint?“, warf ich ein. „Wir haben den Wachtmeister, als er aus Bautzen zurück war, wieder aufgepäppelt. Knocke, ausgerechnet Knocke, hat ihn wieder als Abschnittsbevollmächtigten eingesetzt. Sozusagen kraft seines Amtes, das er nie offiziell innehatte. Eine Art Begnadigung. Verstehen Sie jetzt, warum der Wachtmeister unbedingt wissen will, was da unter dem See vor sich geht? Offiziell, das ist ja durchaus kein Geheimnis, forschte da nach der Wende bis Mitte der 90er-Jahre ein Konsortium internationaler Unternehmen, das Bundesforschungsministerium war involviert. Die Frage ist eben nur, was da jetzt geschieht. Wenn da etwas geschieht.“ – „Und warum ist der Tunnel außer Betrieb?“ – „Die Schleuse des Labors ist erneuert worden, 1990 schon. Vorbild waren die Systeme der modernsten U-Boote, es gab Berichte in den Tageszeitungen. Ist natürlich innovativer als ein alter, feuchter Nazi- und Stasitunnel! Alles musste neu sein! Und außerdem konnte niemand einfach so rein, man muss tauchen und die Schleuse bedienen können, und wahrscheinlich gibt es auch noch weitere Sicherheitsvorkehrungen, Iriserkennung oder so etwas.“ – „Also gibt es gar kein Geheimnis?“ – „Im Wikipediaeintrag zum Unterseelabor[12] steht, es sei seit 1994 nicht mehr in Betrieb, werde aber instandgehalten als Zeugnis der Wissenschaftsgeschichte. Besichtigungen nur für Leute mit Tauchschein. Also kein Geheimnis, könnte man denken. Wir werden sehen. Ich bring Sie nach Hause.“

Lange noch liege ich wach und starre auf die Holzlatten der Deckenverkleidung. Ich brauche eine Weile mir einzugestehen, dass ich doch irgendwie enttäuscht bin. Womöglich würde sich nun alles als banal erweisen, als eine einzige, große Banalität. Selbst wenn die Bäckersfrau behauptet, es werde ernst. Und das ist es ja auch, für sie, dachte ich, und natürlich auch für den Wachtmeister. Aber darüber hinaus? Ein Labor, eine Art Museum unter einem künstlich angelegten See in Brandenburg – das war’s dann auch, objektiv betrachtet. Sicher, es gab die tragischen Geschichten aus der DDR-Zeit, doch was ging mich das an? Und an eine Verbindung zum Amphitryon-Komplex glaubte ich nun selbst nicht mehr. Meine Phantasie ist wohl einfach mit mir durchgegangen! Das kommt davon, wenn man zu lange alleine ist, man wird kauzig und spinnert. Natürlich frage ich mich trotzdem, was der Wachtmeister zu tun beabsichtigt. Wollte er in das Labor eindringen, um zu sehen, für was, oder eher warum sein bester Freund Heinrich gestorben ist? Warum er ermordet wurde? Wenn es denn so war! Genaueres dazu werde ich aber kaum erfahren. Was also, denke ich, sind meine Überlegungen, meine schriftlichen Darlegungen, überhaupt wert? Der Welt geben, was der Welt ist – so oder so ähnlich hatte ich das formuliert, weil ich dachte, hinter der Kunst stecke verborgen etwas Wichtiges, Gefährliches. Welch kindliche, ja kindische Vorstellung! Sicher, Karl und Max sind fort, aber womöglich ist ihr Vertrag tatsächlich ausgelaufen und der Brand durch einen Kurzschluss ausgelöst worden. Eine knabbernde Maus. Und Amphitryon? In Italien von einem eifersüchtigen Ehemann niedergeschossen! Verbrechen aus Leidenschaft, so sagte man früher. Die Bilder der Überwachungskamera in Basel standen mir wieder vor Augen. Wie aus einem schlechten Film. Das Beackern der weiblichen Furche mittels des männlichen Glieds zwecks Ablegung des Samens! Ich lache auf. „Was für eine Farce, das Ganze“, sage ich laut, „oder nein – was für eine Arabeske!“

