Wundrand oder: Eine Kopfsache

Norbert W. Schlinkert

Wundrand oder: Eine Kopfsache

Heft I,1 / Heft I,2

Fortlaufende Übertragung der am 12.11.2024 begonnenen handschriftlichen Aufzeichnungen in ein Typoskript

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[Heft I,1; Seite 1] Kennt er die Stirnwunde nur aus Erzählungen, so ist sie doch eine Stirnwunde. Eine eingegrabene Erinnerung in den Kopf. Obgleich der Kopf sich nicht erinnern kann. Oder doch? Die Narbe, die aus der Wunde entstand, steht steil mittig über der Nase. Im Alter ist sie weniger sichtbar als früher, stirnrunzelnd aber noch gut erkennbar. So man es weiß. So man darauf verwiesen wird. Schau mal! Aber ja! Mittig. Eine Wunde war es jedoch nur eine kurze Weile, bald schon trug das Kind eine Narbe. Träger dieser Wunde und dieser Narbe ist ein Kind im Kindergartenalter, das nicht in den Kindergarten hat gehen [2] wollen, der Kinder wegen, die ihm fremd und unheimlich sind. Die Wunde hat das Kind sich selbst zugefügt durch die Kante des in den Türrahmen ragenden Küchenschrankes, des Unterschrankes. Dagegen ist das Kind gelaufen. Sicher hat ein Erwachsener später mit Karacho gesagt, er sei ja mit ganz schön Karacho gegen die Kante gelaufen. Das Kind wurde auf den Armen des Vaters ins Krankenhaus getragen, wo ein Arzt nicht nähte, sondern ein Pflaster aufbrachte, was wiederum den Vater gegen den Arzt und imgrunde gegen alle Ärzte aufbrachte, das Kind aber nicht weiter beeinträchtigte. Sicher hat der Erwachsene, der mit Karacho gesagt hat, ob Mann ob Frau, Onkel oder Tante, mir mit Anerkennung für meine Wildheit über die Haare gestrichen, während mein Vater mit [3] bösen Tieraugen in die Welt starrend sich bereit machte, über die Ärzteschaft als Ganzes zu schimpfen. Herzuziehen. Und wenn dieses Kind einige Jahrzehnte später als erwachsener Mann vor dem Spiegel steht und sich stirnrunzelnd die Stirn ansieht, so entdeckt er nicht nur die Narbe der passgenau zugefügten Wunde, sondern mit der Narbe auch die Harmlosigkeit der Wunde, denn sagt ihm nicht seine Lebenserfahrung, dass die harmlosen Wunden in ihrer Oberflächlichkeit viel eher eine Narbe hinterlassen als tiefere, ernsthafte Wunden, und selbst wenn er mit dieser Erkenntnis falsch läge, so ist ihm heute, als sei das Pflasterauflegen durchaus die einzig richtige Methode gewesen, Endpunkt gewissermaßen einer Fehlerkette, so denkt er heute, von der Planung des Hauses und des Zuschnitts [4] der Räume bis hin zu der Entscheidung, einen eckigen Küchenschrank zu kaufen, der in den Türrahmen ragt. Weil er zu tief ist. Demgegenüber hat das Kind jedes Recht der Welt, mit Karacho durch die zu kleine Wohnung in der Lützowstraße 10 zu sausen, zu jagen, denn ein Kind braucht Auslauf wie ein Hund Auslauf braucht, denn wozu hat es Beine und Augen und Ohren und eine Nase und ein Gehirn, wenn es nicht durch die Welt rennen darf. Und sei es auf die Gefahr hin, gegen eine spitze Kante zu laufen, die ihm den Schädel spaltet. Und welcher erwachsene Mensch hat denn – bitteschön – keine Narbe, die ihm die Wildheit der Kindheit preist und ins Gedächtnis ruft! [5] Das Pflaster, die Wunde, die Narbe und die felsenfeste Überzeugung des heute Erwachsenen, dass die Mutter gleich dem Arzt auch nur ein Pflaster draufgemacht hätte! Sicher hatte ich Kopfschmerzen, ausgehend von der genau mittig gesetzten Verletzung an genau der Stelle, wo sich das dritte Auge zu befinden hätte, wäre der Mensch mit einem dritten Auge ausgestattet. Ich jedenfalls muss nun in jedem Fall so oder so eine Bedeutung herleiten, und zwar auch, obwohl die Wunde und die Narbe und der kleine Unfall das nicht herzugeben scheinen. [6] Gäbe es dazu keine Familiengeschichte, was hätte ich angesichts der Narbe gedacht? Wäre sie mir, wiewohl am Kopf ständig sichtbar, überhaupt ins Bewusstsein geraten, beziehungsweise darin verblieben? Und ist es nicht bezeichnend, dass ich später davon (wieder?) erfahren habe über den Umweg der Ärzte-Beschimpfung, die mein Vater bei jeder Gelegenheit anstimmte? Dabei bin ich ja nicht entstellt durch die Narbe, ganz im Gegenteil, denn sie ist ja immerhin schön mittig. Aber hat sie Potential für eine literarische Erzählung? Gute Frage. Antwort: eher nicht, wenngleich dies schon ausgeführt ist, irgendwo, der aufmerksame Leser wird’s wissen. Eingewoben in eine Textur ist die Narbe jedenfalls gut vorstellbar, auch in Verbindung mit dem „Dritten Auge“, das ja bekanntlich bei einigen Tieren Helligkeit erkennt, mehr aber auch nicht, da es mit Haut überzogen ist. Aber wie sollte solch ein Narbentext aussehen, welche Form soll er haben? Der Inhalt [7] muss wie gewöhnlich von alleine kommen, Stoff ist ja untergründig genug da und außerdem reicht auch wenig Stoff und wenig Inhalt, um einen guten Text zu schreiben – siehe Melancholie von Jon Fosse, der allerdings mit Reduktion und Wiederholung arbeitet, und zwar im besten Sinne rücksichtslos. Interessant übrigens an Melancholie und vor allem auch Heptalogie ist, dass in beiden Romanen Maler malen, die immer etwas, so heißt es, wegmalen müssen, während ich in nicht wenigen meiner Texte quasi feststehende Bilder erschaffen wollte. Der Roman Der Bildermacher ist ja sogar genau darauf ausgerichtet, nur dass ich (damals) literarisch nicht zu einem guten Ergebniss gekommen bin, was sicher Anfängerfehlern geschuldet ist. Das Gleiche gilt für den (verschollenen) Roman bzw. Kurzroman Einsamkeiten (ca. 1993), der sogar noch schlechter war. Und auch die meisten der gemalten Bilder von damals [8] waren ebenso schlecht wie die geschriebenen. Und heute? Malen kann ich gar nicht mehr, Schreiben aber kann ich. Bilder schreiben – wobei es sicher gut ist, handschriftlich vorzugehen, mit Schwung und Pigmenten. Im Handschriftlichen ist auch dem Umstand in gewisser Hinsicht zu entgehen (es sieht eben nicht aus wie gedruckt), dass eine Veröffentlichung auch eines gelungenen Textes sehr unwahrscheinlich ist. Die drei vollen Archivboxen in der Ecke sprechen Bände, und eine weitere Box sollte kein Problem sein, da ist noch Platz nach oben. Es fehlt aber noch der Anfangsfunke für einen neuen Text, worauf dann Zeit vonnöten ist, regelmäßige Zeiten, in denen ich am Text arbeite. Noch sehe ich das nicht, allerdings entdecke ich eben auf dem Rechner einen kaum zwei Wochen alten, aber schon wieder vergessenen Text: Treffen / Zwei / Sich. Drei Seiten, ein Anfang ähnlich wie bei Kein Mensch scheint ertrunken, Tauge / [9] Nichts und Nebelleben. Also Treffen / Zwei / Sich – ich werde auch diesen Text, das Manuskript, irgendwann abtippen (Heft II). Den Untertitel Eine Wüstenei habe ich aber bereits gestrichen, er wird zum Titel des ersten Abschnitts / Bildes. Unwillkürliche Erinnerung: Ring of Kerry, die freundliche Tramperin, die Schlossanlage, der Garten am Meer. Wobei dieses Erlebnis des Herumwanderns dort wie so vieles in einer Art Dunst erscheint, denke ich daran, doch das sind meist sogar eher gute Erinnerungen, schöne, die aber auf jeden Fall immer auch zusammenhängen mit dem Jungsein als eines Zustandes. Die einzelnen Bilder oder Bilderfolgen sind eher zufällig. Fotografien von meinen Reisen besitze