Entweder – Oder oder der klare Fall einer Kontradiktion

Einer der kürzesten Beiträge auf dieser meiner Website ist der mit der bezeichnenden Überschrift Warum ich keinen Text über den Kapitalismus als Ideologie schreibe? Weil mir keine Sau etwas dafür bezahlt! (Norbert W. Schlinkert: Die Hoffnung stirbt immer am schönsten. Arbeitsjournal. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. ISBN: 978-3-8498-1841-8. Seite 56.) Und dies, wie Sie leicht selbst herausfinden können, weil die Überschrift so vollständig in sich sinnvoll erschöpft ist, dass ein dazugehöriger Text sich vollkommen erübrigt. Und in Erübrigungen lässt sich nunmal, das ist allgemein bekannt, nichts und niemand unterbringen. Es handelt sich beim Nichtvorhandenen somit um eine Leerstelle, anstelle der kein Umstand eintreten kann, da dieser umstandshalber gegenständlich oder bestimmbar sein muss jenseits von Leer, Nichts, Keineswegs, Keinesfalls und so weiter. Hätte ich also unter dieser Überschrift einen Text platziert, wäre als einer ausgleichenden Gerechtigkeit die Überschrift falsch und damit nichtig gewesen, klarer Fall eines Entweder – Oder oder einer Kontradiktion, wie sie schöner nicht sein könnte.

So, nun aber Schluss mit dem Unsinn.

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Fensterwetter / Fensternis

Norbert W. Schlinkert

Fensterwetter / Fensternis

Eine Art Märchen

Vor dem einen Fenster scheint die Sonne, vor dem anderen Fenster regnet es. Beides findet draußen statt. Das eine Fenster ist auf der Horizontalen zwei Meter vom anderen Fenster entfernt, und zwar in der selben nach Westen hin gelegenen Hauswand, hinter der sich meine Wohnung befindet, die auf der anderen Seite mit der nach Osten gelegenen Hauswand, die ebenfalls ein Fenster hat, begrenzt ist. Schnell schließe ich die Augen, ertaste die Türklinke der Wohnzimmertür und ziehe sie zu. Klack macht es. Ein drittes Wetter würde ich nicht ertragen. Man muss ja schließlich auf seine mentale Gesundheit achten, denke ich und wende mich wieder den beiden Fenstern zu. Das eine befindet sich im kleinen Zimmer, dort ist meine Bibliothek untergebracht, das andere, das genau genommen eine Balkontür ist, spendet der Küche Licht. Wenn auch im Augenblick trübes, denn es regnet ja, während das kleine Zimmer von Sonnenstrahlen geradezu geflutet ist. Träte ich nun aus dem Flur in die Küche und dann auf den Balkon, müsste ich also entweder eine scharfe Wetterscheide sehen oder einen unscharfen Übergang. Letzteres wäre, so wird mir plötzlich klar, aber dann doch ein drittes Wetter, von dem so oft die Rede ist in den alten Geschichten, die ich als Kind vollständig glaubte, bis mir in den Jahren der durchlittenen Pubertät im Kopf nach und nach graue Zweifel wuchsen. Ich stürze also ins Wohnzimmer, und tatsächlich erkenne ich sonniges Regenwetter, nicht das eine, nicht das andere, sondern beides, da draußen, worauf ich das Fenster aufreiße und mich ohne zu zögern ins Wetter werfe, um ein wenig hinauszuschwimmen. Die Gunst der Stunde, so denke ich, muss genutzt werden – die Mythen lügen schließlich nicht – ganz gleich, an welche Strände es mich nun wirft. Ja, so muss ich wohl gedacht haben, während ich bereits von der Hoftanne von einem Ast zum anderen sanft zu Boden gebracht werde. Wie hingepurzelt liege ich auf den Pflastersteinen. Mmh, denke ich, doch bevor ich mich überhaupt auch nur rühren, geschweige denn aufstehen kann, fährt mir plötzlich ein Kind mit seinem Bobby-Car voll in den Bauch. Aua, sage ich. Das Kind lacht. Ich stehe schnell auf und blicke auf das Kind hinunter und zu meiner Wohnung im vierten Stock hinauf. Weißt du, sage ich zu dem Kind, ich habe das dritte Wetter ausnutzen wollen, um ein wenig hinauszuschwimmen, aber nun kann ich mich an das Schwimmen gar nicht mehr erinnern. Stattdessen erinnere ich mich nur daran, der Tanne den Buckel hinuntergerutscht zu sein. Da lacht das Kind, wird dann aber ernst und sagt, das dritte Wetter reicht nicht, es muss auch noch der Vollmond scheinen und die Fledermäuse müssen fliegen, und du kannst von Glück sagen, dass die alte Tanne dich aufgefangen hat. Nicht wahr, alte Tanne, sagt das Kind, dreht sich dann aber mitsamt seinem Bobby-Car so schnell um und pest derartig fix davon, dass ich nichts mehr erwidern kann und allein im Hof stehe mit meinem Satz über altkluge Kinder, die der Teufel holen soll. Ich sehe mich um, die Tanne steht still, als sei nichts gewesen, niemand zu sehen, während sich die Dunkelheit langsam über dem Hof ausbreitet und hier und da einen Stern sehen lässt. Keine Sonne, kein Regen, keine einzige Fledermaus. Nur der Mond, und der wirft mir, als gäbe es kein Morgen, sein Alabasterlicht ins Gesicht, und so sehen wir uns eine Weile bleich an, bis der alte Knabe schließlich über die Brandmauer gleitet und verschwunden ist. Ich aber klettere, bevor die beginnende Morgendämmerung uns alle ereilt, flugs die Hauswand hoch in meine Wohnung. Vor allen Fenstern, das sehe ich sofort, ist das Wetter genau gleich, so als wäre es nie und niemals anders gewesen und als müsse es immer so sein, der Sonne, dem Mond, den Sternen und auch all den Fledermäusen zum Trotz. Regen wäre schön.