Ich erwache fröstelnd im ersten Morgenlicht. Es findet sich ein Rest Erbsensuppe, die ich warm mache. Dazu trinke ich Kaffee und esse Kuchen. Schließlich der Mercedes und die Bäckersfrau. So beginnt der Tag. Der Wachtmeister ist schon im Bungalow. Auf dem Boden ein Vogelbauer, eine Art aufgeschnittener Rucksack, darin hinter einem Netz ein quietschgelber Kanarienvogel. „Lolo“, ruft der Kanarienvogel. Wir ziehen die Flügel der Stahltür auf. Wieder diese kalte, feuchte, modrige Luft. Als wenn etwas ausgehaucht würde, denke ich. Der Wachtmeister hängt mir den Vogelbauer an die Schulter, „Kruru“ macht der Vogel, und drückt mir den Bohrhammer in die Hand. „Ein Akkubohrhammer mit Meißelfunktion, ausgeliehen von der hiesigen Bauwirtschaft. Ich nehme den Vorschlaghammer.“ – „Gut“, sage ich, aber nichts ist gut. „Am Übergang zum Nazitunnel ist eine Backsteinmauer eingezogen worden, das wissen wir sicher“, sagt die Bäckersfrau, „der Maurer ist der selbe, der im Gutshaus das Fenster zugemauert hat. Er hat’s nicht zugegeben, aber auch nicht geleugnet.“ Sie nimmt den Trennjäger zur Hand, die Schutzbrillen und die Ohrschützer. „Wollen wir los!“, ruft sie. „Ich will mir noch einmal den See von oben ansehen“, sage ich und laufe hinaus. „Lülü“, macht der Kanarienvogel. Und da liegt er, der See. Vielleicht, fällt mir ein, ist ja das Ruderboot zu sehen und wir müssen die Aktion abblasen, aber ich werde enttäuscht. Die Schneise, der See. Blassblaugrau schimmert das Wasser. Sicher sind Enten unterwegs, auch wenn ich keine entdecken kann. Die Bäume, teils schon mit welkem Laub, rauschen leise im Wind. Die Sonne ist hinter Wolken versteckt. Wer weiß, denke ich melodramatisch, ist eben dies das letzte schöne Bild, das ich sehe. „Kommen Sie?“, ruft die Bäckersfrau. Vorsichtig steigen wir die Treppe hinunter, der Wachtmeister leuchtet. Unten angekommen schalte ich meine eigene Taschenlampe an. Zu meiner Überraschung liegt ein sauberer Tunnel vor uns, eine gewölbte, graue Betondecke, auf Wände aus Backstein gesetzt. Sicher keine übliche Bauweise, denke ich. Auch der Boden besteht aus Backstein. Es geht leicht bergab. Kälter und kälter wird es. Nach fünf Minuten bemerkt der Wachtmeister, ein paar Meter nur noch und wir hätten Wasser über uns. Unwillkürlich richte ich den Lichtstrahl nach oben. Zwei, drei Minuten später, vielleicht war’s aber auch nur eine, stehen wir dann vor einer massiven Backsteinmauer. „Nun ja, die Grenze zwischen Stasi- und Nazitunnel, da müssen wir dann wohl durch“, sagt der Wachtmeister. Die Bäckersfrau und ich nicken. „Herr Robert, meißeln sie hier, hier und hier mal ein schönes Loch!“, er klopft mit der Faust drei Mal gegen die Wand, „die Bäckersfrau und ich warten. Setzen Sie die Ohrschützer und die Brille auf.“ – „Und wenn hinter der Wand Wasser ist?“, sage ich. „Dann nehmen wir alle unsere Beine in die Hände und laufen in die Richtung!“ Er lenkt den Strahl seiner Taschenlampe Richtung Bungalow, plötzlich bester Laune. „Gut“, sage ich, drücke der Bäckersfrau den Vogelbauer in die Hand, setzte die Ohrschützer und die Schutzbrille auf und lege los, jeweils genau an der Stelle, auf die der Wachtmeister leuchtet. Es dauerte eine Weile, dann platzt endlich ein großes Stück Backstein weg und ein paar Minuten später bin ich durch. Kein Wasser! Bald schon habe ich drei Löcher gemeißelt. Ich schwitzte wie ein Schwein und der Bohrhammer in meiner Hand riecht nach Kabelbrand. „Gut, Herr Robert“, ruft der Wachtmeister, „wenn ich nun dürfte!“ War das nun die reine Wut, frage ich mich, oder einfach die beste Methode, die Wand einzureißen? Der Vorschlaghammer scheint zunächst allerdings überhaupt keine Wirkung zu haben, schließlich aber kracht ein großes Stück Mauerwerk in den Nazitunnel hinein. Der Wachtmeister springt zurück. „Einen Sturz einzubauen wäre das Beste“, sagt er und leuchtet das Mauerwerk oberhalb des Loches ab, „aber ich denke mal, wir riskieren es einfach.“ Mit ein paar Hammerschlägen ist das Loch schnell vergrößert. Wir leuchten mit unseren Taschenlampen den Raum, den Tunnel dahinter aus. Der Nazitunnel! „Zum Labor sind’s noch fünfhundert Meter“, ruft der Wachtmeister und steigt durch das Loch. Wir folgen ihm. Im Strahl der Taschenlampe Backsteinwände, eine Backsteintonnendecke und ein Backsteinboden. Alles in bestem Zustand, wie es scheint. Trotzdem bin ich darauf gefasst, im Lichtstrahl Skelette vorzufinden. Aber nichts. Der Tunnel ist vollkommen leer. Der Kanarienvogel, den ich wieder geschultert habe, macht „Tüdelüt“. Rechter Hand dann plötzlich, ich sage plötzlich, weil wir alle drei mit einem Ruck stehenbleiben, ein Durchgang, ein kleiner, nur mannshoher, etwa ein Meter breiter Tunnel, der, so stellen wir fest, leicht bergauf verläuft und nach vielleicht vierzig Metern nach rechts abzuknicken scheint. Selbst der Wachtmeister sagt nichts, so baff ist er. Natürlich, überlege ich, das alles ist gebaut worden, bevor der See darüber entstand, da wird man an alles gedacht haben. „Da war eine Tür davor“, sagt der Wachtmeister, „die Bandunterteile sind noch zu sehen und in der Stahlzarge noch die Aussparung für den Riegel. Ein Notausgang. Klar.