ich allerdings ebensowenig wie Tagebuchaufzeichnungen (mit einer frühen Ausnahme), so dass allein etwa die damals benutzten Straßenkarten Erinnerungen auslösen, unscharfe und damit nachzuschärfende. Hier und da taucht [10] trotzdem ein Foto auf, etwa eines auf einem Wochenticket für den öffentlichen Nahverkehr in Dublin, Juli 1990, langes lockiges Haar, gesunde Bräune, kesser Schnäuzer, ein 26 Jahre alter Jüngling, allein in Irland unterwegs und sich seiner Welt und Jugend gewiss. Passend zu all diesen Gedanken habe ich heute Jean Amérys Essay Über das Altern zuende gelesen – es gibt, gab, also doch deutschsprachige Autoren, die die hohe Kunst des Essays beherrschen! Ein eindrücklicher Text, untergründig verschmitzt und dabei den Finger auf jede Wunde legend, fast nichts auslassend und dabei immer auch wie beiläufig mit literarischen Elementen arbeitend, etwa indem er die Figur „A“ vielfältig in Erscheinung treten lässt. Interessant auch, wie Améry die Jugendzeit so en passant links liegen lässt, über die halt nicht viel zu sagen ist, außer dass sie eine [11] Offenheit, eine Zukunft in sich trägt, die unermesslich scheint, allerdings so oder so im Altern sich erschöpfen wird oder im Suizid ihr Ende findet – wie dies im (folgenden) Essay Amérys, Hand an sich legen, beschrieben ist, das ich nun folgerichtig lese. Imgrunde geht Améry hier vor wie im ersten Essay, denn er versucht durchaus nicht, allzu scharf und sezierend zu denken, um das Thema eben nicht vorzeitig abzuhanden wie ein beliebig anderes, dem allein mit Wissen beizukommen wäre. Bei Thema Suizid weiß man eben, das betont Améry immer wieder, nicht viel und vor allem weiß man das Eigentliche nicht, etwa wo die „Reise“ denn hingeht, wie der Absprung sich ausgestaltet. Gespannt bin ich (lesend befinde ich mich etwa auf S. 13 des Essays), ob Améry die Frage erörtert, wie es zu erklären ist, dass der zum Freitod Entschlossene keine Neugierde mehr verspürt, oder warum er den Hinterbliebenden seinen Suizid zumutet. Interessant auch, dass ich das Essay ausgerechnet im November lese, [12] dem Totenmonat: Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Die Thematik passt jedenfalls sehr gut ins düstere Geschehen, aber nicht etwa, weil Thematik und Stimmung mir eine große Düsternis erzeugten, sondern ganz im Gegenteil, sie erzeugen viel eher hoffnungsfrohe Aussicht auf baldige Wiedererhellung, denn erstens interessiert [13] mich das Thema intellektuell und nicht persönlich, während es zweitens ja ab Januar wieder aufwärts gehen wird mit dem Tageslicht. Plötzlicher Gedanke: wie nur habe ich es all die Jahre geschafft, mir die Umwelt, wo immer möglich, schönzusehen, schönzureden, vielleicht sogar schönzumachen? Schon als Kind habe ich hässliche, lieblose Orte gemieden, als Jugendlicher gelitten unter dem banalen Schulgebäude der Realschule II, auf die ich abgeschoben worden bin, so es also naheliegt anzunehmen, ich hätte in Ablehnung der lieblosen und hässlichen Umwelt wo ich nur konnte das Schöne gesucht. Soweit nachvollziehbar, soweit normal. Die ständige Neugestaltung meines Zimmers spricht sogar für das Moment des Schönmachens, und zwar als eines in dem Sinne, dass es nicht ausreichte, einen schönen Gegenstand zu haben, nein, er musste schön sein im schönen Ganzen. Unbegreiflich war mir [14] immer schon die absolute Abwesenheit ästhetischen (Form-)Willens bei vielen meiner Mitmenschen, denen Praktikabilität höchstes Gut zu sein schien. Nicht mal den Grundsatz „form follows function“ wollte oder konnte man beherzigen. Da half nur Flucht – wobei ich mir schon die Frage stellen muss, ob ich mir nicht all die Jahre vieles schöngeredet habe, um nun, da die Fähigkeit dazu abzunehmen scheint, wieder da zu landen, von wo aus ich losstiefelte, nämlich in der pragmatisch angelegten Realität, der nichs Schönes innewohnt. Aber wer weiß, womöglich ist das Ganze einfach nur eine typische Erscheinung des Älterwerdens, so dass mir nichts anderes mehr übrigbleibt, als so oft wie möglich in meinem Lieblingswald zu spazieren, um so dem Schönen nicht ganz verlustig zu gehen. [15] Nicht schön erscheint mir die Vorstellung, mich dereinst an meine Jugendzeit erinnern zu müssen, während Aktuelles aus dem Blick gerät. Am besten ist es sicher, auf keinen Fall mit der – eigenen – Arbeit aufzuhören, ansonsten der Geist eben Selbstmord begehen könnte, gewissermaßen. Eine Methode wäre sicher auch, Vergangenes literarisch weiterhin zu bearbeiten, wie im Tauge / Nichts und Nebelleben, wenngleich es dann eben auch schön wäre, die Texte zu veröffentlichen, so sie gelungen sind. Ob ich mich ansonsten noch einmal für ein Romanprojekt begeistern kann, ist absolut offen, besonders wegen der notwendigen besonderen Form, die sich nicht theoretisch erarbeiten lässt und sich also nur im Schreibprozess selbst [16] entwickeln kann. Im Moment sehe ich keinerlei Ansatz, auch inhaltlich nicht. In Heft II entwickelt sich immerhin zurzeit (handschriftlich) die Episoden-Erzählung Treffen / Zwei / Sich, deren Einzelerzählungen oft mit „Ich spreche mit Ihnen“ beginnen. Imgrunde spricht immer nur einer, die Reaktion des Anderen, des anderen Ichs, ist stets imaginiert. Anders als in Kein Mensch scheint ertrunken, Tauge / Nichts und Nebelleben soll aber hier nicht die absurde Situation im Vordergrund stehen, sondern der Versuch ernsthafter Konversation, die allerdings keine Entsprechung [17] hat in einem realistischen Erzählstrang, also keinen Sinn macht und zu nichts führt. In Heft III hingegen scheint sich unter dem Titel Das Haus / Die Straße eine Erzählung zu entwickeln, in der der Ich-Erzähler allein in einem alten Haus wohnt, das an einer staubigen Allee liegt. Leichte und unaufgeregte Gedankengänge bilden sich aus aufgrund vieler kleiner Beobachtungen und Annahmen. Aufpassen muss ich, dass ich nichts erkläre, denn auch der Ich-Erzähler hat keine Intention, das zu tun, etwa ob es elektrischen Strom im Haus gibt, von wo und wie er seine Lebensmittel bezieht und so weiter. Einzig richtig ist es, wenn der Erzähler solche Dinge beiläufig erwähnt, so als sei es die normalste Sache der Welt. Am besten also, wenn er gelegentlich „protokollartig“ erwähnt, die Soundso sei dagewesen und habe frisches Gemüse vorbeigebracht. Das dürfte über[18]haupt die beste Erzählweise sein, dass nämlich der Ich-Erzähler bei seiner Binnenerzählung bleibt und damit zugleich Widersprüche konfliktfrei einbaut. Kern seiner Erzählung ist also immer das Alleinsein und -wirtschaften in diesem alten Haus an der staubigen Landstraße. [19] Der Vorteil des Mit-der-Hand-Schreibens, das ich jahrelang ein wenig vernachlässigt habe, ist, dass mir kein Empfänger, sprich: kein Leser vor dem geistigen Augen erscheint. Das Original bleibt original, eine Abschrift in den Rechner hinein wird dann schon eine Übertragung sein – wenn ich es denn überhaupt abtippe, was ich so an Erzähltem zustande bringe. Imgrunde hängt nun alles davon ab, ob ich Nebelleben veröffentlichen kann, ob es in der parasitenpresse herauskommen wird. Wir werden sehen. Wenn es nicht klappen sollte, wird womöglich der Text Jeder Pfirsich im Herbst 2025 meine