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Mit Weniger Weniger machen

Über 800 Blog-Einträge in meinen Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! bis dato, viele davon in einem bestimmten Stil, einem bestimmten Sound, von eigen-artiger Machart. Wie viele ich bei einer Blindverkostung als meine eigenen erkennen würde, sei aber mal dahingestellt. Mit der Veröffentlichung von Die Hoffnung stirbt immer am schönsten (Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022) ist immerhin ein reeler und haptischer Beleg dieser langjährigen Arbeit der Welt vorgelegt worden, und wer möchte, kann ja zusätzlich nach wie vor im Netz in meinem Blog schmökern wie er und sie will und all das Viele entdecken, was nicht im Buche steht. Mir aber schwebt seit einer Weile vage etwas Anderes vor, etwas Neues, wobei der Begriff Schweben die Sachlage recht gut beschreibt, denn zwar bin ich mir sicher, dass ich nach wie vor mit Worten, dem Wort, arbeiten will, aber das ist dann auch schon alles. Von was ich mich leiten lassen soll und werde – ich weiß es nicht. Üppig, umfangreich oder weitschweifig soll es aber nicht werden, denke ich, denn von allzuviel Gequatsche und Gelaber und Podcasting ist die Welt ja nun wirklich übervoll. Mit Weniger Weniger machen, das wäre es!

Und wenn das hier Angesprochene, was durchaus möglich ist, nichts, aber auch gar nichts werden und keinerlei Ergebnis zeitigen sollte – ja dann betrachten Sie diesen Text hier doch bitte als voll und ganz gegenstandslos und absolut nicht der Rede wert.

Norbert W. Schlinkert – Poesie (1996 / 2024)

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Kopfsachen, Wundränder und Tagebuchartiges

Mein fortlaufend weitergeführter Text Wundrand oder: Eine Kopfsache muss die Leser wohl in einige Verwirrung stoßen, denn glaubten da manche, man könne aus einem tagebuchartigen Text immer Schlüsse ziehen oder etwas lernen über den Verfasser, so haben diese sich in diesem Falle getäuscht und täuschen sich noch immer. Ein gewisser Frisch hatte, fällt mir grad ein, einmal die Idee, die Öffentlichkeit als Partner für derartige Texte aufzurufen, worauf er sich, so sagen manche, vom Erlös dieser Idee einen Jaguar kaufte, er also fortan mit einem Auto in der Öffentlichkeit herumfuhr, das von eben dieser bezahlt worden war. Chapeau, mein lieber Max! Muss man erstmal hinbekommen. Mein Text hingegen sucht keine Partner, wird keine Fahrzeuge bezahlen und bleibt fortlaufend, ich möchte fast sagen: schrundig, bleibt zudem unverkäuflich, lässt Homogenität vermissen und sich letztlich nicht einmal dem Tagebuchartigen, schließlich fehlen Orts- und Datumsanzeigen, hinzurechnen. Er kommt aus dem Nichts und wird wieder im Nichts vergehen. C’est la vie.

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Das nebenbei Erstellte als Eigentliches? Na hoffentlich nicht!

Kürzlich sagte Daniel Ketteler, Schriftsteller und Arzt, bezüglich des Sujets der literarischen Nebenproduktionen – Notizen, Tagebucheintragungen, Glossen, Briefe etc. –, dies seien doch oft die interessantesten Teile eines Werkes. Nun ja, ich weiß nicht so recht, ob ich da zustimmen sollte, aber da ich im Moment genau damit beschäftigt bin, nämlich mit dem fortlaufenden Erstellen des zweckfreien Textes Wundrand oder: Eine Kopfsache, will ich mal nicht so sein und die These zumindest nicht völlig verwerfen. Wer weiß denn auch, was in ein paar Jahrzehnten aus welchen Gründen auch immer an die Oberfläche gehoben wird. Womöglich gilt ein Nebenprokukt in einem bestimmten Kontext dann tatsächlich als eine Entdeckung, vielleicht sogar als eine literarische. Haben hat man in gelebter Gegenwart natürlich nix davon, aber abhalten von der Produktion unverwertbarer Texte will man sich ja nun mal auch nicht lassen. Das dazu!

Norbert W. Schlinkert. Licht, aufgehend

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Donald Trump und die Folgen – mein Artikel von 2016 reloaded

Artikel in der freitag, 25.11.2016

Donald Trump und die Folgen

Die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika und hierzulande steht vor einer entscheidenden Bewährungsprobe, denn gewählt werden können auch deren Feinde.