“ –„Also hätten damals die Ingenieure nach dem Unfall mit der Schleuse diesen Ausgang nehmen können“, sage ich, „und auch hineingekommen ins Labor wäre man so?“ – „Ich hab’s ihm erzählt. Ist ja kein Geheimnis!“, sagt die Bäckersfrau mit einem Blick zum Wachtmeister, der noch einmal in den Gang hineinleuchtet, aber nichts sagt. Irgendwelche Geheimnisse bleiben ja immer, denke ich, weil sie mit ins Grab genommen werden. So einfach ist das. Wahrscheinlich war alles verriegelt und verrammelt damals, oder der kleine Tunnel führt nicht mehr bis zur Oberfläche, weil er eingestürzt ist. Aber ich habe keine Zeit, über derartiges nachzudenken, denn kurz darauf stehen wir vor einer massiven Stahltür. Mattgrau. Der Wachtmeister leuchtet die Tür ab. „Wir setzen den Trennjäger hier an“, sagt er. „Womöglich ist die Tür offen“, ruft die Bäckersfrau, schiebt uns beide zur Seite, drückt die Klinke nach unten und zieht die Tür auf. Der Wachtmeister atmet tief ein, ich pfeifend aus. „Voilà“, ruft die Bäckersfrau lachend, aber ihre Stimme vibriert. „Tüdelü, tüdelü“, macht der Kanarienvogel. Vor uns nun also, durch eine Art Notlicht grünlich beleuchtet, das Labor! Ich, oder eher meine Eingeweide, erinnern sich mit einem Male an die Abenteuer der Kindheit. Wenn man in verbotene Räume eindringt, das Arbeitszimmer des Großvaters, das Nähzimmer der Großmutter oder die gute Stube der Tante mit den abgedeckten Sesseln. Kurzum, es grummelt in mir. Da stehen wir also, auf der Schwelle des Labors! Wir legen das Werkzeug auf den Boden. „Wie heißt der Vogel eigentlich?“, frage ich flüsternd. „Stan“, sagt die Bäckersfrau. „Gut“, sage ich erleichtert. Wir stehen eine ganze Weile in der Tür. Es ist, finde ich, am Wachtmeister, den ersten Schritt zu tun. Auch die Bäckersfrau macht keinerlei Anstalten. Das Labor selbst, kaum größer als vielleicht vierhundert Quadratmeter, liegt einfach nur da. An der hinteren Wand eine grünschimmernde marmorne Schalttafel, sicher ein Überbleibsel der Erstausstattung. Davor moderne Labortische mit Computerbildschirmen älterer Machart. An der Wand links drei mannshohe Kabinen aus Glas. Rechts eine Metalltreppe, die zu einer langen Plattform führt, an deren Ende eine schwere Tür mit Bullauge zu sehen ist. Ein Teil des Schleusensystems. Was aber in drei Teufels Namen wollten wir hier! Dann endlich tut der Wachtmeister einen Schritt. Wir folgen. Vorsichtig gehen wir auf die Schalttafel zu. Würde, überlege ich, der Wachtmeister nun zu einer Erklärung ansetzen? Sich wie ein Museumsführer vor die marmorne Schaltstafel stellen und alles erläutern, was es auf sich hat mit dem Labor, was hier zu Ostzeiten erforscht wurde? Würde er seines Freundes Heinrich gedenken? Doch nichts dergleichen geschieht. Der Wachtmeister schleicht nur leicht humpelnd und wie paralysiert durch den Raum, lässt seinen Blick schweifen, berührt aber nichts. Es ist totenstill, nicht mal Stan gibt einen Ton von sich. Ein Museumslabor, wir sind in ein Museumslabor eingebrochen, denke ich. Irgendwann würden wir einfach zurückgehen und oben im Bungalow stehen. Der Einbruch wird natürlich früher oder später bemerkt werden. Wie, überlege ich, sich dann rechtfertigen? Oder würden alle schweigen? Wie gehabt schweigen? Aus alter Gewohnheit? Auch Knocke? Die Bäckersfrau steht vor der Schalttafel, der Wachtmeister an der Treppe zur Tür mit dem Bullauge, ich an einem der Tische mit den altmodischen Bildschirmen nahe der Tür zum Nazitunnel, als mit einem Mal Licht aufflammt. Grell, sehr grell. Ich zucke heftig zusammen. Unwillkürlich schließe ich die Augen, öffne sie wieder, blinzele, und dann erkenne ich, was geschehen ist. An der Schalttafel steht Alkmene neben der wie zu einer Salzsäule erstarrten Bäckersfrau, Amphitryon an einem der Labortische, er sieht zum Wachtmeister hin, während die Katze auf einem metallenen Apparat vor sich hin döst. Ich tue ein paar Schritte, Stan machte „krü, krü“, vielleicht wegen der Katze, denke ich. Und dann sehe ich ihn, Sosias, also Arno, meinen Zwillingsbruder, mich sehe ich, wie ich auf einem der Hocker am Tisch vor einem Bildschirm sitze und angestrengt etwas auf einer Tastatur tippe. Alkemene setzt sich derweil mit einem Ruck in Bewegung und geht auf und ab, stumm gestikulierend. Die Blicke des Wachtmeisters und der Bäckersfrau folgen ihr, hin und her, her und hin. Ich will sagen, will rufen, das sind doch nur diese Hologramme, ein Automatismus, eine Museumsvorführung, das wissen Sie doch! Keine Angst! Doch ich sage nichts. Der Wachtmeister drückt sich weiterhin an die Wand, während Amphitryon auf einen Schaltpult, den ich bisher nicht bemerkt hatte, zugeht, unschlüssig davor stehenbleibt, ungelenk von einem Bein auf das andere tretend, bis er endlich auf einen roten Alarmknopf drückt, der sich aber nicht bewegt. Auch die Tasten der Tastatur, vor der Sosias sitzt, bewegen sich nicht, weil das einfach alles nur, denke ich wieder, diese verdammten Hologramme sind. Nichts weiter! Der Wachtmeister und die Bäckersfrau aber stehen immer noch starr an der Wand. Ich muss etwas tun, denke ich, durch die Hologramme hindurchgehen, sie entlarven als das, was sie sind: Luftspiegelungen! Ich nähere mich Sosias, mir selbst, und sehe über seine Schulter auf den Bildschirm, auf dem ein Text entsteht. Ich lese:

Manchmal begegnen sich die U-Bahnen genau vor meiner Nase. Die Richtung Alexanderplatz und die nach Pankow. Urplötzlich tauchen sie auf, passieren sich in schnellem Takt, ein Starren, dann das Hochbahnviadukt wieder leer und der Häuser gegenüber blinde Scheiben. Oft warte ich auf nichts anderes als auf diese exakte, mittige Begegnung der Bahnen in meinem kleinen Ausschnitt der Welt. Nie geschah es zwei Mal nacheinander in all der Zeit, nicht passgenau. Ich sehe hinaus. Ich warte. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich bringe nichts zustande, ich schreibe nichts auf von all dem, was mir im Kopf schwirrt. Denn wo ansetzen, frage ich mich, während alle paar Minuten eine Bahn vorbeidonnert, wen denn nun was und vor allem wie erzählen lassen?

Ich schreie auf, während Arno ungerührt weiterschreibt, klar, denke ich, ein Hologramm, aber der Text ist doch meiner, den ich in Berlin geschrieben habe! Mein Text, mein Bericht, mein Roman! Ich taumele ein paar Schritte rückwärts gegen einen der Tische. Wie konnte das sein? Der Wachtmeister und die Bäckersfrau stehen derweil noch immer wie eingefroren, ich muss etwas sagen, den Bann brechen, wir müssen hier raus. „Wir müssen …“, rufe ich, doch weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment steht Arno auf und sieht zur Treppe hin, auch Alkmene und Amphitryon blicken in die Richtung. Selbst die Katze. Ich folge ihrem Blick. Die Tür, denke ich, die Tür mit dem Bullauge, und da öffnet sie sich auch schon mit einem schwappenden Geräusch. Karl und Max treten auf die Plattform. Schwarz gekleidet wie immer, schwarze Vollbärte, schwarzes Haar. Eine Inszenierung, denke ich, eine Museumsaufführung, automatisch erzeugt, wir müssen sie irgendwie ausgelöst haben, eine Lichtschranke, was weiß ich, denke ich, aber da höre ich schon die schweren Schritte oben auf der Plattform. Schritte! Echte Schritte! „Was zum Teufel …“ rufe ich, „kommen Sie, raus hier, schnell!“ Ich drehe mich um und laufe, ohne noch an irgendetwas zu denken, ohne mich umzudrehen, die Taschenlampe anknipsend, in den Nazitunnel hinein. Nur weg hier! Der Rucksack mit dem Vogel hüpft auf meinem Rücken. Warum ich aber den kleinen Tunnel nehme statt den Weg zum Bungalow, weiß ich nicht. Es hätte mein Verderben sein können, eine Falle, aus der ich nicht wieder herausgekommen wäre. Ich laufe also hinein. Das kurze Stück geradeaus, rechts abgebogen, Stufen, ein kurzes, ebenes Stück, dann wieder Stufen, eine Wendeltreppe aus Metall, ich haste hinauf, schließlich über mir eine Metallplatte im Lichtkegel der Taschenlampe. Ich drücke dagegen, mit Schulter und Kopf gegen die Bodenplatte. Sie geht auf! Ich klettere hindurch. Licht! Luft! Ich stehe in einem dieser Pumphäuschen, einem dieser halb verfallenen Häuschen, die ich nie recht beachtet habe. Ich keuche. Was nun? Waren da Geräusche zu hören? Schritte? Der Wachtmeister, die Bäckersfrau? Karl und Max? Ich warte nicht.