letzte kleine Veröffentlichung, und zwar im Jahrbuch Literatur in Westfalen. Der Text sei, so Arnold Maxwill, schon gesetzt, die Druckfahnen kommen im Sommer. Vielleicht aber sollte ich trotz allem versuchen, wieder Mut zu fassen, die Texte, die [20] ich schreibe, auf meiner Website veröffentlichen, sie ausdrucken, in die Archivboxen tun und so weiter. Ob die Boxen dann in einem Archiv landen oder im Feuer, auf dem Müll, in der Spree oder der Havel oder im Meer, wird man sehen (oder auch nicht). Auch ohne danach zu suchen habe ich in den Zeiten des Studiums oft Spuren von (literarischen) Werken gefunden, hinter denen natürlich je ein ganzes Leben steckt, das aber trotzdem der Nachwelt völlig unbekannt ist. Während die Berühmtheiten von den Forschern und teils auch von den Lesern geradezu aufgefressen werden (Kafka natürlich, immer wieder Kafka), liegen die Unbekannten wie mumifizierte Mäuschen in Archiven und stecken resonanzbefreit in Listen. Gelegentlich werden Texte wieder ausgegraben, Emmy Hennings etwa oder Sophie Mereau, Kontexte werden erarbeitet und Lebensgeschichten erschlossen. Das allermeiste aber wird eingelagert, Veröffentlichtes in der Nationalbibliothek oder in Marbach, anderes kommt vielleicht in ein Archiv, also in Kisten [21] und Boxen. Dort bleibt es bis zum jüngsten Tag, und man weiß gar nicht so recht, ob das nicht sogar besser ist als eine Verwendung und (Fehl-)Deutung in der Zukunft. So die Situation. Wie daraus nun, so die Frage, Motivation schöpfen zum Weiterschreiben? Das ist die Frage! Aber kann man Motivation überhaupt schöpfen? Und wenn ja womit und woraus? Die Antwort allerdings ist klar, sie hat zu tun mit dem Trieb zur Schöpfung (aus dem Nichts, wie es im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus heißt), dem Trieb zum Kunsttreiben. Der Paradefall der intrinsischen Motivation, die in jeder Zeit ihre Opfer fordert, wenn man das mal so sagen will. [Naja. Lange Rede, kurzer Sinn.] Das Handschriftliche (Heft II und III) am (vorläufigen) Ende zusammenfassen unter dem Titel Trockene Texte? Immer im Wechsel, einmal ein Absatz aus II, dann aus III u.s.w.? [22] Soeben zufällig gelesen, auf Wikipedia, dass Peter Handke einst für den Vorlass seiner Notizbücher, Handschriften und Materialien immense Summen eingestrichen hat – so zeigt sich die vielbeschworene Schere, die immer weiter auseinandergeht und zwischen Arm und Reich eine immer größere Distanz schafft, auch im Bereich des Kulturellen / der Kunst. Aber muss die Schere, einmal vollends geöffnet, nicht dereinst auch wieder zusammenfahren? Um was zu zerschneiden? Das schon Zerschnittene nochmals? Oder das auch oft beschworene Tischtuch? Immerhin ist so die (schlecht oder unbezahlte) Arbeit für Literaturwissenschaftler und Germanisten auf Jahrzehnte gesichert – ist ja auch was wert. Der Titel für die Texte aus Heft II und III könnte auch lauten Trockene Texte / Abgelenkte Geschichten oder so ähnlich, oder auch Abgelängte im Sinne von verkürzt. Mal sehen, erst mal weiterschreiben. In jedem [23] Fall hat es keinen Sinn, es noch einmal mit herkömmlichen Langtexten zu veruchen, es gibt die paar misslungenen und die beiden gelungenen, Ankerlichten und Scheerbart / Hologramm, damit soll es gut sein, selbst wenn die beiden besagten Romane es nur in die Archivbox geschafft haben beziehungsweise auf meine Website. Ich bin geneigt zu sagen, und zwar dauernd: jetzt, da es vorbei ist … Aber was, was ist vorbei? Die Kneipe, die ich gelegentlich besuche, ist frequentiert von alten Männern und mittelalten Frauen, eine ästhetische Katastrophe, der nicht zu entgehen ist. Sehe ich mir meine Texte an, die nicht veröffentlichten, so spüre ich, wie dringend ich sie vernichten wollen würde, obwohl Jahre an Arbeit darin stecken. Sehe ich mir mein Leben an … ach lassen wir das, ist doch alles in allem deutlich mehr gut als schlecht. Also wirklich! Zu jammern kein Grund! [24] Jetzt also tatsächlich meinen Roman Scheerbart / Hologramm als Online-Roman auf meine Website gestellt, also quasi, wie auch Ankerlichten, durch die Hintertür veröffentlicht. Resonanz wird’s nicht geben, denke ich, obwohl: zu Ankerlichten gab es eine Kommentarstrecke (bei Falschannahmen, Hinzufügungen und am Ende immer der selbe Mist [7. April 2023]). Natürlich ist eine Veröffentlichung, die von Scheerbart / Hologramm ebenso wie die von Ankerlichten, auf der eigenen Website keine wirkliche solche, wenn auch die Anzahl der Leser betreffend eine durchaus höhere Zahl anzunehmen ist als im Falle einer Veröffentlichung im Kleinstverlag. Behaupte ich mal so. [25] Imgrunde ist es ganz gleich, was ich nun literarisch noch schreibe (zustande bringe), ich bin da ganz frei, denn veröffentlichen werde ich es nicht (können), so steht zu befürchten. Abtippen und ausdrucken kann ich es, ich kann es in eine Archivbox hineintun, ich kann es auf meine Website setzen – und das war es auch schon. Dass etwa von Peter Handke jeder Schmierzettel und jede Notiz zwischen zwei Buchdeckel gepackt wird, ist allerdings nur folgerichtig, denn das bürgerliche Lesepublikum hat Bedarf und Geld und die Verlage benötigen dringend letzteres. Dass Handke allerdings 500.000 € für Handschriften und Materialien aus zwei Jahrzehnten bekam [2007], mutet ein wenig obszön an, und auch danach hat er in diesem Bereich, ohne dass genaue Beträge bekannt sind, ordentlich abgesahnt. Nun ja, Handke hatte von Anfang an die Chuzpe, sich radikal zu vermarkten, ganz ähnlich wie Thomas Bernhard; dass die sich gegenseitig nicht leiden konnten, passt da gut ins Bild der Männerliteratur dieser Zeit Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts. Ein [26] paar wenige gute Bücher immerhin werden bleiben, von Bernhard die Autobiographischen Schriften und Auslöschung, von Handke Mein Jahr in der Niemandsbucht. Wie das eben so ist. Das Bleiben der Schriften – okay, dann bleiben sie meinetwegen, wenngleich die Frage erlaubt sein muss: Wo? Wo bleiben sie? Die Archivkeller sind tief. Texte, die nicht in den Köpfen bleiben, bleiben in den Kellern. Besser als nix, aber nicht schön. [27] Warum liest ein Mensch? Konkreter: warum sollte jemand meine Texte lesen? Neugierde / Suche nach Was, nach Wem / Lust / Anregung / Wissensdurst? Wenn ich versuche, einen gewissen Abstand zu finden zu meinen Texten, ein eigentlich unmögliches Unterfangen, so finde ich in vielen der eher kürzeren Texte einen Drang, einen Drall zum Absurden, ein bewusstes Hinstellen von Gewissheiten als Zweifelhaftigkeiten, als Fragwürdigkeiten. Stringent realistisch ist imgrunde nur Ankerlichten, alles andere ist von einer gewissen Zwielichtigkeit durchdrungen oder von wechselnder Beleuchtung geprägt, wie auch immer. [28] Zwielicht ist immer nur eine kleine Weile als übersättigtes Licht in der Luft, ist besonders im Wald fast mit Händen greifbar, erzeugt (mir) ein Flimmern vor den Augen, einen Druck um die Augen herum und eine Art Einkapselung des Kehlkopfes – so würde ich es kurz beschreiben wollen. Die matte Dunkelheit beendet schließlich jedes Zwielicht, nur ein Summen bleibt zurück, das langsam ausklingt und schließlich vergessen ist, so wie das