Von

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Das Haus / Die Straße

Norbert W. Schlinkert

Das Haus / Die Straße

Eine Erzählung

Heft III

Übertragung des Manuskripts in ein Typoskript

© 2025 Alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus beim Autor

[1] Kann man sich selbst zuhören, frage ich mich, und ist diese Frage bereits die Antwort auf die Frage? Schwierig. Ich stehe auf, beschreibe einen Kreis im Raum und bin bereits im Begriff zur Tür hinauszugehen, die Treppe hinab, um entweder im sommerlichen Garten zu landen oder auf der staubigen Landstraße. Etwas jedoch hält mich zurück. Muss ich das eben Angedachte noch einmal durchdenken, bevor ich in den Garten gehe oder zur Landstraße hinaus, das frage ich mich, denn ich kann ja alle Fragen, die mich und die Welt betreffen, ebenso gut wie [2] hier in diesem Zimmer auch draußen im Garten, auf der Landstraße gehend oder an anderen Orten überdenken. Wer weiß, sage ich, womöglich ist das Zimmer, der Raum, in dem ich lebe, der schlechteste Ort, Dinge zu überdenken. Oder der beste. Oder es ist gleich, wo ich mir selbst zuhöre, um die mir wichtigen Fragen zu stellen, zu erörtern, zu beantworten, denn bei mir und mit mir bin ich schließlich immer. Ich lege die Hand auf die Türklinke und ziehe die Tür auf. Jetzt, sage ich. Beantworte dir deine Fragen an der frischen Luft, sage ich, das wird dir gut tun. Ja.

*

Ein Wissenskorsett anzulegen ist mir nicht möglich, da all mein Wissen zu wild erworben worden ist und in kein Muster passt. Selfmade-Wissen müsste man es nennen, denke ich, während ich den Garten in meinem Rücken atmen höre, dennoch aber auf die staubige Straße trete, deren Baumreihen in beide Richtungen [3] beidseitig zu einem Punkt in der Ferne zusammenlaufen. Noch gut vorstellbar, wie die Gastwirtschaft in diesem Haus vor fünfzig, sechzig Jahren florierte. Die Lastwagen standen sicher in langen Reihen sauber positioniert unter den noch jungen Bäumen, während die Fahrer im Gastraum saßen und ihren Eintopf löffelten, ihr Bier tranken, zwei vielleicht, bevor es weiterging. Zigaretten im Staub, zerdrückt, zertreten. Der Garten der Gastwirtschaft, so wurde mir gesagt, sei ein reiner Nutzgarten gewesen, während er heute ein reiner Ziergarten ist. Ziergarten, denke ich und drehe mich um, die Zierde des Hauses, der ehemaligen Gaststätte, nunmehr meines Hauses, das ich allein bewohnen werde müssen, wie es aussieht. Das halb verrottete Emailleschild über dem Eingang bleibt. Der [4] Gast bin ich. Noch. Ob aber weitere Gäste kommen, entscheidet die Landstraße. Ich drehe mich um, der Garten erwartet mich, er will bearbeitet werden, mit Hacke und Spaten, Sense und Axt. Ich bin bereit. Der Geruch der Brennnesseln liegt schwer in der Luft. Ich werde eine Schneise schlagen müssen. Bis zu den Pflaumenbäumen. In der Senke werde ich nicht sensen, auch die Taubnesseln, die hier und da ihren Raum füllen, bleiben. Ich habe kaum Reste des Ziergartens finden können, vom Nutzgarten einige Beeteinfassungen aus Backstein oder großen Kieseln. Beides wuchs aus sich heraus zur Wildnis. Bewohnt aber war das Haus. Behaust gewissermaßen. Gegenstände oder Kleider, Schuhe, was auch immer ein Mensch im Leben hat und gebraucht, finden sich nicht. Dort jedoch, wo die Schuhe an- und ausgezogen wurden, an diesen Stellen sind Spuren eines Tuns, eines Lebens. Im Flur. Dort findet sich auf den ochsenblut[5]roten Dielen eine mattglänzende Stelle gegenüber der Küchentür, kaum mehr als als untertassengroß, und ich nehme an, hier wohl müssen alle Bewohner mit dem bestrumpften, wohl linken Fuß einbeinig gestanden haben, während sie sich den rechten Schuh vom Fuß zogen, um ihn dann achtlos fallen zu lassen. So stelle ich es mir wenigstens vor angesichts der Indizien, stellte es sogar sogleich nach, kaum dass ich diesen Eindruck gewonnen hatte, und siehe da, ich stehe mit dem linken, bestrumpften Fuß exakt auf der mattglänzenden Stelle des ochsenblutfarbenen Dielenbodens, nachdem ich mir zuerst den linken Schuh auszog, in die Knie gehend, mich bückend, um dann in einer sich natürlich ergebenden Standhaltung mich an das Ausziehen des rechten Schuhs zu machen. Womöglich tat das ein jeder Bewohner und ein jeder Gast auf genau diese Weise, obgleich es andere, ebenso natürliche Möglichkeiten gibt, etwa knieend beide Schuhbänder zu lösen, sich auf die Treppe zu setzen, die Schuhe (oder auch Stiefel) bereits vor der Haustür auszuziehen und so weiter. Doch die mattglänzende Stelle auf den ochsenblutroten [6] Dielen spricht eine andere Sprache. Die Schuhe wollen so und nicht anders ausgezogen werden, ich halte mich daran. So werde ich in immer höherem Maße Bewohner des Hauses sein, so hoffe ich, und dementsprechend immer weniger Gast.