Völlig außer Atem schaffe ich es zur Datsche und werfe Rechner, Geldbörse, Schlüssel und Telefon in den Rucksack, schnalle ihn mir vor den Bauch, den Vogelbauer auf den Rücken. Dann schließe ich mein Rennrad auf, ziehe die Klickschuhe an und fahre los. Einfach los. Achtzig Kilometer bis Berlin, denke ich. Bloß weg hier! Kurz überlege ich, zur Försterin zu fahren. Aber nein! Zu gefährlich! An der ersten Tankstelle decke ich mich mit Riegeln und Getränken ein. An einem Gemüsestand in Eberswalde bekomme ich eine Möhre und frisches Wasser für Stan. Ich bin wieder unter Menschen, denke ich. Ich, Robert. Ich, Arno. Beide. Aber noch bin ich nicht in Sicherheit! Weiter geht’s, weg nur von Bad Wutzenwalde, dem See und dem Labor unter ihm, weg aus meinem alten Leben, aus Arnos altem Leben. Mein Telefon werfe ich an einer Kreuzung auf einen Baustellen-LKW, um nicht geortet werden zu können. Ich fahre Umwege, Landstraße um Landstraße, bis in den Abend hinein, schlafe hinter einem Bushaltestellenhäuschen und wache durchfroren mit dem ersten Licht auf. Zu Miriam sollte ich gehen, fällt mir ein. „Nicht wahr, Stan“, sage ich, „zu Miriam, sie hat mir ihre Adresse gegeben.“ „Tüdelü“, macht der Vogel, und dann fahre ich und fahre, immer weiter Richtung Berlin, eine Geschichte im Kopf, die geschrieben sein will, die niemand mir glauben wird, natürlich nicht, die aber doch genau so und nicht anders geschehen ist.

