Es gibt sie noch, die Bücher, die ich zum ersten Mal lese. Dieses Jahr etwa Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, eines der besten Bücher, die ich je las. Dann aber, nach dem Ende der Lektüre die Frage, was nu‘? Nach dem ersten Teil und nach dem zweiten Teil des weissschen Buches hatte ich zwischendurch andere Romane gelesen, Flugasche von Monika Maron und noch einen anderen Roman, der mir jetzt aber nicht mehr einfallen will. Und nun also, um die obige Frage gleich mal zu beantworten, lese ich Der Fuchs war damals schon der Jäger von Herta Müller. Der Roman gefällt mir überhaupt nicht, aber ich werde ihn zuende lesen, denn dass es mir nicht gefallen kann, liegt hauptsächlich am bedrückenden Inhalt und nur gleichsam nebenbei an der Schreibweise, die Müller hier wählt, eine Art poetisierter Realismus, der mir nicht durchgehend zugänglich ist. Zugänglicher ist mir der Band Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer, in dem Müller eindringlich die Verfolgung durch die Securitate beschreibt, der sie in Rumänien ausgesetzt war. Wie auch immer, noch bevor ich Müllers Roman beendet habe, lese ich nun schon, und zwar auch zum ersten Mal, Jakob der Lügner von Jurek Becker, und was ich nach wenigen Seiten sagen kann, ist, dass der Beginn des Romans, der Einstieg ins Geschehen, geradezu perfekt ist, ergo ich entsprechend erwarte, einen sehr guten Roman lesen zu dürfen. Jetzt kann man natürlich sagen, Becker schreibt eben gefälliger als Müller, allerdings kriecht das Grauen bei Becker dem Text aus allen Poren, eben weil der Text so einnehmend ist, während bei Müllers Roman der Text so spröde protokollpoetisch ist, dass man sich hineinzuarbeiten hat, weil der Text das fordert. Das Grauen will erarbeitet sein, ohne dass Tröstendes aufscheint, eben weil es in der damaligen Wirklichkeit Rumäniens unter Ceaușescu kaum Trost hat geben können, aber das trifft mit Sicherheit auch auf die Situation der Juden im Ghetto zu, die Becker beschreibt, während, um auf den Anfang zurückzukommen, in Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands das Tröstende immerhin einen dünnen, mitunter kaum erkennbaren roten Faden ausmacht. So weit.
Miniaturen XVII: Die Lektüre danach
Miniaturen XVI: Chinesen unter sich
Wie nur habe ich das angestellt? Nämlich, so vor zwei Jahren etwa während der Corona-Pandemie, Gedichte zu schreiben, und zwar viele, obgleich ich zuvor so gut wie nie Gedichte schrieb, gereimte Spaßgedichte mal ausgenommen. Ich hatte nämlich nie in meinem Leben als Schreibender und später dann als Schriftsteller den Eindruck, es nicht ebenso gut können zu können wie berühmt gewordene Zeitgenossen oder solche, die es hätten werden müssen ihrer Werke wegen. Beim Gedicht hingegen hatte ich Hemmungen, die aber, so weiß ich heute, rein auf Leseschwierigkeiten beruhten. Ich war zu sehr Prosaleser, Gedichte machten mich ungeduldig, ich drang nicht vor zu ihnen. Das nun ist anders jetzt, zumindest phasenweise. Und so schreibe ich auch phasenweise Gedichte, die ich dann nach einer Weile entweder ausreichend mag und in meine Sammlung nehme, oder eben nicht mag, dann werden sie ausgesondert, wenn auch nicht verworfen. Eines meiner neuesten Gedichte ist das folgende, und ich bin gespannt, ob ich es mögen werde.
Chinesen unter sich
Was gilt, so sagt der Chinese,
ein Chinese in China,
nichts, will ich sagen,
gilt ein Chinese in China,
sage es aber lieber nicht,
denn was weiß denn ich,
was so ein Chinese gilt,
in China oder sonstwo,
von China weiß ich nichts,
sage ich zu dem Chinesen,
und was gilt denn überhaupt,
ob nun China oder nicht,
ein Mensch,
frage ich zurück,
ernte aber nichts weiter
als ein chinesisches Lächeln
aus dem Land desselben.