*

Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht, ob ich nach irgendwohin zurückkann, zurückkönnte, und ich habe auch kein ahnungsvolles Gefühl, ob ich die staubige Allee nach links oder rechts hin begehen müsste, um einen Ort zu erreichen. Wohin führt diese Straße, frage ich mich, links ist Westen, rechts ist Osten, doch die eigentliche Antwort ist: zu diesem Haus hier führt die Straße. Mir ist, als sei ich sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten gekommen, und dies nicht im metaphorischen Sinne, sondern ganz real – zumindest in meiner Vorstellung der Realität. Tatsache [7] ist, sage ich, die hochstehende Sonne im Rücken, dass ich nun das Haus zu bewohnen und den Garten zu gestalten habe, oder umgekehrt, denn der Garten benötigt nur ein lichtendes Moment und später eine Art behutsamer Pflege, während das Haus von sich aus nichts selber machen kann, sondern gestaltet werden muss. Am Tag meiner Ankunft drehte ich zunächst einmal alle Wasserhähne auf, in der Küche, dem kleinen Badezimmer im ersten Stock, der Toilette am Ende des Flurs und in der Werkstatt im Anbau links vom Garten. Minutenlang rann rostiges Wasser aus den Hähnen. Auch lief ich durch alle Zimmer und schaltete das Licht an, trübe Deckenlampen, Wandlampen und zwei Nachttischlampen im Schlafzimmer. Nur in den Keller traute ich mich nicht. In der Küche dann, auf einem sonst leeren Bord, fand ich ein altes Transistorradio. Es funktionierte und spielte mir einen Marsch. Ich nahm das Radio [8] zur Hand und lief durch alle Räume, die Steckdosen zu prüfen. Sie funktionierten, auch in der Werkstatt. Dann war der Marsch zuende und ich stellte das Radio wieder auf das Bord zurück. Fehlte nur noch der Keller. Als Kind hatte ich Angst vor den Kellern, Ehrfurcht aber vor den Dachböden. Auch dieses Haus, das ich nun durchschreite zum Garten hin, hat ein Spitzdach und damit einen Dachstuhl, einen Dachboden. Eine schmale Stiege führt hinauf zu einer Bodenklappe, zweigeteilt, mit beiden Händen aufzustoßen. Morgen werde ich hinaufgehen. Oder sollte ich mich zunächst in den Keller trauen, um dann, als Belohnung, den Dachboden inspizieren zu dürfen? Ich nehme die drei Stufen zum Garten mit Schwung, ich fliege sie geradezu hinunter, stolpere und falle, liege mit Schmerzen am Boden und erinnere mich des Anfangs: es war mir angeboten worden, mich zu bringen, ich jedoch ging zu Fuß, [9] ging lange, bis unversehens das Haus auftauchte, linker oder rechter Hand, ich weiß es nicht mehr. Das Haus unterbricht die Allee, beschädigt sie gewissermaßen, eine lehmverputzte zweistöckig gebaute Raststätte mit einem von einem Sandsteinmäuerchen umrandeten ungepflasterten Parkplatz, ein Ort, so denke ich jetzt, aufstehend und mir die Knie reibend, der bessere Tage gesehen hat. Drinnen im Haus klingelt ein Telefon. Ich hatte kein Telefon bemerkt. Ich springe die drei Stufen fliegend hinauf, stürze nicht und renne wie angestochen im Haus umher, das Klingeln zu verorten. Es ist überall, schrill und überlaut, ein Telefonapparat aber ist nirgends. Dann verstummt es und ich bemerke in jedem [10] der Räume einen kleinen, nussbraunfarbenen Lautsprecher in einer der oberen Zimmerecken.

*

An der Kellertür steht KELLER, in Großbuchstaben. Oder doch zuerst den Dachboden erkunden? So frage ich mich. Ein Plan des Hauses und des Geländes, eine Draufsicht, müsse, so sagte man mir, irgendwo vorhanden sein, vier mit einer großen Büroklammer zusammengehaltene Blätter, fast quadratisch, die Übersichtszeichnung eines Bauzeichners mit freihändigen Ergänzungen. Einige Stellen seien eingekreist, eingekringelt. Warum wisse man nicht. Ich habe die alten Schränke durchforstet, kein Plan. Ich werde selber eine Skizze verfertigen müssen. Ich gehe in den Garten. Im Staub ist deutlich zu sehen, dass da jemand gelegen haben muss: Ich. Ich tue einen großen Schritt, stehe da und stemme die Fäuste in die Seiten. Der Garten ist die [11] reinste Wildnis, die Obstbäume stehen in einem Meer von Brennnesseln. Werkzeug sei da, wurde mir gesagt, für Garten und Haus.

*

Ich entnehme einer der beiden Reisetaschen mein Bettzeug. Es ist mein erster Tag hier im Haus, ich erinnere mich. Kaum nämlich hatte ich das Haus mit den Taschen links und rechts betreten, ging ein kurzer Schauer nieder, worauf ein Regenbogen den Garten umspannte. Ein zweiter, blasserer Bogen über dem ersten, inneren. Ich nahm es als einen Willkommensgruß. Schwerer Geruch von Brennnesseln. Ich gehe hinaus in den Garten und atme tief. [12] Als ich wieder hineingehe steht plötzlich ein großer Indianer in der Tür des Schankraums und nickt mir trocken zu. Bitte? sage ich unfreundlich, worauf er sagt, die Tür stand offen. Dann klingelt das Telefon und der Indianer geht weg. Als es zu klingeln aufhört wird mir klar, dass er den Hörer des  Telefons abgenommen haben muss. Was sonst!