So und nicht anders!

 

Epilog

Den Schreibtisch habe ich ohne mit der Wimper zu zucken ans Fenster gerückt. Gegenüber die Brandmauer. Niemand kann mich sehen. Ein Spatz, abenteuerlich an den groben Backsteinen hängend, fährt mit seinem Schnabel in eine Fuge, erwischt ein Insekt und vertilgt es. Fressen und gefressen werden. Ich bin in Miriams Wohnung. Sie liebt Stan. Mit mir spielt sie nur. Den Vogel aber liebt sie. Niemand weiß, dass ich hier bin, außer Miriam. Ich vertraue ihr keineswegs, auch wenn sie nicht das Geringste zu tun hat mit all dem Geschehen in Bad Wutzenwalde. Sie steht jetzt auf dem Balkon und raucht, das sehe ich, wenn ich mich umdrehe, durch den langen Flur hindurch. Sie ist nervös, sie geht zu einem Casting. Deshalb das kurze, aber hochgeschlossene blaue Kleid, die Strumpfhosen und die weißen Hackenschuhe. Sie schnippt die Zigarette gekonnt in den Hof, marschiert in den Flur, packt ihre Handtasche und verschwindet zur Tür hinaus. Weg ist sie. Ich schreibe meine Geschichte. Kurz darauf klingelt es an der Wohnungstür, als ich eben den letzten Punkt setze. Ich hole tief Luft, stehe auf, gehe zur Tür und sehe durch den Spion. Der Wachtmeister! Wie er leibt und lebt. Überrascht bin ich nicht. „Tüdüh, tüdüh“, kommt es aus der Küche. Ich öffne die Tür. „Herr Sosias“, grüßt der Wachtmeister jovial und legt die Hand an die Mütze. „Wachtmeister“, sage ich knapp und trete zur Seite. „Schöne Grüße sind auszurichten von der Bäckersfrau!“ – „Vielen Dank“, sage ich. Er tritt ein. „Einen Schlehengin, Herr Sosias, Herr Robert, Herr Arno?“ Wir gehen auf den Balkon. Mit den Gläsern in der Hand stehen wir voreinander. „Ich habe“, sage ich, „soeben meinen Bericht abgeschlossen. Er wird Scheerbart / Hologramm heißen.“ – „Gut“, sagt der Wachtmeister und nickt mir zu, „darauf einen Schlehengin!“