Miniaturen XV: Ich bin nie da, da bin ich nie!
Wenn mich nicht alles täuscht, so findet dieser Tage wieder einmal diese Frankfurter Buchmesse statt, angefüllt mit allen möglichen Verlagsmenschen und allen möglichen Schriftstellern und natürlich den Massen an Schlachtenbummlern. Nur ich bin, obwohl Bücher von mir wahrscheinlich schon da sind, nie da. Die Zeit könnte ich mir nehmen, sicher, aber wer bezahlte mir die ganze Schohse und was brächte es überhaupt, wenn ich mir den ganzen Rabatz antäte? Womöglich träfe ich sogar Bekannte oder Freunde dort, ergo man an irgendeinem Stand herumstände, irgendeine Plörre Wein tränke, Hände schüttelte, dummes Zeug redete und sich wichtig fühlte. Wenn es wenigstens Bier gäbe an den Ständen der Verlage, statt immer nur Wein und Wodka und so’n Zeugs! Aber da sindse streng konservativ in ihren Verlagskreiseln, besoffen wird sich mit Wein und Hintergekipptem, da kennen die nix! Aber wie gesagt, ich bin nie da, da bin ich nie!
Miniaturen XIV: Jon Fosse
Dieses Mal kein lächerlicher Bänkelsänger, kein Rechtsradikaler, kein Stellvertreter ganzer Erdteile, keine Regionalschriftstellerin, nein, dieses Mal haben die Herrschaften des Nobelpreiskomitees es zum Glück geschafft, einen echten Dichter und Schriftsteller mit dem Nobelpreis für Literatur zu ehren: Jon Fosse. Ärgern dürfte man sich beim Rowohlt Verlag in Reinbek, denn der auf Deutsch Heptalogie betitelte Roman Septologien ist leider noch nicht vollständig erschienen, während er in der englischen Übersetzung lange schon vorliegt – zurzeit muss man den dritten Band (A New Name – Septology VI-VII) auf Englisch lesen, will man den Roman beenden. Peinlich, peinlich, eine Bloßstellung sondergleichen! Hätte man denn nicht noch ein Jahr warten können! Aber egal, Jon Fosse ist nach Urzeiten endlich mal wieder ein würdiger Preisträger. Hauptsache! Das wohlhabende bürgerliche Lesepublikum (die Rowohlt-Hardcover sind schwer überteuert) wird sich natürlich jetzt wie immer eindecken mit der neuesten Nobelpreisware, wenn es auch unwahrscheinlich ist, dass Jon Fosse viele neue Leser hinzugewinnt, denn dafür ist, so schlicht seine Prosa und seine Arbeiten für die Bühne zunächst erscheinen mögen, sein Werk zu anspruchsvoll, zu schwierig, zu tiefgreifend, zu melancholisch – und wenn der Bürgerliche etwas nicht aushält, dann das! Egal.
Miniaturen XIII: Unfassbar!
Ich fasse es nicht! Und zwar wortwörtlich genommen, denn in der Tat rinnt mir zurzeit alles, was ich schreibe, wie Wasser durch die Finger. Schlimm? Nee, gut so, denn aus diesem Umstand ist Fassbares geworden, nämlich die Wiederaufnahme meiner bildnerischen Tätigkeit, die seit über zwanzig Jahren weitgehend ruht. Was daraus werden wird? Keine Ahnung, ich sichte erst einmal und stelle den Fokus auf Materielles, auf Kleinteile, Schnipsel und so weiter, so wie ich während der Pandemiezeit den Fokus auf Gedicht und auf Poesie gestellt habe. Das funktioniert immer. Apropos Poesie: da war doch was!