*

Ich glaube, dass der Indianer entweder [13] auf dem Dachboden wohnt oder im Keller und er also damals gelogen hat als er sagte, die Tür habe offengestanden, so als sei er von draußen hereingekommen. Eine Lüge also, selbst wenn die Tür wirklich offenstand. Spontan entscheide ich jetzt, auf den Dachboden zu gehen, zu klettern, und natürlich kann ich mir allzu leicht vorstellen, ihn mitten im Raum hocken zu sehen, aber das reicht nicht, in echt muss ich ihn sehen. Und was, wenn er tatsächlich dort sitzt, was dann tun? Ihm erklären, ich hätte das Haus samt Grundstück gemietet, um hier ungestört leben zu können? Oder ihn zunächst einmal fragen, wer er sei und ob er überhaupt Indianer ist? Und fragt er mich, wer ich sei, was sagen? Was sagen? Bin ich der Indianer?

*

Auf dem Dachboden ein Holzverschlag neben dem anderen. Hallo, rufe ich. In den Verschlägen allerlei Krempel, Nachttischschränkchen, Lampen, Leuchten, Hocker, Emailleschüsseln, stumme Diener, aufgerollte Teppiche, Anrichten und Hängeschränke, Wärmeflaschen [14] aus Zink oder Gummi, Kinderspielzeug aus Blech. Vom Indianer keine Spur. Im durch das kleine Dachfenster hereinbrechenden Licht kleine tanzende Staubflöckchen, ein Flöckchenball zur Feier meines Besuchs. Ich öffne einen Verschlag nach dem anderen und nehme die Dinge in die Hand, mit einiger Ehrfurcht, wie mir selber scheint. Im vorletzten Verschlag links ein Karnevalskostüm für Kinder, Häuptlingsschmuck, Aha rufe ich, zwei Cowboyhüte, ein Revolvergurt ohne Revolver, eine braune Kunstlederjacke mit Fransen an den Ärmeln. Ich sehe die Kinder durchs Haus tollen, die Erwachsenen aber ihre übliche Arbeit verrichten. Sie haben alberne Hütchen auf dem Kopf, schließlich ist Karneval, tragen aber eine Leichenbittermiene zur Schau. Auch die Gäste, ich sehe mit einem Male Gäste im Haus, Reisende, gucken verdrießlich aus der Wäsche. Nur manchmal, wenn Kinder durch den Schankraum laufen, quälen sie sich ein Lächeln ab. Die Arbeit wartet, für Albernheiten ist keine [15] Zeit. Kind müsste man sein!

*

Ich gehe durch den Garten. Ich schreite alles [16] ab. Die Obstbäume müssen beschnitten werden, die Brennnesseln, die noch immer ihren schweren Duft über alles legen, müssen aus den Beeten entfernt werden. Hinter dem Teich dürfen sie bleiben, bei den Robinien. Platz für ein Tipi, denke ich unwillkürlich, wäre ja. Doch ich darf mich nicht auf den Indianer fixieren! Sah er denn nicht genau so aus wie die Indianerfigur, die ich als kleiner Junge mit mir herumtrug und später ins Bücherregal stellte? Denkbar, eine Posse meines Hirns, das sich ob meines eigenen Erstaunens in seiner hintersten Kammer kaputtgelacht hat. Und natürlich sitzt der Indianer Pfeife rauchend eben dort und lacht sich einen Ast. Und da Rauchen und Lachen zusammen nicht gut funktioniert, muss er husten, hustend lacht er, er hört gar nicht wieder auf damit, und ich habe Kopfschmerzen deswegen. Platz für ein Tipi draußen im Garten wäre aber auf jeden Fall. Indianer! Hörst Du mich? [17]

*

Als ich erwache, weil jemand unten gegen die Haustüre pocht, ist mein Kopf leer und die Erinnerung an den Indianer muss sich wohl in dem Notizbuch, in Heft III, befinden, das auf dem Küchentisch liegt. Ich werde später mal nachsehen. Jetzt aber werfe ich mich erstmal schnell in meine Kleider. Wer das wohl sein mag, der da so knöchern an meine Tür pocht? Laut lachend nehme ich die Treppe wie im Fluge. Wer das wohl sein mag!

***

© und alle denkbaren Rechte weltweit und darüber hinaus bei Norbert W. Schlinkert 2025

 

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Bar jedes Gedankens – Miniaturen

Bar jedes Gedankens

Miniaturen

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Es begann damit

dass der Eichelhäher sich aus der Schar auf meinem Balkon einen Spatz krallte. Oder sollte es noch früher begonnen haben? Die anderen Spatzen flohen, ihr Leben zu retten. Der im Todeskampf zappelnde Spatz hängt an den Krallen des Eichelhähers. Er sitzt auf dem Schneegitter am unteren Rand des Daches gegenüber. Der Spatz stirbt. Blicke des Jägers. Kalt und dunkel. Wie denn blicke ich? Menschlich etwa? Ich gehe hinein und schließe leise die Balkontür. Am nächsten Tag mehr Spatzen als je im Hof. Im Seitenflügel schräg gegenüber auf dem Balkon im dritten Stock die Futterstation, Spatzen über Spatzen. Ich offeriere Wasser zum Trinken und zum Baden im vierten. Spatzen über Spatzen. Eine Demonstration. Ich stehe regungslos hinter der geschlossenen Balkontüre. Die Tonschale ist wie belagert. Viele wollen trinken, ein Spatz will baden. Ein Kampf entbrennt. Bald schon ist die Tonschale leer. Ich trete auf den Balkon hinaus und fülle nach. Kein Eichelhäher weit und breit. Aber auch keine Spatzen, nicht hier, nicht da. Wo sind sie denn hin, frage ich.  