 

***

 

„Sie machen mir nichts mehr vor“, fauchte der Dichter.
„Sie machen mir nichts mehr nach“, zischte der Erfinder.
Mit roten Köpfen gingen sie auseinander.
Klabund: Die Zwei

*****

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Fußnoten:

[1] In Robert Walsers Roman Jakob von Gunten von 1909 heißt es ganz zu Beginn: „Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein. Ich werde als alter Mann junge, selbstbewußte, schlecht erzogene Grobiane bedienen müssen, oder ich werde betteln, oder ich werde zugrunde gehen.“

[2] Ernst Bloch prägte den Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dies sei, so schreibt er in einem Aufsatz, ein besonderes Kennzeichen der Moderne, denn auf der einen Seite gäbe es signifikanten Fortschritt, etwa im technischen Bereich, während auf der anderen Seite zugleich Modernitätsverweigerung und Rückwärtsgewandtheit zu konstatieren sei. Hermann Broch übrigens lässt in seinem Roman 1888 – Pasenow oder die Romantik (der erste Roman der Trilogie Die Schlafwandler, 1931/32) den Kaufmann Eduard v. Bertrand über eben diesen Umstand sinnieren: „Joachim [v. Pasenow] und Ruzena schienen ihm Wesen, die nur mit einem kleinen Stück ihres Seins in die Zeit, die sie lebten, in das Alter, das sie besaßen, hineinreichten und das größere Stück war irgendwo anders, vielleicht auf einem andern Stern oder in einer andern Zeit oder auch nur bloß in der Kindheit. Bertrand fiel es auf, daß überhaupt so viele Menschen verschiedener Zeitalter zugleich miteinander lebten, und sogar gleichaltrig waren: deshalb wohl ihrer aller Haltlosigkeit und die Schwierigkeit, sich miteinander rational zu verständigen; merkwürdig nur, daß es trotzdem so etwas wie eine menschliche Gemeinschaft und überzeitliche Verständigung gibt.“ Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Frankfurt am Main 1994 (st 2363). S.90.

[3] Leonard Cohen, Bird on the Wire: Like a bird on the wire / like a drunk in (some old) midnight choir / I have tried in my way to be free / like a worm on the hook / like a knight from some old-fashioned book / I have saved all my ribbons for thee // and if I have been unkind / I hope that you will just let it go by / and if I have been untrue / I hope you know it was never to you // like a baby, stillborn / like a beast with his horn / I have torn everyone who reached out for me / but I swear by this song / and by all that I have done wrong / I will make it all up to thee // I saw a beggar leaning on his wooden crutch / he said to me „you must not ask for so much“ / and the pretty woman leaning in her darkened door / she cried to me „hey, why not ask for more?“ // oh like a bird on the wire / like a drunk in a midnight choir / I have tried in my way to be free.

[4] Das Buch Eduard Rabans, das darf an dieser Stelle verraten werden, trägt den Titel: Nahtoderfahrung als literarisches Phänomen. Studien zu Edgar Allan Poe, Franz Werfel und Samuel Beckett.

[5] Das Nummerschild habe ich mir gemerkt, falls es jemanden interessiert. Es lautet: Y – 119 144.

[6] „Schreiben heißt, das Glück suchen. (…) Ich hatte es verloren, doch da ich die Geheimnisse der Wörter kannte, unterhielt ich zwischen ihm und mir das Band der Schrift.“ George Bataille: Der Kleine.

[7] Sie zeigt eine Fotografie von Arno Schmidt: Wolken über der Heide. Hinten aufgedruckt: „Kopfweiden am Creek, Säbelbüschel über den Wirrköpfen, harrten immer des Startdonners : es klaffte in der Luft !“

[8] Arno hat den Wachtmeister nie mit „Herr Wachtmeister“ angesprochen, sondern immer nur knapp und fast militärisch mit „Wachtmeister“, so dass ich schon glaubte, Punkte gut gemacht zu haben.

