Dann ist Polen offen

Redensarten und Sinnsprüche sind in der deutschen Sprache unersetzlich, da beißt die Maus kein‘ Faden ab, denn sie sind nicht diskutabel und zeigen die Haltung und Gemütslage des Sprechers besser als jede noch so ausgefeilte Rede. Eine vielen Menschen offenbar bekannte Redewendung ist „Dann ist Polen offen„, mir jedoch war sie tatsächlich neu. Sie weist jedenfalls darauf hin, daß eine Situation außer Kontrolle geraten ist und Einflüsse von allen Seiten zu befürchten stehen, gegen die keine Abwehr möglich ist. Polen selbst ist zum Glück nun wieder ein souveräner Staat, doch wie steht das Gemeinwesen an sich da, wir alle zusammen? Können wir uns dagegen wehren, von allen Seiten angegriffen zu werden? Klar, denkt man da, denn Angriff ist die beste Verteidigung. So heißt es wenigstens im Kriegsjargon.

Doch was tun, wenn man sich weder verteidigen noch angreifen will, sich also dem zivilisatorischen Fortschritt verpflichtet fühlt, den etwa Christian Thomasius Ende des 17. Jahrhunderts für seine Zeit neu und allgemeinverständlich formulierte, als er der Öffentlichkeit vom Decorum sprach. Ein gedeihliches Miteinander fußt demnach auf der Einhaltung von Regeln, deren Übertretung zwar nicht justiziabel ist, dennoch aber das mitleidlose Erringen und Ausnutzen eines Vorteils bedeutete. Je mehr Menschen das Letztere tun allein des persönlichen Vorteils wegen, desto eher wird es allgemein akzeptiert, desto eher haben wir den Krieg aller gegen alle. Dabei kann man heutigentags nicht einmal all jenen, die in einer Vorteilsposition sind, einen Vorwurf machen, also etwa denen, die kollegial und solidarisch sind, nicht obwohl, sondern weil sie eine feste, unbefristete Anstellung haben. Solche Menschen gibt’s noch, denn noch ist Polen nicht verloren.

Schuld an all dem ist natürlich die Individualität. Und zwar die jedes Einzelnen! Das ist natürlich nur ein Bonmot, ich schenke es der Welt, es kostet nichts, doch es beschreibt die Welt sowohl im Kleinen als auch im Großen. Zugegeben, ich bin nicht grade bester Laune, doch immerhin kann ich ja Texte produzieren, die niemand liest, weil ich neben dem Versuch, meine Fähigkeiten sinnstiftend und zur Sicherung meines Lebensunterhaltes einzusetzen, einfach weiterarbeite. Müßiggang ist aller Laster Anfang, so sagte man mal in nicht gar so ferner Vergangenheit, da wurde der Müßiggang noch als eine wohlverdiente Pause verkauft oder gar als Lebensabend verstetigt und verklärt. Ein Kanzler Gerhard Schröder machte aus Müßiggang dann Faulheit und beschied, dazu gäbe es kein Recht. Schröder, selbst keineswegs faul, ist nun lupenreiner Hofnarr am russischen Hof, während seine ehemaligen Untertanen sich nun für kein oder wenig Geld den Arsch abarbeiten und ansonsten der Teufel weiterhin auf den dicksten Haufen scheißt.

Was für ein, möchte man rufen, chaotischer Artikel, doch was soll man erwarten, wo der hier höchstselbst in die Tastatur schlagende Verfasser seine Felle davonschwimmen sieht, weil ausgerechnet das, was er einigermaßen gut kann, auf dem Markt keinen Wert mehr hat, obwohl die Nachfrage angeblich gestiegen ist, denn Bildung und Kultur sind Ressourcen, das steht in jeder wowereitschen und merkelschen Regierungserklärung, die in unserem rohstoffarmen Land eine immense Wichtigkeit haben. Noch wichtiger ist nur noch die Waffenindustrie, aber das muß ja gar nicht erwähnt werden, is‘ ja selbstverständlich. Vielleicht ist ja auch nicht die Individualität das Problem, sondern das Gewissen, wenn man es denn hat. Schon die Nazis haben Pazifisten ja als Gutmenschen zu verunglimpfen versucht, wahrscheinlich auch deswegen, weil ein gedeihliches Miteinander doch zu wenig Profit verspricht, und da solch ein Miteinander viel auch zu tun hat mit Bildung und Kultur, … Ach, lassen wir’s gut sein, oder schlecht, retten muß sich, das weiß man doch, jeder ohnehin selbst, nämlich indem er oder sie, um bloß nicht in die Röhre gucken zu müssen, den Ritt auf der Kanonenkugel wagt. Attacke!

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2 Antworten auf Dann ist Polen offen

  1. Phyllis sagt:

    Köstlicher Beitrag, lieber Norbert! Bestimmt kennen Sie die Fabel von den beiden Fröschen, die in einem Topf Sahne paddeln? Der eine verzagt, sinkt unter und ertrinkt, der andere paddelt so lange und heftig, bis er auf der Butter sitzt. Die Geschichte hat mich schon überzeugt, als ich noch ein kleines Mädchen war. (seufz)
    In diesem Sinne: weiterattackieren!

    Herzliche Grüße!
    Phyllis

  2. Und wenn es, liebe Phyllis, zu heiß wird, schmilzt die Butter und der arme Frosch zappelt wieder herum, diesmal neben der mit dem Bauch nach oben treibenden Leiche seines Kumpans. Kann passieren, c’est la vie. Aber was sag ich da! Springt der Frosch eben einfach raus aus der Brühe und kämpft an Land weiter, life is a battlefield. Mein Lieblingsvogel ist übrigens Donald Duck, der unerreichte, fabelhafte Held des Müßiggangs und Meister des Mittagsschlafs.

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