Es setzt sich fort

durch die Ankunft einer Jungtaube. Eine Jungtaube ist wie ein Mensch der pubertiert, ist unbeholfen, tapsig und unentschlossen. Während die Elterntaube panisch davonschießt bleibt die Jungtaube, betrete ich den Balkon, stur in der Ecke auf dem kopfförmigen Sandstein hocken und glotzt mich an. Ich glotze zurück. Nichts geschieht. Ich wünschte, wir hätten eine gemeinsame Sprache. Sicher wünscht auch die Jungtaube eben dies. So bleiben wir stumm. Immerhin neugierig sind wir. Als ich zehn Minuten später den Balkon erneut betrete, ist die Jungtaube fort. Ich werde nachzudenken haben, so sage ich mir und gehe hinein.

Kaum aber dass ich

dem Weltgeschehen den Rücken kehre, ich mich in meine Räumlichkeiten zurückbegebe, die Küche durchschreite und den Wohnraum betrete, wo ich mich in den Sessel fallen lasse, geschieht das Folgende, nämlich dass es knöchern klopft an meiner Türe, zwei, drei Mal mit Dringlichkeit, worauf ich sogleich nach meinem auf der Truhe liegenden Gesicht taste, es aufsetze und zurechtrücke. Ja doch, rufe ich ungehalten. Wer nur kann das sein? Herein! Die Tür geht auf, und wie überrascht ich bin, als mein zweites Ich eintritt, auf mich zuschreitet und mir ohne zu zögern das Gesicht entreißt, es sich auf den Schädel legt, es zerrend, ziehend und zupfend zurechtrückt, um dann, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, die Tür hinter sich zuwerfend, zu verschwinden. Kopfschüttelnd bleibe ich zurück, stehe auf, greife mir mein zweites Gesicht aus dem Regal, staube es ab, lege es auf, ziehe und zerre und rücke und drücke, und siehe da, es passt. Ein Glück! Noch einmal passieren darf mir das aber nicht, denke ich und betrachte mich nachdenklich im Spiegel.  

Wenn ich mich

in eine Bar wünschte, in der ich unbemerkt am Tresen sitzen kann, eine Bar, in der kein Misstrauen, keine Neugierde entsteht, auch kein Unbehagen, so bleibt dieser Wunsch doch Wunsch. Unsichtbar ist niemand. Abgesehen vielleicht von demjenigen, den ich in der Tat nicht sehen kann. Ich nicke dem leeren Platz neben mir zu, in der Leere entsteht eine Unruhe, scheint mir, aber das ist auch schon alles. Draußen geht der Regen und benässt die Welt. Doch wer weiß, denke ich, ob der Unsichtbare neben mir mich denn überhaupt sehen kann, ob nicht auch ich ihm unsichtbar bin. Hat auch er mir zugenickt und einen Hauch von Unruhe gespürt? Doch nur die Toten, denke ich, trinken nicht, sitzen sie in einer Bar am Tresen, und reden tun sie auch nicht, nicht einmal miteinander.

Stehen die Toten

denn nicht im Pakt mit der Leere? Der Tod mithin, so denke ich, ist keine persönliche Erfahrung. Keine Angelegenheit. Und da, wo du doch hättest sein können, lebtest du, ist fortan Luft, ein Mensch, ein Tier, ein Hauch, ein Wehen. Die Welt ist dein gewesen, der Tod jedoch ein Nichts für dich. So denke ich. Da aber setzt ein Mensch sich in die Leere und nimmt des Unsichtbaren Platz. Ich schlucke schwer und gehe in die Nacht hinaus. Und sitzt im Rückblick nicht schon längst wer anders dort, wo ich noch eben saß, und lacht und redet, trinkt? Zwei Menschen, Körper, Leiber. Ich aber treibe durch die Häuser.

Durch mich hindurch

zu blicken gelingt nur allzu gut. Verwundert stell ich’s fest, selbst wenn ein feister fester Mensch mir noch immer auszuweichen hat, stell ich nur auf stur und weiche nicht. Ich sehe euch. In Gruppen, gehend die Köpfe ineinander. Nordwärts treibt es mich, den Mantelkragen hochgeklappt, immer nordwärts, wo feiner Nieselregen im gelben Laternenschein sich niederlässt. Straßen, Häuser, ein lichtes Fenster, fremde Wand in einem fremden Zimmer. Weiter geht’s durch all der Baumskelette Reihen. Ein Hund mit Leuchthalsband kreuzt mir den Weg, kurz darauf Kapuze, Zigarettenglut, ein Ruf, ein Pfiff und all die Schemen und die Schatten und Gestalten hinter den beschlagenen Scheiben einer Straßenbahn nach Werweißwohin.

Vor langer Zeit

da war ich noch sehr jung, zog ich einen großen gelben Hund, in die Strömung geraten, aus einem sommerlichen Fluss. Ich stieg hinein und und brachte ihn ans Ufer. Er schüttelte sich, dass es nur so spritzte, und trottete davon. Kein Blick, kein Dank. Meine Freundin auf dem Badetuch sagte nichts zu meiner Tat, und so erzählte ich niemandem davon, oder wenn ich es doch einmal versuchte, ging es den Menschen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen Ohr wieder heraus, ohne mit dem Gehirn in Berührung gekommen zu sein. So bin ich der einzige Mensch, der davon weiß. Eines Tages aber wird diese Geschichte meinen Mund verlassen und mir selbst in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus geraten, ohne mein Gehirn zu berühren. Dann wird sie vergessen sein.