[9] Siehe dazu: Marcus Tullius Cicero: Pro Sex. Roscio Amerino / Für Sextus Roscius aus Ameria. Cicero stellt die Frage nach dem Wem nutzt es, wem zum Vorteil? in der besagten Verteidigungsrede für den des Mordes angeklagten Sextus Roscius und erreicht einen Freispruch.

[10] Die wohl ersten Roboter in der Literatur finden sich in Homers Ilias; 18. Gesang ab Zeile 369 (Dreifüße) und ab Zeile 417 (goldene Mägde). Es heißt dort (in der Übersetzung von Roland Hampe): Und zu Hephaistos’ Haus die silberfüßige Thetis / Kam, dem ewigen, strahlenden, sehr bei den Göttern berühmten / Erzenen, welches er selber gebaut mit hinkendem Fuße. / Schwitzend fand sie ihn dort um die Blasebälge herumgehen, / Eifrig am Werk, denn Dreifüße schuf er, zwanzig im ganzen, / Rings um die Wand sie zu stellen im wohlerbauten Gemache. / Goldene Räder befestigte jedem er unten am Boden, / daß sie von selber liefen hinein in die Götter Versammlung, / Um dann wieder nach Haus zu kehren, ein Wunder zu schauen. / Diese waren so weit vollendet, und nur noch die Ohren / Fehlten, die kunstvollen; diese bereitend schlug er die Bänder. (…) Humpelnd ging er zur Türe hinaus, und goldene Mägde / Stützten den Herrn von unten; sie glichen lebendigen Mädchen. / Denn sie haben Verstand im Innern und haben auch Stimme / Und auch die Kraft und lernten von ewigen Göttern die Werke.

[11] Befinde ich mich, um das doch mal zu erwähnen, alleine in der Datsche, so blase ich die Backen auf, murmele vor mich hin, spiele mit meinem Gemächt, gehe lachend rückwärts aufs Klo und so weiter. Doch sobald auch nur ein einziger Mensch auftaucht, benehme ich mich wie ein Idiot, also wie alle anderen. Meist aber schreibe ich unauffällig vor mich hin, doch anstatt einen Bericht für eine Kommission zu verfassen, Sie wissen schon, für die Affen den Affen machen, wähle ich die Romanform, die doch niemand überhaupt mehr ernst zu nehmen in der Lage oder bereit ist. Schon ein Franz Kafka dürfte mit seiner Erzählung Ein Bericht für eine Akademie nichts anderes im Sinn gehabt haben, als dem Bildungsbürger den eigenen Affen durch Augen und Ohren unbemerkt in den Schädel zurückzuverpflanzen. Ich schreibe also, siehe oben, einen Text, den ich als Autor sicherlich nur mit Gewalt werde durchsetzen können gegen Menschen, die von Literatur nicht die geringste Ahnung haben. Und eben diese Ahnungslosigkeit führt, um dies kurz mal anzusprechen, leider ganz offensichtlich dazu, dass in großer Zahl als Roman verkleidete Memoiren, als Roman verkleidete Bekenntnisse zu einer Lebensweise, einer Sport- oder sexuellen Spielart und als Roman verkleidete Berichte über Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, berühmte Forscher, erlittene Krankheiten oder das Älterwerden auf den Markt geraten. Alles nach Schema F und leichtverständlich, kurz gesagt Texte für die perfekt konditionierte, in Unmündigkeit gehaltene klein-, mittel, und großbürgerliche Leserschaft. Will ein Autor (m, w, d) einen von dieser Linie abweichenden Text veröffentlichen, so tauchen bis zu den Zähnen bewaffnete Verlags-Programmleiter auf, die Texte, die nicht flott und fernsehgerecht verfilmbar sind, schon gar nicht mehr in Erwägung ziehen und die nach der täglich auf ihrer Arbeitsstelle (Danke!) verrichteten Arbeit mit ihren SUVs durch die Gegend brettern und wo sie nur können Fußgänger und Zweiradfahrer erschrecken, gefährden und überfahren. So weit die Realität. (Doch ich schreibe mich ja um Kopf und Kragen! Und noch dazu in einer Fußnote!)

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Unterseelabor_Bad Wutzenwalde.

 

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