Zwielicht selbst. Was in der Musik möglich ist, nämlich mit Tönen überpersönliche Welten zu kreieren, ist in der Literatur nahezu unmöglich; zu arbeiten aber ist an diesem Nahezu immer. In der Musik ist es der Klang, in der Literatur der Nachklang, der wirkt. Seitdem ich in einem Interview gelesen habe, dass Jon Fosse die Musik Arvo Pärts hört, füge ich die Lektüre der Texte Fosses [29] und das Hören der Musik Arvo Pärts in einen einzigen Resonanzraum ein, was klanglich und auch inhaltlich Sinn macht, wobei natürlich nicht das eine als das Gegenstück des anderen erscheint – vielmehr ergibt sich eine Symbiose, weil beiden Werken religiöse Narrative und religiöse Texte und religiöse „Bodenständigkeiten“ zugrunde liegen, ein Runterbrechen auf das Menschliche in jeder Hinsicht, ein Bestehen auch auf dem Einfachen, dem Direkten, dem Nichtintellektuellen. Geburt, Liebe, Tod. Womöglich sollte ich in meinem Schreiben nunmehr auch eben diese, nun ja, Themen einfließen lassen, so wie ich zuvor all die Jahre die absurden Momente des Seins hab wirken lassen, inklusive Tod selbstverständlich, wenngleich ich auch in dem neuen Text Treffen / Zwei / Sich dem Absurden durchaus Raum gebe. Ich kann nicht anders, denke ich, ich muss über das Absurde zum Poetischen gelangen, das In-sich-Poetische ist mir versperrt, versperrt sich mir, wie auch immer. Jon Fosse kommt oft über [30] das Alltägliche und das sich daraus schöpfende Leiden zum Poetischen, zu poetischen Momenten, bei mir ist es eben das Absurde, das Nicht- oder Falschverstehen der Welt, des Lebens, während sich die Welt und das Leben weiterbewegt, das Ich, jedes Ich mitreißend, es mitnehmend, mal grob, mal sanft. Ja: nicht nur will ich mit meinen Texten Bilder „malen“, es sollen poetische Momente erschaffen sein (schreibe ich, während wir, Ute und ich, im Bienenwagen sitzen, der Ofen vor sich hin bollert und da draußen ein Schneesturm sich zu entwickeln scheint). Schönheit soll entstehen – etwa so, wie in dem Film American Beauty die im Wind tanzende, wirbelnde Tüte Schönheit erschafft oder das Schlussbild des im Tode lächelnden Lester Burnham inmitten seines aus dem Kopf austretenden Blutes. Nicht etwa, dass Schönheit immer geschaffen sein muss, aber sie muss erscheinen innerhalb eines Prozesses, der unerkennbar sein kann. Letzteres [31] gilt besonders für das (mein) Schreiben, denn oft ist der Text nunmal schlauer als sein Autor, beziehungsweise diesem voraus. Beim Schreiben von Ankerlichten ist mir das nicht passiert, weil das, wie Daniel Ketteler einmal sagte, ein Roman ist (wäre) für den großen Markt, für einen Publikumsverlag und damit letztlich für das Publikum, während alle anderen Texte diese poetischen Momente aus sich heraus, aus dem Absurden heraus haben (wieder mit der Ausnahme eines weiteren Romans, nämlich Scheerbart / Hologramm, ein Roman, für den allerdings kein Publikum existiert). Ob allerdings der Leser bei Stadt, Angst, Schweigen das Ende eher als poetisch empfindet oder doch als eine Absurdität? Die Todesangst des einen Menschen erlöst sich ja im Tod des anderen Menschen und tritt gleichsam stellvertretend als Tod in das Leben ein und relativiert es – so könnte man meinen. Die Fortsetzung der Geschichte aber findet im Kopf des Lesers statt, allein dort, wobei sich [32] mir die Frage stellt, ob ich selbst als Leser meiner Geschichte etwa in der Art Leser bin, wie ein Leser Leser ist, der einen Text zum zweiten Mal liest und damit das Ende schon kennt. Ist in solchem Falle des Mehrmalslesens nicht jeder Leser auch Mitautor? So wie ich als Leser meiner eigenen Geschichte in höherem Maße Leser werden kann als ich Autor bin? Ich selbst entferne Bücher, meist Romane, aus meiner Bibliothek, wenn ich weiß, dass ich das Buch nicht ein zweites Mal lesen kann. So bleiben von manchen Autoren nur wenige Bücher übrig, von denen ich nicht selten fast alle Bücher besaß, Hermann Hesse etwa oder Thomas Bernhard oder Fjodor Dostojewskij usw. Dahingegen ich die drei berühmten Romane Wolfgang Koeppens, Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, schon drei Mal gelesen habe und ein jedes Mal mit, wie man so sagt, Gewinn. Wahrscheinlich ist es die jeweilige Form eines Werkes, die ein Wiederlesen [33] befördert, erheischt, denn den Inhalt vergisst man schließlich weitgehend – zumindest geht das mir so. Kaufe ich also neue Bücher, muss ich immer auch die Bibliothek durchforsten, ob etwas wegkann. Verkauft oder verschenkt werden kann. Ein Buch, so Jean Paul, das es nicht wert ist, zwei Mal gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, ein Mal gelesen zu werden. Beherzigt man diese Einsicht, verdichtet sich eine Bibliothek immerzu in ihrer Qualität und wird so auch immer lebendiger und strahlt immer mehr etwas aus: Leselust, Gedankentiefe, Lebenslust und Lebensleid, ja imgrunde wird eine solche Bibliothek zu einem Wesen, mit dem Austausch zu pflegen anregend und beglückend ist. Wie eindimensional muss ein Leben ohne Bücher und ohne Bibliothek sein, sage ich, während andere sich ein Leben ohne ausgedehnte Reisen nicht vorstellen wollen oder eines ohne Kinder, ohne eigene Firma und so weiter. Bei mir sind es eben die Bücher und die (zumeist) erzählenden Texte, die mich mit dem „Wesen der Welt“ [34] verbinden, auf spezielle und nicht immer zur Welt passende Weise zwar, dafür aber auf Dauer und ja auch lange schon, seit rund 45 Jahren nämlich, und dies eben auch von Anfang an als Schreibender, auch wenn die ersten guten, „brauchbaren“ Geschichten erst Ende der 80er Jahre entstanden und auch vieles nicht gelungen ist. Ein Teil des Gelungenen ist nun ja immerhin in meine Bibliothek eingepflegt, anderes befindet sich auf meiner Website und in den kürzlich angelegten Archivboxen, auf dass es überdauere oder eben auch nicht. Während nämlich Alban (Nikolai Herbst) viel Wert darauf legt, dass die Nachwelt seine teils neu herausgegebenen, überarbeiteten Texte entdeckt und liest, will sich bei mir diese „Hoffnung“ nicht einstellen – ich ordne meine Texte, drucke sie aus, dann gehts in die Box, und mehr kann ich nicht tun und mehr ist dazu auch nicht zu sagen. Punktum. Womöglich hat es viel zu tun mit meiner eigenen Schreibe, wenn ich in Texten immer intensiver Abfolgen vielschichtiger Bilder sehe. Mir ist, als sei das früher nicht so gewesen, vor zwanzig oder dreißig [35] Jahren. Bilderabfolgen entstehen, vielfach verzwickt, verzweigt und verschachtelt, so jetzt beim Lesen von S. Corinna Billes Dunkle Wälder, aus deren gekonnt einfacher Darstellung mir Welten entstehen, die ich in jungen Jahren hätte suchen müssen, um sie zu finden. Nun springen sie nur so herbei, ganz ausgefüllt mit Gesichtsausdrücken, Geräuschen, Gerüchen, Wind, Hitze, Kälte, mit Worten, halben und ganzen Sätzen und den Gemütszuständen aller Beteiligten. Aus dem Sich-Vorstellen von Etwas, von Abläufen, entsteht nun Vielschichtigeres, gleichsam nicht mehr grob Gemaltes, sondern in Lasurtechnik ausgeführtes. Das Gelesene wird mir somit reicher – ein weiterer Grund, gute Texte nochmals zu lesen. Neuerdings ist mir sogar so, dass ich nicht nur in Texten naturgemäß Geschichten erkenne und