Norbert W. Schlinkert. Poesie (1996)
Miniaturen XII: Lassen oder Nichtlassen
Aber Du schreibst doch noch, so fragte mich vor einer ganzen Weile der Verleger Ingo Držečnik, worauf ich mit einem Ja, klar antwortete. Wie ich auf diese Frage bisher ohnehin immer mit einem Ja geantwortet habe, vielleicht weil das aufatmende Goutieren so etwas wie Anteilnahme ausdrückte und zugleich eine Erleichterung zeigte, zur Deinstallation des Schriftstellers Norbert W. Schlinkert augenscheinlich nichts beigetragen zu haben – denn wenn er, so denkt sich das so ein Verleger, trotz meiner Absage und der vielen vielen anderen Absagen, die doch ein Schriftsteller dieser Kategorie erhalten muss, immer noch schreibt, so bin ich als Verleger erstens nicht schuld an was auch immer und außerdem dürfte das Weiterschreiben ja auch, zweitens, wenigstens keinen Schaden anrichten. Alles gut also, sage ich, denn eben dies will ich als Schriftsteller ja nun auch überhaupt gar nicht, nämlich Schaden anrichten, wir uns also einig sind, auch wenn ich diese Frage jetzt nicht mehr mit einem Ja, klar, sondern mit einem Ja, aber beantworte.
Miniaturen XI: Nichts is‘ nich‘
Es ist ja keineswegs so, dass sich etwas aus dem Nichts schaffen ließe. Das mutmaßlich von Hegel, Schelling und Hölderlin stammende sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus behauptet das zwar einerseits sehr schön, andererseits stimmt es nicht. Auf der Website des PEN BERLIN las ich soeben den Nachruf auf Sibylle Lewitscharoff, in dem auch ihre komplexe Familiengeschichte erwähnt ist, was ja immer einschneidende Ereignisse meint, die direkt oder indirekt mit geschichtlichen Geschehnissen zusammenhängen. So etwas findet sich bei den allermeisten bedeutenden Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die Werkerschaffung aus einem innigen Nichts, aus einem Gewust von Gekränktsein oder Anderssein ist die Ausnahme, so scheint mir. Oder sollte es womöglich so sein, dass das Interesse an mit Kollektiverfahrung verwobener Literatur einfach ungleich größer ist? Ergo auf fruchtbareren Boden fällt und so besser vermittelt werden kann? Oder sind diese Fragen überflüssig und können weg? Ich weiß es doch auch nicht!
Miniaturen X: Das forcierte Schreiben, das sich zugleich der vorhandenen Sprache vermählt
Nicht nur die Frage, was sich schreiben lässt, treibt mich um, sondern auch, wie es sich schreiben lässt – oder ließe. Aktuelles der Kollegen und Kolleginnen ist mir zurzeit wenig zugänglich, das mag an mir liegen, an der Qualität der Schriften, an meiner immer auch von Zufällen bestimmten Auswahl, was auch immer. Ausnahmen gibt es. Allerdings besteht meine Lektüre seit einiger Zeit schon ganz wesentlich aus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, Jahnn, Koeppen, Nossack, Weiss, Reimann, Bernhard usw., vor allem Weissens Die Ästhetik des Widerstands treibt mich zurzeit um, nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch die Frage betreffend, wie mit der deutschen Sprache umzugehen sei, ästhetisch umzugehen sei. Weiss ist bezüglich dessen das beste Beispiel für eine Spannbreite, die sich selten bei Autoren findet, denn sein Das Gespräch der drei Gehenden von 1963 ist sprachlich und inhaltlich etwa kaum zu vergleichen mit seinen Dramen oder besonders der Ästhetik des Widerstands, obgleich er weder hier noch da etwas erkünstelt oder erzwingt. Dabei ist immer, bei aller Quälerei um den Ausdruck und die Textgestalt, zu berücksichtigen, dass die Sprache dem Schreibenden per se voraus ist, sein muss, es also auch immer um die Frage geht, wohin einen die Sprache führt, mitnimmt, obleich der Autor ja zugleich etwas völlig Neues schreibt. Einem Jon Fosse etwa scheint in seinem Norwegisch eben dies, das forcierte Schreiben, das sich zugleich der vorhandenen Sprache vermählt, wunderbar zu gelingen, vor allem in seinem Roman Septologien. Auch Knut Hamsun war in dieser Disziplin ein Meister. Wie aber gelingt dies? Wie ist die Schönheit der (deutschen) Sprache mit jedwedem Inhalt kompromisslos in Einklang zu bringen? Viele Autoren scheinen sich darum wenig oder nicht zu kümmern, entweder weil sie sprachlich beschränkt sind oder weil sie Herr der Sprache zu sein glauben – beides führt zu unerquicklichen Ergebnissen, bestenfalls zu glanzvollem Mittelmaß. Was also tun, rufe ich mir zu, um überhaupt noch schreiben zu können? Ich werde noch drauf kommen, glauben Sie mir!