Es herrscht

eine Undurchsichtigkeit. Schlieren sind im Kopf und klare Worte  unbekannte Wesen. Es sei denn, ein Streit bricht aus, dann zischen die klaren, bösen Worte aus schmalen Lippen und schlagen Male, die nicht verheilen werden und nicht verheilen wollen. Denn auch scharfe Schneiden hinterlassen schwärende Wunden. Mach mal die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört, so sagte man mir. So tat ich und entdeckte eine Welt. Ich hatte das große Los gezogen, wusste aber nichts davon. Niemand sagte es mir. Bin ich denn nicht ohne Land landlos, so fragte ich mich stattdessen, ohne Arbeit arbeitslos, ohne Zweck zwecklos, ohne Sinn sinnlos? In dieser Weise erschien mir meine Welt, die mein Los war. Wie lange nur war ich tumb und hatte Schlieren im Kopf?

Nach wie vor

scheint mir, ich weiß von innen nicht, wer ich von außen bin. Du musst der Soundso sein, wird gesagt. Ja, sage ich, ich muss bereits mein Leben lang der Soundso sei. Oder ich sage: muss ich wohl – oder übel, füge ich nach einer genau kalkulierten Pause hinzu. So gelte ich in jeder kleinen Runde als Philosoph der Allgemeinplätze. Als Aufsager abgestandener Witze. Als der witzlosen Zeitgenossenschaft schwer verdächtig. Als Gimpel, Einfaltspinsel, trübe Tasse. Witzlos auch zu erklären, dass es die Wiederholung des Immergleichen zu sein scheint, die das Leben würzt. So stehe ich stets neben mir als der mir am nächsten stehende Fremde unter all den Fremden um mich her. Doch was heißt denn schon um mich her, denke ich. Ist das Leben denn ein Kreis und ich die Mitte?

© und alle Rechte bei Norbert W. Schlinkert 2025
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Fünfzehn Jahre und ein weiterer wirrer Versuch, die Welt zu entwirren

Nun schreibe ich ja seit schon mehr als 15 Jahren, von September 2009 an, einen Teil meiner Texte per eigenem Blog, eigener Website, in die Welt hinaus. Während zu viele Zeitgenossen es sich zu einfach machen, indem sie in den sogenannten sozialen Medien schreiben und kommunizieren, bediene ich ein nun schon fast altmodisches Instrument. Die Zeiten, in denen die literarischen Blogs tatsächlich Ort waren für allerhand Diskurse, sind dementsprechend vorbei. Dem Zuckerberg auf den Leim gegangen – so könnte man das Phänomen kurz benennen. Bluesky, die noch recht neue Social-Media-Plattform, scheint immerhin eine neue Möglichkeit zu sein, zumindest innerhalb der eigenen Blase zu kommunizieren, ohne dabei einen Kniefall vor rechten und faschistischen Milliardären zu vollziehen, während die andere Seite in ihrer eigenen Blase, x, zunehmend ihr Unwesen treibt und Hass und Gewalt propagiert. Interessant, wie spät es letztlich den Rechten und den Faschisten eingefallen ist, einfach alle Regeln, allen Anstand, alle Bereitschaft zum Diskurs über den Haufen zu rennen, nachdem das ja vor hundert Jahren aus deren Sicht schon einmal gut geklappt hat. Am 20. Januar 2025, übermorgen, sind wir diesbezüglich womöglich dann wieder mal ein bisschen schlauer, wenn nämlich die Inauguration des neuen US-Präsidenten stattgefunden haben wird. Man muss kein Prophet sein, wenn man befürchtet, dass eben dieser Präsident in drei Jahren das Kriegsrecht in den USA ausruft und die nächsten Wahlen einfach mal nicht stattfinden. Unmöglich? Hoffentlich! Und was tue ich angesichts der politischen Lage? Neben dem Versuch und der Notwendigkeit, ausreichend Geld zum Leben und für die Ausübung meiner Kunst zu erwirtschaften, ist es nicht weit her mit Taten, denn einer für mich wählbaren Partei anschließen kann ich mich schon deshalb nicht, weil das jeweils einfach nicht mein Milieu ist, zu bürgerlich, zu bieder, zu hausbacken, zu spießig. Eine littérature engagée, also der Missbrauch meiner eigenen Texte zu politischen Zwecken, kommt auch nicht infrage – man lese die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, um zu erkennen, wie grandios gut und ästhetisch Literatur sein kann, die Historisches und Politisches zum Thema hat, ohne auch nur ansatzweise Propaganda zu betreiben. Ein Text, der insofern auf das Gemeinwesen wirkt, also politisch ist, als dass er den Horizont des Lesers erweitert, ohne ihn zu gängeln, ohne ihm das eigene Denken abzunehmen. Das Gleiche gilt aber auch für diejenigen Texte von Peter Weiss, die „unpolitisch“ und thematisch völlig anders daherkommen, etwa Das Gespräch der drei Gehenden und Der Schatten des Körpers des Kutschers. Texte wirken immer durch ihre künstlerische Qualität, nie allein durch ihren Inhalt, sodass es kein Wunder ist, wenn heutigentags nahezu alles per Podcast, Feature oder Dokumentarfilm abgehandelt wird. Das Kunstwerk hingegen ist frei von jeder Zweckbestimmung, nicht im negativ verstandenen Sinne von L’art pour l’ar, sondern ausdrücklich im positiv verstandenen Sinne, in der alle Kunst um ihrer selbst Willen entsteht, so also letztlich die Qualität entscheidet, ob sie im Kopf und Gemüt des Rezipienten etwas „anrichtet“. In meinen aktuell entstehenden Texten Treffen / Zwei / Sich und Wundrand oder: Eine Kopfsache geht es, so will mir scheinen, genau darum, das Anrichten, wenngleich das auch unsicher bleiben muss, denn Eindeutigkeit ist meine Sache nicht und auch nicht die meiner Literatur. Entschuldigen Sie bitte letztgenannten Umstand und auch diesen wirren Text, es ging nicht anders.