zugleich eine Textur, ein Muster, sondern auch die sogenannte Wirklichkeit lese wie einen Text, vor allem wenn ich mich [36] bewege oder bewegen lasse (so wie heute auf der Fahrt mit der 12er Tram von Weißensee zurück nach Prenzlauer Berg und später von Prenzlauer Berg nach Weißensee, Auto hin zur Inspektion und wieder zurück). Was da nicht alles in meinem Kopf als fertiger Text erscheint! Der natürlich mit der Wirklichkeit nur das Wirkliche zu tun hat und alles Wahre aussondert – denn wer Wahres zu erkennen meint, fällt auf sein Wünschen herein und erleidet einen Kurzschluss. Umgekehrt will ich ja schließlich auch, dass aus geschriebenem Text ein Wirken wird. Heute übrigens am frühen Nachmittag etliche Schulkinder in der Tram, einmal auch drei Mädchen mit echtrotem Haar, die sich aber nicht zu kennen schienen, was mich einen Augenblick wunderte. Sind drei nicht schon eine Bande? Zwei von denen allerdings starren auf ihr Smartphone, statt zu quasseln oder vor sich hin zu träumen. Aber das gilt auch für die meisten Erwachsenen, die [37] per Smartphone und Internet zwar in anderen Welten weilen, aber eben nicht in selbstgemachten, selbstgemalten. Ein Buch liest niemand, auch nicht auf einem Reader, aber dramatisch geht’s schon zu, so denke ich mir, liest man nur in den Gesichtern der Smartphonebenutzer. Grausame Nachrichtenhäppchen wechseln sich mutmaßlich ab mit Werbung, mit Aufforderungen, dieses zu tun, jenes zu lassen, das ein oder andere zu kaufen, so und so zu sein. Der Mensch im digitalen Getriebe der Welt. Wie schwer hat es in diesem Betrieb das Poetische? So frage ich mich. Schließlich ist ja das Alleinsein mit sich selbst durchaus Voraussetzung, es zu erschaffen, aber auch Voraussetzung, es in sich lesend oder sehend oder hörend aufzunehmen und zu beleben, es fortspinnend sich zu eigen zu machen. Obgleich: dafür gibt es sicher ausreichend Poesiewochenenden und Poesie-Workshops – mit denen gut Kasse zu machen ist, denn abgeschöpft muss es werden, das Poetische, ansonsten es ja der prosaischen Realität verlorenginge. Wieder einmal der Untergang des Abend[38]landes? Doch was geht unter? Was vollendet sich und steht am Ende seiner Lebenszeit, Lebensdauer? Kann man sagen, die liberale Epoche ende, weil der Mensch als Bürger nunmehr nur noch Spielball (globaler) Interessen ist oder sogar von diesen ausgemerzt, auf seine Funktion als Arbeitskraft reduziert wird? Man muss keine historischen Vergleiche, keinen Oswald Spengler mit seiner sehr fragwürdigen Haltung zu Demokratie und Liberalismus bemühen (Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 1918, 1922), ebensowenig einen Karl Marx, um zu erkennen, dass sich die Menschen und die verwickelten Systeme, die sie schaffen und ausmachen, stark verändert haben in den Jahren seit 1989. Geht es denn nicht wieder stark ins Völkische, ins sogenannte Identitäre? Wie aber werden sich diejenigen, so frage ich mich, erkennen, die nicht auf vermeintlich Inneres, in Wirklichkeit aber Äußeres bauen, sondern auf humane Werte? Und dies in einer Welt, in der alles verkürzt und vereinfacht auf Begriffe ge[39]bracht wird, die die Menschen sich als Label anheften, um nicht ohne Zugehörigkeit, ohne Gruppe zu sein. Wird so etwas wie ein freundschaftlicher Diskurs überhaupt noch möglich sein angesichts des ständigen Medien- und Kommerzgewitters, dem der Einzelne, sobald er ein Smartphone zu halten vermag, ausgesetzt ist? Und wäre es da nicht eine gute Idee, erst einmal damit zu beginnen, Kinder und Jugendliche vor Inhalten zu beschützen, die ihnen digital injiziert werden? Zur Schule gebracht werden viele mit Autos, in denen ihnen nichts passieren kann, mit den digitalen Gefahren aber werden sie allein gelassen? Schließlich lernen Kinder ja auch nicht das Lesen mit Texten des Marquis des Sades, warum also sie mit der gesamten digitalen Welt konfrontieren, statt ihnen den Umgang mit dieser Welt fach- und kindgerecht beizubringen? Als einen Dienst an der Gegenwart und vor allem der Zukunft, die mündige Bürger benötigt und keine emotionalen [40] Wracks. Apropos Lernen und Jungsein: wann nur habe ich bemerkt, dass ich nichts Besonderes kann? Niemand in meinem Umfeld konnte etwas Besonderes, und das war ja durchaus „Ruhrgebietsprogramm“ – wer es ausprobierte, etwas Besonderes auch nur versuchte, wurde niedergemacht, wurde beschuldigt, sich dicke tun zu wollen. Die negative Seite des Sozialismus, würde ich mal sagen. Aber was folgte für mich daraus? Ich glaube, ich habe aus dem Wissen heraus, (noch) nichts Besonderes zu können, beschlossen, dass wenigstens die Ergebnisse meiner künstlerischen Arbeit etwas Besonders sind, sein müssen, ergo ich alles mir Mögliche, und sei es noch so wenig, dafür zu tun habe. Tatsächlich habe ich dann ja mit viel Einsatz seit nunmehr 40 Jahren Kunst in die Welt gesetzt, und zwar in Bereichen, ich denen ich mir schaffend und tuend die „Dinge“ selbst beigebracht habe, immer von der Befürchtung begleitet, allenfalls Mittelmaß zu erschaffen. Habe ich? Sicher, niemand schafft es, nur Gutes [41] oder gar sehr Gutes zu vollbringen, aus ganzen Werken sticht oft nur ein Bild, eine gute Erzählung oder was auch immer heraus. So gesehen habe ich es geschafft, das Mittelmaß zu überwinden, da bin ich sicher, auch wenn ich nicht verrate, welches meiner Werke den Preis bekommt, meiner Ansicht nach. Außerdem soll doch jeder Leser und jede Leserin für sich selbst entscheiden, was das Werk ist. Womöglich sind’s sogar mehrere. Doch gleichviel, es geht weiter, die Sache selbst muss getan werden, muss getan sein, auch wenn niemand mir meine Texte aus der Hand reißt und mir für meine Manuskripte Unsummen überweist. Nun, was soll ich sagen: ich bin nicht im Geschäft, und das ist auch gut so? Nein, gut ist das nicht, aber auch keine Gefahr für meine literarische Arbeit, denn wenn ich etwas nicht kann, dann auf Erwartungen hinarbeiten. Die „Welt“ muss schon das nehmen, was ich nunmal erschaffe, ganz gleich, was sie dafür herzugeben bereit ist. Für die beiden nun (im Februar 2025) fertiggestellten Erzählungen [42] Das Haus / Die Straße und Treffen / Zwei / Sich wird zunächst natürlich nichts hereinkommen, denn selbst wenn sie ein lesender Mensch auf meiner Website entdeckt, was soll er dann schon tun außer sie lesen? Apropos Lesen: was mir neuerdings (womöglich erwähnte ich es bereits an anderer Stelle) auffällt, mir selbst zu mir, dass ich meine neuen Texte nunmehr selbst gerne lese, was nun wirklich nie der Fall war, vielmehr habe ich vor allem die gedruckten Texte immer gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Auch dieser Wundrand-Text scheint mir mir lesbar – wirklich erstaunlich! Eine dauerhafte Freude am Wiederlesen von eigenen Texten will ich aber lieber nicht prognostizieren – Alban (Nikolai Herbst) scheint diese dahingegen zu haben, und das entspricht ganz seiner Art und Weise Kunst zu machen, während ich für mich, bezüglich mir selbst, eben nicht sicher sein kann, wie das in weiterer Zukunft aussehen wird. Habe ich nicht eigentlich eine Art Hassliebe zur Literatur? Und diese sogar von Anfang an wahrscheinlich deswegen, weil die Literatur nicht zurücklieben kann, eben weil [43] sie nur flüchtig erscheint, selbst wenn sie noch so fest zwischen zwei Buchdeckeln gebunden ist. Das frage ich mich. Würde ich aber etwas anderes denken, fühlen, fragen, wenn die Literatur mich ernährte, also eine gegenseitige Befütterung stattfände? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Am ehesten scheint mir immer noch die handschriftliche Texterzeugung der Hauptgrund dafür zu sein, dass meine Texte mir jetzt mehr sind als oftmals zuvor. Naja, das sind wiederkehrende Gedanken, und das ist gut so, weil nur so der Hirnkasten gut belüftet bleibt – wenngleich sich das auch anders sehen lässt, Wiederholung des Immergleichen, thematische Stagnation und was der Schlagwörter mehr sind. Im Moment (Anfang 2025) habe ich ohnehin andere Sorgen, nämlich existentielle, sprich finanzielle, da helfen gelungene Texte nicht weiter, vor allem nicht solche, die nicht unterhalten, sondern befeuern sollen. Überhaupt ist die Frage ja die, ob für Kunst in der sich anbahnenden Kriegswirtschaft (im weiteren Sinne, nicht im engeren wie im Falle Russlands) überhaupt noch Ressourcen [44] vorhanden sein werden angesichts der menschlich verständlichen Notwendigkeit, für Ablenkung zu sorgen mit allerlei kunsthandwerklichen Produkten, die auf dem Markt naturgemäß funktionieren. Beklagen wir uns also nicht! Denn eines ist ja wohl klar, dass nämlich zumindest der Schriftsteller im Selbstauftrag agiert, und zwar mit allen Risiken, wenn er denn nicht als „Betriebslakai“ bzw. „Quotenknecht“ daherkommen will. (Alban Nikolai Herbst benutzt eben diese Begriffe, und sie passen gut. ANH: Briefe nach Triest. Arco Verlag. Wuppertal 2025. S.67.) Andererseits ist die Klage natürlich eine Kunstform, sodass Klagelieder in keinem Fall ausbleiben dürfen! Nur die kunstlose Banalklage ist, wenn möglich, auch wenn das schwer ist, zu vermeiden. Anderes Thema: ich lese weiter Texte von Jean Améry, ich habe mir Band 7 der Werke geleistet, Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Und wie auch bei der Lektüre von Jenseits von Schuld und Sühne, Über das Altern und Hand an [45] sich legen fühle ich mich seltsam aufgehoben in den Texten Amérys, in dieser sehr ernsten Entschlossenheit, die aber nicht vorder- oder hintergründig aggressiv ist, sondern den Anderen, Freund oder Gegner, ganz Mensch sein lässt. Mir fällt grad auf, dass ich statt „ernster Entschlossenheit“ auch „entschlossene Ernsthaftigkeit“ hätte schreiben können. Ich bin übrigens gespannt, wie Améry gesprochen hat, ich hätte mir natürlich längst ein Video ansehen oder eine Aufnahme anhören können aus dieser heute schon seltsam fremd wirkenden Zeit der 60er- und 70er-Jahre. Prompt tat ich es und bin angenehm nicht überrascht. Wenn man die unangenehme Agitationssprache etwa eines Günter Grass im Kopf hat, muss einem Jean Amérys Timbre natürlich gefallen; ich fühle mich geradezu beruhigt nach diesen wenigen Minuten Audio und Video. Allerdings hatte jeder Text [46] Amérys beim Lesen bereits dieses Timbre, dazu musste ich es nicht hören, das hat in meinem Kopf bereits vorher so getönt. Eine Mischung wahrscheinlich vorarlberger Sprechweisen mit dem Wienerischen und Hochdeutschen. Was nun etwa mein eigenes Sprechen angeht, so würde ich mal ganz keck behaupten, es als ein Anderer womöglich nicht als nur angenehm zu empfinden, weil man mir erstens beim Denken zuhören kann und zweitens in vielen meiner Aussagen etwas Herausforderndes liegt. Am besten ist es ohnehin, in Gruppen größer als zwei Personen, überwiegend zu schweigen, was mir durchaus immer besser gelingt, so glaube ich wenigstens. Ich habe allerdings immer schon das Zwiegespräch bevorzugt, alles andere ist zu oft ein Geplänkel. Also Schreiben statt Reden, wobei mir nach wie vor auf der [47] Seele brennt, dass manch Text wohl nie und manch anderer nur sehr vielleicht als Buch veröffentlicht wird. Nebelleben ist da auf jeden Fall noch im Spiel, die beiden Romane (der da und dieser da) hingegen in die Archivboxen bzw. im Internet versenkt. Und will ich, von Nebelleben abgesehen, überhaupt noch weitere Texte als Buch veröffentlichen? Fehlt es mir dazu nicht doch zu sehr an einem Glauben (an was auch immer) und an Naivität? Ergo letztlich an Kraft, hochkomplexe Literaturprojekte: sprich: Romane zu stemmen? Nun gehört der Selbstzweifel bekanntlich ja zur Kunst dazu, wenn auch das Fehlen desselben wohl kaum negative Auswirkungen haben dürfte. Aber was soll ich machen? Mich selbst betrügen, mir eine Wahnwelt aufbauen? Werde ich nie können, und selbst in Zeiten, wo ich etwa mit großem Enthusiasmus meine Dissertation schrieb, wusste ich um meine Naivität und die Chancenlosigkeit in der Welt da draußen. Ich würde sagen, ich habe mir diese Naivität und das Hochgefühl des wissenschaftlichen Schreibens gegönnt, und [48] zwar auch deshalb, weil ich es mir verdient hatte. So ist das! Jetzt aber, Jahre später, benötige ich einen neuen Plan für das Schreiben und den ganzen Rest. Nachzudenken habe ich in jedem Fall wieder über den Sinn des Schreibens, denn hat sich etwa dieser mit der Disseration noch eindeutig erschlossen, eben weil ich der Wissenschaft etwas hinzugefügt habe, so müssen sich jetzt natürlich Zweifel einstellen, einfach deshalb, weil kein Verlag mehr meine literischen Texte drucken will. (Obwohl: die Hoffnung …) Hätte ich mich aber auf die im deutschen Sprachraum so überpräsente realistische Literatur kapriziert, wo, frage ich mich, stünde ich heute? Wäre ich nicht gezwungen, aus dem langweiligen menschlichen Leben gut verdauliche Literatur zu machen? Statt spannender, so wie das auf seine sehr spezielle Art Jon Fosse tut. Ein deutschsprachiger Autor aber, der so speziell (und gut) schreibt, bekäme wohl heutzutage kaum eine Chance auf dem deutschsprachigen [49] Buchmarkt, jedenfalls nicht in dem Bereich, wo sich Geld verdienen lässt. Aber natürlich ist Fosse allein wegen seiner Herkunft aus einem Land mit zwei Landessprachen, die in vielem deckungsgleich sind (Nynorsk und Bokmål), ein Sonderfall, eben weil er von vornherein die eher lyrische Sprache, Nynorsk, wählen kann. Ein deutscher Schriftsteller muss sich, will er nicht die banale leipziger bzw. hildesheimer Literatursprache benutzen, seine eigene Sprache erarbeiten – was natürlich zu Irritationen führen muss bei den Vorkosterinnen in Agenturen und Verlagen. Nun ja, letztlich hat das alles durchaus zu tun mit der altbekannten heideggerschen Geworfenheit, und so bin ich nicht nur, wie als Strafe, in die deutsche Kleinstadt Schwerte geworfen worden, sondern auch in die deutsche Sprache hinein, wobei dies sicher keine Strafe darstellen kann (für was auch immer, ist ja auch nur eine Denkfigur), sondern ein Glück darstellt, denn es ist ja immer die deutsche Sprache mit ihrer ihr innewohnenden Möglichkeit zur Schönheit gewesen, die mich davon abhielt, in fremde Sprachräume auszuwandern. So [50] denke ich mir das Ganze wenigstens. Als Bildender Künstler hätte man das Problem nicht, aber auch das ist für mich nicht mehr von Belang, weil in diesem Bereich meine Schaffenskraft ganz offensichtlich begrenzt war, oder weil