Miniaturen IX: Größenwahn
Womöglich habe ich schon immer so getickt und die Jetztzeit tut mir nur den Gefallen, das entsprechende Bühnenbild dafür zu liefern. Wie oft habe ich nicht geschrieben und gesagt, mein Weltbild sei ein optimistisch-fatalistisches, was bösartige Zeitgenossen durchaus hätten kommentieren können als Glaube, Liebe, Hoffnung. Doch solche Angriffe und die daraus resultierenden Streitigkeiten finden auf einem anderen Theater statt, dort, wo man sich im sogenannten Kulturbetrieb Feinde und Feindschaften zuzieht, imgrunde also da, wo es um Macht und Geld geht oder gehen soll. Nicht mein Ding, nicht meine Bühne. Manchmal denke ich, ich bin eben nur ein einfacher Arbeiter im Weinberg der Literatur. Das aber ist wahrscheinlich zu bescheiden gedacht, da fehlt, so werden manche sagen, dieser Tick Größenwahn, denn ohne diesen werde man nunmal nicht, so der Tenor, im Kreise der Größenwahnsinnigen akzeptiert – übrigens einer der ganz wenigen Bereiche, in dem, nicht weiter verwunderlich, Gleichberechtigung vorherrscht in Sachen Geschlechtszugehörigkeit – man gönnt sich ja sonst nix.
Miniaturen VIII: Kopulativkomposita
Imgrunde bin ich, wie man so schön sagt, immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen gewesen. Oder eher zurückgeworfen worden, denn dieser Vorgang ist zu brutal, als dass nicht auch äußere Kräfte ihren Teil dazu beizutragen hätten. Natürlich ist dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Werden die reinste Slapstick-Nummer, nur für mich selbst ist sie ernst, denn schließlich bin ich es, der wieder von vorne zu beginnen hat. Ich warte dann immer, bis die anfänglich so gespannt noch glotzende Meute sich schließlich zerstreut und ich alleine bin mit – mir selbst. Und da ich nichts anderes kann als schreiben, so beginne ich genau damit, allerdings, anders als vor vierzig Jahren, beginne ich nicht bei Null. So überarbeite ich zurzeit einen für mich wichtigen Text, nur gut 100.000 Zeichen an Umfang, der im Untertitel das Wort Kopulativkompositum trägt – warum das so ist, erfährt der Leser bei aufmerksamer Lektüre im Laufe des Textes, der wieder eine Mischung, eine Vermengung darstellt von Essay und Erzählung. So pflege ich die Kunst des Uneindeutigen, öffne aber dadurch Räume, die sonst unbekannt blieben, so jedenfalls meine Überzeugung. Auch weitere, noch folgende Texte werden wohl kaum eine Form aufweisen, die es einfach machte, sie tatsächlich dann in die Öffentlichkeit zu bringen, sprich einen Verlag dafür zu finden. Mit anderen Worten: ich habe völlige Narrenfreiheit. Wer diese nie besessen hat weiß sicher nicht, wie berauschend und wie niederschmetternd das sein kann – auch hier hat der Begriff Kopulativkompositum seine volle Berechtigung, denn es ist entweder das eine oder das andere. Rausch oder Niederlage. Fein säuberlich getrennt. Im Moment bin ich übrigens niedergeschmettert, und das fühlt sich, naturgemäß möchte man sagen, wie ein Ende an, oder wie das Ende. Auch wenn dem ja angeblich ein Anfang innewohnen soll, was ich aber zu bezweifeln wage.