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„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihrem Antrag auf Gewährung eines Arbeitsstipendiums deutschsprachige Literatur für Berliner Autorinnen und Autoren 2025 nicht entsprochen werden kann“

Ich reg mich ja schon gar nicht mehr auf, wirklich nicht, wenn das Ablehnungsschreiben in Sachen Berliner Arbeitsstipendien deutschsprachige Literatur bei mir per Mail eintrudelt. Ich hatte auch bereits vor einer ganzen Weile bei entsprechender Gelegenheit etwas dazu geschrieben (siehe unten), das gilt noch immer. Ganz und gar passend ist auch die aktuelle Erwiderung per offenem Brief von Alban Nikolai Herbst, die aber wohl niemanden in der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt lesen oder gar beantworten wird. Wo kämen wir denn da hin? Mir selbst jedenfalls, der ich ebensowenig wie ANH gewerbliche oder dem Mainstream verhaftete Literatur verfasse, wären die beantragten 8.000 € für eines meiner aktuellen Projekte gut bekommen, doch wie ich bereits an anderer Stelle ausführte ist mir durchaus bewusst, nur Kunst zu machen und nicht zusätzlich Teil des durch und durch bürgerlichen Literaturbetriebs zu sein, ich also auch nicht wissen kann, was man sonst noch alles veranstalten muss, um ein Stipendium des Senats zu bekommen, wobei mir solch Aktionismus vor etlichen Jahren durchaus anempfohlen worden ist und ich natürlich selbst schuld bin, diesem Rat nicht gefolgt zu sein. Nicht folgen konnte. Aber wie gesagt, aufregen tue ich mich nicht mehr, denn ich  h a b e  immer Möglichkeiten, meine Vorhaben zu realisieren, und zwar nicht etwa „dennoch“ (siehe unten), sondern einfach aus Lust und Laune, aus künstlerischer Triebhaftigkeit heraus. So. Und nun, am Ende dieses (passenderweise schlecht geschriebenen) Textes mein Beitrag vom 28. November 2022 zum selben Thema (mit Bild!):

„Ich bedauere, Ihnen keine andere Mitteilung geben zu können und hoffe, dass Sie eine andere Möglichkeit finden werden, das Vorhaben dennoch zu realisieren.“

Na, so ein paar Mal habe ich mich, so beantworte ich jedes Jahr aufs neue die immer gleiche Frage, durchaus schon beworben um das Arbeitsstipendium deutschsprachige Literatur des Berliner Senats, Senatsverwaltung für Kultur und Europa – I A Am, Abteilung Kultur – Referat I A. Hat aber wieder mal nicht hingehauen, wie ich heute per E-Mail erfuhr. Muss der Text, mit dem ich mich bewarb, eben bleiben wie er ist und wo er ist. (Tut mir ja auch leid, aber ich hab einen neuen.) 348 Schriftsteller haben sich übrigens beworben, 41 haben was bekommen. Was ist denn das für eine Quote, frage ich und rege mich am Ende noch auf – dann muss man, sage ich, eben mehr Geld ins System geben, wenn es denn nicht für alle reicht! Schon mit knapp 8,4 Millionen ist man in Sachen Vollstipendium für ein Jahr dabei, wenngleich man damit auch 8,4 Kilometer Fahrradweg bauen kann. Allerdings kann man mit 16,8 Millionen beides machen! Schon mal drüber nachgedacht? Aber ich will mich natürlich nicht ernsthaft beschweren und mich damit um die Chancen für das nächste Jahr bringen, falls es das Stipendium dann noch gibt, und so veröffentliche ich meine Gedanken auch nur auf meiner eigenen Website. Besser is‘! Liest ja keiner. Was übrigens auch noch gut wäre, wenn man sich anonym bewerben könnte, wird vielerorts so betrieben, denn dann ginge es womöglich wirklich nur um die literarische Qualität des Textes und nicht um irgendwas anderes, eine Bemerkung, mit der ich natürlich nichts angedeutet haben will. Doch wie heißt es so schön, Die Hoffnung stirbt immer am schönsten, und so werde ich mich auch im nächsten Jahr mit einem neuen Text, wie gesagt soeben begonnen und schon voll in der Mache, bewerben. Ach ja, bevor ich es noch vergesse – was den am Ende der Absage-Mail geäußerten frommen Wunsch angeht, ich möge eine andere Möglichkeit finden, das Vorhaben dennoch zu realisieren: klar doch, wir finden alle eine Möglichkeit! Sonst hätten wir ja, wollten wir uns bewerben, nix, aber auch garnix vorzuweisen. Also weiter wie ein Vollidiot im Nebenjob (oder Brotberuf) geschuftet und jeden Cent umgedreht, weiter am Text, an den Texten gearbeitet, auf dass irgendwann, zum Beispiel im nächsten Jahr, ein paar Brosamen abfallen mögen. Ich halte Sie auf dem Laufenden …

Norbert W. Schlinkert. Der Friedhof der Trauermücken

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