mir dafür die bereits angesprochene Naivität fehlte oder weil die ganze Bildende Kunst schlicht und ergreifend langweilig ist – oder alles zusammen. Aber was soll ich erwarten in einer Welt, in der die Kunst fast ausschließlich für bürgerliche Nasen produziert wird oder aber im Bereich der politischen Propaganda ihren Einsatzzweck findet! Das Ende der Kunst? Nein, aber womöglich bewahrheitet sich der von mir oft bemühte Kalauer, dass gute Kunst erst wieder nach dem nächsten Krieg möglich ist. Geld zur Finanzierung der Kunst für den bürgerlichen Kunstmarkt wird es aber schon vorher nicht mehr im gewohnten [51] Maße geben, denn nun werden wohl eher Waffen bezahlt werden müssen, um, so die Absicht, das althergebrachte Abschreckungspotential zu erhöhen, der Kalte Krieg lässt grüßen. Allerdings besser so, also kalt, als in potentieller Wehrlosigkeit Spielball der Weltmächte USA und Chinas und zudem Russlands zu werden. Leiden unter der ganzen Situation werden natürlich, wie immer, die Armen dieser Erde, direkt oder indirekt, man kennt das „Spiel“. Die Frage, ob nun in Berlin jährlich 22 oder 44 Schriftsteller ein Senatsstipendium bekommen, ist angesichts der politischen Lage natürlich unerheblich, wenngleich der ausgezahlte Gesamtbetrag dies eben auch ist. Sollte es wirklich zu einer Kriegssituation kommen, ist aktuelle Kunst ohnehin kein geeignetes Mittel zur Ablenkung. Wer sich unterhalten und ablenken lassen will, findet natürlich auch jetzt schon Unmassen von Büchern, da muss man nix fördern, das funktioniert nach [52] eingespielten Prinzipien. Wirkliche Kunst jeglicher Coleur wird, wie gesagt, erst nach dem Krieg sichtbar bzw. überhaupt erschaffen, und dann geht das Spiel wieder von vorne los, kraftvolle Kunst trifft auf aufnahmebereite Rezipienten und Käufer, die Sache bleibt eine Weile spektakulär, normalisiert sich aber dann. Aber was rede ich da, noch ist ja die Zeit vor dem Großen Krieg, zu dem es selbstverständlich gar nicht kommen darf. Apropos kraftvolle Kunst: ich lese zurzeit Briefe nach Triest von Alban Nikolai Herbst, und fast will mir scheinen, als bilde dieser Roman en passant neben dem Inhaltlichen in seiner Gesamtheit auch etwas ab, das jetzt noch gar nicht wirklich fassbar ist und in einigen Monaten oder [53] Jahren erst Einblick gewährt in die Zeit des dann „Davor“, in der ein anderer Geist wehte. Ganz ähnlich ist es ja mit Albans Wolpertinger oder: Das Blau, der 1993 in beginnender neuer Zeit den Geist der alten BRD wiederauferstehen lässt, wenn auch hier durchaus nicht en passant. Ein mögliches Mitabbilden eines vergangenen Zeitgeistes (im hegelschen Sinne) ist es auch, das mich oft dazu verleitet, aktuelle Bücher erst einmal ein paar Jahre im Regal „reifen“ zu lassen. Wolfgang Koeppens drei große Romane, ich erwähnte es bereits, lese ich alle zehn Jahre (wobei ja auch schon meine Erstlektüre eine altersbedingt sehr verspätete war), weil sie immer dichter werden, gehaltvoller, etwa auch weil in meiner Gegenwart etwas aktuell wird, das ich zuvor nicht erlebte und das im Roman inhaltlich auftaucht. Gute Bücher altern eben auch deshalb so gut, weil sie einmal absolut zeitgemäß waren. [54] Manche Bücher habe ich allerdings, eben weil sie schlecht alterten und den Ruch des allzu Zeitbehafteten und zu eng Geführten annahmen, einfach weggeworfen, so dass sich heute in meiner Bibliothek kein Grass und kein Frisch mehr befindet und von manchen Autoren auch nur noch ein oder zwei Werke. Ich habe schon oft betont, wie sehr Jean Paul recht hatte: ein Buch, das sich nicht zwei Mal zu lesen lohnt, lohnt auch nicht das einmalige Lesen. So ist es! Dementgegen stehen aber die Interessen der großen Verlage, die ja nicht wollen dürfen, dass statt eines brandneuen teuren Buches ein aus ihrer Sicht bereits altes nochmal gelesen oder antiquarisch erworben wird. So sind viele Romane heutigentags auch allzu leicht und schnell lesbar, will mir scheinen, was nicht per se falsch sein muss, siehe etwa das Werk Knut Hamsuns, aber falsch sein kann, wenn das Hirn des Lesers mit allzu leichter Kost gefüttert wird. Tue ich es mir (sehr selten) mal an, die [55] Spiegel-Bestsellerliste zu sichten, ist mein Glaube an die Qualität des deutschsprachigen Romans immer wieder dahin. Klar, einfache Sprache für einfache Leute, das ist schon okay, aber dann muss man die Dinger auch zum Groschenheftpreis verkaufen, statt mittels hoher Preise Qualität vorzugaukeln. Wenn man mich fragt, so sind die allermeisten der von mir gesichteten Bestseller-Romane reaktionärer Scheiß, im besten Fall vielleicht Ausdruck eines neuen Biedermeier, dem aber kein Vormärz beigesellt zu sein scheint. Zum Glück aber gilt immer noch, besser überhaupt etwas Erzählendes lesen als gar nicht zu lesen – wenngleich Unterforderung eben nicht nötig wäre, denn ein sprachlich zu erschließender Text ist doch in jedem Fall spannender als ein zu einfacher Text gleichen Inhalts. Ähnliches gilt natürlich auch für die Frage, ob gesunde Menschen E-Bike fahren sollten. Unterfordert ist man, um beim Thema zu [56] bleiben, beim Lesen der Briefe nach Triest nun sicher nicht, allerdings liegt eben darin der Grund, dass sich Alban Nikolai Herbst zu beklagen hat, wieder keinen echten Bestseller geschrieben zu haben, wenn auch ein wirklich gutes Buch. Ungeübte Leser kommen allerdings auch keine zwanzig Seiten weit, und ich würde mal sagen, das ist auch gut so. Und was heißt schon Bestseller? Muss man nicht thematisch passgenau den Publikumsgeschmack treffen, lange bevor er überhaupt aktuell ist? In zehn Jahren ist womöglich Altersdiskriminierung ein aktuelles und schönes Thema für einen Roman, aber da müsste man jetzt schon loslegen. Sollte ich? Mich als nörgelnder dann Siebzigjähriger darüber auskotzen, wie schlecht mich die Welt behandelt, auch weil mir die Welt der Jüngeren immer mehr abhanden kommt, ob ich will oder nicht? Während mir zugleich der Trost des Alters, der gute Lebensabend verwehrt ist, einfach auch deshalb, weil das kitschiger Schwachsinn ist? [57] Da das Ganze aber nur ein komischer Text werden dürfte, keinesfalls ein nur fade realistischer, ist ein Erfolg ohnehin von vornherein ausgeschlossen, denn komisch gibt es in Deutschland (nach Loriot) nur auf Kindergartenniveau oder eben gar nicht. Können und Dürfen kann und darf man das Ganze natürlich schon, aber dass dann daraus ein erfolgreicher Roman wird, wie es im englischen Sprachraum durchaus möglich ist, dürfte ausgeschlossen sein. Wobei es zu beachten gilt, dass etwa Flann O’Briens Roman The Third Policeman auch nicht sofort veröffentlicht werden konnte, weil er einfach zu komisch ist. So musste die Welt 27 Jahre reifen (und Flann O’Brien sterben), bis der Roman der Welt endlich hinzugefügt werden konnte. Traurig. Da habe ich mit Kein Mensch scheint ertrunken ja geradezu noch Glück gehabt! Während ich mit Scheerbart / Hologramm Pech hatte. Keine Leserschaft, niemand liest diese Art Literatur, und selbst mit einem warnenden Aufkleber, Entspricht keinem Genre, Kann verwirren, [58] fänden sich keine Käufer oder nur sehr wenige. Der Verlag weiß das und lehnt jede Zusammenarbeit ab. Dabei war ich selbst einige Male kurz davor, den Roman zu vernichten, bis ich endlich auf den Trichter kam, ihn viel eher verdichten zu müssen, ganz banal einfach dadurch, dass ich wörtliche Rede nicht in Absätzen aus dem Text herausrückte, sondern in den Fließtext integrierte, was dem ganzen Text Wucht gab und damit mir Anlass, alles noch einmal intensiv zu überarbeiten. Ehrlich gesagt habe ich den Text jahrelang nicht gemocht, ich konnte ihn kaum lesen. Jetzt aber, nach gut acht Jahren Arbeit, mag ich ihn, ich mag es darin zu lesen, denn es ist ein leichter, seltsamer, komischer Roman mit Tiefgang, wie man ihn sonst nicht findet. Auch den Sound mag ich, es hat viel Mühe gekostet, ihn so hinzukriegen, so dass es um so bedauerlicher ist, schaderer, dass nur ich ihn lesen darf. Und Fußnoten gibt es auch noch! Watt willzte mehr. Ob ich aber noch einmal [Heft I,2; Seite 59] so eine Kraftanstrengung über die Jahre hinbekomme, steht in den Sternen und hängt auch schlicht davon ab, ob ich eine tragfähige Idee entwickele. Nicht ausgeschlossen natürlich, aber doch eher unwahrscheinlich, vor allem weil Ideen ja zunächst einmal ganz unentwickelt erscheinen müssen, aufpoppen müssen. Im Moment ist es eher so, dass kürzere Geschichten entstehen, die nach 10 oder 20 Seiten ihren natürlichen Endpunkt finden, weil sie auserzählt sind und eben auch nicht mehr Personen bzw. Figuren tragen können als maximal zwei. Und überhaupt steht ja auch noch meine alte Frage im Raum, warum ausgerechnet Schreiben! Oder, warum das Schreiben, eine alte Idee, nicht kombinieren mit der Herstellung von Collagen? Nicht, weil ich [60] das ja in der Tat schon mal gemacht hätte, sondern weil es die Vorteile zweier künstlerischer Ausdrucksformen verbindet und die Nachteile ausmerzt. Spielraum ergibt! Materialität ist zu erschaffen im Sinne der Reaktion des einen Materials auf das andere; ich erinnere mich an die vielen kleinen Objekte, bei denen Tipp-Ex und Klebstoff eingesetzt wurden. Dazu dann (teils lesbarer) Text, am ehesten handschriftlich, unter Umständen ausgedruckt (Foto, PDF), um dann mit Pflanzenöl und (Wand-)Farbe eine Collage herzustellen. Auch alte Zeichnungen können so wiederverwendet, verarbeitet werden. Herauskommen soll am Ende (wie gehabt) eine Bühnensituation, eine Art Bühnenbild. Der Plan also steht, und sobald meine Finanzkrise vorbei ist und ich den Kopf frei habe, gehe ich an seine Ausgestaltung. Genau [61] genommen wird die Angelegenheit also noch eine Weile zu warten haben, gewissermaßen im Startblock verharren, bereit, wie der Blitz vorzuschnellen. Ich werde sehen, wie ich das Ganze angehe, wobei ich zwar in etwa weiß, wie es loszugehen hat, mit einer zündenden Idee nämlich, ich aber keine Ahnung habe, ob am Ende auch etwas Bewahrenswertes herauskommt. Wie nur machen das andere Menschen, die immerzu Objekte erschaffen und in die Welt hinauskloppen? Viele scheinen sich nicht weiter abzuquälen und geben der Welt, was die Welt, womöglich ohne es zu wissen, zu haben wünscht, und ja, das allermeiste mir zu Gesicht Kommende ist absolut schrecklicher Scheiß, so es also an mir liegen muss, wenn ich mich mit der Absicht abquäle, sehr gutes Zeugs zu schaffen, das die Welt zwar bräuchte, aber nicht haben will. Oder ich täusche mich auf ganzer Linie, [62] das kann auch sein. Bei dem schon mehrfach erwähnten Roman Scheerbart / Hologramm habe ich zum Beispiel versucht, eine Geschichte im Stile der belgischen Comics der 60er-, 70er-Jahre in eine literarische Form zu gießen, statt mit 08/15er-Sprache ausschließlich Inhalte zu vermitteln. Am Ende, nach jahrelanger Arbeit, ist der Roman gelungen, ich deutete es bereits an, passt aber nun überhaupt gar nicht zu den Lesegewohnheiten der heutigen Leser, wenn auch mit einer Ausnahme: Norbert W. Schlinkert. Der nämlich mag den Text sehr und liest ihn, trotz profunder Kenntnis des Inhalts, mit großer Begeisterung. Apropos, ich erwähnte die Sache an sich schon öfter: zurzeit lese ich zum zweiten Male Am Gletscher (1968) von Halldór Laxness, und dies nicht etwa, um mein Geld für den Erwerb von essbaren Lebensmitteln aufzusparen, sondern weil ich partout nichts Lesenswertes finde im aktuellen Angebot, weder [63] Bücher von Altersgenossen noch von jungen Autoren. Ich suche regelmäßig und würde gerne etwas finden, finde aber nix, wobei mir ja der Inhalt nicht weiter wichtig ist, ich also genügend Auswahl haben müsste. Imgrunde ist es ja angesichts des üblichen Schreibstils nur eine Frage der Zeit, bis die KI das Schreiben von fast allen Romanen übernimmt, und zwar sicher am Ende auch mit Einverständnis des Publikums. Alles eine Frage der Gewöhnung. Der Kunst, dem literarischen Schreiben wird die KI jedoch nicht schaden können, jedenfalls so lange nicht, wie es noch literarische Schreiberlinge gibt, Menschen, die schöpferisch tätig sind um der Schöpfung willen, wenn man das mal so ausdrücken will. So bekommt L’art pour l’art eine ganz bestimmte neue Bedeutung, nämlich als Gegensatz zu nicht zwingend von Menschen gemachter Kunst, eben weil Kunst im Sinne des L’art pour l’art [64] die Welt nicht zweckorientiert nachahmt und somit auch nicht von künstlichen Systemen, die ausschließlich zweckorientiert sind, erschaffen werden kann. KI-Gemachtes ist immer vom Zweck, von Zweckmäßigkeit durchdrungen, kann also zwar schöne Bilder herstellen und spannende Krimis schreiben, nicht aber Kunst erschaffen. Letzteres muss der Mensch tun, so lange er es um der Sache selbst tun kann, und somit ist der einzige wirkliche Zweck der Kunst der, nicht aufzugeben, das Menschsein nicht aufzugeben, sich nicht dem Willen, dem Zweck der Maschine zu beugen. Daraus ist messerscharf zu schließen, dass benutzte Kunst keine ist, dass Kunst immer nur sie selbst ist, dass Kunst eine ausdrückliche Eigenart besitzt, Ausdruck, Expression ist, und zwar immer in einer Prozesshaftigkeit, was die Kunst letztlich vom Kitsch unterscheidet. Ich kann mich erinnern, dass es in Berlin vor etwa zwanzig [65] Jahren eher selten windig war. Wenn ich aber wollte, so könnte ich eine über Jahre sich hinstreckende Geschichte schreiben, in der es in Berlin nie windig ist. Allein so ließe sich eine andere Stadt, ein anderes Berlin erschaffen, ohne dass das einen Sinn haben muss innerhalb der Gedschichte, abhängig allerdings vom Berlin-Bild des Lesers. Als ich 1990 vier Wochen in Irland war, davon etwa zweieinhalb in Dublin, musste ich das von James Joyce in mir erschaffene Dublin im realen Dublin suchen – und finden. Sah ich die Stadt dementsprechend durch eine Art Schleier? Verwandelten sich die Menschen und die Dinge, weil ich von ihrer mehrdeutigen Erscheinung wusste? So muss es wohl sein, was dann allerdings die Frage aufwirft, wie Menschen die Welt sehen und erleben, die nicht lesen und die sich nicht von Geschichten vereinnahmen lassen. Leben sie ohne diese Verzauberung? [66] Ich weiß es nicht, stelle mir aber ein Leben ohne Literatur als ein graues vor, als sehr abhängig von Äußerlichkeiten. Aber das ist natürlich nur meine Sicht, wenn es den Nichtlesenden gut geht mit ihrer Welt, umso besser.

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